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1. In Schweden wegen stillschweigender Antragsrücknahme oder Nichtbetreiben des Verfahrens eingestellte Asylverfahren sind keine abgeschlossenen Erstverfah-ren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG, da sie in Schweden ohne zeitliche Beschrän-kung weiterbetrieben werden können.
2. Hat ein Mitgliedstaat Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 nicht umgesetzt, fin-den die darin vorgesehenen Einschränkungen weder unmittelbare Anwendung in diesem Mitgliedstaat noch sind sie bei der Vorfrage des § 71a Abs. 1 AsylG zu be-rücksichtigen, ob ein Asylverfahren in diesem Mitgliedstaat abgeschlossen ist.
3. Verfahren, die durch bestandskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-Verfahren beendet wurden, sind keine Erstverfahren im Sinne der §§ 71 Abs. 1, 71a Abs. 1 AsylG.
VG Minden, Urteil vom 22. Februar 2023 - 1 K 4557/21.A
Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 00.00.0000 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand:
2Der aus Syrien stammende Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässigen Zweitantrag.
3Der Kläger reiste nach eigenen Angaben 2015 in die Europäische Union ein und stellte am 00.00.0000 einen Asylantrag in Schweden. Nach einer Auskunft der schwedischen Behörden wurde das Asylverfahren am 00.00.0000 eingestellt, weil der Kläger untergetaucht war.
4Am 00.00.0000 stellte der Kläger einen Asylantrag in der Bundesrepublik. Nachdem die schwedischen Behörden am 00.00.0000 ein Wiederaufnahmeersuchen annahmen, lehnte das Bundesamt mit bestandskräftigem Bescheid vom selben Tag den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Schweden an. Mit Schreiben vom 00.00.0000 informierte das Bundesamt die schwedischen Behörden, dass der Kläger untergetaucht sei und sich die Überstellungsfrist bis zum 00.00.0000 verlängert habe. Im weiteren Verlauf setzte das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsanordnung wegen COVID-19 zeitweise aus und notierte als neues Fristende den 00.00.0000. Eine Überstellung nach Schweden ist nicht erfolgt.
5Ausweislich einer Stellungnahme der belgischen Behörden wurde aufgrund eines dort gestellten Asylantrags vom 00.00.0000 ein Wiederaufnahmeersuchen an die schwedischen Behörden gerichtet, das diese am 00.00.0000 annahmen. Am 00.00.0000 informierten die belgischen Behörden die schwedischen Behörden, dass der Kläger untergetaucht sei und sich die Überstellungsfrist bis zum 00.00.0000 verlängert habe. Am 00.00.0000 stellten die belgischen Behörden das Asylverfahren ein.
6Nach Auskunft der niederländischen Behörden stellte der Kläger dort am 00.00.0000 ebenfalls einen Asylantrag. Das an die schwedischen Behörden gerichtete Wiederaufnahmeersuchen wurde am 00.00.0000 angenommen. Der Asylantrag des Klägers wurde durch die niederländischen Behörden als unzulässig abgelehnt und die Überstellung nach Schweden angeordnet. Bestandskraft der Entscheidung trat am 00.00.0000 ein. Bereits am 00.00.0000 informierten die niederländischen Behörden die schwedischen Behörden, dass der Kläger untergetaucht sei und sich die Überstellungsfrist bis zum 00.00.0000 verlängert habe.
7Am 00.00.0000 stellte der Kläger erneut einen Asylantrag in der Bundesrepublik. Mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 00.00.0000, dem Kläger am 00.00.0000 zugestellt, lehnte das Bundesamt diesen Antrag gestützt auf §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1). Darüber hinaus stellte das Bundesamt fest, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Syriens vorliege (Ziffer 2). Seine Entscheidung begründete das Bundesamt im Kern wie folgt: Aufgrund des Asylverfahrens in Schweden läge ein abgeschlossenes Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG vor. Zwar gebe es in Schweden keinen Fortführungsantrag, dennoch sei eine 9-monatige Frist zugrunde zu legen, die abgelaufen sei. Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG lägen nicht vor.
8Der Kläger erhob am 00.00.0000 Klage und beantragt schriftsätzlich,
9Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ein weiteres Asylverfahren durchzuführen,
10hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ferner hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
11Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
12die Klage abzuweisen,
13und bezieht sich zur Begründung auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid. Ergänzend macht sie im Wesentlichen geltend: Zum 00.00.0000 sei die 9-monatige Frist zur Fortführung des Erstantrags in Schweden abgelaufen gewesen. Zwar habe Schweden Art. 28 Abs. 2 RL 2013/32 nicht umgesetzt. Jedoch habe der Kläger wegen der EU-Richtlinie nur neun Monate Zeit zur Stellung eines Fortführungsantrags in Schweden gehabt. Jedenfalls sei die Bundesrepublik berechtigt, einen Asylantrag als Zweitantrag zu behandeln, wenn die unionsrechtlich vorgesehene Frist für die Stellung eines Fortführungsantrags von neun Monaten abgelaufen sei.
14Mit Beschluss vom 00.00.0000 hat die Kammer das Verfahren dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts-akte und die Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe:
17Das Gericht entscheidet gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung. Das dazu jeweils erforderliche Einverständnis der Beteiligten wurde mit Schriftsätzen vom 3. und 6. Februar 2023 erklärt.
18Die Klage hat bereits mit dem Hauptantrag Erfolg, sodass eine Entscheidung über die Hilfsanträge nicht mehr geboten war.
19Die Klage ist mit dem auf Aufhebung der Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids gerichteten Hauptantrag als Anfechtungsklage statthaft
20- vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 14 ff. -
21und auch im Übrigen zulässig. Soweit sich der Antrag nach dem Wortlaut auch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bezieht, ist diese Formulierung nach verständiger Würdigung des Klagevorbringens (§ 88 VwGO) nicht als eigenständige Verpflichtungsklage zu verstehen, sondern lediglich als Ergänzung des Aufhebungsbegehrens, welches bei Erfolg der Klage – wie hier – ohne Weiteres dazu führt, dass das Asylverfahren fortzuführen ist.
22Die Klage ist mit dem Hauptantrag auch begründet, da die unter Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids erfolgte Ablehnung des Asylantrags vom 00.00.0000 als unzulässig rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
23I. Die Ablehnung des Asylantrags vom 00.00.0000 als unzulässig kann nicht auf §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG gestützt werden. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG bestimmt, dass ein Asylantrag auch dann unzulässig ist, wenn im Falle eines Zweitantrags gemäß § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt gemäß § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn ein Antragsteller nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Wird ein Zweitantrag gestellt, ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG vorliegen.
24Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG liegen mangels eines „Abschlusses eines Asylverfahrens“ hier nicht vor. Daher bedarf die vom Gerichtshof der Europäischen Union
25- vgl. Urteil vom 20. Mai 2021 - C 8/20 -, juris Rn. 40 -
26erneut offen gelassene Frage, ob das mitgliedstaatsübergreifende Konzept des Folgeantrags mit dem Unionsrecht vereinbar ist, keiner Erörterung.
27Offen bleiben kann im vorliegenden Verfahren auch, ob die Einstellung, die in einem anderen Mitgliedstaat wegen stillschweigender Antragsrücknahme oder des Nichtbetreibens des Verfahrens erfolgt ist, aus Gründen des Unionsrechts überhaupt Grundlage für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylG sein kann.
28Vgl. zum Streitstand etwa: VG Augsburg, Beschluss vom 8. Dezember 2016 - Au 3 S 16.32229 -, juris Rn. 24; offen lassend: Bayerischer VGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 13a B 15.50069 -, juris Rn. 26.
29Ebenfalls keiner Erörterung bedarf, auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung der Frage abzustellen ist, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG erfolglos abgeschlossen ist. Insoweit kommen in erster Linie der Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland oder der Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs in Betracht.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 40; OVG Bremen, Urteil vom 3. November 2020 - 1 LB 28/20 -, juris Rn. 27.
31Diese Fragen können hier dahinstehen, da der Kläger auch zu dem späteren Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs (1a.) noch die Möglichkeit hatte, die eingestellten Asylverfahren in Schweden (1b.) oder Belgien (1c.) ohne inhaltliche Beschränkung seines Vortrags wie ein Erstverfahren weiterbetreiben zu können. Eine Unzulässigkeit des Asylantrags des Klägers nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG lässt sich auch nicht darauf stützen, dass sein Asylantrag in den Niederlanden im Dublin-Verfahren abgelehnt wurde (2.).
321a. Die Bundesrepublik wurde am 00.00.0000 für den Kläger nach Art. 29 Abs. 2 VO 604/2013 zuständig. Zu diesem Zeitpunkt lief die 18-monatige Überstellungsfrist (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO 604/2013) ab, die mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch die schwedischen Behörden zu laufen begann.
33Der Zuständigkeit Deutschlands als „erster ersuchender Mitgliedstaat“ steht nicht entgegen, dass der Kläger während des Laufs der Überstellungsfrist in „dritten Mitgliedstaaten“ (Belgien, Niederlande) weitere Anträge auf internationalen Schutz gestellt hat, die zur Annahme von diesen „dritten Mitgliedstaaten“ gestellten Wiederaufnahmegesuchen durch den „ersuchten Mitgliedstaat“ (Schweden) geführt haben.
34Vgl. EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 - C-323/21 -, juris Rn. 72 und 86.
35Anhaltspunkte dafür, dass die Zuständigkeit wegen des Ablaufs einer der in Art. 23 VO 604/2013 vorgesehenen Fristen auf Belgien oder die Niederlande übergegangen ist, sind nicht ersichtlich.
36Entgegen der Auffassung des Bundesamts ist die Zuständigkeit nicht erst am 00.00.0000 übergegangen. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 ist schon deswegen unbeachtlich, da die Mindestvoraussetzung einer Aussetzung, die Einlegung eines Rechtsbehelfs
37- vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 26 -,
38nicht gegeben war. Unabhängig davon würde es im vorliegenden Verfahren zu keinem anderen Ergebnis führen, wenn die Zuständigkeit erst am 00.00.0000 übergegangen wäre oder eine Zuständigkeit nach Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 erst begründet worden wäre, indem das Bundesamt den Asylantrag des Klägers inhaltlich beschieden hat ( 00.00.0000). Selbst bei Annahme eines späteren Zuständigkeitsübergangs hätte der Kläger noch die Möglichkeit gehabt, frühere Verfahren ohne inhaltliche Beschränkung seines Vortrags wie ein Erstverfahren weiterbetreiben zu können.
391b. Ein im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG abgeschlossenes Verfahren in Schweden lag zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor. Der Kläger hatte noch die Möglichkeit, das am 1. April 2019 eingestellte Verfahren ohne inhaltliche Beschränkung seines Vortrags wie ein Erstverfahren weiterbetreiben zu können.
40Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Eine Einstellung ist nicht in diesem Sinne endgültig, wenn das Verfahren noch wiedereröffnet werden kann. Ob dies möglich ist, ist nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist.
41Vgl. ausführlich BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 29 ff.
42Ausgehend davon war das Asylverfahren in Schweden nicht abgeschlossen.
43aa. Das Gericht ist aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse überzeugt, dass wegen stillschweigender Antragsrücknahme oder Nichtbetreibens des Verfahrens eingestellte Asylverfahren nach schwedischem Recht ohne zeitliche Begrenzung weiterbetrieben werden können.
44Auf die durch das Gericht veranlasste Nachfrage des Bundesamts teilten die schwedischen Behörden am 00.00.0000 mit:
45„Question: Does Swedish law set a deadline for the reopening of asylum proceedings that were discontinued, because the applicant for international protection absconded?
46Answer: No.
47Question: For example, the German Asylum Law sets a deadline of nine months for the reopening of asylum proceedings. If the applicant reports to the German Migration Agency after the expiration of this deadline, his application will be treated as a subsequent application. This provision is based on Art. 28 para 2 subpara 2 Directive 2012/32/EU.
48Answer: SE has not transposed this provision in our national law.
49Question: Please submit the Swedish text of the relevant provisions of Swedish Law and - if possible - a translation into English.
50Answer: Not applicable, see above.
51Question: Is the Swedish Migration Agency able to reopen the asylum-proceedings of a plaintiff that were discontinued on 1 April 2019, if s/he reports to the Swedish Migration Agency again today? How long can the asylum proceedings be reopened, before the application will be treated as a subsequent application?
52Answer: If the former application has been discontinued, a new "application" will be registered. A search in Eurodac will be made, in order to control whether another MS has become responsible. The provisions on subsequent applications in APD (2013/32) are not applicable in this case.”
53Daraus ergibt sich eindeutig, dass Schweden Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 nicht in nationales Recht umgesetzt hat. Nach dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten u.a. eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben, nach deren Ablauf ein nach Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32 eingestelltes Verfahren nicht wieder eröffnet werden darf beziehungsweise der neue Antrag als Folgeantrag behandelt und nach Maßgabe der Art. 40 f. RL 2013/32 geprüft werden kann. Mangels einer solchen Einschränkung des aus Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2013/32 folgenden Rechts, ein eingestelltes Verfahren weiterbetreiben zu können, können Asylbewerber in Schweden das eingestellte Asylverfahren ohne zeitliche Begrenzungen weiterbetreiben.
54Dies entspricht auch der auf den konkreten Kläger bezogenen Stellungnahme der schwedischen Behörden vom 00.00.0000:
55„A new asylum application will be registered once the applicant returns to Sweden and applies for asylum. (…) If the biometrics regarding the applicant indicate that Sweden is the responsible Member State of the abovementioned applicant, our authorities will continue to examine the applicant's asylum claims in Sweden. At present, our authorities wrote off the applicant's asylum application on 01.04.2019.”
56Die vorstehend geschilderte schwedische Rechtslage dürfte das Bundesamt (mittlerweile) ebenso beurteilen. So machte es mit Schriftsatz vom 00.00.0000 geltend, dass einer Behandlung des klägerischen Asylantrags als Zweitantrag nicht entgegenstehe,
57„dass Schweden die Ausschlussfrist nach Art. 28 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2013/32/EU nicht in nationales Recht umgesetzt hat, mit der Folge, dass nach Verfahrenseinstellung wegen Nichtbetreibens gestellte Asylanträge in Schweden ohne zeitliche Beschränkung wie Erstanträge behandelt werden“.
58bb. Soweit das Bundesamt allerdings meint, die 9-monatige Frist aus Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 sei mangels einer Umsetzung in das schwedische Recht dort unmittelbar anwendbar, vermag dies nicht zu überzeugen. Unabhängig davon, dass dies nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht ansatzweise der behördlichen Praxis in Schweden entspricht, ist die vom Bundesamt aufgestellte These einer unmittelbaren Anwendbarkeit auch rechtlich nicht haltbar.
59Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Der Mitgliedstaat hat bei der Umsetzung von Richtlinien in rechtstechnischer Hinsicht daher zwar eine gewisse Wahlfreiheit, er muss jedoch sicherstellen, dass die vollständige und wirkungsvolle Anwendung der Richtlinie in hinreichend klarer und bestimmter Weise gewährleistet ist. Der Einzelne kann sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelungen einer Richtlinie berufen, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie bis zum Ablauf einer Umsetzungsfrist nicht oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat. Allerdings begründen Richtlinien nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen, so dass ihm gegenüber – jedenfalls in dem „vertikalen“ Verhältnis zwischen Staat und Bürger – eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist.
60Vgl. etwa EuGH, Urteile vom 5. Oktober 2004 - C-397/01 -, juris Rn. 102 ff., vom 11. Juli 2002 - C-62/00 -, juris Rn. 22 ff., vom 8. Oktober 1987 - C-80/86 -, juris Rn. 9, und vom 26. Februar 1986 - C-152/84 -, juris Rn. 48.
61Ausgehend davon kann Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 schon deswegen keine unmittelbare Wirkung entfalten, da dies zu Lasten des Klägers gehen würde. Entgegen der Auffassung des Bundesamts hat ein Asylbewerber aus der Richtlinie nicht nur ein subjektives Recht darauf, ein eingestelltes Asylverfahren innerhalb von neun Monaten weiterbetreiben zu können. Vielmehr ergibt sich aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 28 Abs. 2 RL 2013/32, dass grundsätzlich ein unbeschränktes Recht besteht, ein eingestelltes Asylverfahren weiterzubetreiben (Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2013/32). Dieses Recht kann nach Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 zwar unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung dessen, dass Richtlinien im Verhältnis zwischen Staat und Bürger nicht zu Lasten des Einzelnen Anwendung finden, kann sich ein Mitgliedstaat allerdings ohne einen entsprechenden Umsetzungsakt nicht auf Einschränkungen im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 berufen.
62Zudem steht einer unmittelbaren Anwendbarkeit entgegen, dass Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 nach seinem eindeutigen Wortlaut den Mitgliedstaaten lediglich die Option einräumt, Einschränkungen vorzusehen. Der Unionsgesetzgeber hat damit bewusst auch die Möglichkeit geschaffen, dass Mitgliedstaaten – wie hier Schweden – dem Asylbewerber ein zeitlich unbeschränktes Recht zur Fortführung des Asylverfahrens einräumen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit dieser Vorschrift wäre damit ersichtlich nicht vereinbar.
63Schließlich kann Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 auch deshalb nicht unmittelbar angewandt werden, weil er den Mitgliedstaaten erhebliche Spielräume einräumt. Insbesondere handelt es sich bei der besagten 9-monatigen Frist nur um eine Mindestfrist, die der Konkretisierung durch einen Umsetzungsakt des Mitgliedstaats bedarf.
64cc. Soweit das Bundesamt ferner geltend macht, die Bundesrepublik dürfe – im mitgliedstaatsübergreifenden Kontext – eine Frist von neun Monaten bei der Prüfung des § 71a AsylG ansetzen, weil Schweden die Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt habe, vermag dies ebenfalls nicht zu überzeugen.
65Einer solchen Übertragung des deutschen Verfahrensrechts (hier: § 33 Abs. 5 Satz 5 AsylG) auf die Vorfrage in § 71a Abs. 1 AsylG, ob das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen war, hat das Bundesverwaltungsgericht bereits eine klare Absage erteilt.
66Vgl. Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 33 ff.
67Das Gericht schließt sich den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts an. Gründe, im vorliegenden Fall davon abzuweichen, hat das Bundesamt nicht geltend gemacht und sind auch sonst nicht ersichtlich. § 71a Abs. 1 AsylG knüpft an einen abgeschlossenen, im Ausland geschehenen Vorgang an, der insgesamt dem ausländischen Recht unterfällt. Der enge Zusammenhang des Verwaltungsakts und seiner Bestandskraft gebietet, die Frage, ob eine ausländische Verwaltungsentscheidung noch anfechtbar bzw. revidierbar ist, nach ausländischem und nicht deutschem Recht zu beantworten.
68Nach den vorstehenden Ausführungen kann auch der Einwand des Bundesamts nicht durchgreifen, die „unterbliebene“ Umsetzung des Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 gehe zu Lasten der Bundesrepublik und sei daher unbeachtlich. Art. 28 Abs. 2 RL 2013/32 gibt den Mitgliedstaaten zwar bindend vor, eine Wiedereröffnung von Asylverfahren vorzusehen, die nach Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32 eingestellt wurden. Das Wahlrecht, die Wiedereröffnung an eine bestimmte Frist zu knüpfen, steht bei dem mitgliedstaatsübergreifenden Konzept des Folgeantrags dem Staat zu, in dem das Erstverfahren durchgeführt worden ist, hier mithin Schweden. Aus der Verwendung des Plurals in Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 („Die Mitgliedstaaten können eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben ...") kann nichts anderes geschlossen werden.
69Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 37, zum insoweit vergleichbaren Art. 20 RL 2005/85.
701c. Es lag auch kein abgeschlossenes Verfahren in Belgien vor. Ausweislich der Stellungnahme der belgischen Behörden wurde das dortige Asylverfahren am 3. Dezember 2020 wegen Nichtbetreibens eingestellt. Es bedarf keiner weiteren Aufklärung, ob Belgien eine Frist im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 in sein nationales Recht übernommen hat. Selbst wenn hier nur von der Mindestfrist nach Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 ausgegangen würde, wäre diese erst am 3. September 2021 abgelaufen gewesen.
712. Eine Unzulässigkeit des Asylantrags des Klägers nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG lässt sich auch nicht darauf stützen, dass sein Asylantrag in den Niederlanden im Dublin-Verfahren abgelehnt wurde.
72aa. Dies folgt schon daraus, dass dieses Asylverfahren kein Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG ist. Ein solches setzt voraus, dass dem Asylbewerber vor der Ablehnung des Asylantrags die Gelegenheit gegeben wurde, seine Asylgründe im Rahmen einer uneingeschränkten sachlichen Erstprüfung vorzutragen. Daran fehlt es, wenn – wie hier – bislang nur bestandskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-System getroffen wurden.
73Vgl. VG Augsburg, Urteil vom 31. Januar 2018 - Au 6 K 17.35139 -, juris Rn. 24; zum insoweit vergleichbaren § 71 Abs. 1 AsylG: BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 - 1 C 55.20 -, juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. August 2020 ‑ OVG 3 B 35.19 -, juris Rn. 23.
74Ein Asylbewerber hat einen Anspruch darauf, dass ein von ihm gestellter Antrag auf internationalen Schutz innerhalb der Europäischen Union geprüft wird. Könnte sich ein Asylbewerber, dessen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat in der Vergangenheit lediglich wegen fehlender Zuständigkeit unanfechtbar abgelehnt wurde, nach Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik nicht auf die Durchführung eines Erstverfahrens berufen, entstünde eine Situation, in der sich kein Mitgliedstaat für die uneingeschränkte sachliche Erstprüfung des Asylantrags als zuständig ansieht.
75Vgl. VG Augsburg, Urteil vom 31. Januar 2018 - Au 6 K 17.35139 -, juris Rn. 24; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 71 Rn. 48 f. (Stand: Dezember 2021).
76Würde das Dublin-Verfahren des Klägers in den Niederlanden als Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG betrachtet, hätte er nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG die Möglichkeit, das nicht abgeschlossene Erstverfahren in Schweden nach dem Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik ohne inhaltliche Beschränkung seines Vortrags wie ein Erstverfahren weiterbetreiben zu können. Dies wäre mit dem vorstehend geschilderten Anspruch auf eine uneingeschränkte sachliche Erstprüfung, die ihm in Schweden zum Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs noch möglich war, nicht vereinbar.
77bb. Wäre – entgegen der hier vertretenen Auffassung – das Asylverfahren in den Niederlanden als Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG zu berücksichtigen, lägen jedenfalls die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG vor, weil die Bundesrepublik nachträglich für den Kläger zuständig geworden ist.
78In der Konstellation, in der sowohl das Dublin-Verfahren als auch das weitere Asylverfahren in der Bundesrepublik durchgeführt werden, ist anerkannt, dass nach Zuständigkeitsübergang jedenfalls die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vorliegen, weil sich die der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts zugrundeliegende Sach- und Rechtslage mit dem Ablauf der Überstellungsfrist und des damit einhergehenden Zuständigkeitsübergangs nachträglich zugunsten des Asylbewerbers geändert hat.
79Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 - 1 C 55.20 -, juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. August 2020 ‑ OVG 3 B 35.19 -, juris Rn. 26.
80Dies ist aufgrund des Sinn und Zwecks des § 71a Abs. 1 AsylG, den Zweitantrag dem Folgeantrag und damit die asylrechtliche Entscheidung eines Drittstaats einer asylrechtlichen Entscheidung des Bundesamts gleichzustellen
81- vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 27; BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, Rn. 30 -
82auf die vorliegende Konstellation, in der die Unzulässigkeitsentscheidung von einem anderen Mitgliedstaat getroffen wurde und die Bundesrepublik nach Zuständigkeitsübergang einen weiteren Asylantrag bearbeitet, zu übertragen.
83II. Die Ablehnung des Asylantrags vom 00.00.0000 als unzulässig kann auch nicht auf andere Unzulässigkeitsgründe gestützt werden. Insbesondere ist der Asylantrag nicht als Folgeantrag nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71 Abs. 1 AsylG unzulässig, weil der frühere Asylantrag des Klägers in der Bundesrepublik abgelehnt wurde.
84Bei dem streitgegenständlichen Asylantrag vom 3. Dezember 2020 handelt es sich nicht um einen Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG. Aus den bereits zu § 71a Abs. 1 AsylG angeführten Gründen (siehe I. 2.) setzt auch ein Erstverfahren im Sinne von § 71 Abs. 1 AsylG voraus, dass dem Asylbewerber vor der Ablehnung des Asylantrags die Gelegenheit gegeben wurde, seine Asylgründe im Rahmen einer uneingeschränkten sachlichen Erstprüfung vorzutragen. Daran fehlt es, wenn – wie hier – bislang nur bestandskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-System getroffen wurden.
85Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 - 1 C 55.20 -, juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. August 2020 ‑ OVG 3 B 35.19 -, juris Rn. 23; VG Sigmaringen, Urteil vom 16. Februar 2021 - A 13 K 3481/18 -, juris Rn. 30; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. September 2020 - 22 L 1454/20.A -, juris Rn. 18 ff.
86Im Übrigen lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor, weil sich die der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts zugrundeliegende Sach- und Rechtslage mit dem Ablauf der Überstellungsfrist und des damit einhergehenden Zuständigkeitsübergangs nachträglich zugunsten des Klägers geändert hat.
87Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 - 1 C 55.20 -, juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. August 2020 ‑ OVG 3 B 35.19 -, juris Rn. 26.
88Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.