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Der Bescheid vom 14.05.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.03.2003 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die HIV-Infektion des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV zu entschädigen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
2Streitig ist, ob die HIV-Infektion des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung - BKV - zu entschädigen ist.
3Der am 00.00.1973 geborene Kläger ist Arzt. In der Zeit vom 27.04. bis 16.08.1998 absolvierte er das internistische Tertial des praktischen Jahres in der medizinischen Klinik des Kreiskrankenhauses X1. Im 15.01.1997 wurde im Rahmen einer zweiten von insgesamt drei Cholesteatomoperationen präoperativ ein negativer HIV-Test erhoben. Bei einer arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung für die Tätigkeit als Student im praktischen Jahr am 01.04.1998 wurde bei dem Ltd. Hochschularzt der RWTH B, Q weder klinisch noch laborchemisch ein auffälliger Befund erhoben; ein HIV-Test wurde nicht durchgeführt. Am 10.08.1998 wurde im Rahmen der dritten Cholesteatomoperation präoperativ ein positiver HIV-Test erhoben, nachdem der Kläger am 20.07.1998 eine akute Erkrankung mit Fieber und Lymphknotenschwellung und aphtösen Veränderungen an der Mundschleimhaut durchgemacht hatte. Die Ärzte, die den Kläger daraufhin behandelten, begannen sofort mit einer sogenannten "Frühtherapie", da nach den Laborbefunden von einer "frischen" Infektion ausgegangen wurde.
4Mit seiner ärztlichen Anzeige über eine Berufskrankheit vom 13.10.1998 brachte Q den Verdacht auf eine Berufskrankheit zur Anzeige. Der Kläger gab gegenüber dem Mitarbeiter der Beklagten Herrn X2 am 31.03.1999 im Rahmen einer persönlichen Befragung an, im Rahmen des praktischen Jahres im Tertial innere Medizin sehr viel Kontakt mit Patienten gehabt zu haben. Durch die häufige Verwendung von Desinfektionsmitteln habe er rissige Hände gehabt. Er habe häufig Blutkontakt mit diesen Händen gehabt. Weiterhin berichtete er, ein Mal sei ihm beim Aufziehen einer Blutsenkung Blut ins Gesicht und ins Auge gespritzt. Der Kläger schloss aus, sich durch eine Nadelstichverletzung infiziert zu haben. An ein solches Ereignis konnte er sich nicht erinnern. Er hielt es für wahrscheinlich, dass er entweder beim Legen von Braunülen bzw. beim Abziehen von Braunülennadeln durch Blutkontakt an den rissigen Händen oder beim Aufziehen des Blutsenkungsröhrchens über die Schleimhäute des Auges infiziert habe. Ebenso hielt er es für wahrscheinlich, dass er am 20.07.1998, als er seit langem das erste Mal relativ schwer erkrankt war mit hohem Fieber und Schluckbeschwerden sowie Lymphknotenschwellung und kleinen Geschwüren am Gaumen, rückschauend betrachtet die ersten Anzeichen der HIV-Infektion gehabt habe. Er habe vielen Patienten Bluttransfusionen gelegt und auch Dialysepatienten behandelt. Erinnern konnte er sich auch am einen 30jährigen Patienten, mit dem er Blutkontakt gehabt habe, welcher an einer Lungen-TBC erkrankt gewesen sei. Der Patient sei jedoch nicht auf HIV getestet worden. Sollte er HIV-positiv gewesen sein, wäre er als hoch infektiös anzusehen. Eventuell habe er sich die Infektion auch durch das Erbrechen von Blut eines Infizierten oder durch die Einwirkung von Speichel zugezogen. Er sei in der Dialysestation, in der Notfallaufnahme und in der internistischen Station tätig gewesen und habe hier viel Kontakt mit Patienten und Umgang mit Venen- und Arterienkathetern sowie Injektionskanülen gehabt. Zu seinem persönlichen Umfeld teilte er mit, er zähle nicht zu dem HIV-positiv gefährdeten Personenkreis, er nehme keine Drogen, sei nicht homosexuell und habe keine häufig wechselnden Geschlechtspartner. Eine feste Freundin habe er zurzeit nicht. Urlaubsreisen in gefährdete Gebiete habe er nicht unternommen. Seine letzten Urlaubsziele seien England, Irland und Amerika gewesen. Bis 1992 habe er bei seinen Eltern gewohnt, seitdem wohne er im Studentenwohnheim. Aus den Bewohnern rekrutiere sich auch sein Freundeskreis. Bei Bedarf könnten sie, aber auch die Familie, zu seinem sozialen Umfeld befragt werden.
5Der Chefarzt der inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses N1 L, teilte am 14.04.1999 mit, der Kläger sei während des Tertials auf drei verschiedenen internistischen Pflegestationen eingesetzt gewesen. Auf einer dieser Stationen werden u.a. Patienten mit Infektionskrankheiten behandelt, dies seien insbesondere Patienten mit Tuberkulose, selten auch mit anderen Infektionskrankheiten. Auf dieser Station habe der Kläger im Juni 1998 gearbeitet. Ein wissentlicher Kontakt zu einem HIV-Patienten habe während dieser Zeit nicht bestanden. Eine HIV-Serologie werde in seinem Haus jedoch üblicherweise lediglich bei begründetem klinischen Verdacht und Einverständnis der Patienten durchgeführt. Es sei denkbar, dass sich der Kläger dennoch bei einem Patienten infiziert habe, wenn der entsprechende Patient unerkannt infiziert gewesen sei. Als PJ-Student habe er sicher regelmäßig Kontakt mit potentiell infektiösen Materialien gehabt, insbesondere bei den überwiegend von PJ lern durchgeführten Blutabnahmen.
6Nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 20.08. und 03.09.1999 erstattete I1 unter Mitarbeit des Ltd. Oberarztes G und des Assistenzarztes U1 von der medizinschen Klinik der Universität E am 22.11.1999 im Auftrag der Beklagten ein Gutachten. Auch dem Gutachter gegenüber gab der Kläger als wahrscheinliche Infektionsquelle entweder einen perkutanen Blutkontakt bei bestehenden rissigen Händen oder eine Kontamination der Bindehaut mit Blut beim Aufziehen eines Blutsenkungsröhrchens an. Der Gutachter konnte "keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der HIV-Infektion und der beruflichen Tätigkeit herstellen". Die Wahrscheinlichkeit sei eher gering. Ein genauer Infektionszeitpunkt könne unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Daten und Laborbefunde nicht genannt werden. Die im Juli 1998 aufgetretene Erkrankung bei im August hoch positiver HIV-RNA sei möglicherweise eine akute HIV-Serokonversionserkrankung. In diesem Falle hätte die HIV-Infektion Wochen bis Monate zuvor akquiriert werden müssen. Bisher sei es nicht zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit gekommen.
7X3, Klinik für HNO-Heilkunde an der RWTH B teilte am 26.04.2001 mit, aus den hno-ärztlichen Befunden gehe hervor, dass der Umschlag von negativer in positive HIV-Reaktion zwischen dem 20.01.1997 und dem 10.08.1998 stattgefunden haben müsse.
8Frau U2 von der Landesanstalt für Arbeitsschutz NRW vertrat in ihrem Gutachten nach § 4 Abs. 4 und § 5 der BKV vom 12.04.2002 die Ansicht, die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien nicht gegeben.
9Mit Bescheid vom 14.05.2002 lehnte die Beklagte die Anerkennung der HIV-Infektion als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Anlage zur BKV ab. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, die Situation, in der ihm Blut beim Aufziehen eines Senkungsröhrchens ins Auge und auf die Konjunktiven gelangt sei, sei von dem Gutachter verzerrt dargestellt worden. Er habe zu diesem Vorfall ausgeführt, dass er dieses Ereignis damals nicht für so gravierend eingeschätzt habe, nicht jedoch, dass er es nicht bemerkt hätte, wie in dem fachinternistischen Gutachten ausgeführt werde. Wenn er es nicht bemerkt hätte, hätte er darüber nicht berichten können. Im übrigen hätten ihm seine behandelnden Ärzte bestätigt, dass am 10.08.1998 eine frische Infektion vorgelegen habe. Somit sei der Zeitpunkt der Virusakquirierung deutlich übersichtlicher und nahezu deckungsgleich mit seinem internistischen Tertial.
10Mit Bescheid vom 25.03.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Auf die Begründung wird Bezug genommen.
11Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage. Der Kläger macht sich die Ausführungen es gerichtlichen Sachverständigen K1 zueigen. Aus dem Gutachten ergebe sich, dass ein Zusammenhang zwischen HIV-Infektion und seiner beruflichen Tätigkeit wahrscheinlich sei.
12Der Kläger beantragt,
13den Bescheid vom 14.05.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.03.2002 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die HIV-Infektion als Berufskrankheit zu entschädigen.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie hält das Ereignis, bei welchem dem Kläger Blut ins Auge gespritzt sein soll, nicht für nachgewiesen und die Angaben des Klägers hierzu auch nicht für glaubhaft.
17Das Gericht hat den Kläger in nichtöffentlicher Sitzung am 00.00.0000 eingehend zu seinen Tätigkeiten während des ersten Tertials in der inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses N1 in X1 befragt. Zu Beginn des praktischen Jahres sei er praktisch nicht geübt gewesen, so dass es vorgekommen sei , dass ihm Missgeschicke passierten, z. B. dass größere Mengen Blut beim Legen der Zugänge, beim Abnehmen der Zugänge oder beim Hantieren mit den Zugängen geflossen seien. Er persönlich gehe nicht davon aus, dass er sich bei einer Stichverletzung infiziert habe. Er halte eine Schmierinfektion für wahrscheinlich und führte den ca. 32jährigen Patienten mit dem Verdacht auf eine Autoimmunerkrankung und offener TBC als möglichen Infektionsträger an. Wenn ihm vorgeworfen werde, er habe sich bisher nicht intensiv darum bemüht, den Namen dieses Patienten ausfindig zu machen, so führte er hierzu aus, dass er hierzu keine Möglichkeit gesehen habe. Der Fall, bei dem ihm beim Aufziehen des Blutsenkungsröhrchens aus der oben offenen Küvette Blut ins Gesicht und ins Auge gespritzt sei, sei die andere mögliche Infektionsquelle gewesen. Er habe zu diesem Zeitpunkt keine Brille, sondern Kontaktlinsen getragen. Der Vorfall habe bei den anderen anwesenden Personen für Heiterkeit gesorgt.
18Die weitergehenden Ermittlungen des Gerichtes haben ergeben, dass der TBC-erkrankte Patient am 15.08.1998 im C-Krankenhaus N2 mit negativem Ergebnis auf HIV getestet worden ist. Obwohl es zumindest theoretisch denkbar ist, dass der Patient eine sehr frische HIV-Infektion hatte, als er Kontakt mit dem Kläger hatte, hat das Gericht davon abgesehen, diese Person zu einem Kontrolltest zu bitten, da dem Kläger kein konkretes Ereignis erinnerlich war, bei dem es zu einem unmittelbaren Kontakt mit potentiell infektiösen Sekreten des Patienten gekommen wäre.
19Sodann hat das Gericht ein Gutachten nach Aktenlage eingeholt von K aus I2. Auf Anregung des Gutachters hat das Gericht im Vorfeld präzisere Angaben zu dem Vorfall mit dem Blutsenkungsröhrchen von dem Kläger eingeholt. Der Kläger hat vorgetragen, es sei ihm nicht mehr möglich, Personen zu benennen, die das Ereignis mit Sicherheit bezeugen könnten. Der Vorfall müsse sich während des Nachtdienstes ereignet haben, und zwar während des ersten Nachtdienstes am 01.05.1998 oder während des zweiten Anfang Juni 1998. Diesen zweiten Termin hat der Kläger aus seinen privaten Aufzeichnungen nicht mehr exakt bestimmen können. Zwischen dem Einspritzen des Blutes ins Auge und dem Auswaschen habe lediglich eine kurze Zeitspanne gelegen. In dieser Hinsicht hat sich der Kläger genau erinnern können. Der Sachverständige K hat sein Gutachten vom 02.02.2005 nach Einholung mehrerer schriftlicher Auskünfte erstattet, und zwar zweier Schreiben des Hochschularztes Q vom 13.09. und 27.09.2004, einem Schreiben des Chefarztes der medizinischen Klinik des ehemaligen Kreiskrankenhauses X1, L, einem Schreiben des Leiters der Virologie am Institut für medizinische Mikrobiologie des Uni-Klinikums B, S, vom 04.10.2004, einem Schreiben des Internisten K2 vom 29.09.2004 und einem Schreiben des Robert-Koch-Institutes vom 10.01.2005. K1 ist zum Ergebnis gekommen, der Prozentsatz unerkannt HIV-infizierter Patienten im Sinne der BSG-Rechtsprechung sei für das Kreiskrankenhaus in X1 allenfalls nahe des allgemeinen Durchschnitts in Deutschland, also bei 0,1 % anzusetzen. Wahrscheinlich sei jedoch, dass dieser Prozentsatz um bis zu 50 % niedriger sei als der Landesdurchschnitt, somit bei 0,05 %. Somit sei nicht davon auszugehen, dass es 1998 in dem Krankenhaus oder in einer seiner Fachabteilungen eine erhöhte HIV-Prävalenz unter den dort behandelten Patienten gegeben habe. Weiterhin hat es aus Sicht des Gutachters während des PJ auch keine besondere berufliche Gefährdung gegeben, weil in der Fachabteilung weder erhöhte HIV-Seroprävalenzen bestanden noch eine Häufung ansteckungsgefährdeter Tätigkeiten gegeben war. Nach Auffassung des Gutachters handelt es sich jedoch bei dem Vorfall, bei dem dem Kläger beim Aufziehen eines Blutsenkungsröhrchens Blut ins Gesicht und auf die Augen gespritzt sei, um einen infektionsrelevanten Blutkontakt. Obwohl dieser nicht mehr durch Zeugen bestätigt werden könne, halte er die Schilderung des Klägers bei der gerichtlichen Anhörung für plausibel und glaubwürdig. Von den Ärzten, die den Kläger im August und September erstmals behandelt haben, sei bereits der Verdacht auf eine frische Infektion geäußert worden, deshalb sei eine sogenannte Frühtherapie begonnen worden. Dieser Verdacht finde Bestätigung durch die ausführlichen Laborprotokolle der Immunoblot-Untersuchungen, die in der Abteilung Virulogie am Institut für medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums B durch S durchgeführt wurden und mit Schreiben vom 04.10.2004 dem Sachverständigen mitgeteilt worden sind. Die Befunde grenzen den Infektionszeitraum auf 8 bis 12 Wochen vor dem 10.08.1998 ein. Aus der Entwicklung der Antikörper bei dem Kläger lasse sich schließen, dass der Infektionszeitpunkt mit 50 %iger Wahrscheinlichkeit vor Mitte Juni 1998, aber kaum vor Anfang Mai 1998 lag. Statistisch wahrscheinlich ist ein Zeitpunkt im Juni 1998 etwa 6 bis 8 Wochen vor dem 10.08.1998. Die von dem Kläger berichtete Exposition zu Blut über die Augenbindehaut steht damit in zeitlich wahrscheinlichem Zusammenhang mit der erstmals nachgewiesenen Serokonversion. Ein zunächst fieberhaftes Krankheitsbild am 20.07.1998, das später mit einer Herpesstomatitis einherging, könnte von den zeitlichen Abläufen her als akute HIV-Krankheit gedeutet werden. Zusammenfassend kommt K1 zum Ergebnis, dass wegen einer beruflichen Exposition zu Blut, die Anfang Mai oder Anfang Juni glaubhaft berichtet wurde, und dem Vorkommen HIV-infizierter Patienten in der Einrichtung sowie der Serokonversion in zeitlichem Zusammenhang mit der Exposition ein Zusammenhang der HIV-Infektion mit der beruflichen Tätigkeit wahrscheinlich zu machen sei.
20Entscheidungsgründe:
21Die zulässige Klage ist begründet.
22Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert. Bei dem Kläger liegt eine BK nach Nr. 3101 vor.
23Von der BK Nr. 3101 werden Infektionskrankheiten erfasst, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war. Der Kläger war im wahrscheinlichen Infektionszeitraum unstreitig im Gesundheitswesen tätig und eine HIV-Infektion ist auch eine Infektionskrankheit. Die versicherte Tätigkeit fällt auch in den Zeitraum, in der sich der Kläger angesteckt hat. Die HIV-Infektion ist durch das positive Testergebnis vom 10.08.1998 nachgewiesen. Zuletzt war der Kläger am 14.01.1997 anti HIV-negativ getestet worden. Der theoretische Infektionszeitraum liegt zwischen Ende Oktober 1996 und Anfang Juli 1998. Während dieses Zeitraums hat der Kläger in der Zeit vom 27. April bis Ende Juli 1998 als Arzt im Praktikum im Kreiskrankenhaus N1 in der inneren Abteilung gearbeitet. Damit unterliegt es keinem Zweifel, dass die Ansteckung mit dem HIV-Virus im Zeitraum der versicherten Tätigkeit des Klägers erfolgt ist. Diesbezüglich schließt sich das Gericht den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen K1 an, der den Infektionszeitraum auf 8 bis 12 Wochen vor dem 10.08.1998 eingrenzt.
24Dies allein genügt indes noch nicht für die Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der beruflichen (versicherten) Tätigkeit und der HIV-Infektion. Denn die Zugehörigkeit des Klägers zum Schutzbereich der BK Nr. 3101 in der vermutlichen Ansteckungszeit reicht für die Anerkennung und Entschädigung einer Infektionserkrankung als BK nicht aus (BSG Beschluss vom 11.06.1993 2 BU 46/93). Vielmehr muss der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Erkrankung hinreichend wahrscheinlich sein, die bloße Möglichkeit genügt nicht. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs ist zu bejahen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSG Urteil vom 27.06.2002 B 2 U 29/99 R m.w.N.). Die Tatsachen, auf die sich die Abwägung stützt, müssen ebenfalls voll bewiesen sein. Für die Annahme eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer Tätigkeit im Gesundheitsdienst und einer Infektionserkrankung ist zwar nicht der Nachweis einer bestimmten Infektionsquelle Voraussetzung. Es ist jedoch der Nachweis erforderlich, dass der Versicherte im konkreten Einzelfall bei der beruflichen Tätigkeit während der vermutlichen Ansteckungszeit tatsächlich sei es durch einen Patienten, einen Mitarbeiter oder auf sonstige Weise einer besonderen über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt war (BSG E 6, 186, 188; BSG Urteil vom 30.05.1988 2 RU 33/87). Ist dieser Nachweis erbracht, so kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sich der Versicherte die bei ihm aufgetretene Infektionskrankheit durch seine besondere berufliche Exposition zugezogen hat.
25Ein Kontakt zu einer nachweislich HIV-infizierten Person hat nicht nachgewiesen werden können. Nach der oben zitierten BSG-Rechtsprechung darf selbst ohne den Nachweis eines unmittelbaren oder mittelbaren beruflichen Kontaktes mit mindestens einer der an der betreffenden Infektionskrankheit leidenden Person während der Ansteckungszeit eine besondere, über das normale Maß hinausgehende Infektionsgefahr dann aber auch nur dann als gegeben angesehen werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass jedenfalls regelmäßig ein gewisser Prozentsatz der Patienten unerkannt an der jeweils in Rede stehenden Infektionskrankheit erkrankt ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch im Kreiskrankenhaus X1 (Regelversorgung) regelmäßig ein gewisser Prozentsatz der Patienten unerkannt HIV-infiziert war. Dieser Prozentsatz kann 1998 jedoch allenfalls nahe des allgemeinen Durchschnittes in Deutschland, also bei 0,1 %, gelegen haben. Wahrscheinlich ist jedoch, dass dieser Prozentsatz um bis zu 50 % niedriger als der Landesdurchschnitt (0,05 %) lag. Es kommen also durchaus regelmäßig, wenn auch sehr selten, HIV-infizierte Patienten in der medizinischen Klinik des Kreiskrankenhaus X1 vor. Es ist daher insbesondere in der inneren Abteilung nicht von einer erhöhten HIV-Prävalenz der dort behandelten Patienten auszugehen. Bei einem Anteil von allenfalls 0,1 % HIV-infizierter Patienten kann wohl nicht bereits von einem "gewissen" Prozentsatz unerkannt an der Infektionserkrankung erkrankten Patienten im Sinne der BSG-Rechtsprechung ausgegangen werden.
26Dennoch hat die erkennende Kammer einen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Erkrankung als wahrscheinlich angesehen. Nach neueren Untersuchungen soll es bei etwa 55 % (nach anderen bis 90 %) der Infizierten in den ersten drei bis acht Wochen (aber auch bis zu sechs Monaten) nach der Ansteckung zu einer akuten HIV-Krankheit kommen. Wenn also eine akute bzw. frische HIV-Krankheit dokumentiert ist und in zeitlichem Zusammenhang mit dem dokumentierten/vermuteten Expositionszeitpunkt steht, hat es ähnlich wie eine entsprechende Serokonversion fast Beweischarakter (vgl. Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, M 3101, Anm. 28.2.2, S. 52; Schönberger, Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl., S. 795).
27Von den Ärzten, die den Kläger im August und September 1998 erstmals behandelt haben, war bereits der Verdacht geäußert worden, dass es sich um eine frische Infektion handelt; deshalb wurde eine sogenannte Frühtherapie begonnen. Dieser Verdacht hat Bestätigung gefunden durch die ausführlichen Laborprotokolle der Immunoblot-Untersuchungen, die in der Abteilung Virologie am Institut für medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums B durch S durchgeführt wurden (Schreiben an K1 vom 04.10.2004, Bl. 101 Gerichtsakte). Diese Befunde lassen zwar keine akurate Bestimmung des Infektionszeitpunktes zu, grenzen den Infektionszeitraum jedoch auf etwa 8 bis 12 Wochen vor dem 10.08.1998 ein. Bei dem Kläger fand sich am 13.08.1998 ein "frühes" Reaktionsbild mit Antikörpern gegen drei Antigene und schließlich über Zwischenstufen am 29.09.1998 Antikörper gegen sechs Antigene. Daraus lässt sich schließen, dass der Infektionszeitpunkt mit 50 %iger Wahrscheinlichkeit vor Mitte Juni 1998 aber kaum vor Anfang Mai 1998 lag. Statistisch wahrscheinlich ist nach K1 ein Zeitpunkt im Juni 1998.
28Genau im Juni war der Kläger in der Abteilung tätig, in der auch Patienten mit Infektionskrankheiten lagen ( siehe Schreiben des Chefarztes der inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses N1 L, vom 14.04.1999 ). Die von dem Kläger berichtete Exposition zu Blut über die Augenbindehaut steht damit auch in zeitlich wahrscheinlichem Zusammenhang mit der erstmals nachgewiesenen Serokonversion. Ein zunächst fieberhaftes Krankheitsbild (20.07.1998), das später mit einer Herpesstomatitis einherging, kann von den zeitlichen Abläufen her als akute HIV-Krankheit gedeutet werden (ein Auftreten ca. vier bis sechs Wochen nach der Infektion). Im Zusammenhang mit dem von K1 mit 0.05 bis 0,01 % quantifiziertem Vorkommen unerkannt HIV-infizierter Patienten in der Einrichtung ist es mit Mehrtens/ Perlebach und Schönberger/Mehrtens/Valentin( a.a.O) daher hinreichend wahrscheinlich, dass die von dem Kläger vorgetragene Exposition zu Blut Anfang Mai oder Anfang Juni 1998 die maßgebliche Infektion gewesen sein muß.
29K1 hat den Vorfall, als dem Kläger beim Aufziehen eines Blutsenkungsröhrchens aus der oben offenen Küvette Blut ins Auge gespritzt ist, als einen glaubhaften infektionsrelevanten Blutkontakt bezeichnet, insbesondere deshalb, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt keine Brille, sondern Kontaktlinsen getragen hat. Bei Aufnahme von Blut über die Augenbindehaut (Konjunktivalschleimhaut) spricht man von einer sogenannten low-dose Infektion, das heißt, eine Infektion durch Exposition von geringen Mengen Blut zu Wunden und/oder Schleimhäuten. Obwohl der Vorfall nicht (mehr) durch Zeugen bestätigt werden kann, hat der gerichtliche Sachverständige die Schilderung des Klägers bei der gerichtlichen Anhörung als plausibel und glaubwürdig bezeichnet. Die Kammer hat keine Veranlassung gesehen, diese Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen in Zweifel zu ziehen, da der Sachverständige als ärztlicher Leiter der Aids- Beratungstelle der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales in I2 ein erfahrener Arzt ist und der Kläger von Beginn des Verwaltungsverfahrens an diesen Vorfall als Exposition geschidert hat. Zeitnah zu der Berufskrankheitenanzeige hat der Kläger bei dem Besuch des Mitarbeiters der Beklagten, Herrn X2, im März 1999 davon berichtet, dass ihm beim Aufziehen einer Blutsenkung Blut ins Auge gespritzt ist. Dass er diesen Vorfall damals nicht in allen Einzelheiten geschildert hat und die zum damaligen Zeitpunkt möglicherweise noch zu benennenden Zeugen nicht namentlich aufgeführt hat, spricht nicht gegen die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Denn zum damaligen Zeitpunkt ging der Kläger noch davon aus, dass der Kontakt zu dem TBC-infizierten 30jährigen schwerkranken Patienten und seine rissigen Hände eine naheliegendere Expositionsmöglichkeit darstellte. Gerade der Umstand, dass der Kläger bei seiner gerichtlichen Anhörung den Vorfall ganz unbefangen geschildert hat und auch angegeben hat, das Missgeschick habe zu Heiterkeit bei den anwesenden Schwestern bzw. Personen geführt, spricht für die Glaubwürdigkeit des Klägers. Es ist nicht ersichtlich, warum sich der Kläger einen solchen Vorfall ausdenken sollte, zumal er wusste, dass diverse Mediziner und Gutachter diese Schilderung auf ihre Glaubwürdigkeit hin prüfen würden. Auch die Angabe, das Missgeschick habe zu Heiterkeit geführt, hält die Kammer für glaubhaft und nachvollziehbar. Auch Missgeschicke, die Gefahrenpotential in sich bergen oder unfallträchtig sind, rufen nicht selten im Alltagsleben spontane bzw. unbewusste Heiterkeit aus. Dieses ist im Medizineralltag nicht anders. Dass der Kläger das Ereignis als solches auf den Tag genau nicht mehr angeben kann, spricht in diesem Zusammenhang weder gegen seine Glaubwürdigkeit noch scheidet es hierdurch als Expositionsereignis aus. Da das Aufziehen von Blutsenkungsröhrchen innerhalb der alltäglichen Routine eigentlich Schwestern- bzw. Pflegertätigkeit ist, hat der Kläger es als wahrscheinlich bezeichnet, dass das Vorkommnis in einem der beiden Nachtdienste geschah. Die beiden ersten Nachtdienste waren am 01.05.1998 und Anfang Juni 1998. Zusammenfassend ist die Kammer also in Übereinstimmung mit dem gerichtlichen Sachverständigen K1 von einer beruflichen Exposition zu Blut Anfang Mai oder Anfang Juni 1998 ausgegangen. Die akute HIV-Infektion mit der besonderen Antikörperentwicklung in zeitlichem Zusammenhang mit diesem, zwar nicht sicher nachgewiesenen aber durchaus glaubhaft beschriebenen, Blutkontakt lässt in Verbindung mit dem Vorkommen HIV-infizierter Patienten in der Einrichtung einen Zusammenhang wahrscheinlich erscheinen. Diesbezüglich schließt sich das Gericht den überzeugenden Ausführungen von K1 an.
30Es kann dahingestellt bleiben, ob bei Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der HIV-Infektion außerberufliche Risiken überhaupt zu prüfen sind. Denn im Falle des Klägers sind derartige Risiken wovon offenbar auch die Beklagte ausgeht als ausgeschlossen, jedenfalls aber als äußerst unwahrscheinlich anzusehen.
31Ist von einer berufsbedingten HIV-Infektion des Klägers auszugehen, so liegt eine BK nach Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV in allen Stadien der Krankheit vor. Dies trifft auch bei dem Versicherten zu, der HIV-Virusträger im Anfangsstadium ist, weil auch insoweit bereits ein regelwidriger Körperzustand besteht. Weil nach allen vorliegenden medizinischen Erkenntnissen des Weiteren davon auszugehen ist, dass in der Zukunft durchaus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit rentenberechtigenden Grades eintreten kann, war die Verurteilung der Beklagten durch ein Grundurteil (§ 130 SGG) auszusprechen.
32Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.