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Die Bescheide der Beklagten vom 9. und 10. Oktober 2003 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 28. Juli 2004 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger für seine Heilkur in C. N. vom 27. Mai bis 1. Juli 2003 sowie für seine ärztliche Behandlung durch Frau Dr. G. zwischen dem 16. Juni und 11. September 2003 Unfallfürsorge nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v. H. des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
2Der Kläger ist infolge von Dienstunfähigkeit Ruhestandsbeamter. Zuvor war er als Lokomotivführer tätig. Die Parteien streiten sich im Zusammenhang mit Dienstunfällen des Klägers um Gewährung beamtenrechtlicher Unfallfürsorge für eine Heilkur sowie für eine Heilbehandlung.
3Im Jahr 1975 warf sich dem Kläger auf dem Weg vom Dienst nach Hause eine Selbstmörderin vor das von ihm geführte Kraftfahrzeug.
4Am 17. Juli 1993 und am 30. April 1996 überfuhr der Kläger in Ausübung seiner Tätigkeit als Lokomotivführer jeweils einen Suizidanten. Diese Vorkommnisse wurden als Dienstunfälle im Sinne von § 31 Abs. 1 BeamtVG anerkannt, wobei beim Kläger sowohl 1993 als auch 1996 eine psychisch-traumatische bzw. psychovegetative Erlebnisreaktion nach Schockereignis festgestellt wurde.
5Am 23. Dezember 1996 kam ein Kollege des Klägers bei einem Zugunglück ums Leben. Kurze Zeit später - am 24. Februar 1997 - erlitt der Kläger einen weiteren - als solchen auch anerkannten - Dienstunfall, bei dem u. a. die gleiche Verletzungsfolge wie bei den Dienstunfällen 1993 und 1996 eintrat. Der Kläger erlebte seinerzeit auf seinem Weg zum Dienst nach N1. als Mitfahrer im Führerstand eines Triebwagens dessen Kollision mit einem Traktor mit.
6Am 8. Juni 2000 geriet ein Reisender, ohne dabei verletzt zu werden, zwischen den Bahnsteig und dem vom Kläger geführten Zug, was eine vom Kläger durchgeführte Schnellbremsung erforderlich machte. Ein weiterer Vorfall ereignete sich am 26. Oktober 2002, als der vom Kläger geführte Zug an einem angefahrenen Bahnhof vorbeirutschte, weil Laub auf den Schienen lag und das Bremssystem versagte. Zu einem Sach- oder Personenschaden kam es nicht.
7Anfang 2003 begab sich der Kläger wegen zunehmender psychischer Beschwerden in die Behandlung der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. G. . In deren Bericht vom 10. Februar 2003 über die Untersuchung und Behandlung des Klägers am 21. Januar und 4. Februar 2003 heißt es u. a.: In der Anamneseerhebung werden Belastungsfaktoren durch die berufliche Situation erkennbar. So berichtet Herr W. über drei Suizide auf der Bahnstrecke ... Diese Zwischenfälle seien ihm heute noch sehr lebendig, er sehe die Ereignisse vor sich, träume davon, könne die Bilder nicht abschalten ... Aus psychiatrischer Sicht handelt es sich um eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne einer verzögerten und/oder protrahierten Reaktion auf belastende Ereignisse oder Situationen in der Lebensgeschichte des Betroffenen, die eine nachhaltige seelische Störung hervorgerufen haben ... Die Durchführung einer psychosomatisch- psychotherapeutischen Rehabilitationsmaßnahme erscheint ... unbedingt angezeigt."
8Unter dem 20. Februar 2003 stellte der Kläger bei der Beklagten den Antrag auf Genehmigung einer Gesundheitsmaßnahme. Zu dem Antrag erstellte der Bahnarzt Dr. N2. ein für die Beklagte bestimmtes vertrauensärztliches Gutachten. In diesem Gutachten vom 24. Februar 2003 führte Dr. N2. u. a. aus: Im bisherigen Tätigkeitsbereich Lokomotivführer hat der Patient drei Suizidanten überfahren. Es hat sich jetzt eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt mit typischer Symptomatik ... Bei dem Patienten bestehen die genannten Gesundheitsstörungen (posttraumatische Belastungsstörung und arterielle Hypertonie), die sich jetzt erneut manifestiert haben. Bisher durchgeführte Maßnahmen haben noch keine hinreichende Stabilisierung gebracht. Zur Verbesserung der Leiden sowie zur Wiederherstellung der Dienstfähigkeit ist eine Heilmaßnahme medizinisch notwendig und zu befürworten ... Eine ambulante Heilkur reicht nicht aus. Eine Sanatoriumsbehandlung ist notwendig." Auf telefonische Nachfrage der Beklagten am 10. März 2003 erklärte Dr. N2. , die von ihm beim Kläger diagnostizierten Leiden seien überwiegend auf Dienstunfälle zurückzuführen.
9Der Kläger führte daraufhin zwischen dem 27. Mai und dem 1. Juli 2003 eine Heilkur in C. N. durch. In dem Entlassungsbericht der Klinik C1. vom 1. Juli 2003 wird u. a. Folgendes festgehalten: Die Selbstauskunft ergab ein durchgängiges Bild einer PTBS ... Bei Herrn X. liegt eine posttraumatische Belastungsstörung vor, deren Entwicklung schon 1993 begonnen hat. Seit dem Ereignis 1993 hat Herr X. eine Verunsicherung bezüglich seiner eigenen Person und bezüglich des Lokfahrens erlebt ... Durch die Ereignisse 1997, 98 und 2000 hat sich die Belastung für Herrn X. weiter erhöht, ohne dass dieser geeignete Strategien hatte, diese Ereignisse zu verarbeiten ... Der Patient kam zur PTBS- Gruppenbehandlung bei ausgeprägter posttraumatischer Belastungsstörung, die sich im Rahmen von vier Dienstunfällen entwickelt hat."
10Unter dem 7. September 2003 erstattete die seitens der Beklagten eingeschaltete Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Frau Dr. L. -I2. , ihr nervenärztliches Gutachten zu den Fragen, ob und welche Unfallfolgen beim Kläger auf Grund der o. g. Dienstunfälle noch bestünden und ob das durchgeführte Heilverfahren unfallbedingt notwendig gewesen sei. Frau Dr. L. -I. kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei der depressiven Erkrankung des Klägers um eine unfallunabhängige Depression handele, weshalb das Heilverfahren nicht unfallbedingt erforderlich gewesen sei. Zur Begründung führte sie maßgeblich aus: Im psychischen Befund handelt es sich um einen schweren depressiven Verstimmungs- und Versagungszustand, am ehesten im Sinne einer Involutionsdepression, wobei ursächlich anlagebedingte Faktoren und die Abnahme der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit auf dem Boden der internistischen Erkrankungen und Risikofaktoren eine Rolle spielen. Ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit dem relevanten dokumentierten Unfallereignis, insbesondere dem Unfall aus dem Jahre 1996, läßt sich schon wegen des erheblichen zeitlichen Abstands nicht begründen ... Gegen einen Zusammenhang mit dem Unfall spricht auch der Verlauf nach Beginn der Behandlung ... Die auf eine traumatische psychische Störung bezogene Therapie verschlechterte seinen Zustand aber noch ganz erheblich."
11Mit Blick auf diese Stellungnahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Oktober 2003 den Antrag des Klägers ab, die Kosten für die zwischenzeitlich von ihm durchgeführte Heilkur in C. N. im Rahmen der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge zu übernehmen. Unter dem 10. Oktober 2003 lehnte es die Beklagte aus dem gleichen Grund zudem ab, im Rahmen der Beamtenunfallfürsorge die Kosten für die ärztliche Behandlung des Klägers durch Frau Dr. G. zwischen dem 16. Juni und 11. September 2003 zu übernehmen.
12Gegen beide Bescheide erhob der Kläger rechtzeitig Widerspruch. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Das von der Beklagten zur Grundlage ihrer Entscheidungen gemachte Gutachten von Frau Dr. L. -I. sei unschlüssig, gehe von falschen Voraussetzungen aus und treffe zudem medizinisch falsche Schlussfolgerungen. Im Übrigen widerspreche das Gutachten allen anderen Ärzten, die ihn behandelt hätten. Das durchgeführte Heilverfahren sei daher unfallbedingt erforderlich gewesen.
13Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2004 zurück. Die seitens der Beklagten eingeschaltete Gutachterin habe nachvollziehbar ausgeführt, dass die psychotherapeutischen Behandlungen des Klägers sowie die durchgeführte Heilkur in keinem Zusammenhang mit den hier diskutierten Dienstunfällen und Ereignissen stünden. Sie habe überzeugend festgestellt, dass sich ein ursächlicher Zusammenhang der psychischen Erkrankung des Klägers mit den Dienstunfällen nicht bejahen lasse. Die Entscheidungen vom 9. und 10. Oktober 2003 seien daher zu Recht ergangen.
14Daraufhin hat der Kläger am 21. August 2004 die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und verweist insbesondere auf den Entlassungsbericht der Klinik C1. vom 1. Juli 2003. Aus diesem ergebe sich zweifelsfrei der ursächliche Zusammenhang zwischen den Dienstunfällen und seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Ferner reicht er im Rahmen des Klageverfahrens zwei ärztliche Befundberichte der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums N1. vom 12. Dezember 2005 und 18. April 2006, abgefasst u. a. vom Direktor der Klinik Prof. Dr. I1. , zu den Akten. Auch diese Berichte belegten seine Auffassung, wonach seine psychische Erkrankung auf seine Dienstunfälle zurückzuführen seien.
15Der Kläger beantragt,
16die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 9. und 10. Oktober 2003 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 28. Juli 2004 zu verpflichten, ihm - dem Kläger - für die Kosten seiner Heilkur in C. N. vom 27. Mai bis 1. Juli 2003 sowie für die Kosten seiner Behandlung durch Frau Dr. G. zwischen dem 16. Juni und 11. September 2003 Unfallfürsorge nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Die Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen. Sie wiederholt im Wesentlichen ihre Ausführungen aus den angegriffenen Bescheiden und hält die Feststellungen von Prof. Dr. I1. u. a. deshalb für nicht überzeugend, weil der Kläger dort widersprüchliche Angaben gemacht habe.
18Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den vorgelegten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
20Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung der beantragten beamtenrechtlichen Unfallfürsorge (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
21Gemäß §§ 30 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 33 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 5 BeamtVG in Verbindung mit der Verordnung zur Durchführung des § 33 des BeamtVG (Heilverfahrensverordnung - HeilvfV -) wird einem Beamten, der durch einen Dienstunfall verletzt wird, Unfallfürsorge gewährt. Die Unfallfürsorge umfasst das Heilverfahren, zu dem u. a. die notwendige ärztliche Behandlung - auch in Form einer Heilkur (vgl. § 6 HeilvfV) - gehört.
22Die vorbeschriebenen Voraussetzungen sind im Falle des Klägers erfüllt. Entgegen der Auffassung der Beklagten waren die - hier streitigen - durchgeführten Heilverfahren dienstunfallbedingt erforderlich, weil sie der Therapie einer posttraumatischen Belastungsstörung des Klägers dienten, die aus von ihm namentlich in den Jahren 1993, 1996 und 1997 erlittenen - als solchen auch anerkannten - Dienstunfällen resultiert (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG).
23Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus einer Gesamtschau der von den den Kläger behandelnden Ärzten und Therapeuten - überwiegend unabhängig vom vorliegenden Verfahren - erhobenen Befunden und verfassten Behandlungsberichten. Die von den Vorgenannten getroffenen - tragenden - Feststellungen sind nach Auffassung des Gerichts schlüssig, nachvollziehbar und frei von durchgreifenden Bedenken. Zudem beruhen die genannten Berichte und Stellungnahmen zum Teil auf mehrwöchigen bzw. mehrmonatigen Behandlungen und Beobachtungen, basieren im Gegensatz zu den Feststellungen von Frau Dr. L. -I. also nicht lediglich auf einer Momentaufnahme. Vor diesem Hintergrund vermögen deren Stellungnahmen das Gericht insgesamt nicht zu überzeugen. Dessen ungeachtet leidet die Stellungnahme von Frau Dr. L. - I. vom 7. September 2003 vor allem aber auch daran, dass sie offenbar davon ausgeht, eine dienstunfallbedingte posttraumatische Belastungsstörung lasse sich im Falle des Klägers schon wegen des erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen den Unfällen - vor allem demjenigen aus 1996 - und dem Auftreten der psychischen Erkrankung nicht begründen. Ungeachtet des Umstandes, dass diesbezüglich schon im Entlassungsbericht der Klinik C1. vom 1. Juli 2003 ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die Entwicklung der beim Kläger vorhandenen posttraumatischen Belastungsstörung schon 1993 begonnen habe, ist in der psychotherapeutischen Medizin und Psychosomatik anerkannt, dass die Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung auch mit zum Teil mehrjähriger Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftreten kann.
24Vgl. die gemeinsamen Leitlinien Psychotherapeutischen Medizin und Psychosomatik" der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin, der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (Stand: Januar 2006); vgl. ferner Der Brockhaus, Gesundheit, 7. Auflage, Mannheim 2006, Stichwort: Posttraumatische Belastungsstörung. Soweit Frau Dr. L. -I. ferner noch die Auffassung vertritt, dass gegen einen Zusammenhang der psychischen Erkrankung des Klägers mit dem Unfall" auch deren Verlauf nach Beginn der Behandlung spricht, weil die Therapie den Zustand des Klägers noch ganz erheblich verschlechtert habe, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Ungeachtet aller weiteren Zweifelsfragen in diesem Zusammenhang entspricht es schon allgemeiner Lebenserfahrung, dass nicht jede Therapie umgehend zum gewünschten Behandlungserfolg führt, sich der Gesundheitszustand u. U. sogar noch verschlechtern kann. Der Klage ist hiernach mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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