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Ausweisung einer tadschikischen Staatsangehörigen wegen der Vermutung sich dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen zu haben.
Einzelfall, in welchem unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles das Begleiten des Ehemannes, welcher sich dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen hat, nicht als Unterstützungshandlung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG angesehen werden kann.
Für das Vorliegen der Anknüpfungstatsachen, aus denen die Schlussfolgerung gezogen werden soll, dass der Ausländer eine terroristische Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, ist die Ausländerbehörde beweispflichtig.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Mai 2021 verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin ist am 00.00.1993 in O. B. , Tadschikistan, geboren. Ihren Ehemann heiratete sie im Jahre 2010. Die Eheschließung wurde von den Verwandten des Ehepaares, wohl von der Mutter des Ehemannes, arrangiert. Ein erstes Kind wurde am 00.00.2012 geboren. Der Ehemann verließ sein Heimatland am 15. Februar 2014 und führte in der Bundesrepublik Deutschland erfolglos ein Asylverfahren durch. Während dieser Zeit fasste er den Entschluss, sich dem Islamischen Staat (im Folgenden: IS) anzuschließen. Er reiste am 17. November 2014 zurück nach Tadschikistan. Die Familie verließ ihr Heimatland am 28. Dezember 2014. Sie reiste zunächst in die Türkei. Von dort reiste jedenfalls der Ehemann der Klägerin im Januar 2015 oder spätestens Anfang Februar 2015 nach Syrien und nahm seinen Wohnsitz im vom IS besetzten Gebiet. Der Ehemann der Klägerin schloss sich dem IS an und erhielt eine militärische und religiöse Grundausbildung. Er bewohnte ein vom IS zur Verfügung gestelltes Haus. Der Ehemann der Klägerin erhielt einen Sold von 100 US-Dollar im Monat. Nachdem im August 2015 eine Bombe in das Wohnhaus eingeschlagen war, reiste er Ende August oder Anfang September 2015 aus Syrien aus. Insgesamt hielt sich der Ehemann für einen Zeitraum von ungefähr einem halben Jahr im Herrschaftsgebiet des IS auf.
3Am 17. September 2015 reiste die Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellte am 22. September 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Während des Asylverfahrens wurde am 00.00.2016 ein weiteres Kind geboren. Das Bundesamt lehnte den gestellten Asylantrag mit Bescheid vom 20. Februar 2017 ab und drohte die Abschiebung nach Tadschikistan an. Im Rahmen eines anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens hob das Bundesamt mit Bescheid vom 24. Juli 2018 die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung auf und stellte ein Abschiebeverbot hinsichtlich Tadschikistan fest. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Tadschikistan voraussichtlich staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sein würde, die im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stünden.
4Der Ehemann der Klägerin wurde bereits mit Urteil vom 13. Juli 2017 (2 StE 6/17 – 9) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Ausüben der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe und in einem weiterem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe und unerlaubtem Erwerb und Besitz dafür bestimmter Munition verurteilt. Hinsichtlich der Verurteilung und den zugrundeliegenden Feststellungen des OLG Düsseldorfs wird auf Bl. 275 ff. BA Heft 4 Bezug genommen. Der Ehemann der Klägerin wurde am 16. Februar 2021 aus der Haft entlassen. Die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
5Die Klägerin beantragte am 8. August 2018 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Ehemann der Klägerin wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 29. November 2019 ausgewiesen (vgl. Bl. 27 ff. BA Heft 5).
6Am 2. März 2021 ging die ausländerrechtliche Zuständigkeit von der Ausländerbehörde des Kreises X. auf die Beklagte über.
7Mit Schreiben vom 30. März 2021 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass beabsichtigt sei, die Klägerin aus der Bunderepublik auszuweisen, ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, welches auf 20 Jahre befristet werde, ihren Aufenthalt auf den Bezirk der Stadt F. zu beschränken sowie die Klägerin zu verpflichten, sich zweimal wöchentlich bei der Kreispolizeibehörde X. persönlich zu melden. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass hinreichende Tatsachen vorliegen würden, welche die Schlussfolgerung rechtfertigen würden, dass die Klägerin als Ehefrau mitgliedschaftliche Betätigungsakte ihres Ehemannes und damit einen den Terrorismus unterstützenden Angehörigen unterstützt hätte. Die Beklagte gab der Klägerin die Möglichkeit, hierzu Stellung zu nehmen.
8Die Klägerin trug mit anwaltlichem Schriftsatz vom 1. Mai 2023 vor, dass die Klägerin keine Straftaten begangen habe. Sie erfülle keinen Ausweisungstatbestand. Das bloße Bestehen einer Ehe könne nicht als Unterstützungshandlung angesehen werden.
9Mit Bescheid vom 17. Mai 2021 wies die Beklagte die Klägerin aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1), lehnte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 2), befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf zwanzig Jahre (Ziffer 3), beschränkte den Aufenthalt der Klägerin auf den Bezirk des Kreises X. (Ziffer 4), verpflichtete die Klägerin, sich einmal wöchentlich, jeweils freitags, zwischen 10:00 und 12:00 bei der zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden (Ziffer 5), drohte ein Zwangsgeld in Höhe von 100,00 € für den Fall, dass den Pflichten nach Ziffern 4 und 5 nicht nachgekommen wird, an und ordnete die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 5 an (Ziffer 6).
10Mit Bescheiden vom 8. Juni 2021 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 24. Juli 2018 festgestellten Abschiebungsverbote. Hiergegen erhoben die Klägerin mit Familie Klage vor dem Verwaltungsgericht Münster (10 K 1946/21.A). Während des gerichtlichen Verfahrens hob das Bundesamt den Bescheid vom 8. Juni 2021 auf (vgl. Bl. 5 BA Heft 8).
11Weitere Kinder der Klägerin sind am 00.00.2022 und am 00.00.2023 zur Welt gekommen. (Bl. 103 BA Heft 6).
12Die Klägerin hat bereits am 17. Juni 2021 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie zuletzt vor:
13Sie habe keinen Ausweisungstatbestand erfüllt. Sie sei strafrechtlich nicht belangt worden. Es gebe auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie den IS unterstützt habe. Sie habe ihren Ehemann nicht nach Syrien begleitet. Sie sei in der Türkei verblieben. Nur ihr Ehemann habe sich dem Islamischen Staat angeschlossen. Durch ihr Verhalten in Deutschland habe sie gezeigt, dass sie Terrorismus nicht unterstütze. Die Beklagte stütze ihre Entscheidung maßgeblich auf das Verhalten und die Verurteilung des Ehemannes. Dies sei unzulässig. Die Argumentation der Beklagten erschöpfe sich in einem bloßen Verdacht. Konkrete Unterstützungshandlungen seien nicht gegeben.
14Die Klägerin beantragt,
15den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen.
16Die Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung bezieht sie sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheides. Ergänzend trägt sie vor, dass die Klägerin eine Unterstützerin eines den Terrorismus unterstützenden Angehörigen sei. Bei dem Ehemann bestehe dazu eine fehlende Bereitschaft zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Ideologie des IS. Weder der Ehemann noch die Klägerin hätten erkennbar von ihrem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand genommen. Der ausländerrechtliche Begriff einer Unterstützung sei nicht deckungsgleich mit dem im Strafrecht verwendeten Begriff. Dass die Klägerin strafrechtlich nicht belangt worden sei, sei daher unbeachtlich. Der Vortrag der Klägerin, nie in Syrien gewesen zu sein, sei als Schutzbehauptung zu werten.
19Das Gericht hat die Klägerin zu einem Aufenthalt im Herrschaftsgebiets des IS informatorisch angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen N. T. , dem Ehemann der Klägerin, der unter Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht keine Angaben zur Sache gemacht hat. Insoweit wird auf die Protokolle Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
21Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG.
22I. Die in Ziffer 1 des Bescheids vom 17. Mai 2021 verfügte Ausweisung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
23Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
24Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.
25Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 -, juris, Rn. 8.
26Für die Klägerin ist kein besonderer Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3, 3a, 3b oder 4 AufenthG vorgetragen oder sonst ersichtlich.
27Der Aufenthalt der Klägerin gefährdet zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG.
28Die Klägerin verwirklicht kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer die freiheitlich demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand.
29In Betracht kommt vorliegend die Variante 2 des § 54 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 AufenthG („eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat“). Der Begriff der individuellen Unterstützung der Vereinigung ist mit Blick auf den hohen Rang der Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland weit zu verstehen.
30Erfasst ist jedes nicht nur geringfügige Tätigwerden auch eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung fördert, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer auf die Unterstützung terroristischer Bestrebungen gerichteten Ziele fördert und damit ihre potenzielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotenzial steigert. Die Unterstützung kann etwa in freiwilligen finanziellen Zuwendungen an die Vereinigung, in der Werbung für diese oder in der Aufnahme von straffällig gewordenen Angehörigen der Vereinigung liegen. Sie muss sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung auswirken, ohne dass es hierfür eines beweis- und messbaren Nutzens für die Verwirklichung der missbilligten Ziele oder einer subjektiven Vorwerfbarkeit bedarf. Erforderlich ist indes, dass die eine Unterstützung der Vereinigung, ihre sicherheitsgefährdenden Bestrebungen oder Tätigkeit bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und von seinem Willen getragen und ihm deshalb zurechenbar ist. Hieran fehlt es, wenn der Ausländer allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht jedoch auch die Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung befürwortet und sich hiervon ggf. deutlich distanziert. Maßgeblich ist jeweils eine wertende Gesamtschau sämtlicher Umstände des Einzelfalles. Das Ausweisungsinteresse des Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 Var. 2 AufenthG erstreckt sich nicht nur auf gegenwärtige Unterstützungshandlungen, sondern erfasst auch solche in der Vergangenheit, sofern diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Für das Merkmal der gegenwärtigen oder vormaligen individuellen Unterstützung der Vereinigung durch den Ausländer gilt ein reduzierter Beweismaßstab. Insoweit genügt es, dass Tatsachen diese Schlussfolgerung rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn ein auf Tatsachen gestützter Verdacht besteht, dass der Ausländer die Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Einer sicheren Überzeugung bedarf es nicht. In der Gesamtschau muss Überwiegendes auf eine Unterstützung hindeuten.
31Vgl. Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 40. Edition, Stand: 01.01.2024, § 54 AufenthG, Rn. 76 ff.
32Für das Vorliegen der Anknüpfungstatsachen, aus denen die Schlussfolgerung gezogen werden soll, ist die Ausländerbehörde beweispflichtig. Der Nachweis der Gefährdung obliegt der Ausländerbehörde, auch wenn sie auf die Unterstützung anderer Behörden angewiesen ist. Falls Beweismittel, z. B. vom Verfassungsschutz, nicht zur Verfügung gestellt werden, können die Erkenntnisse nicht verwertet werden.
33Vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 54 AufenthG Rn 31, 35.
34Die Unterstützungsbegriffe im Ausweisungsrecht – und zwar sowohl derjenige der Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung als auch der davon zu unterscheidende Begriff der individuellen Unterstützung der Vereinigung durch den Ausländer – sind nicht deckungsgleich mit dem strafrechtlichen Begriff des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung in § 129a V StGB. Sie umfassen auch das Werben für die Ideologie und die Ziele des Terrorismus.
35Vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 54 AufenthG Rn 40 ff.
36Die Schwelle der Strafbarkeit muss dabei nicht überschritten sein, da die Vorschrift der präventiven Gefahrenabwehr dient. Beispielsweise ist auch die Vorfeldunterstützung durch sogenannte Sympathiewerbung erfasst. Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen selbst potenziell als gefährlich erscheint.
37Vgl. zur Vorfeldunterstützung des Terrorismus: Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, Rn. 49.
38Da die Ausweisung einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bedeutet, müssen allerdings erhebliche Verdachtsmomente vorliegen, dass vom Ausländer persönlich eine Gefahr für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht.
39Mitgliedschaften und Unterstützungshandlungen, die in der Vergangenheit liegen, begründen dann ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wenn aus ihnen eine gegenwärtige Gefährlichkeit erwächst.
40Vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, Rn. 60.
41Ein „undoloser“ Unterstützer fällt nicht unter den Anwendungsbereich von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
42Vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 51.
43§ 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verlangt bezüglich der Anknüpfungstatsachen, die als Indizien für die Schlussfolgerung einer Unterstützung der terroristischen Vereinigung dienen, die volle richterliche Überzeugungsgewissheit.
44Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 17. Juni 2022 – 19 CS 19.1114 –, juris Rn. 26 m. w. N.
45Gemessen an diesen Maßstäben konnte das Gericht unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Klägerin eine terroristische Vereinigung unterstützt hat.
46Dabei ist lebensnah anzunehmen, dass die Klägerin ihren Ehemann begleitet hat, als dieser sich dem Islamischen Staat angeschlossen hat. Darüberhinausgehende Erkenntnisse, welche über ein bloßes Begleiten der Klägerin hinausgehen, sind jedoch nicht ersichtlich bzw. konnten von der Beklagten nicht hinreichend substantiiert vorgetragen werden. Für das Vorliegen der Anknüpfungstatsachen trägt jedoch – wie oben ausgeführt – die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast, sodass die Ausweisungsverfügung bereits aus diesem Grunde rechtswidrig ist.
47Nach der Erkenntnismitteilung des Verfassungsschutzes (Bl. 494 BA Heft 9) liegen überhaupt keine Erkenntnisse zu einem tatsächlichen Aufenthalt der Klägerin im Herrschaftsgebiet des IS noch zur Konkretisierung einer tatbestandlichen Unterstützungshandlung vor. Ebenso teilt das Polizeipräsidium N1. – Staatsschutz – mit, dass der Klägerin keine aktive oder unterstützende Rolle für die Ziele des IS zugeordnet werden konnte und dass keine Tatsachen bekannt sind, welche eine Einreise bzw. einen Aufenthalt in Syrien tatsächlich begründen können (Bl. 49 BA Heft 9). Gegen die Klägerin wurde kein strafrechtliches Verfahren eingeleitet (Bl. 492 BA Heft 9). Eine Beitrittserklärung zum IS oder ein Treueschwur der Klägerin sind nicht bekannt. Nach der Mitteilung der zunächst zuständigen Ausländerbehörde ist die Klägerin relativ gut sozial integriert (Bl. 201 BA Heft 3).
48Die von der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid angestellten Überlegungen zu einer möglichen Unterstützungshandlung der Klägerin bewegen sich im Bereich des Spekulativen. Der nicht durch Tatsachen belegte Verdacht reicht jedoch nicht aus, um eine Unterstützung der Klägerin annehmen zu können. So führt die Beklagte beispielsweise aus, dass davon auszugehen sei, dass die Klägerin im Rahmen der Ehe „mentale Unterstützungshandlungen“ erbracht haben dürfte. Was genau die Beklagte damit meint, bleibt offen. Erst recht fehlen tatsächliche Feststellungen, die eine solche Unterstützung belegen könnten. Die Beklagte scheint dabei von einem „westlichen“ Eheverständnis auszugehen, wogegen Zweifel geboten erscheinen. Die Klägerin ist mit 17 Jahren mit ihrem Ehemann, ihrem Cousin, verheiratet worden. Die Ehe wurde von den Eltern arrangiert. In Tadschikistan herrscht eine konservative Gesellschaft mit hoher sozialer Kontrolle, in der traditionelle Rollenmuster vorherrschen. Seit der Unabhängigkeit 1991 scheint sich dieser Trend zu verstärken. In den meisten Fällen liegt die Entscheidung über den Ehepartner eher bei den Eltern als bei den Betroffenen. Töchter haben kaum eine Chance, sich diesen Zwängen zu entziehen.
49Vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tadschikistan vom 9. April 2024 (Stand: November 2023), S. 12.
50In dieser sozialen Struktur gibt das männliche Familienoberhaupt die Geschicke der Familie vor. Der Frau kommt die Rolle als Erziehende der Kinder zu. Zwar erscheint es möglich, dass auch in einem solchen Rollenverständnis (mentale) Unterstützungshandlungen erbracht werden können. Erkenntnisse hierfür fehlen aber im vorliegenden Einzelfall. Es ist beispielsweise nicht davon auszugehen, dass die Klägerin substanziell auf die Entscheidung, nach Syrien zu reisen, Einfluss nehmen konnte. Fraglich ist schon, ob überhaupt ein eigenständiger Wille der Klägerin, nach Syrien zu reisen, vorlag. Nach den Feststellungen im Urteil des OLG Düsseldorfs hat der Ehemann der Klägerin den Entschluss alleine während seines ersten Aufenthaltes in Deutschland getroffen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Klägerin in Tadschikistan. Nach der Rückkehr des Ehemannes nach Tadschikistan erfolgte dann kurze Zeit später die gemeinsame Ausreise aus Tadschikistan.
51Insgesamt ist festzuhalten, dass auch der Beklagten keinerlei tatsächliche Feststellungen zu Besonderheiten, wie beispielsweise einer eigenständigen und intrinsisch motivierten Ausreise nach Syrien, der Heirat von seitens der Organisation zugeführten Mitgliedern, einer indoktrinativen Kindererziehung mit dem Ziel, den Nachwuchs seinerseits zu Mitgliedern oder Unterstützern der Vereinigung zu formen, dem Bewerben der Organisation im Internet, dem Versuch, Deutsche zur Ausreise zum IS zu bewegen, der Beherbergung von IS-Angehörigen, der häuslichen Pflege von verwundeten Kämpfern, der Ausbeutung von Jesidinnen, dem Besuch von IS-Frauentreffs und Scharia-Unterricht oder das Tragen einer Kalaschnikow in der Öffentlichkeit, vorliegen.
52Vgl. zur strafrechtlichen Bewertung solcher Handlungen: BGH, Beschluss vom 21. April 2022 – AK 18/22 –, juris.
53Aus dem Foto, welches den Sohn und den Ehemann der Klägerin mit erhobenem Tauhid-Finger zeigt, kann nach Überzeugung des Gerichts nicht mit hinreichender Sicherheit auf eine indoktrinative Kindererziehung mit dem Ziel, den Sohn zu einem Mitglied oder einem Unterstützer der Vereinigung zu formen, geschlossen werden.
54Soweit das Auslieferungsersuchen der tadschikischen Behörden (Bl. 236 BA Heft 9) die Aussage enthält, dass die Klägerin eine militärische Ausbildung durch den IS erhalten habe und als Söldnerin am bewaffneten Kampf teilnehme, bemisst das Gericht diesem Dokument kein erhebliches Gewicht bei. Zweifel scheinen bei einem solchen tadschikischen Dokument angebracht zu sein. Im Übrigen bleibt komplett im Unklaren, worauf diese Behauptung fußt. Auch die Beklagte scheint nicht davon auszugehen, dass die Klägerin tatsächlich als Kämpferin tätig geworden ist.
55Der Aussagen des Ehemannes im strafrechtlichen Verfahren,
56vgl. zu Zweifeln hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes einiger Aussagen: S. 33 und 49 des forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 27. Oktober 2020 (Bl. 128, 144 BA Heft 7),
57ist ebenfalls bloß ein Begleiten der Klägerin zu entnehmen.
58Die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerte Auffassung, dass aus der Tatsache, dass der Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe, auf eine Unterstützungshandlung der Klägerin geschlossen werden könne, ist nicht zulässig.
59Die von der Beklagten wohl gesehene Vergleichbarkeit mit einer - strafrechtlichen - „Parallelentscheidung“ (Bl. 201 BA Heft 3) überzeugt nicht. Die Sachverhalte sind nicht vergleichbar. In der angeführten Entscheidung,
60vgl. BGH, Entscheidung vom 28. Juni 2018 – StB 11/18 –, juris,
61reiste die Beschuldigte freiwillig zum IS, in der Hoffnung, „den ehrenvollen Tod einer Shahida zu erlangen“. Ihr wurde ein IS-Kämpfer als Ehemann vermittelt und sie war bereit, einen umgelegten Sprengstoffgürtel zu zünden, falls die Gegner des IS in das Innere des Frauenhauses gelangen sollten. Sie veröffentlichte ein Foto eines Revolvers, eines Geschenks ihres Mannes, mit offenbar gefülltem Magazin, bezeichnete den IS als besten Staat und rechtfertigte Enthauptungen durch den IS. Vergleichbares Verhalten ist für die Klägerin nicht ansatzweise bekannt.
62Die von der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid gesehene „Sogwirkung insbesondere auf Gleichgesinnte in Europa“ dürfte nicht vorgelegen haben, da die Klägerin gar nicht aus Europa stammt. Die Beklagte scheint diesbezüglich wohl eher eine Konstellation einer deutschen bzw. europäischen Staatsangehörigen vor Augen zu haben, welche nach Syrien gereist ist, um sich dem IS anzuschließen.
63Statt konkrete Anhaltspunkte im Hinblick auf die Klägerin anzugeben, enthält der streitgegenständliche Bescheid sowie die Klageerwiderung schwerpunktmäßig Ausführungen zu dem Verhalten des Ehemannes der Klägerin, welcher - zu Recht - bestandskräftig ausgewiesen worden ist. Dies genügt aber nicht, um eine Gefährdung durch die Klägerin selbst anzunehmen. Die Ansicht der Beklagten ist mit dem Charakter der §§ 53 ff. AufenthG, welche im Mittelpunkt eine Gefährdung durch den jeweils Betroffenen vorsehen, nur schwer in Einklang zu bringen.
64Kann schon nicht von einer Unterstützungshandlung in der Vergangenheit der Klägerin ausgegangen werden, so kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt von der Klägerin eine gegenwärtige Gefährlichkeit ausgeht.
65Vgl. zu diesem Erfordernis: Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, Rn. 60.
66Auch diesbezüglich liegen keine belastbaren Informationen vor. Die von der Beklagten angeführte Begründung, eine gegenwärtige Gefahr ergebe sich allein daraus, dass die Klägerin ihren Aufenthalt in Syrien verschwiegen habe und keine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Aufenthalt erfolgt sei, teilt das Gericht nicht.
67Schließlich ist auch kein anderer Ausweisungstatbestand erkennbar.
68II. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 vorliegt. Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 24. Juli 2018 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt.
69Auf die Erfüllung allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen – insbesondere ein bestehendes Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – kommt es für den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG nicht an. Denn gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist u.a. im Fall der Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels von der Anwendung des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG abzusehen. Ausschlussgründe nach § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG liegen nicht vor. Insofern kann die obigen Ausführungen Bezug genommen werden.
70Die Klägerin hat infolge der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen auch einen Erteilungsanspruch. Denn § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist eine Soll-Vorschrift. Anhaltspunkte für einen atypischen Fall sind nicht ersichtlich.
71III. Die Anordnung des ausweisungsbezogenen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und dessen Befristung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, da sich die ihnen zugrundeliegende Ausweisungsentscheidung als rechtswidrig erweist. Gleiches gilt für die weiteren Ziffern 4 – 6 des streitgegenständlichen Bescheids, die jeweils vom Bestand der Ausweisungsverfügung abhängen.
72Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.