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1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.08.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2002 verurteilt, dem Kläger Rente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen und einer MdE um 30 % ab 01.09.1996 zu bewilligen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers.
Tatbestand:
2Streitig ist, ob dem Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 16.01.1996 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu bewilligen ist.
3Der Kläger ist heute 25 Jahre alt. Seit Sommer 1996 ist er in einer Behindertenwerkstatt mit leichten sitzenden Tätigkeiten beschäftigt.
4Er verunglückte am 16.01.1996 während einer Skifreizeit seiner Schule (Rheinische Schule für Körperbehinderte, N) in P.Er erlitt einen ausgedehnten Schädel- und Armbruch mit Mittelgesichtsverletzungen, Zahnfrakturen und anderen Begleitfolgen. Unfallunabhängig besteht beim Kläger eine geistige Behinderung und Epilepsie, die seit 1989 vom Neurologen L1 behandelt wurde. Seit 1992 ist beim Kläger wegen einer Hirnleistungsbeeinträchtigung durch frühkindlichen Hirnschaden und Unfall sowie wegen einer Funktionsstörung der Atmungsorgane ein GdB von 80 festgestellt mit Merkzeichen "H", "G" und "B".
5Die Beklagte bat am 27.08.1996 Chefarzt X X um eine fachchirurgische Begutachtung der Unfallfolgen mit neurologischem Zusatzgutachten des behandelnden Neurologen L1. Dieser erstattete sein Zusatzgutachten unter dem 23.11.1997 und gab an, dass aus nervenärztlicher Sicht die bekannten Unfallfolgen keine speziellen Behinderungen und auch keine Minderung der Erwerbsfähigkeit hinterlassen hätten. Allerdings lägen computertomografische oder MRT-Befunde nicht vor, die Auskunft darüber geben könnten, ob auch frontale Kontusionsherde bei dem Unfall entstanden seien. Solche frontalen Kontusionen verursachten in der Regel Wesensänderungen und es sei durchaus möglich, dass diese aufgrund der vorbestehenden Minderbegabung bei dem Kläger nicht ohne weiteres feststellbar seien. Somit müssten sie schon beim Nachweis einer Hirnläsion mit bildgebendem Verfahren anerkannt werden. Solche Hirnverletzungen bedingten im Schwerbehindertenrecht einen Grad der Behinderung von 30 - 40 und nach allgemeinen Richtlinien der gesetzlichen Unfallversicherung eine MdE um 10 - 20 %. X1 sandte den Gutachtenauftrag unerledigt zurück mit dem Hinweis, dass weitere Untersuchungen erforderlich seien.
6Die Beklagte veranlasste weitere Begutachtung und Untersuchung des Klägers durch den Chirurgen L2 (Gutachten vom 09.07.1998) und Neurologin M (Gutachten vom 27.07.1998), beide Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik (BGU), E. Auf unfallchirurgischem Gebiet sah L2 an Unfallfolgen nur noch Narben im Bereich des distalen Radius rechts, die keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) verursachten. Neurologin M führte aus, bei dem Unfall sei es zu einem Schädelhirntrauma mit Frakturen, Luftansammlung im Gehirn, Verletzung der harten Hirnhaut und zu frontalen Kontusionen gekommen. Der Kläger habe bei der Untersuchung Anzeichen von Aggressivität gezeigt, die möglicher Ausdruck einer hirnorganischen Wesensänderung nach frontaler Kontusionen seien, allerdings habe die Mutter auf Befragen nicht über Verhaltensänderungen nach dem Unfall berichtet. Eine gewisse Zuspitzung einer vorbestehenden Frustrationsintoleranz sei anzunehmen. Die MdE betrage ab 16.05.1996 bis 15.08.1996 20 %, danach auf Dauer 10 %.
7Die Beklagte holte eine Auskunft der Behindertenwerkstatt der Lebenshilfe I ein, wonach der Kläger dort seit 28.10.1998 als behinderter Mitarbeiter gegen einen Monatslohn von 230,00 DM beschäftigt war. Er verrichte leichtere Produktions- und Verpackungsarbeiten verlangsamt, aber korrekt. Er benötige mitunter vermehrte Ansprache wegen Antriebsarmut und Pausen sowie Arbeitszeitverkürzung wegen 2 mal monatlicher Migräneanfälle.
8Beratungsarzt Neurologe und Psychiater C empfahl, der MdE-Schätzung im Gutachten von M zu folgen (Stellungnahme vom 11.05.2001). Dementsprechend bewilligte die Beklagte Rente nach Maßgabe einer MdE um 20 % bis zum 31.08.1996 (Bescheid vom 06.08.2001), wobei sie als Unfallfolgen anerkannte: "Zustand nach knöchern fest verheilten Gesichtsschädelbrüchen mit Weichteilverletzungen im Gesichtsbereich und frontalen Hirnprellungen beidseits mit Einblutungen sowie prothetisch versorgten Zahnfrakturen Zähne 11 und 21, vorübergehende Bewegungseinschränkung und Belastungsschwäche des rechten Armes sowie Narben am rechten Arm nach knöchern fest verheiltem handgelenksnahen Speichenbruch rechts".
9Mit dem Widerspruch trug der Kläger vor, er leide seit dem Unfallereignis immer wieder an Panik und Unsicherheit. Vom Versorgungsamt sei der GdB auf 100 heraufgesetzt worden. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 20.03.2002).
10Hiergegen richtet sich die Klage mit der der Kläger vorträgt, er leide seit dem Unfall an Flimmerskotomen und Panikattacken. Völlige Erwerbsunfähigkeit habe vor dem Unfall nicht bestanden. Der Kläger habe vor dem Unfall z. B. noch Skifahren können und erziele auch heute noch regelmäßig Lohn in der Behindertenwerkstatt.
11Der Kläger beantragt,
12die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06.08.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2002 zu verurteilen, ab dem 01.09.1996 an den Kläger eine Unfallrente, ausgehend von einer MdE von wenigstens 30 % gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Die Beklagte ist der Auffassung, der Kläger sei bereits vor dem Unfall völlig erwerbsunfähig gewesen. Er habe selbst einfache Schreib- oder Büroarbeiten nicht ausführen können. Die Panikattacken stünden in Zusammenhang mit Migräneanfällen, Migräne könne aber nicht Unfallfolge sein. Eine erhebliche Wesensänderung sei von der Mutter nicht berichtet worden.
16Das Gericht hat zu Beweiszwecken ein über den Kläger am 13.04.1995 erstelltes Pflegeversicherungsgutachten beigezogen, außerdem Vorerkrankungsunterlagen von Elisabethkrankenhaus S (Bericht vom 23.08.2002) und der Barmer Ersatzkasse L Es hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch/psychiatrischen Gutachtens von L3 (Gutachten vom 04.04.2003 mit Ergänzung vom 14.05.2003 mit CT-Befund vom 27.03.2003).
17Die Beklagte hat zum Beweisergebnis eine neurologisch/psychiatrische Stellungnahme von C (vom 03.07.2003) vorgelegt.
18Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die oben genannten Unterlagen und Gutachten Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig, als dem Kläger über den 31.08.1996 hinaus Rente versagt wird. Vielmehr steht dem Kläger auch nach diesem Zeitpunkt Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach Maßgabe einer MdE um 30 % zu.
21Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - hier noch anwendbar über § 212 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VII - wird als Verletztenrente der Teil der Vollrente (§ 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO) gewährt, der dem Grade der MdE entspricht, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzen infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Inwieweit der Kläger durch die Unfallfolgen und deren Auswirkungen in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist, richtet sich nach dem Umfang der dadurch eingetretenen Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen und seelischen Leistungsvermögens sowie dem Umfang der ihm dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Arbeitsmarktes (Bundessozialgericht - BSG - SozR 2200 § 581 Nr. 28; vgl. jetzt § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).
22Ein Arbeitsunfall ist seitens der Beklagten anerkannt. Entgegen der Auffassung der Beklagten scheitert die Feststellung einer MdE nicht daran, dass der Kläger schon vor dem Unfall völlig erwerbsunfähig gewesen wäre. Allerdings setzt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit begrifflich eine zuvor bestehende Erwerbsfähigkeit voraus (vgl. z. B. LSG BY, Urteil vom 28.08.2002, L 2 U 230/01). Bestand schon vor dem Unfall völlige Erwerbsunfähigkeit, ist deren weitere Minderung unmöglich. Völlige Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Unfallversicherung liegt vor, wenn die Fähigkeit fehlt, trotz Nutzung aller nach den Kenntnissen und Fähigkeiten gegebenen Arbeitsmöglichkeit im gesamten Wirtschaftsleben noch nennenswerten Verdienst zu erzielen (vgl. LSG BY a. a. O.; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII Rdnr. 10.8 m. w. N.).
23Dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit bestand vor dem Unfall beim Kläger zur Überzeugung der Kammer nicht. Dies folgert die Kammer schon daraus, dass der Kläger auch nach dem Unfall noch in der Lage war, in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten und dort 1998 einen Verdienst von 230,- DM monatlich zu erzielen. Für die Frage der völligen Erwerbsunfähigkeit kommt es nicht nur auf die Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes an. Erwerbsfähig im Sinne des Unfallversicherungsrechts sind vielmehr auch gebrechliche Personen in sozial geschützten oder geförderten Arbeitsverhältnissen im Rahmen ihrer durch ihr Gebrechen naturgemäß begrenzten Erwerbsmöglichkeiten (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.06.1962, 2 RU 159/61, BSGE 17, 160). Dass hierzu auch die Beschäftigten in Behindertenwerkstätten gehören sollen, entnimmt die Kammer § 2 Abs. 1 Ziffer 4 SGB VII, wonach auch behinderte Menschen, die in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen tätig sind, kraft Gesetzes Unfallversicherungsschutz genießen. Versicherungsschutz besteht darüber hinaus allgemein für behinderte Menschen, die noch in der Lage sind, regelmäßig im Rahmen einer planmäßigen Organisation der Einrichtung produktive bzw. wirtschaftlich verwertbare Tätigkeiten zu verrichten (z. B. Briefe eintüten, Elektroteilchen zusammenstecken; vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 9.10 zu § 2 SGB VII). Da nicht ersichtlich ist, dass die solcher Art Versicherten von einzelnen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung ausgeschlossen sein sollen, folgt daraus zugleich, dass der Gesetzgeber die Erwerbsfähigkeit der in Werkstätten tätigen Behinderten nicht als im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vollständig erloschen ansieht.
24Die demnach noch mögliche Erwerbsminderung des Klägers beträgt 30 %, sodass ihm eine entsprechende Rente zu bewilligen ist. Beim Kläger bestehen - zum Teil neben den bereits anerkannten Unfallfolgen - ein Zustand nach schwerer Einblutung in beide Frontalhirnlappen und Kontusion beidseits frontal mit nachfolgenden großen Substanzdefekten, eine Kontusion als Contre-coup occipital beidseits mit nachfolgendem Substanzdefekt Occipital rechts, ein Zustand nach Trümmerfrakturen der Augenhöhle über und unter den Augen mit langstreckigem Einriss der harten Hirnhaut und dadurch Verlust von Nervenwasser und Eintritt von Luft in das Gehirn, Verkleinerung der rechten Lidspalte, Unaufmerksamkeitshemianopsie links unten, frontalhirnverursachte Schwäche beider Beine mit schnellem Absinken im Bein-Halte-Versuch, faciale Schwäche links, minimale Armparese rechts und ausgeprägte Feinmotorikstörung linker Arm, organischbedingte migräneartige Anfälle, ausgeprägte psychoorganische Verschlechterung mit schweren Panikattacken, Antriebsstörung, Verselbständigungshemmung und Verlangsamung. Dies steht für die Kammer fest aufgrund des überzeugenden und nachvollziehbar begründeten neurologisch/psychiatrischen Gutachtens von L3, das mit den Ergebnissen der entsprechenden fachärztlichen Begutachtungen im Verwaltungsverfahren vereinbar ist, aber gegenüber diesen auf deutlich breiterer Befundgrundlage erstellt wurde, sodass etwa die von L1 nur vermutete Kontusion von der Sachverständigen durch ein von ihr veranlasstes Schädel-CT vom 27.03.2003 nachgewiesen werden konnte. Soweit die Beklagte unter Bezug auf die von ihr vorgelegte Stellungnahme von C beanstandet, dass die Migränesymptomatik definitionsgemäß eine Anlageerkrankung und deshalb keine mögliche Unfallfolge sei, folgt die Kammer dieser Argumentation nicht: Aus dem Gutachten von L3 wird in der Gesamtschau deutlich, dass der Begriff "Migräne" teilweise untechnisch für "migräneartige" Kopfschmerzen verwendet wird, und zwar im Wesentlichen deshalb, weil als Ursache dieser migräneartigen Kopfschmerzen eine Prellung der Sehrinde angenommen wird. Die Sehrinde ist auch bei Migräne typischerweise hauptbetroffen, sodass es der Kammer nachvollziehbar ist, wenn die beim Kläger vorliegenden Kopfschmerzen und Flimmerskotome als "migräneartige" Anfälle beschrieben werden.
25Hieraus folgt - insoweit im Anschluss an die die Kammer überzeugende, urkundsbeweislich verwertete gutachterliche Stellungnahme von C vom 03.07.2003 - eine MdE um 30 %. Die Kammer ist der höheren Bewertung durch L3 nicht gefolgt, weil diese bei ihrer Einschätzung der MdE auf 50 % die Erwerbsmöglichkeiten in einer Behindertenwerkstatt zugrunde gelegt hat. Inwieweit der Kläger durch die Unfallfolgen und deren Auswirkungen in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert wird, richtet sich aber nach dem Umfang der dadurch eingetretenen Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen und seelischen Leistungsvermögens sowie dem Umfang der ihm dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Arbeitsmarktes (Bundessozialgericht - BSG -, SozR 2200 § 581 Nr. 28; vgl. jetzt § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Diesbezüglich lag beim Kläger ein erheblicher Vorschaden vor, denn er war bereits vor dem Unfall geistig behindert und Epileptiker. Vorschäden können sich bei der Einschätzung der MdE unterschiedlich auswirken (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, 10.6 und 10.7 zu § 56). Betrifft der Versicherungsfall ein bereits vorgeschädigtes Organ, ist klarzustellen, inwieweit bereits eine Funktionsbeeinträchtigung bestand und diese sodann durch den Versicherungsfall weiter gelitten hat. Bestand schon vorher eine verminderte Gebrauchsfähigkeit, ist der auszugleichende Nachteil geringer (a. a. O.). Da bei dem Kläger schon vor dem Unfall eine erheblich behindernde Hirnleistungsbeeinträchtigung bestand, muss die durch den "überholenden" Hirnschaden infolge des Unfalls hinzugetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit entsprechend geringer eingeschätzt werden. Die Kammer folgt deshalb im Ergebnis der Einschätzung durch C mit einer MdE um 30 %, wobei sie sich an den unfallversicherungsrechtlichen Vergleichswerten orientiert (z. B. Kasseler Kommentar/Ricke, Rdnr. 51 zu § 56). Danach bedingen Hirnverletzungen mit bleibenden leichten organisch psychischen Störungen eine MdE um 30 - 40 %, mit Wesensänderungen eine MdE ab 50 %, Hirndauerschäden mit zentralen vegetativen Störungen (Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Schwindel) in leichter Form 10 - 20 %, mittelschwer 20 - 30 %. Dem Grad der Beeinträchtigung des Klägers, bei dem einerseits durch die Sachverständige L3 und durch M Wesensveränderungen festgestellt sind, die aber andererseits aus den genannten Gründen nicht in vollem Umfang bewertet werden können, erscheint der von C angenommene MdE-Wert von 30 % angemessen.
26Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes.