Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Auch im Hinblick auf einen im Einzelnen geschilderten Gewissenskonflikt der Eltern und ihres Kindes stellt eine Unterrichtsgestaltung bei der Sexualerziehung entsprechend der den Schulen nach dem Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen auferlegten Pflicht zu Zurückhaltung, Toleranz und Offenheit für unterschiedliche Wertungen sicher, dass die für eine Befreiung vom Unterricht maßgebliche Unzumutbarkeitsschwelle nicht überschritten wird.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
2Die am 00.00.2002 geborene Klägerin zu 1. war im Schuljahr 2012/2013 Schülerin der Klasse 4c der W. -schule in H. , einer als Gemeinschaftsschule geführten Grundschule. Die Kläger zu 2. und 3. sind die Eltern der Klägerin zu 1.
3Am 00.00.2011 informierte die Klassenlehrerin der Klägerin zu 1. und Konrektorin der W. -schule , Frau S. G. , die Eltern der Schülerinnen und Schüler dieser Klasse im Rahmen einer Klassenpflegschaftssitzung darüber, dass als grober Zeitraum für die Durchführung der Sexualerziehung der Beginn des 2. Halbjahres des 4. Schuljahres vorgesehen sei. Am 00.00.2013 fand eine weitere Klassenpflegschaftssitzung statt. Der Klassenlehrer und die Klassenlehrerinnen der Klassen 4 zeigten den anwesenden Eltern zunächst gemeinsam einen Kinderfilm zum Thema Sexualerziehung und berichteten zusätzlich von dem geplanten Theaterprojekt „Mein Körper gehört mir!“. Anschließend erfolgte ein Informationsaustausch über die Unterrichtsreihe in den jeweiligen Klassen. Frau G. stellte den Eltern ihrer Klasse die Kompetenzerwartungen aus dem Lehrplan und den Richtlinien des Beklagten vor. Sie zeigte ihnen die Arbeitsmittel, erklärte die Methoden sowie den genauen Reihenaufbau und erörterte mit ihnen aufkommende Fragen. Im Rahmen dieses Austausches ging Frau G. auch darauf ein, dass die Schülerinnen und Schüler der Klasse am Vormittag dieses Tages anonym ihr Vorwissen und Fragen zu der Thematik hatten notieren können. Darüber hinaus berichtete sie, auf welche Regeln für ein unbefangenes und respektvolles Arbeiten an dieser Thematik sie sich mit ihren Schülerinnen und Schülern verständigt habe. Die Kläger zu 2. und 3. nahmen an der Klassenpflegschaftssitzung am 00.00.2013 teil. Ihre Tochter, die Klägerin zu 1., blieb zu diesem Zeitpunkt krankheitsbedingt dem Unterricht fern. Am 00.00.2013 erläuterte Frau G. den Klägern zu 2. und 3. in einem persönlichen Gespräch noch einmal die Inhalte der schulischen Sexualerziehung und den Einsatz der Materialien, wobei sie jedes Arbeitsblatt mit ihnen durchging und ihnen die Möglichkeit gab, Bedenken zu äußern und Änderungswünsche anzugeben. In diesem Rahmen war sie auch bereit, einzelne Materialien zu entfernen bzw. auszutauschen, soweit dies mit Ziel und Inhalt des Unterrichts vereinbar war.
4Mit Schreiben vom 00.00.2013 beantragten die Kläger zu 2. und 3., die Klägerin zu 1. aus wichtigem Grund vom Sexualerziehungsunterricht zu befreien, da sie religiöse und ethische Bedenken hätten, die im Gespräch mit der Schule nicht hätten ausgeräumt werden können, und sie als Eltern die Erziehungsziele für ihre Tochter bestimmten. Diesen Antrag lehnte die Schulleiterin der W. -schule mit Bescheid vom 8. März 2013 ab.
5Hiergegen erhoben die Kläger zu 2. und 3. mit Schreiben vom 12. März 2013 Widerspruch. Die Schulleiterin der W. -schule half dem Widerspruch ‑ abgesehen von der Befreiung vom Besuch des noch ausstehenden Teils des Theaterstücks „Mein Körper gehört mir!“ - nicht ab und leitete den Vorgang dem Schulamt für den Kreis C. zur Entscheidung zu. Dieses wies mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2013, zugestellt am 3. April 2013, den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte es aus: Eine weitergehende Befreiung der Klägerin zu 1. von der schulischen Sexualerziehung komme nicht in Betracht, da das elterliche Erziehungsrecht durch die allgemeine Schulpflicht beschränkt werde. Die einschlägigen Richtlinien und Lehrpläne des Beklagten berücksichtigten das grundgesetzliche Gebot der Toleranz und Rücksichtnahme auf die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern. Die Schule habe ihre Informationspflicht vollumfänglich erfüllt. Im Übrigen fehle ein Nachweis der Verbindlichkeit der geltend gemachten Glaubensgebote.
6Mit Schreiben vom 24. April 2013 hörte das Schulamt für den Kreis C. die Kläger zu 2. und 3. zu der beabsichtigten Festsetzung eines Bußgeldes in Höhe von jeweils 100 Euro an, da die Klägerin zu 1. seit März 2013 an 18 Tagen dem Schulunterricht ferngeblieben sei.
7Die Kläger haben am 30. April 2013 Klage erhoben.
8Mit Schreiben vom 15. Mai 2013 teilte die Schulleiterin der W. -schule dem Gericht mit, dass die Unterrichtsreihe zur Sexualerziehung in der Klasse 4c mittlerweile beendet sei und die Klägerin zu 1. den Unterricht bis zum Abschluss der Reihe nicht besucht habe.
9Zur Begründung ihrer Klage machen die Kläger geltend: Die Klägerin zu 1. sei von der schulischen Sexualerziehung zu befreien gewesen, da diese Gewissensqualen bei den Klägern verursacht hätte. Der Lehrplan für die Grundschule sehe vor, dass in der Klassenöffentlichkeit Kompetenzen wie die Benennung der Geschlechtsorgane und das Wissen um deren Bedeutung für die sexuelle Entwicklung einschließlich von Verhütung zu erwerben seien. Damit würden nicht nur verstandesmäßig zu erfassende Unterrichtsinhalte vermittelt, sondern es werde unmittelbar Einfluss genommen auf die Entwicklung der Persönlichkeit im inneren geschlechtlichen Bereich. Schon am 00.00.2013 sei den Schülerinnen und Schülern der Klasse 4c ein Film zu dem Theaterprojekt „Mein Körper gehört mir!“ gezeigt worden. Die klassenöffentliche Erörterung sexueller Vorgänge mit vielen Unterrichtsstunden, Arbeitsblättern und Filmen würde die Klägerin zu 1. in unzumutbarer Weise verletzen, weil sie - ebenso wie ihre Eltern, die Kläger zu 2. und 3. -, die Keuschheit vor der Ehe zu einem Gewissensgebot verinnerlicht habe und in einer Atmosphäre der Schamhaftigkeit erzogen werde. Gegen eine kurze, holzschnittartige Unterweisung über die menschliche Fortpflanzung – die hier allerdings nicht zur Beurteilung anstehe – könne nichts einzuwenden sein. Fragen des intimen Lebens seien aber dem vertraulichen Gespräch zwischen Mutter und Tochter bzw. Vater und Sohn vorbehalten, um Lüsternheit und Unzucht vorzubeugen. Die Gewissensbindung der Kläger sei in der geforderten Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit sowie unter Bezugnahme auf die warnenden Aussagen der Heiligen Schrift nachgewiesen. Ein schonender Ausgleich sei hier trotz des Erziehungsauftrags der staatlichen Schulen nur durch eine Befreiung der Klägerin zu 1. vom Unterricht zu erreichen gewesen.
10Die Kläger beantragen,
11festzustellen, dass die Ablehnung der Befreiung der Klägerin zu 1. von der Sexualerziehung mit Bescheid der W. schule vom 8. März 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Schulamtes für den Kreis C. vom 28. März 2013 rechtswidrig gewesen ist.
12Der Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Er trägt ergänzend vor: Durch die Teilnahme der Klägerin zu 1. an der schulischen Sexualerziehung wäre eine grundrechtlich geschützte Position der Kläger nicht unzumutbar beeinträchtigt worden. Das Erziehungsrecht der Eltern und die Glaubensfreiheit erführen durch den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag Einschränkungen, die sich aus der Verfassung selbst ergäben. Diese verfassungsrechtlich gebotenen Schranken seien in den für die schulische Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen maßgeblichen Vorschriften umgesetzt worden. Der Unterricht an der W. -schule in H. finde in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften statt und begründe auch keine unzumutbaren Glauben- und Gewissenskonflikte. Die Klassenlehrerin und die Schulleiterin der W. -schule hätten sich sehr intensiv mit den Anliegen der Kläger auseinandergesetzt und seien ihnen auch bis an die Grenze des Erziehungsauftrags entgegengekommen. Ein weitergehendes Entgegenkommen sei jedoch nicht möglich gewesen.
15Das Gericht hat die Kläger zu 2. und 3. im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2015 informatorisch angehört. Es wird insoweit auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten (Beiakte Heft 1) Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Die Klage hat keinen Erfolg.
19Sie ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Die Kläger haben mit Blick auf die von ihnen behauptete Verletzung ihrer Grundrechte – namentlich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 sowie Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG – das in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung, dass die Ablehnung der Befreiung von der schulischen Sexualerziehung der Klasse 4c der W. -schule in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Schulamtes für den Kreis C. rechtswidrig gewesen ist. Auf die Frage einer etwaigen Wiederholungsgefahr bzw. eines etwaigen Rehabilitationsinteresses kommt es insoweit nicht an. Vielmehr ist entscheidend, dass nach Beendigung einer Unterrichtsreihe nur im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage effektiver (Grund-)Rechtsschutz gewährleistet werden kann. Es würde der Bedeutung des grundrechtlich geschützten Elternrechts und des Persönlichkeitsrechts des Kindes nicht entsprechen, wenn die Möglichkeit der gerichtlichen Klärung von behaupteten Grundrechtsverletzungen durch der Schulpflicht unterliegende Unterrichtsreihen mit ihrem Ende entfiele.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 1980 ‑ 7 C 18/79 -, BVerwGE 61, 164.
21Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist jedoch nicht begründet. Der Ablehnungsbescheid der Schulleiterin der W. -schule vom 8. März 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Schulamtes für den Kreis C. vom 28. März 2013 ist rechtmäßig gewesen und verletzte die Kläger nicht in ihren Rechten. Die Kläger hatten keinen Anspruch auf Befreiung der Klägerin zu 1. von der schulischen Sexualerziehung.
22Die Voraussetzungen eines Befreiungsanspruchs nach den einzig in Betracht zu ziehenden Vorschriften des § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW und des § 131 Abs. 2 SchulG NRW in Verbindung mit Nr. 1, 1. Absatz des Runderlasses des Kultusministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 26. März 1980 (GABl. NW. S. 183 = BASS 12-52 Nr. 31) waren nicht erfüllt.
23Nach § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW kann die Schulleiterin oder der Schulleiter Schülerinnen und Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund unter anderem von der Teilnahme an einzelnen Unterrichtsveranstaltungen befreien. Nach § 131 Abs. 2 SchulG NRW in Verbindung mit Nr. 1, 1. Absatz des vorbezeichneten Erlasses kommt eine Befreiung von einzelnen Unterrichtsveranstaltungen in Betracht, wenn eine bestimmte Unterrichtseinheit für die Schülerin oder den Schüler aus besonderen persönlichen Gründen unzumutbar ist.
24Die von den Klägern angeführten Gesichtspunkte stellen jedenfalls keine zur Unzumutbarkeit der fraglichen Unterrichtsreihe führenden besonderen persönlichen Gründe dar, so dass ein wichtiger Grund für die Befreiung von der schulischen Sexualerziehung nicht gegeben war. Der unbestimmte Rechtsbegriff des wichtigen Grundes, mittels dessen eine Ausnahme von der dem staatlichen Bildungsauftrag entsprechenden allgemeinen Schulpflicht gerechtfertigt werden soll, ist restriktiv auszulegen. In verfassungskonformer Anwendung ist ein wichtiger Grund nur dann anzunehmen, wenn die Durchsetzung der Teilnahmepflicht an einer Schulveranstaltung eine grundrechtlich geschützte Position der Schülerin bzw. des Schülers und/oder der Eltern verletzen würde.
25Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. September 2007 – 19 A 2705/06 –, NWVBl. 2008, 70 (zu § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW); ferner (zum „besonderen Ausnahmefall“ nach dem früheren § 11 Abs. 1 Satz 1 ASchO) OVG NRW, Urteile vom 15. November 1991 – 19 A 2198/91 –, NWVBl. 1992, 136 und vom 12. Juli 1991 – 19 A 1706/90 –, NWVBl. 1992, 35.
26Einen die beantragte Befreiung rechtfertigenden Grund in diesem Sinne konnten die Kläger weder unter Berufung auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin zu 1. aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG oder das elterliche Erziehungsrecht der Kläger zu 2. und 3. aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG noch unter Berufung auf ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG erfolgreich geltend machen.
27Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze und Maßstäbe stellt das Gericht insoweit entscheidend auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab.
28Vgl. ausführlich BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 –, BVerfGE 47, 46; aus jüngerer Zeit: Beschluss vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04 –, juris.
29Danach gilt Folgendes: Die Sexualerziehung, worunter im engeren Sinne die Wissensvermittlung über biologische Fakten aus dem sexuellen Bereich und im weiteren Sinne die Unterweisung in Fragen der Sexualethik zu verstehen ist, ist – zumindest auch – dem Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zuzuordnen; gleichzeitig berührt sie den von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimbereich der betroffenen Schülerin bzw. des betroffenen Schülers.
30Insoweit besteht ein Spannungsverhältnis zu dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 3 LV NRW, dem die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens zusteht. Hierzu gehört nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Unterrichtsziele. Der Staat kann in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen. Der allgemeine Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet. Weder dem Elternrecht noch dem Erziehungsauftrag des Staates kommt ein absoluter Vorrang zu. Dabei ist der Lehr- und Erziehungsauftrag der Schule auch nicht darauf beschränkt, nur Wissensstoff zu vermitteln, sondern hat vielmehr auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden. Die Aufgaben der Schule liegen daher auch auf erzieherischem Gebiet. Dies betrifft auch die Sexualerziehung, da die Sexualität vielfache gesellschaftliche Bezüge aufweist und Kinder vor sexuellen Gefahren zu warnen und zu bewahren sind. Namentlich ist die Auseinandersetzung mit grundlegendem Wissen aus dem sexuellen Bereich schon vor der Pubertät der Schülerinnen und Schüler wichtig, um sie zu sensibilisieren, damit sie sich gegen sexuelle Übergriffe mit Bestimmtheit zur Wehr setzen können. Eine völlige Abschottung der Schulkinder kommt insoweit nicht in Betracht.
31Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Dezember 1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 –, BVerfGE 47, 46 und vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04 –, juris.
32Der Staat ist jedoch verpflichtet, in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder zu achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen soweit offen zu sein, als es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt. Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität beinhaltet jedoch keinen Anspruch darauf, mit den in der Gesellschaft vertretenen Auffassungen und Wertvorstellungen nicht konfrontiert zu werden, sondern untersagt lediglich die Privilegierung einzelner Meinungen.
33Vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 1972 – 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 –, BVerfGE 34, 165 und Beschluss vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04 –, juris.
34Soweit im Rahmen des schulischen Unterrichts bloße Fakten vermittelt werden, geschieht dies im Rahmen des staatlichen Bildungsauftrages; denn es geht hier um bloße Wissensvermittlung, also eine Aufgabe, die typischerweise der Schule zukommt und für die die Schule in der Regel auch besser geeignet ist als das Elternhaus. In diesem Bereich greift demzufolge das staatliche Bestimmungsrecht voll durch; eine Einflussnahme aufgrund des Elternrechts ist grundsätzlich auszuschließen. Jedoch muss auch hier Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht des Kindes genommen werden. Die Belehrungen sollen daher erst erfolgen, nachdem der Lehrer sich gründlich über die psychologische Situation und den Reifegrad der Kinder informiert hat. Bei der eigentlichen Sexualerziehung in der Schule muss ein Ausgleich zwischen dieser und dem Elternhaus stattfinden. Die Eltern haben aufgrund des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG einen Anspruch darauf, rechtzeitig und umfassend über den Inhalt und den methodisch-didaktischen Weg der Sexualerziehung informiert zu werden, damit es ihnen ermöglicht wird, im Sinne ihrer eigenen Auffassungen und Überzeugungen über die Themen, die in der Schule behandelt werden sollen, auf ihre Kinder einzuwirken und so das ihnen nach dem Grundgesetz vorrangig zustehende individuelle Erziehungsrecht zur Geltung zu bringen.
35Ein Mitbestimmungsrecht der Eltern bei der Ausgestaltung der schulischen Sexualerziehung aufgrund des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist jedoch zu verneinen. Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist ein Individualrecht, das jedem Elternteil einzeln zusteht. Es kann nicht durch Mehrheitsbildung ausgeübt werden. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es faktisch unmöglich, dass die Schule allen Elternwünschen Rechnung trägt und sie bei der Aufstellung der Erziehungsziele und des Lehrplans sowie bei der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt. Weder kann die Schule Unterrichtslösungen für jedes einzelne Kind oder beliebig kleine Gruppen von Kindern anbieten, noch brauchen die Eltern auf ihr individuelles Erziehungsrecht zugunsten einer von Elternmehrheiten vertretenen Auffassung zu verzichten. Ein mit allen Eltern einer Klasse auf die Persönlichkeit eines jeden Kindes in der Klasse abgestimmtes Zusammenwirken in der Sexualerziehung ist praktisch kaum vorstellbar, sobald der Bereich der schlichten Wissensvermittlung überschritten wird. Die Eltern können sich daher in diesem Bereich nicht uneingeschränkt auf ihr Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen. Sie werden in der Ausübung ihres Grundrechts insoweit durch die kollidierenden Grundrechte andersdenkender Personen begrenzt.
36Die Eltern können allerdings die gebotene Zurückhaltung und Toleranz bei der Durchführung der Sexualerziehung verlangen. Die Schule muss den Versuch einer Indoktrinierung der Schülerinnen und Schüler mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Sie hat das natürliche Schamgefühl der Kinder zu achten und muss allgemein Rücksicht nehmen auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern, soweit sie sich auf dem Gebiet der Sexualität auswirken.
37Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Dezember 1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 –, BVerfGE 47, 46 und vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04 –, juris.
38In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen und Maßstäben sind § 33 SchulG NRW als gesetzliche Grundlage für die schulische Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen sowie die Richtlinien für die Sexualerziehung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Runderlass vom 30. September 1999 – 721.32-50/1-447/99) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Gericht schließt sich insoweit in Anknüpfung an seine bisherige Rechtsprechung den dazu ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen an.
39Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 6 B 64/07 –, juris; OVG NRW, Urteil vom 5. September 2007 – 19 A 2705/06 –, NWVBl. 2008, 70; VG Münster, Urteil vom 16. Juni 2006 – 1 K 411/06 –, juris.
40In diesem Zusammenhang fällt maßgeblich ins Gewicht, dass durch die sich aus § 33 SchulG NRW und den in § 2 Abs. 5 und 6 SchulG NRW niedergelegten Bildungszielen abzuleitende gesetzliche Verpflichtung der Schule zu Zurückhaltung, Toleranz und Offenheit für unterschiedliche Wertungen – einschließlich des Gebots der Rücksichtnahme auf divergierende Überzeugungen der Eltern und des Verbots der Indoktrinierung – die Schwere der möglichen Beeinträchtigung der Eltern und ihrer Kinder bei der schulischen Sexualerziehung so weit abgemildert wird, dass die Unzumutbarkeitsschwelle nicht überschritten wird.
41Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 6 B 64/07 –, juris Rn. 4 und 8 f.; OVG NRW, Urteil vom 5. September 2007 – 19 A 2705/06 –, NWVBl. 2008, 70 (72 ff.).
42Schließlich ergibt sich auch nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalles nichts anderes zugunsten der Kläger.
43Ausdrücklich dahinstehen kann an dieser Stelle, ob die Kläger zu 2. und 3. als Eltern der Klägerin zu 1. zu Beginn der schulischen Sexualerziehung in der Klasse 4c der W. -schule im Sinne des § 33 Abs. 2 SchulG NRW über Ziel, Inhalt, Methoden und Medien der Sexualerziehung rechtzeitig informiert waren und ob sich aus einem etwaigen Verstoß gegen diese Vorschrift überhaupt ein Anspruch der Eltern auf Befreiung ihres Kindes vom Unterricht – bis zur Einhaltung der Anforderungen dieser Vorschrift – herleiten ließe. Denn jedenfalls waren die Kläger zu 2. und 3. schon bei Stellung ihres Antrags vom 00.00.2013 auf Befreiung ihrer Tochter von der schulischen Sexualerziehung in einer Weise informiert, die dem Gedanken des § 33 Abs. 2 SchulG NRW – und damit auch des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG – entsprach, so dass zu diesem Zeitpunkt eine Befreiung der Klägerin zu 1. in keinem Fall in Betracht kam. Frau G. , die Klassenlehrerin der Klasse 4c, hatte die Kläger zu 2. und 3. bereits am 18. Februar 2013 im Rahmen einer Klassenpflegschaftssitzung umfassend über die Kompetenzerwartungen aus dem Lehrplan und den Richtlinien des Beklagten informiert. Sie hatte den Eltern der Klasse die Arbeitsmittel gezeigt, die Methoden erklärt, den genauen Reihenaufbau erläutert sowie aufkommende Fragen erörtert. Am 21. Februar 2013 hatte Frau G. zusätzlich im Rahmen eines persönlichen Gesprächs mit den Klägern zu 2. und 3. noch einmal die Inhalte der schulischen Sexualerziehung und den Einsatz der Materialien vorgestellt, wobei sie jedes Arbeitsblatt mit ihnen durchgegangen war und ihnen die Möglichkeit gegeben hatte, Bedenken zu äußern und Änderungswünsche anzugeben. Damit wurde es den Klägern zu 2. und 3. in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts,
44vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 –, BVerfGE 47, 46 (76); BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 6 B 64/07 –, juris Rn. 15,
45ermöglicht, im Sinne ihrer eigenen Auffassungen und Überzeugungen über die Themen, die in der Schule behandelt werden sollen, auf ihr Kind einzuwirken und so ihr individuelles Erziehungsrecht in Bezug auf den Lebensentwurf vorehelicher Enthaltsamkeit zur Geltung zu bringen.
46Auch der von den Klägern - zuletzt in der mündlichen Verhandlung persönlich - geschilderte Gewissenskonflikt wäre für sie zumutbar gewesen. Soweit sie sich darauf berufen, dass ihre Gewissenbindung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG in der geforderten Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit nachgewiesen und ein schonender Ausgleich daher hier ausnahmsweise trotz des Erziehungsauftrags der staatlichen Schulen nur durch eine Befreiung der Klägerin zu 1. vom Unterricht zu erreichen gewesen sei, ist keine andere Bewertung vorzunehmen als im Falle der Berufung auf das Persönlichkeitsrecht des Kindes und das Erziehungsrecht der Eltern. Die Schule ist nämlich – wie bereits hervorgehoben – bei der Sexualerziehung zur Zurückhaltung, Toleranz und Rücksichtnahme auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern verpflichtet, nicht aber dazu, deren Zustimmung zu Ziel und Inhalt der Sexualerziehung einzuholen. Diese Grundsätze gelten nicht nur im Hinblick auf die Glaubens-, sondern - uneingeschränkt - auch im Hinblick auf die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, denn die Beachtung der genannten Verpflichtungen durch die Schule stellt sicher, dass unzumutbare Glaubens- und Gewissenskonflikte nicht entstehen.
47Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 6 B 64/07 –, juris Rn. 18 mit weiteren Nachweisen; OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2009 – 19 A 1707/09 –.
48Dass die konkrete Unterrichtsdurchführung hier nicht nach dem Lehrplan und den Richtlinien des Beklagten erfolgte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. In diesem Zusammenhang ist vielmehr hervorzuheben, dass sich die Klassenlehrerin der Klägerin zu 1., Frau G. , und die Schulleiterin der W. -schule , Frau I. , detailliert mit den Anliegen der Kläger befasst haben. Die Klassenlehrerin hat namentlich am 00.00.2013 – wie bereits dargelegt – ein intensives Einzelgespräch mit den Klägern zu 2. und 3. geführt, bei dem sie jedes Arbeitsblatt der Unterrichtsreihe mit ihnen durchging. In diesem Rahmen war sie auch bereit, einzelne Materialien zu entfernen bzw. auszutauschen, soweit dies mit Ziel und Inhalt des Unterrichts vereinbar war. Die Schulleiterin hat zudem dem Widerspruch der Kläger zu 2. und 3. in Bezug auf die Befreiung vom Besuch des noch ausstehenden Teils des Theaterstücks „Mein Körper gehört mir!“ abgeholfen, da die verfolgten Unterrichtsziele anderweitig erreicht werden konnten. Die Unterrichtsgestaltung entsprach damit der erforderlichen Rücksichtnahme auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern sowie den Geboten der Zurückhaltung und Toleranz. Für eine Indoktrinierung sind keinerlei Anhaltspunkte erkennbar. Vielmehr wurde den Klägern gegenüber eine besondere Kompromissbereitschaft gezeigt.
49Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO entsprechend. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.