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Das „Inkenntnissetzen“ i.S.v. § 36a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB VIII muss so rechtzeitig erfolgen, dass der Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist (wie OVG NRW, Urt. vom 26.06.2019 – 12 A 2468/16 -).
Die ursprünglich unzulässige Selbstbeschaffung führt lediglich dazu, dass für den davon betroffenen Zeitraum keine Kostenerstattung in Betracht kommt; sie hat indes nicht zur Konsequenz, dass der Anspruch auch für zukünftige Zeitabschnitte ausgeschlossen ist (wie OVG NRW, Urt. vom 16.11.2015 – 12 A 1639/14 -).
Eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft i.S.v. § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist anzunehmen, wenn eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Betreffenden vorliegt oder eine solche droht, also letztlich eine – ggf. zunehmende – gesellschaftliche Isolierung des Kindes oder Jugendlichen besteht oder jedenfalls zu befürchten ist.
Der Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung seines Bescheides vom 19. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 2020 verpflichtet, der Klägerin die Kosten ihrer Autismustherapie bei der Dipl. Sozialpädagogin F. in T. für den Zeitraum vom 1. November 2019 bis zum 31. Oktober 2021 zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt 60 %, die Klägerin 40 % der Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
2Die Eltern der am 19. Februar 2003 geborenen Klägerin beantragten unter dem 12. Juni 2019 beim Beklagten, ihr Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche unter anderem in Form der Kostenübernahme für eine Autismustherapie zu gewähren.
3Nach Berichten des Universitätsklinikums N. – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und –psychotherapie – vom 28. Juni 2019 und 16. Januar 2020 seien bei der Klägerin unter anderem (1. Achse der Multiaxialen Klassifikation der Diagnosen nach ICD-10) eine „Autismus-Spektrum-Störung im Sinne eines atypischen Autismus und eines »High Functioning Autismus« (F84.1)“ bzw. eine „Autismus-Spektrum-Störung: atypischer Autismus (F84.1)“, eine „Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADS (F98.8)“ sowie „Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2)“ diagnostiziert worden.
4Mit Bescheid vom 19. Februar 2020 lehnte der Beklagte nach Anhörung der Eltern der Klägerin die beantragte Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine Autismustherapie ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an: Bei der Klägerin liege zwar eine seelische Störung im Sinne des § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vor. Es werde jedoch klargestellt, dass die seelische Störung ausschließlich aufgrund der diagnostizierten Aufmerksamkeitsstörung sowie der Angst und der depressiven Störung angenommen werde. Das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung im Sinne eines atypischen Autismus werde hingegen angezweifelt, weil die Angaben der Eltern der Klägerin in den Gesprächen zur Erstellung eines Diagnosebogens zur Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung keine autismusspezifischen Besonderheiten erkennen ließen. Die geschilderten Verhaltensweisen der Klägerin im Bereich der Alltagsbewältigung stellten keine Beeinträchtigungen im Sinne der Eingliederungshilfe dar. Bezüglich des Bereichs Kommunikation/Interaktion/Sozialverhalten werde in allen Teilbereichen, nämlich in der Familie, in der Freizeit und der Schule, deutlich, dass der Klägerin eine adäquate Kommunikation in entspannten Situationen gelinge. Dass sie in Streit- bzw. Konfliktsituationen zu Beleidigungen und lautem Schreien tendiere, mache einen pädagogischen Unterstützungsbedarf deutlich. Die Klägerin habe in Bezug auf ihr Sozialverhalten selbst angegeben, dass sie Freunde im Nachmittagsbereich habe, mit denen sie sich treffe. Die Angaben ihrer Eltern, dass die Klägerin Emotionen von anderen verwechsele, habe der Diagnosebericht nicht bestätigen können. Hier werde der Klägerin ein feines Gespür für soziale und emotionale Befindlichkeiten attestiert. In Bezug auf den Bereich Freizeit/Freunde/Teilhabe am gesellschaftlichen Leben habe die Klägerin angegeben, dass sie sich wünsche, zukünftig mit Pferden umgehen zu können und/oder Hip-Hop-Tanzunterricht zu erhalten, da sie aktuell keine Hobbys ausübe. Hier bedürfe es einer pädagogischen Unterstützung, um eine mögliche Anbindung der Klägerin zu prüfen bzw. umzusetzen. Die Klägerin sei in der Lage, Veranstaltungen wie die örtliche Kirmes in Begleitung eines Familienmitglieds zu besuchen. Dass es während eines solchen Besuchs zu Konfliktsituationen komme, resultiere unter anderem aus dem Umfeld und aus dem noch zu fördernden Konfliktverhalten der Klägerin auf pädagogischer Ebene. Hinsichtlich des Bereichs Schule habe die Klägerin wiederholt Mobbing-Situationen erlebt, die auch mit Handgreiflichkeiten und körperlichen Angriffen einhergegangen seien. Dass sie aufgrund dieser Erfahrungen dem Schulbesuch skeptisch gegenüberstehe, sei nachvollziehbar. Diese Thematik solle die Klägerin im Rahmen ihrer ambulanten Anbindung im Universitätsklinikum N. thematisieren. Der geltend gemachte unstrukturierte Tagesablauf der Klägerin widerspreche einer Autismus-Spektrum-Störung. Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zeichneten sich mit einer hohen Tagesstruktur aus, von welcher nicht abgewichen werden dürfe. Eine Teilhabebeeinträchtigung zeige sich auch nicht in dem geltend gemachten unangemessenen, zwanghaften Waschverhalten und unangepassten Kleiderwechsel der Klägerin. Dies spreche eher für eine psychische Erkrankung aus dem Bereich der phobischen Störungen. Die vorgebrachte unangemessene Einnahme von Mahlzeiten bzw. deren Zubereitung und die Schwierigkeiten beim Einkauf von Lebensmitteln stellten Hinweise auf sozial-emotionale Probleme dar, auf die im Rahmen einer ambulanten Hilfe zur Erziehung einzugehen sei. Auch sei die Klägerin nach den Angaben im Diagnosebogen grundsätzlich in der Lage, den Weg zur Schule bzw. zur Therapie eigenständig zu bewältigen. Dass in einzelnen Situationen eine Irritation vorgelegen habe, z.B., weil der Bus von der anderen Straßenseite losgefahren sei, begründe noch keine Teilhabebeeinträchtigung. Auch die nicht selbstständige Einnahme von Medikamenten beschreibe keinesfalls eine autismusspezifische Besonderheit. Dieses Verhalten könne eine Vielzahl von Ursachen haben und sei ein deutlicher Hinweis auf einen erzieherischen Bedarf. Missverständnisse in der sozialen Interaktion seien durch Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung bedingt. Auch diese könne im Rahmen einer ambulanten Hilfe zur Erziehung bearbeitet werden. Aufgrund der Teamberatungen sei den Eltern der Klägerin daher eine pädagogische/therapeutische Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 3 SGB VIII angeboten worden.
5Gegen diesen Bescheid erhoben die Eltern der Klägerin unter dem 3. März 2020 Widerspruch.
6Unter dem 13. März 2020 holte der Beklagte eine gutachterliche Einschätzung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. S. von der Forschungsstelle Autismus des Fachbereichs Sozialwesen der Fachhochschule N. zu der Frage ein, ob sich aus der fachlichen Diagnostik und den weiteren Unterlagen hinreichend feststellen lasse, ob bei der Klägerin eine Störung aus dem autistischen Spektrum vorliegt. In der gutachterlichen Einschätzung vom 14. April 2020 hielt Prof. Dr. S. zusammenfassend fest, dass die Diagnosen „Atypischer Autismus“ und „High Functioning-Autismus“ durch den Klinikbericht nicht gestützt würden.
7Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2020 wies der Beklagte den Widerspruch vom 3. März 2020 zurück. Zur Begründung wiederholte er im Wesentlichen die Begründung des angegriffenen Bescheids und führte zudem aus, der Gutachter habe bestätigt, dass eine Erkrankung der Klägerin aus dem Autismusspektrum nicht vorliegen könne.
8Die Eltern der Klägerin haben am 18. Juni 2020 Klage erhoben.
9Sie machen im Wesentlichen geltend: Die Klägerin sei Autistin. Dies sei durch die vorliegenden Gutachten bestätigt worden. Die Klägerin sei wegen ihres Autismus auch in der Teilhabe beeinträchtigt. Sie benötige eine gezielte und umfassende Autismustherapie, damit ihren Teilhabebeeinträchtigungen in allen Bereichen begegnet werden könne. Da der Beklagte die Kosten für die Autismustherapie nicht übernommen habe, sei die Leistung im Juni 2019 selbst beschafft worden. Die Therapie werde durch die Dipl. Sozialpädagogin F. in T. durchgeführt. Mit Schreiben vom 26. Juli 2021 sei die begehrte Hilfe als Hilfe für junge Volljährige beantragt worden.
10Die Klägerin beantragt,
11den Bescheid des Beklagten vom 19. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten ihrer Autismustherapie bei der Dipl. Sozialpädagogin F. in T. seit dem zweiten Quartal 2019 zu übernehmen.
12Der Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Er ist der Auffassung: Die Diagnose Asperger-Syndrom (F 84.5) werde als seelische Störung der Klägerin anerkannt. Da jedoch keine Teilhabebeeinträchtigung festgestellt worden sei, sei die Kostenübernahme für eine Autismustherapie rechtmäßig abgelehnt worden. Auf den Antrag der Klägerin auf Hilfe für junge Volljährige sei das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung neu geprüft worden. Diese sei nach einer Teamberatung auf Grundlage der aktuellen fachärztlichen Diagnostik der psychischen Erkrankungen der Klägerin in den Bereichen der Alltagsbewältigung/des häuslichen Lebens, der Interaktion Kommunikation/Sozialverhalten und auch in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Freizeit) gegeben. Das Kreisjugendamt werde der Klägerin daher eine autismusspezifische Förderung bewilligen. Der Beginn dieser Hilfe werde über ein gemeinsames Hilfeplangespräch vereinbart. Es werde aber zu bedenken gegeben, dass mit einer reinen autismusspezifischen Förderung der Rehabilitationsbedarf der weiteren psychischen Erkrankungen der Klägerin nicht oder nur bedingt abgedeckt sei. Hier werde erneut auf eine ambulante therapeutische Hilfe hingewiesen. Sofern die Klägerin von ihrem Antrag, die autismusspezifische Förderung als persönliches Budget zu bewilligen, Abstand nehme, werde ihr angeboten, dass das Kreisjugendamt mit der Therapeutin direkt eine Vereinbarung treffe.
15Das Gericht hat Beweis erhoben über die Frage, ob bei der Klägerin eine Störung aus dem Autismus-Spektrum vorliegt, durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie A. . Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 29. Juni 2021 Bezug genommen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie der beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
18Die als Verpflichtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 Alt. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthafte Klage hat in der Sache in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
19Die Klage ist unbegründet, soweit die Klägerin die Verpflichtung des Beklagten erstrebt, ihr die Kosten ihrer Autismustherapie bei der Dipl. Sozialpädagogin F. in T. für den Zeitraum vom 1. Juni 2019 bis zum 31. Oktober 2019 zu erstatten. Insoweit ist der Bescheid des Beklagten vom 19. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 2020 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten ihrer Autismustherapie, die vom 1. Juni 2019 bis zum 31. Oktober 2019 angefallen sind.
20Da die Autismustherapie der Klägerin nicht aufgrund der Entscheidung eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe aufgenommen worden ist (§ 36a Abs. 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VIII), setzt dieser Anspruch voraus, dass die Klägerin berechtigt war, sich die für erforderlich gehaltene Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 SGB VIII selbst zu beschaffen, vgl. § 36a Abs. 3 SGB VIII. Dies ist hinsichtlich des oben genannten Zeitraums zu verneinen.
21Nach § 36a Abs. 3 SGB VIII ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII von dem Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3), das für die Leistungsgewährung vorgesehene System also versagt hat. Ein solches "Systemversagen" liegt vor, wenn die Leistung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht erbracht wird, obwohl der Hilfesuchende die Leistungserbringung durch eine rechtzeitige Antragstellung und seine hinreichende Mitwirkung ermöglicht hat und auch die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vorliegen. In dieser Situation darf sich der Leistungsberechtigte die Leistung selbst beschaffen, wenn es ihm wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten ist, die Bedarfsdeckung aufzuschieben.
22Vgl. OVG NRW, Urteile vom 26. Juni 2019 – 12A 2468/16 -, www.nrwe.de, Rn. 35, und vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 -, www.nrwe.de, Rn. 8.
23Ein solches Systemversagen ist hier zu verneinen.
24Die Klägerin hat den Beklagten hinsichtlich des oben genannten Zeitraums schon nicht rechtzeitig im Sinne von § 36a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB VIII über ihren Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt.
25Das „Inkenntnissetzen“ muss so rechtzeitig erfolgen, dass der Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist. Das Jugendhilferecht ist nämlich kein Recht der reinen Kostenerstattung für selbstbeschaffte Leistungen, sondern verpflichtet den Träger der Jugendhilfe zur partnerschaftlichen Hilfe. Nur so kann der Jugendhilfeträger seiner Gesamtverantwortung im Sinne von § 79 Abs. 1 SGB VIII und seiner Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2, 3 SGB VIII gerecht werden.
26Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. Juni 2019, a.a.O., Rn. 46ff, mit weiteren Nachweisen.
27Diese Möglichkeit, die Anspruchsvoraussetzungen und mögliche Hilfemaßnahmen vor Beginn der selbstbeschafften Hilfe pflichtgemäß zu prüfen, hat die Klägerin dem Beklagten nicht eingeräumt. Vielmehr hatten die Eltern der Klägerin den Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der ambulanten Autismustherapie am selben Tag verfasst, nämlich am 12. Juni 2019 (beim Beklagten eingegangen am 17. Juni 2019), an dem sie auch die Leistungs- und Vergütungsvereinbarung über die autismusspezifische Förderung der Klägerin bei der Diplomsozialpädagogin F. abgeschlossen hatten. Damit verblieb dem Beklagten keine Zeit, bis zum Beginn der Autismustherapie die notwendigen eigenen Feststellungen zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII und zur geeigneten und notwendigen Hilfeart zu treffen.
28Der Klägerin war es aber zuzumuten, die Deckung ihres Bedarfs über den Zeitpunkt der Antragstellung bis zu dem nach den Umständen zu erwartenden Abschluss der Verwaltungsermittlungen hinauszuschieben.
29Die Verwaltungsermittlungen waren hier jedenfalls Ende Oktober 2019 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beklagte den Antrag der Klägerin vom 12. Juni 2019 auf der Grundlage des Berichts des Universitätsklinikums N. vom 28. Juni 2019 sowie des erhobenen Diagnosebogens zur Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung in der Teamberatung vom 27. August 2019 erörtert und den Eltern der Klägerin mit Schreiben vom 17. September 2019 eine ambulante sozialpädagogische Familienhilfe gemäß § 27 Abs. 3 SGB VIII angeboten sowie ihnen mit Anhörungsschreiben vom 18. September 2019 mitgeteilt, er beabsichtige, den Antrag abzulehnen. Hierzu hatte sich die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 18. Oktober 2019 abschließend geäußert. Damit standen dem Beklagten jedenfalls ab November 2019 alle für eine pflichtgemäße Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 12. Juni 2019 erforderlichen Erkenntnisse zur Verfügung. Soweit der Beklagte in der Folgezeit noch weitere Ermittlungen angestellt hat, erfolgte dies allein hinsichtlich des ebenfalls unter dem 12. Juni 2019 gestellten Antrags der Klägerin, ihr Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Schulbegleitung zu gewähren. Dies ergibt sich auch aus dem Schreiben des Beklagten an die Praxis W. vom 2. Januar 2020, mit dem der Beklagte um eine Hospitation in der Schule der Klägerin bat und worin es ausdrücklich hieß: „… für F1. B1. wurde eine autismusspezifische Förderung und eine Schulbegleitung beantragt. Über den Antrag auf autismusspezifische Förderung haben wir bereits entschieden.“
30Die Deckung des jugendhilferechtlichen Bedarfs der Klägerin war nicht derart dringlich, dass sie angesichts der hier zu berücksichtigenden Umstände berechtigt war, sich die für erforderlich gehaltene Hilfe selbst zu beschaffen, bevor – ab November 2019 - eine Entscheidung des Beklagten über den Hilfeantrag vom 12. Juni 2019 erwartet werden konnte.
31Dafür spricht bereits, dass die Klägerin bzw. ihre Eltern – soweit ersichtlich - im genannten Zeitraum den Beklagten nicht darüber informiert hatten, dass die Klägerin bereits mit der Autismustherapie begonnen hatte. Damit hatte die Klägerin von vornherein keine den oben genannten Anforderungen entsprechende Grundlage für eine rechtzeitige Entscheidung des Beklagten geschaffen. Jedenfalls liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Situation der Klägerin bereits zum genannten Zeitpunkt keinen nennenswerten Aufschub einer Behandlung zuließ.
32Von einem unaufschiebbaren Bedarf im Sinne von § 36 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII kann nur ausgegangen werden, wenn die Gewährung der Hilfe im Hinblick auf Art und Dringlichkeit des Hilfebedarfs in dem Sinne unaufschiebbar war, dass die Leistung sofort und ohne die Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs erbracht werden musste, mithin ein Eilfall vorlag. Dabei ist vom konkreten Hilfebedarf im Einzelfall auszugehen und zu prüfen, ob die Leistung so dringlich ist, dass sie den Leistungsberechtigten – weil das Jugendamt nicht bzw. nicht rechtzeitig über die begehrte Hilfeleistung entschieden oder sie rechtswidrig abgelehnt hat – gleichsam zwingt, den Bedarf umgehend selbst zu decken.
33Vgl. OVG NRW, Urteil 14. März 2003, a.a.O.
34Ein solcher Fall war hier nicht gegeben. Zwar waren im Bericht des Universitätsklinikums N. vom 28. Juni 2019 bei der Klägerin unter anderem eine „Autismus-Spektrum-Störung im Sinne eines atypischen Autismus und eines »High Functioning Autismus« (F84.1)“ bzw. eine „Autismus-Spektrum-Störung: atypischer Autismus (F84.1)“, eine „Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADS (F98.8)“ sowie „Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2)“ diagnostiziert worden, weshalb bei ihr „in der Gesamtheit … erhebliche autistische Defizite in der Kommunikation und der sozialen Interaktion“ vorgelegen hätten. Auch hatten die Eltern der Klägerin nach dem vom Beklagten erstellten Diagnosebogen zur Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung die Bereiche Alltag, Schule und soziale Kontakte der Klägerin als problematisch beschrieben und unter anderem angegeben, die Klägerin habe eine sehr geringe Frustrationstoleranz, wobei kleinste Dinge ausreichend seien, damit sie „ausraste“, sie sei nicht in der Lage, selbstständig aufzustehen, habe ein zwanghaftes Waschverhalten entwickelt, sei bei der Essenseinnahme maßlos, könne Lebensmitteleinkäufe nicht allein bewältigen, könne überraschende Situationen auf dem Weg zur Schule nicht bewältigen, könne die Medikamenteneinnahme und andere tägliche Routinen nicht selbstständig einhalten, sei nicht in der Lage, ihr eigenes Verhalten zu steuern, reagiere auf Kleinigkeiten unverhältnismäßig mit verbalen und körperlichen Reaktionen, sei nicht in der Lage, Gefahren im Straßenverkehr zu erkennen, könne in Konfliktsituationen die Äußerungen ihres Gegenübers nicht nachvollziehen und auch keine entsprechende Reaktion darauf zeigen, könne emotionale Reaktionen anderer nicht zuordnen, erkenne Emotionen und/oder Bedürfnisse teilweise nicht, habe aktuell kein Freizeitverhalten, sondern verbringe ihre Zeit zu Hause, habe in der Schule Sorge vor erneutem Mobbing. Danach bestand bei der Klägerin – was auch der Beklagte nicht bestreitet - zweifellos ein zu deckender jugendhilferechtlicher Bedarf. Den zitierten Stellungnahmen lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass die Autismustherapie der Klägerin sofort oder jedenfalls noch vor der zu erwartenden Entscheidung des Beklagten über den Antrag vom 12. Juni 2019 aufgenommen werden musste. Auch war der Klägerin bereits durch die Einleitung des jugendhilferechtlichen Verfahrens ein konkreter Weg zur Behebung ihrer Schwierigkeiten aufgezeigt, ohne dass es hierfür des sofortigen Beginns der Autismustherapie bedurft hätte. Dies gilt besonders deshalb, weil die Schwierigkeiten der Klägerin ohnehin nur längerfristig behebbar sein dürften.
35Die Klage ist jedoch begründet, soweit die Klägerin die Übernahme der Kosten ihrer Autismustherapie für die Zeit vom 1. November 2019 bis zum 31. Oktober 2021 erstrebt. Insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO. Der Klägerin steht gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Erstattung der im genannten Zeitraum angefallenen Kosten ihrer Autismustherapie zu.
36Diesem Anspruch steht nicht die nach dem oben Ausgeführte ursprünglich unzulässige Selbstbeschaffung der Hilfe entgegen.
37Im Falle einer ursprünglich unzulässigen Selbstbeschaffung kann sich das Jugendamt hierauf nicht mehr berufen, wenn eine Jugendhilfemaßnahme vorliegt, die – wie hier - in zeitliche Abschnitte unterteilt werden kann und ein Anspruch für einen nachfolgenden Zeitabschnitt in Betracht kommt, weil die Selbstbeschaffung nachträglich zulässig geworden ist. Denn die ursprünglich unzulässige Selbstbeschaffung führt lediglich dazu, dass für den davon betroffenen Zeitraum keine Kostenerstattung in Betracht kommt; sie hat indes nicht zur Konsequenz, dass der Anspruch auch für zukünftige Zeitabschnitte ausgeschlossen ist.
38Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. November 2015 – 12 A 1639/14 -, www.nrwe.de, Rn. 117ff, mit weiteren Nachweisen.
39Im Fall der Klägerin stellt sich – wie oben dargelegt - lediglich die Selbstbeschaffung bis zum Zeitpunkt der auf den Antrag der Klägerin vom 12. Juni 2019 zu erwartenden Entscheidung, mithin bis Ende Oktober 2019, als unzulässig dar. Denn ab diesem Zeitpunkt lagen die Voraussetzungen für eine zulässige Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 S. 1 SGB VIII vor.
40Hinsichtlich des Zeitraums ab dem 1. November 2019 stellt sich die Antragstellung vom 12. Juni 2019 als rechtzeitiges Inkenntnissetzen im Sinne von § 36a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII dar. Denn ab November 2019 war der Beklagte – wie oben dargelegt - in der Lage, über den Hilfeantrag der Klägerin zu entscheiden.
41Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt lagen auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 SGB VIII durch Übernahme der Kosten der Autismustherapie der Klägerin vor.
42Nach § 35a Abs. 1 S. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn (Nr. 1) ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und (Nr. 2) daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
43Diese Voraussetzungen sind bzw. waren im Fall der Klägerin erfüllt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme besteht bzw. bestand bei der Klägerin eine seelische Störung im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII in Form einer Störung aus dem autistischen Spektrum. So ist der Sachverständige, A. , im eingeholten Gutachten vom 29. Juni 2021 zu der Beurteilung gelangt (Seite 9 des Gutachtens), es bestehe eindeutig die Symptomatik eines Asperger-Syndroms (ICD10: F84.5). Dabei hat er bezogen unter anderem auf den Arztbrief der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik N. vom 28. Juni 2019 auch ausdrücklich klargestellt, „die Diagnose hätte damals schon Asperger-Syndrom lauten müssen“ (Seite 13 des Gutachtens). Gründe, die gegen die Aussagekraft dieser Beurteilung sprechen könnten, sind nicht ersichtlich und werden insbesondere auch vom Beklagten nicht geltend gemacht.
44Hinsichtlich des Zeitraums ab November 2019 war auch die weitere Voraussetzung für die Annahme einer seelischen Behinderung der Klägerin im Sinne von § 35 a Abs. 1 SGB VIII erfüllt, nämlich eine infolge der seelischen Störung eingetretene oder zu erwartende Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII. Eine solche Teilhabebeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt. Erforderlich ist daher, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Betreffenden vorliegt oder eine solche droht,
45vgl. OVG NRW, Urteil vom 11. August 2015 – 12 A 1350/14 -, www.nrwe.de, Rn 84ff, mit weiteren Nachweisen,
46also letztlich eine – ggf. zunehmende – gesellschaftliche Isolierung des Kindes oder Jugendlichen besteht oder jedenfalls zu befürchten ist.
47Anders als bei der Feststellung einer Abweichung der seelischen Gesundheit im Sinne des § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII, die von einem Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder (bis 31. August 2020) einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder (ab 1. September 2020) einem Kinder-und Jugendlichen Psychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, zu erfolgen hat (vgl. § 35a Abs. 1a S. 1 SGB VIII), ist die Feststellung, ob eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Kindes oder des Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft vorliegt, vom Jugendamt auf Grund seiner eigenen Fachkompetenz zu treffen, was im Ergebnis auch für die entsprechende Würdigung durch das Verwaltungsgericht gilt,
48vgl. OVG NRW, Urteil vom 11. August 2015, a.a.O., Beschluss vom 18. Juli 2013 – 12 A 1677/12 –, www.nrwe.de.
49Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist im Fall der Klägerin zumindest im genannten Zeitraum ab November 2019 eine – infolge des bei ihr diagnostizierten Asperger-Syndroms - eingetretene oder zumindest zu erwartende Teilhabebeeinträchtigung jedenfalls in den Bereichen Alltagsbewältigung, Kommunikation/Sozialverhalten und Freizeit anzunehmen. Schon den oben zitierten Schilderungen der Eltern der Klägerin im Rahmen des vom Beklagten erstellten Diagnosebogens zur Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung ist ohne weiteres zu entnehmen, dass die „soziale Funktionstüchtigkeit“ der Klägerin im oben genannten Sinn infolge ihrer autistischen Störung beeinträchtigt war bzw. ist, der Klägerin also eine fortschreitende gesellschaftliche Isolierung zumindest droht. Das Gericht sieht keinen Anlass, die Schilderungen der Eltern der Klägerin der vielfältigen Probleme der Klägerin unter anderem bei der Bewältigung ihres Alltags, bei der Kommunikation mit Anderen, insbesondere in Konfliktsituationen, sowie bei der Freizeitgestaltung in Zweifel zu ziehen. Dabei lassen sich die geschilderten Schwierigkeiten der Klägerin ohne weiteres auf ihre autistische Störung zurückführen. Insoweit ist schon zu beachten, dass bei autistischen Kindern und Jugendlichen immer auch von einer erheblichen Beeinträchtigung bei der Teilhabe ausgegangen werden muss, da ja gerade die sozialen Interaktionsstörungen, das heißt die Behinderung in der Teilhabe ein zentrales Diagnosemerkmal darstellen.
50Vgl. Fegert in Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, § 35a, Rn. 75.
51Dies wird für die Klägerin bestätigt durch die Feststellungen des Sachverständigen A. , der im Gutachten vom 29. Juni 2021 (Seite 13) unter anderem ausgeführt hat: „Seit der frühen Kindheit kann sie aber nonverbale Signale während einer Interaktion nicht verwerten, hat entsprechende Probleme der sozioemotionalen Feinregulation in der Interaktion … hat keine Freude an freier sozialer Interaktion, die sie auch nicht herstellen oder aufrechterhalten kann … Die Interessen Gleichaltriger hat sie nicht geteilt. … Sie hatte und hat selbst nur wenige Interessen, die sie aber intensiv verfolgt. Ihre Abläufe müssen geplant und strukturiert sein, auf Veränderungen reagiert sie seit der Kindheit deutlich aversiv und verliert die Konzentration. Sie kann nicht mehrere Abläufe nebeneinander verfolgen, verliert auch dann rasch die Konzentration … Zusätzlich besteht eine relative Unfähigkeit, irrelevante Reize auszublenden, was wie verstärkte Ablenkbarkeit wirkt. … Sobald es … darum ging, persönliche Vorlieben, Wünsche, Interessen oder auch den momentanen Affektzustand auszutauschen, war sie unfähig mitzumachen, abgesehen von Stereotypen.“ Dabei hat der Sachverständige ausdrücklich hervorgehoben, entscheidend für die Diagnosestellung sei, „ob soziale Beziehungen im Kontakt erfasst werden können, also ob erfasst werden kann, wie die aktuelle Beziehungsebene gerade ist. Das war wohl nicht so …“ (Seite 14 des Gutachtens). Danach lässt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem bei der Klägerin diagnostizierten Asperger-Syndrom und ihren vielfältigen Problemen bei der sozialen Interaktion feststellen.
52Bezogen auf den Zeitraum ab November 2019 stellt sich die Deckung des Bedarfs der Klägerin durch die selbst beschaffte Autismustherapie auch als unaufschiebbar im Sinne von § 36a Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB VIII dar.
53Der Klägerin war es nicht zuzumuten, länger als bis November 2019 mit der Deckung ihres jugendhilferechtlichen Bedarfs zu warten. Sie bzw. ihre Eltern hatten hinreichend an den Verwaltungsermittlungen mitgewirkt. Auch deshalb war der Beklagte – wie oben dargelegt – in der Lage, über den Hilfeantrag der Klägerin zu entscheiden. Angesichts dessen sowie der oben beschriebenen vielfältigen und fortdauernden Probleme der Klägerin durften sich ihre Eltern dafür entscheiden, sich die für geeignet gehaltene Autismustherapie selbst zu beschaffen.
54Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte den Eltern der Klägerin auf Grund der Teamberatung vom 29. August 2019 unter dem 17. September 2019 angeboten hatte, für die Klägerin Hilfe zur Erziehung in Form der ambulanten sozialpädagogischen Familienhilfe gemäß § 27 Abs. 3 SGB VIII zu gewähren, er also diese Hilfeart zur Deckung des Bedarfs der Klägerin für geeignet erachtet hat.
55Zwar setzt die Unaufschiebbarkeit des Bedarfs auch voraus, dass sich die selbstbeschaffte Hilfe als erforderliche und geeignete Maßnahme der Jugendhilfe darstellt. Hierbei ist zugrunde zu legen, dass bei der Entscheidung über „Art und Umfang der Hilfe“ (§ 36 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), über die „im Einzelfall angezeigte Hilfeart“ (§ 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) bzw. bei der „Ausgestaltung der Hilfe“ (§ 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) und gegebenenfalls „bei der Auswahl der Einrichtung oder Pflegestelle“ (§ 36 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII) dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe ein - gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer - Beurteilungsspielraum zusteht,
56vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24.98 -, BVerwGE 109, 155; Hess. VGH, Beschluss vom 6. November 2007 – 10 TG 1954/07 -, JAmt 2008, 327; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4. Juli 2006 – 2 O 20/06 -, NJW 2007, 243; Bayer. VGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 12 CE 11.1180 -, juris.
57Dieser Beurteilungsspielraum kommt allerdings dann nicht zum Tragen, wenn es der Träger der Jugendhilfe – indem er über die begehrte Hilfeleistung nicht bzw. nicht rechtzeitig entscheidet oder sie rechtswidrig ablehnt – dem Hilfesuchenden überlässt, sich die Hilfe selbst zu beschaffen. Aus den oben genannten Grundsätzen zum „Systemversagen“ folgt, dass die Erforderlichkeit und Eignung der selbstbeschafften Maßnahme dann aus der Perspektive des Leistungsberechtigten zu beurteilen ist. Hat der Jugendhilfeträger nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über die begehrte Hilfeleistung entschieden, können an dessen Stelle die Betroffenen den sonst der Behörde zustehenden Beurteilungsspielraum für sich beanspruchen. Denn in einer solchen Situation sind sie - obgleich ihnen der Sachverstand des Jugendamts fehlt - dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen. Da nun ihnen die Entscheidung aufgebürdet ist, eine angemessene Lösung für eine Belastungssituation zu treffen, hat dies zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs uneingeschränkt zu prüfen, sich hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe aber auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung der Berechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr etwa im Nachhinein nicht mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet gehalten.
58Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. August 2014 – 12 A 3019/11 -, www.nrwe.de, Rn. 69, mit weiteren Nachweisen.
59Ausgehend von diesen Maßstäben kann sich der Beklagte nicht auf das den Eltern der Klägerin im September 2019 unterbreitete Angebot einer Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 3 SGB VIII berufen. Der Beklagte ist bei seinem Angebot – wie insbesondere der angefochtene Bescheid vom 19. Februar 2020 zeigt – ausdrücklich nicht vom Vorliegen einer autistischen Störung der Klägerin ausgegangen und hatte dementsprechend die Geeignetheit und Notwendigkeit einer autismusspezifischen Förderung der Klägerin verneint. Dabei kann es offen bleiben, ob – wie der Beklagte meint – sein damaliges Hilfekonzept einer ganzheitlich aufgestellten pädagogisch-therapeutischen Hilfe geeignet war, der seinerzeit von ihm allein angenommenen Aufmerksamkeitsstörung sowie der Angst und depressiven Störung der Klägerin zu begegnen. Denn jedenfalls drängt es sich nach dem oben genannten Ergebnis der Beweisaufnahme auf, dass der Beklagte mit seinem Hilfekonzept die jugendhilferechtliche Bedarfslage der Klägerin, wie sie jedenfalls dem eingeholten Gutachten vom 29. Juni 2021 zu entnehmen ist, zumindest nicht in ihrer Gesamtheit erfasst und abgearbeitet hatte. Demgegenüber ist mit Blick auf das bei der Klägerin diagnostizierte Asperger-Syndrom nicht ersichtlich, dass sich die von ihren Eltern für geeignet und erforderlich gehaltene Autismustherapie etwa von vornherein als fachlich nicht vertretbar darstellte. Dies wird letztlich dadurch bestätigt, dass der Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 18. Oktober 2021 zugesagt hat, ihr eine autismusspezifische Förderung, ggf. in Form der Autismustherapie bei der Dipl. Sozialpädagogin F. in T. , zu bewilligen.
60Die Klage hat jedoch (auch) keinen Erfolg, soweit sie auf die Verpflichtung des Beklagten gerichtet ist, der Klägerin Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Volljährige gemäß §§ 41, 35a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten ihrer Autismustherapie bei der Dipl. Sozialpädagogin F. in T. über den Monat der mündlichen Verhandlung, also über den 31. Oktober 2021 hinaus zu gewähren.
61Insoweit ist die Klage mangels eines Rechtsschutzbedürfnisses der Klägerin unzulässig. Denn der Beklagte hat – wie oben bereits erwähnt – der Klägerin mit Schreiben vom 18. Oktober 2021, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 27. Oktober 2021 ausgehändigt, zugesagt, ihr eine autismusspezifische Förderung, ggf. in Form der Autismustherapie bei der Dipl. Sozialpädagogin F. in T. , zu bewilligen. Damit hat er dem Klagebegehren, die zukünftigen Kosten der Autismustherapie der Klägerin zu übernehmen, entsprochen. Angesichts dessen ist die Klägerin insoweit nicht auf die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes angewiesen.
62Die Kosten des Verfahrens sind nach § 155 Abs. 1 VwGO verhältnismäßig zu teilen, weil die Beteiligten teils obsiegt haben, teils unterlegen sind. Die festgelegten Quoten entsprechen dem überschlägig berechneten Umfang des jeweiligen Teilobsiegens bzw. -unterliegens. Nach § 188 Satz 2 VwGO werden Gerichtskosten nicht erhoben.
63Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.