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as Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat.
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. November 2021 verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf Somalia vorliegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 75 % und die Beklagte zu 25 %.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgegner vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
2Die am 5. Juni 1987 geborene Klägerin ist nach eigenen Angaben somalische Staatsangehörige muslimischen Glaubens. Ihren Angaben zufolge verließ sie Somalia im Jahr 2012 und reiste zunächst in Norwegen ein, wo sie am 3. Juni 2012 erfolglos einen Asylantrag stellte. Dort gab sie zur Begründung im Wesentlichen an: Sie komme aus Mogadischu und gehöre zum Clan Reer Hamar (Subclan: Bandhabow). Zusammen mit einer anderen Frau habe sie Bajiye (frittierte Teigbällchen) verkauft. Al-Shabaab-Mitglieder seien zu ihnen gekommen und hätten sie aufgefordert, ihre Arbeit einzustellen und für sie zu arbeiten. Sie sollten ihnen Informationen über Behördenmitarbeiter geben. Als sie dem nicht zugestimmt hätten, sei die andere Frau kurz darauf getötet worden. Sie – die Klägerin – sei dann geflohen. Daraufhin sei ihr Ehemann gefangengenommen und gefoltert worden. Sie habe noch vier Kinder in Somalia. Ihr Asylantrag wurde von den norwegischen Behörden am 6. August 2013 bestandskräftig abgelehnt.
3Einen weiteren Asylantrag stellte die Klägerin am 10. Dezember 2015 in Schweden. Am 10. Juli 2016 reiste sie von dort in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15. Juli 2016 stellte sie im Bundesgebiet erstmals einen Asylantrag.
4Nachdem das Asylverfahren mit Bescheid vom 22. März 2017 zunächst wegen Nichtbetreibens eingestellt worden war, wurde es auf Antrag der Klägerin vom 2. Mai 2017 fortgesetzt.
5In ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 8. Juni 2017 trug sie im Wesentlichen vor: Sie komme aus Mogadischu und sei sehr jung verheiratet worden. Ihr Ehemann habe sie schwer misshandelt, woraufhin ihr Onkel sie – fünf Monate vor ihrer Ausreise – habe scheiden lassen. Daraufhin habe sie angefangen zu arbeiten: An einem Stand habe sie unter anderem Süßigkeiten verkauft. Sie sei dann von al-Shabaab-Mitgliedern angesprochen worden, die ihr hätten verbieten wollen, weiterzuarbeiten, und sie mit einem ihrer Anhänger hätten verheiraten wollen. Sie habe geantwortet, dass sie beides nicht wolle, habe dann jedoch aus Angst aufgehört zu arbeiten und sich vier Monate zu Hause versteckt. Von der Tochter eines Freundes ihres Onkels, die ihr ähnlich gesehen haben, habe sie deren Reisepass abkaufen und so ausreisen können. Diese Gründe habe sie so auch in Norwegen geltend gemacht. Darüber hinaus habe sie inzwischen nach islamischen Recht geheiratet. Ihr Ehemann sei im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis.
6Die Klägerin legte zudem ein ärztliches Attest des Herrn Dr. X.---- vom 29. März 2017 vor, wonach bei ihr eine Lumboischialgie und eine muskuläre Dysbalance im Wirbelsäulenbereich vorlägen.
7Mit Bescheid vom 24. Mai 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin zunächst als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, drohte der Klägerin die Abschiebung nach Somalia an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Wegen des erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens in Norwegen liege ein Zweitantrag vor. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien jedoch nicht erfüllt. Die Klägerin habe mit ihrer Furcht vor einer Zwangsverheiratung durch al-Shabaab-Mitglieder Vorverfolgungsgründe geltend gemacht, die sie bereits in ihrem vorangegangenen Asylverfahren in Norwegen habe geltend machen können. Nach Angaben der Klägerin habe sie sich im Rahmen ihres dortigen Asylverfahrens auch auf die gleichen Verfolgungsgründe berufen. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Ihre Einlassung sei angesichts der gänzlich anderen – sich teils mit den hier gemachten Angaben widersprechenden – Verfolgungsgeschichte, die sie vor den norwegischen Behörden vorgebracht habe, unglaubhaft. Im Übrigen bestehe zwar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Mogadischu. Der festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche jedoch dort nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche Niveau. Auch die derzeitigen humanitären Bedingungen in Somalia führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr mittellos und völlig auf sich gestellt sei. Sie sei in der Lage gewesen, erhebliche Mittel für ihre Reise aufzubringen. Ferner sei zu erwarten, dass die Klägerin, die selbst vor ihrer Ausreise gearbeitet habe, auf die Hilfe ihrer Familie zurückgreifen könne. Die von der Klägerin geltend gemachten Rückenschmerzen begründeten kein Abschiebungsverbot, da sich aus dem eingereichten Attest, das nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG genüge, nicht schließen lasse, dass ihr Gesundheitszustand sich umgehend verschlechtern werde. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei angemessen.
8Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 23. September 2019 beantragte sie die Fortsetzung des Verfahrens. Zur Begründung gab sie an, der Bescheid vom 24. Mai 2018 sei rechtswidrig, da ihr Asylantrag mangels Zugehörigkeit Norwegens zur Europäischen Union nicht als Zweitantrag habe gewertet werden dürfen.
9Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 15. November 2021 lehnte das Bundesamt die Anträge der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), Asylanerkennung (Ziffer 2) und Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4), forderte die Klägerin zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung auf, drohte ihr die Abschiebung nach Somalia an (Ziffer 5), ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete dieses auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Wegen einer Änderung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes lägen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte seien hingegen nicht erfüllt. Insoweit werde auf die Ausführungen im Bescheid vom 24. Mai 2018 verwiesen. Es werde nicht als notwendig erachtet, die widersprüchlichen Ausführungen der Klägerin zu ihren Asylgründen in Deutschland und in Norwegen erneut zu bewerten, da es hier zu keiner anderen Bewertung kommen könne. Die genannten Gründe würden auch im aktuellen Verfahren als unglaubhaft eingestuft. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes seien ebenfalls nicht erfüllt. Der Vortrag der Klägerin sei unglaubhaft. Zwar bestehe im Übrigen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Mogadischu. Der festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche jedoch dort nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche Niveau. Eine entsprechende Gefahrendichte sei weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht gegeben. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liege ebenfalls nicht vor. Auch insoweit werde auf die Ausführungen im Bescheid vom 24. Mai 2018 Bezug genommen.
10Am 25. November 2021 hat die Klägerin Klage erhoben.
11Soweit sie bei Klageerhebung zunächst auch beantragt hatte, die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, hat sie die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.
12Sie beantragt nunmehr,
13den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. November 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten,
14ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
15hilfsweise, ihr subsidiären Schutz zu gewähren,
16weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf Somalia vorliegen.
17Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
18die Klage abzuweisen.
19Sie verweist zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
20Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung mithilfe eines Dolmetschers für die somalische Sprache ergänzend zu ihren Fluchtgründen informatorisch angehört worden. Wegen der Einzelheiten der Anhörung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 3. April 2023 Bezug genommen.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Asylakten Bezug genommen.
22E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
23Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden. Die Beklagte ist in der Ladung auf die Rechtsfolgen des § 102 Abs. 2 VwGO hingewiesen worden.
24Soweit die Klägerin die Klage teilweise, d.h. im Hinblick auf die Verpflichtung zu ihrer Anerkennung als Asylberechtigte, zurückgenommen hat, war das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Die im Übrigen aufrecht erhaltene zulässige Klage ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
25Der Bescheid des Bundesamtes vom 15. November 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO), soweit dieses festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) zwar weder einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, noch einen Anspruch auf die – hilfsweise beantragte – Verpflichtung der Beklagten, ihr subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren. Insoweit ist der Bescheid rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Allerdings besteht bei ihr ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf Somalia.
26Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
27Einem Ausländer wird nach dieser Vorschrift die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
28Nach § 3a Abs. 3 AsylG muss darüber hinaus zwischen den in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG aufgeführten Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Zudem kann die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e Abs. 1 AsylG nur dann zuerkannt werden, wenn nicht der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung findet und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, er dort aufgenommen wird und es vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (innerstaatliche Fluchtalternative).
29Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 -, juris, Rn. 19.
31Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht dem Maßstab, der in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) angewandt wird, indem auf die tatsächliche Gefahr ("real risk“) abgestellt wird. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 32, m.w.N.
33Dabei obliegt es dem Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er muss in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen. Ein in diesem Sinne schlüssiges Schutzbegehren setzt im Regelfall voraus, dass der Schutzsuchende konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals vorträgt und sich nicht auf unsubstantiierte allgemeine Darlegungen beschränkt. Er muss nachvollziehbar machen, wieso und weshalb gerade er eine Verfolgung befürchtet. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Asylbewerbers berücksichtigt werden.
34Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405.89 –, juris, Rn. 8; OVG NRW, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A –, juris, Rn. 59.
35Ist der Ausländer verfolgt ausgereist, d.h., hat er Verfolgungsmaßnahmen bereits erlitten oder war er von solchen unmittelbar bedroht, findet – auch wenn dies anders als nach früherer Gesetzeslage (vgl. § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG a.F. i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG) nicht mehr ausdrücklich geregelt ist – die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehene Beweiserleichterung Anwendung.
36Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. Januar 2014 – 9 A 2561/10.A –, juris, Rn. 39.
37Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
38Ausgehend von diesen Maßstäben begründet das Vorbringen der Klägerin keine Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Ihr Vortrag ist nicht glaubhaft.
39Hierfür spricht allen voran, dass sie im Laufe ihrer Asylverfahren in Norwegen und in Deutschland ihre Verfolgungsgeschichte mehrfach in erheblicher Weise geändert hat. Die vorgetragenen Fluchtgründe decken sich allein insoweit, als die Klägerin behauptet, dass sie einen Stand betrieben habe, an dem sie Essen verkauft habe, und von al-Shabaab aufgefordert worden sei, dies zu unterlassen. In Norwegen wie auch in der mündlichen Verhandlung trug sie darüber hinaus – anders als vor dem Bundesamt – vor, diesen Stand gemeinsam mit einer Freundin betrieben zu haben, die getötet worden sei. Während sie auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung, wie das passiert sei, lediglich angab, nicht im Stadtteil gewesen zu sein und nicht genau zu wissen, was passiert sei, trug sie gegenüber den norwegischen Behörden eine andere – wiederum in sich widersprüchliche – Sachverhaltsschilderung vor, wie sich aus deren Bescheid vom 6. August 2013 ergibt (vgl. Bl. 82 f. der Beiakte 2):
40„In der Asylanhörung hat die Klägerin zuerst angegeben, sie und ihre Kollegin hätten es abgelehnt, für al-Shabaab zu arbeiten, und al-Shabaab sei in der Nacht, nachdem sie sie zum ersten Mal aufgesucht hätten, zu ihnen gekommen. Danach erklärte sie, dass sie an diesem Tag nicht auf die Anfrage von al-Shabaab geantwortet habe und dass ihre Freundin erschossen worden sei, als diese tags darauf zur Arbeit gingen. Zuerst erklärte sie, die Freundin sei vor ihr losgegangen. Sie selbst sei zuhause gewesen, als sie erfuhr, dass die Freundin erschossen worden war. Ferner erklärte sie, dass al-Shabaab in dieser Nacht zu ihr nach Hause gekommen sei und nach ihr gesucht habe, dass sie sich aber versteckt habe. Später erklärte sie, dass sie und ihre Freundin zusammen zur Arbeit gegangen seien, dass aber ihre Freundin, die etwas vor ihr ging, erschossen worden sei. Sie selbst sei dort weggelaufen. Auf Nachfrage des Interviewers erklärte die Klägerin danach, dass sie nicht gesehen hat, dass die Freundin erschossen wurde und dass al-Shabaab nach der Freundin und nicht nach der Klägerin gerufen habe, weshalb die Freundin erschossen worden sei. Auf Nachfrage erklärte sie, dass sie nicht anwesend gewesen sei, als das geschah, da sie sich versteckt hatte und innerhalb des Hauses war, als das geschah, aber dass man ihr erzählt habe, wie das geschehen sei. Während des Durchlesens des Anhörungsprotokolls bestätigte sie indessen, dass die Freundin nur kurz vor ihr gewesen ist.“
41Auch im Hinblick auf das vermeintliche Vorgehen von al-Shabaab unterscheiden sich die Sachvorträge der Klägerin. In ihrem Asylverfahren in Norwegen gab sie an, Männer der al-Shabaab hätten sie aufgefordert, ihren Job aufzugeben und lieber für sie zu arbeiten. Sie sollte al-Shabaab Information zu Behördenmitarbeitern zukommen lassen – was diese täten und wo sie seien. Von diesem konkreten Angebot war in ihrem hiesigen Asylverfahren keine Rede mehr. In ihrer Anhörung vor dem Bundesamt trug sie insoweit vor, al-Shabaab habe zu ihr gesagt, sie sei ein junges Mädchen, die Arbeit sei nicht gut für sie und sie solle damit aufhören. In der mündlichen Verhandlung schilderte sie, al-Shabaab habe ihr gedroht und sie aufgefordert, mit der Arbeit aufzuhören. Im weiteren Verlauf der Verhandlung äußerte sie – ohne nähere Konkretisierung – dass man ihr gesagt habe, man würde ihr eine andere Arbeit geben.
42Gegenüber ihrem Asylverfahren in Norwegen hat die Klägerin ihren Vortrag hier dahingehend gesteigert, dass ihr zudem angedroht worden sei, sie mit einem al-Shabaab-Mitglied zu verheiraten. Die Nachfrage in der mündlichen Verhandlung, ob sie zu diesem Zeitpunkt verheiratet gewesen sei, bejahte die Klägerin. Ihr Ehemann, den sie gegenüber den al-Shabaab-Mitgliedern nicht erwähnt habe, habe sie verlassen, nachdem auch er ihretwegen von al-Shabaab bedroht worden sei. Auf Vorhalt, dass sie angegeben habe, gegenüber al-Shabaab nicht offenbart zu haben, dass sie verheiratet ist, gab sie bloß pauschal an, dass al-Shabaab dies später erfahren habe. Gegenüber den norwegischen Behörden brachte sie demgegenüber vor, ihr Ehemann sei von al-Shabaab gefangengenommen und gefoltert worden. Gänzlich anders stellt sich ihr Vortrag vor dem Bundesamt dar. Dort hatte sie geschildert, dass sie mit ihrem Ehemann zwangsverheiratet worden sei, dieser sie aber so sehr misshandelt habe, dass ihr Onkel sie – etwa fünf Monate vor ihrer Ausreise – habe scheiden lassen. Erst danach habe sie angefangen, an einem kleinen Stand Süßigkeiten zu verkaufen, bis sie von al-Shabaab bedroht worden sei. Daraufhin habe sie vier Monate das Haus nicht verlassen. In der mündlichen Verhandlung trug sie demgegenüber vor, sie habe den Stand etwa fünf bis sechs Jahre betrieben.
43Auch hinsichtlich ihrer Ausreise widersprechen sich die Angaben der Klägerin. Im norwegischen Asylverfahren hatte sie angegeben, dass es ihrem Ehemann, bevor er von al-Shabaab gefangengenommen worden sei, noch gelungen sei, ein Grundstück zu verkaufen. Sie habe dann 9.000 US-Dollar für ihre Reise nach Norwegen gezahlt. Vor dem Bundesamt schilderte sie hingegen, dass ein Freund ihres Onkels eine Tochter gehabt habe, die ihr sehr ähnlich gesehen habe. Für deren Reisepass hätten sie die Hälfte ihres Grundstückes verkauft. In der mündlichen Verhandlung wiederum trug sie zunächst vor, ihr Onkel habe ein Haus verkauft, das ihm gehört habe. Mit dem Geld sei ihr dann geholfen worden zu fliehen. Auf Nachfrage, was mit dem Geld passiert sei, antwortete sie lediglich, der Schleuser habe das Haus bekommen und sie dafür außer Landes gebracht.
44Im Übrigen waren die Schilderungen der Klägerin sowohl in der Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung sehr allgemein gehalten und ohne hinreichende Details, die darauf hindeuten würden, dass die Angaben in dieser Form erlebnisbasiert sind. Die Klägerin antwortete auf offene Fragen nur knapp und wurde selbst bei Nachfragen kaum präziser.
45Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die – hilfsweise geltend gemachte – Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Denn sie hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihr in Somalia ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG droht.
46Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Somalia als ernsthafter Schaden die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG drohen würde, bestehen nicht.
47Die Klägerin hat keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) zu befürchten.
48Alleine die Existenzbedingungen am Herkunftsort der Klägerin vermögen keine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu begründen. Denn diese Bestimmung und damit auch der ihr zugrunde liegende Art. 15 lit. b RL 2011/95/EU erfordern ein zielgerichtetes Handelns bzw. Unterlassens eines Akteurs, auf das die schlechte humanitäre Lage maßgeblich und nicht nur in geringem Umfang zurückzuführen ist. Ein derartiges zielgerichtetes Handeln oder Unterlassen eines Akteurs liegt in Somalia nicht vor. Der jahrelange bewaffnete Konflikt zwischen der al-Shabaab einerseits und den somalischen Regierungstruppen und deren Verbündeten andererseits mag zwar für die schlechte humanitäre Lage kausal sein. Die Handlungen dieser Akteure zielen aber nicht oder nur untergeordnet auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung ab. Selbst wenn man in diesen Handlungen eine zielgerichtete Verschlechterung der humanitären Lage sehen würde, wäre dieser Einfluss relativ gering, weil der bewaffnete Konflikt der maßgebliche Grund für die schlechten Lebensbedingungen ist und die zielgerichtete Verschlechterung nur einen Teilgrund bilden.
49Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 –, juris, Rn. 9 ff.; VG Wiesbaden, Urteil vom 14. März 2019 –, 7 K 1139/17.WI.A –, juris, Rn. 46 ff.
50Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen zur Verfolgungsgeschichte verwiesen, die auch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der Klägerin nicht befürchten lassen.
51Der Klägerin droht ebenso wenig eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
52Es kann offenbleiben, ob die derzeitige allgemeine Sicherheitslage in der insoweit maßgeblichen Region Banadir die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne dieser Vorschrift rechtfertigt.
53Zum Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 – Rs. C-285/12 (Diakité) –, juris, Rn. 30 ff.; BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 –, juris, Rn. 23 f.
54Denn jedenfalls ist die Klägerin auch bei Vorliegen eines derartigen Konflikts keiner ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt.
55Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines derart hohen Niveaus willkürlicher Gewalt bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind.
56Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Januar 2014 – Rs. C-285/12 (Diakité) –, a.a.O., und vom 17. Februar 2009 – Rs. C-465/07 (Elgafaji) –, juris, Rn. 43.
57Die von dem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr muss sich so verdichten, dass sie für die betreffende (Zivil-)Person zu einer erheblichen individuellen Gefahr wird.
58Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann auch dann, wenn keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist allerdings ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich.
59Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Oktober 2021 – 9 A 549/18.A –, juris, Rn. 110 ff.
60Um festzustellen, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95 – der die unionsrechtliche Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bildet – vorliegt, ist eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnen, erforderlich. Konkret können insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte, die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen als Faktoren berücksichtigt werden. Im Hinblick auf die Intensität des Konflikts kann weiterhin die Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung ein maßgebliches Kriterium sein. Wenn die tatsächlichen Opfer der Gewaltakte, die von den Konfliktparteien gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der in der betreffenden Region lebenden Zivilpersonen verübt werden, einen hohen Anteil an deren Gesamtzahl ausmachen, ist nämlich der Schluss zulässig, dass es in der Zukunft weitere zivile Opfer in der Region geben könnte.
61Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021 – C-901/19 –, juris, Rn. 40 ff.
62Für die vorzunehmende Gefahrenprognose ist auf den tatsächlichen Zielort bei einer Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird.
63Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 – 10 C 9.08 –, juris, Rn. 17.
64Im Fall der Klägerin ist davon auszugehen, dass sie in ihren Herkunftsort Mogadischu zurückkehren wird.
65Die Bevölkerung Mogadischus wächst seit Jahren und die Grenzen der Stadt dehnen sich stetig aus. Im Jahr schätzte das CIA Factbook die Einwohnerzahl Mogadischus auf 2.388.000. UNOCHA kam nach Schätzungen im Jahr 2021 auf eine Bevölkerungszahl von 2.683.312, das IPC-Projekt (Integrated Food Security Phase Classification) der Welternährungsorganisation auf 2.874.431 im Jahr 2022.
66Vgl. EUAA, Somalia: Security Situation, Country of Origin Information aus Februar 2023, S. 110.
67Demgegenüber stehen 901 zivile und nicht-zivile Todesopfer bei 898 Sicherheitsvorfällen im Zeitraum Juli 2021 bis November 2022.
68Vgl. EUAA, a.a.O., S. 115 f.
69Daraus ergibt sich – selbst bei Annahme der niedrigsten oben genannten Einwohnerzahl – bezogen auf den Zeitraum eines Jahres eine Wahrscheinlichkeit von lediglich ca. 0,03 %, im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes getötet zu werden.
70Seit 2014 befindet sich die Stadt zudem unter Kontrolle von Regierung und ATMIS. ATMIS markiert permanent ihre Präsenz in der Hauptstadt. Generell haben sich seit 2014 die Lage für die Zivilbevölkerung sowie die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden in Mogadischu verbessert. Letztere können nunmehr großteils jene Gebiete kontrollieren, in welchen al-Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte.
71Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia vom 17. März 2023 (Version 5), S. 48 f.
72Ferner ist zu berücksichtigen, dass die genannten Zahlen auch die militärischen Verluste umfassen. Diese sind im Übrigen auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Sicherheitslage, insbesondere im Hinblick auf die militärische Strategie von al-Shabaab, zu bewerten.
73Einem erhöhten Risiko sind v.a. solche Personen ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von der Miliz als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden.
74Vgl. BFA, a.a.O., S. 51; siehe zu den einzelnen Risikogruppen S. 200 f.
75Grundsätzlich richten sich die Angriffe von al-Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von den erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden.
76Vgl. BFA, a.a.O., S. 202 f.
77Al-Shabaab greift sonstige Zivilisten, die nicht zu einer der Risikogruppen gehören, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden.
78Vgl. BFA, a.a.O., S. 203.
79Mangels Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ist die Gefahr für die Klägerin, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, im Rahmen einer Gesamtabwägung und unter Berücksichtigung aktueller Anschläge in Mogadischu, die dem oben dargestellten Muster folgen, auch bei qualitativer Betrachtung als äußerst gering einzustufen.
80Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch gegen die Beklagte auf die – weiter hilfsweise geltend gemachte – Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf den Zielstaat Somalia.
81Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
82Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
83Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich –, Rn. 278; BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 –, juris, Rn. 6, und Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris, Rn. 23 ff., m.w.N.
84Eine Abschiebung kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn humanitäre Gründe „zwingend“ gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Die im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein Mindestmaß an Schwere aufweisen.
85Vgl. dazu ausführlich OVG NRW, Urteil vom 28. August 2018 – 9 A 4590/18.A –, juris, Rn. 152 ff. und 161 ff. m.w.N.
86Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn Rückkehrer ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten.
87Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 –, juris, Rn. 12, und Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 –, juris, Rn. 11.
88Bei der Einzelfallwürdigung ist als Maßstab die sogenannte beachtliche Wahrscheinlichkeit heranzuziehen. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung.
89Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 32, und vom 27. April 2010 – 10 C 5.09 –, juris, Rn. 22.
90Bei der erforderlichen, im Einzelfall zu treffenden Gefahrenprognose sind – neben der Bewertung der aktuellen Lage im Herkunftsland – die die Lebensbedingungen erschwerenden sowie begünstigenden Faktoren in den Blick zu nehmen und abzuwägen. Zu den zu würdigenden individuellen Faktoren gehören dabei etwa das Alter und das Geschlecht des Rückkehrers, die familiäre Anbindung, der Bildungsstand, der Gesundheitszustand und mögliche bzw. zu erwartende Unterstützungsleistungen.
91Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 29. September 2020 – 9 A 949/18.A –, juris, Rn. 9, vom 13. August 2020 – 9 A 1742/19.A –, juris, Rn. 27, und vom 25. März 2020 – 9 A 2113/18.A –, juris, Rn. 10.
92Somalia gehört zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Periodisch wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen wie auch Überflutungen, zuletzt auch die Heuschreckenplage, die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zu einem Land mit hohen humanitären Nöten.
93Vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 28. Juni 2022, Stand: Mai 2022, S. 4, 23.
94Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie. Die somalische Wirtschaft hat sich allerdings als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden, nach anderen Angaben sogar nur 0,1 %. Für 2021 war ein Wachstum von 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 %. Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 %. Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen. Ein resilienter Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben Grundlage für Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung, sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit. Die Geldrückflüsse nach Somalia sind 2021 im Vergleich zu 2020 noch einmal gestiegen, von 30,8 % des BIP auf 31,3 %. Neben der Diaspora sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen. Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 %, für 2022 werden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre 9,4 % prognostiziert. Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können. Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 875 US-Dollar. Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt. Landwirtschaft, Handel, Kommunikation und mobile Geldtransferdienste tragen maßgeblich zum BIP bei; alleine die Viehwirtschaft macht rund 60% des BIP und 80 % der Exporte aus. Insgesamt sind zuverlässige Daten zur Wirtschaft schwierig bis unmöglich zu erhalten bzw. zu verifizieren bzw. sind vertrauenswürdige Daten kaum vorhanden.
95Vgl. BFA, a.a.O., S. 226.
96Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager.
97Vgl. BFA, a.a.O., S. 235.
98Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind. So berichten etwa Personen, die aus Kenia zurückgekehrt sind, über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten. Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle. Gerade um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen.
99Vgl. BFA, a.a.O., S. 228.
100Die Ernährungssicherheit in Somalia hat sich in jüngster Zeit verschlechtert. Nach Heuschreckenplagen, Überschwemmungen und der Covid-19-Pandemie setzen lang anhaltende Dürren und die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine mit stark steigenden Lebensmittelpreisen die Bevölkerung unter Druck.
101In dem von der Nichtregierungsorganisation Food Security and Nutrition Analysis Unit – Somalia (FSNAU), die von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) geführt wird, zur Beschreibung der Nahrungsmittelversorgungslage verwendeten Fünf-Stufen-System, werden weite Teile des Landes den Stufen „2: Stressed“ („angespannt“) und „3: Crisis“ („Krise“) zugeordnet.
102Vgl. https://fsnau.org/downloads/FSNAU-IPC-Combined-Current-Deyr-2022.pdf; https://fsnau.org/downloads/FSNAU-IPC-Combined-Projection-Deyr-2022.pdf; beide zuletzt abgerufen am 3. April 2023.
103Jedenfalls bei den Stufen „2: Stressed“ („angespannt“) und „3: Crisis“ („Krise“) kann noch nicht grundsätzlich auf eine unzureichende Lebensmittelversorgung geschlossen werden.
104Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2019 – A 9 S 1566/18 –, Rn. 43 f.
105Auch angesichts der Covid-19-Pandemie ist nicht davon auszugehen, dass sich die humanitären Verhältnisse in Somalia derart verschlechtert hätten oder alsbald verschlechtern werden, dass mit ihnen generell eine Verletzung von Art. 3 EMRK einhergehen würde. Für eine solche Annahme sind bei Zugrundelegung der herangezogenen Erkenntnisse keine Anhaltspunkte ersichtlich.
106Zwar leidet die somalische Wirtschaft unter den Auswirkungen der Pandemie. Insbesondere ist der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig –zurückgegangen. 45 % der Kleinstunternehmen mussten schließen. Die Arbeitslosigkeit – und damit auch die Armut – haben sich verstärkt. Die – die wirtschaftliche Entwicklung hemmenden – Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 wurden inzwischen jedoch weitgehend gelockert bzw. aufgehoben.
107Vgl. BFA, a.a.O., S. 3 f.
108Frauen haben in der somalischen Gesellschaftsstruktur nicht dieselbe Position inne wie ein gleichaltriger Mann. Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet. Sie genießen nicht die gleichen Rechte wie Männer und werden systematisch benachteiligt. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung. Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z.B. halbe Erbquote). Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen. Gemäß einer aktuellen Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft, wirtschaftliche Möglichkeiten, Politik und Bildung. Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen zudem schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das in der Regel enge Familienangehörige – geführt von einem männlichen Verwandten – umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen. Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z.B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation bei. Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben.
109Vgl. BFA, a.a.O., S. 165 ff., 235.
110Ausgehend von dieser Erkenntnislage stellt im Falle der Klägerin angesichts der Umstände des Einzelfalles eine Rückführung nach Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK dar.
111Die 35-jährige Klägerin hat keine Schule besucht. Sie hat nach ihrer Angabe vor ihrer Ausreise aus Somalia einen Imbissstand betrieben und in Deutschland als Reinigungskraft gearbeitet. Unabhängig von der Frage, ob die Klägerin tatsächlich von ihrem Ehemann und Vater ihrer vier Kinder geschieden ist, ist nicht davon auszugehen, dass sie in der Lage sein wird, bei einer Rückkehr ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse, insbesondere im Hinblick auf die Ernährungssicherheit, ist die Sicherung des Existenzminimums besonders herausfordernd. Dass der Klägerin dies gelingen würde, ist weder zu erwarten, wenn sie – bei Annahme, dass sie noch verheiratet ist – nicht nur sich, sondern neben ihrem Ehemann auch noch ihre vier Kinder versorgen muss, noch wenn sie – bei Annahme, dass sie nicht mehr verheiratet ist – als alleinstehende und damit besonders vulnerable Frau auf sich allein gestellt ist. Dass andere Familienangehörige sie maßgeblich unterstützen könnten, ist nicht ersichtlich. Auch die grundsätzlich zur Verfügung stehenden Start- und Reintegrationshilfen (bspw. REAG/GARP-Programm, Europäischen Reintegrationsprogramm „ERRIN") ändern an dieser Bewertung nichts. Dass die Klägerin auch mit dieser Unterstützung in der Lage sein würde, ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen, ist insbesondere angesichts der gestiegenen Preise, insbesondere für Nahrungsmittel und Wohnraum, nicht ersichtlich.
112Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt daneben nicht in Betracht, da die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand darstellt.
113Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 –, juris, Rn. 44, und vom 8. September 2011 – 10 C 14.10 –, juris, Rn. 17; OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2021 – 19 A 4604/19.A –, juris, Rn. 29.
114Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes ist aufzuheben, weil die Voraussetzungen für ihren Erlass nach § 34 Abs. 1 AsylG wegen der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nicht mehr vorliegen.
115Damit ist auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG in Ziffer 6 des angefochtenen Bescheides aufzuheben, weil die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen.
116Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dem ursprünglich geltend gemachten Begehren auf Asylanerkennung kommt neben dem Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft materiell-rechtlich keine wesentliche eigenständige Bedeutung zu. Deshalb waren trotz der diesbezüglichen Klagerücknahme der Klägerin insoweit keine Kosten aufzuerlegen. Gemäß § 83b AsylG werden Gerichtskosten nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.