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1. Die Anträge werden abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
2Die Anträge,
3„1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG auszustellen.
42. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Abschiebeschutz zu erteilen.
53. Im Wege der einstweiligen Anordnung wird die Abschiebung des Antragstellers einstweilig untersagt.“,
6haben keinen Erfolg.
7Die Anträge sind jedenfalls unbegründet.
8Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.
9Vorliegend sind betreffend dem Abschiebeschutz bzw. der Untersagung der Abschiebung (dazu I.) und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG (dazu II.) der Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden.
10I. Die wörtlich gestellten Anträge „2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Abschiebeschutz zu erteilen.“ und „3. Im Wege der einstweiligen Anordnung wird die Abschiebung des Antragstellers einstweilig untersagt.“ legt das Gericht nach §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO im Hinblick auf das Begehren des Antragstellers zu einem Antrag aus, in dem beantragt wird, den Antragsteller nicht abzuschieben. Beide Anträge betreffen nach Ansicht des Gerichts den gleichen Streitgegenstand mit den gleichen Prüfungsvoraussetzungen. Maßgeblich für die Ermittlung des Antragbegehrens ist der geäußerte Wille des jeweiligen Beteiligten, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt. Dieser Wille begründet zugleich die Grenze der richterlichen Auslegung. Entsprechend §§ 133, 157 BGB ist der wirkliche Wille zu erforschen, der sich aus dem gesamten Prozessstoff ergeben kann, und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Der Vortrag ist so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Bei der Auslegung eines nicht anwaltlich verfassten Schriftsatzes ist ein großzügigerer Maßstab anzulegen, als bei einem anwaltlich vertretenen Antragsteller. Von Rechtsunkundigen, die ihren Verwaltungsrechtsstreit selbst führen, kann nicht erwartet werden, dass sie juristische Fachbegriffe beherrschen und die prozessuale Bedeutung und Tragweite von Willensbekundungen erkennen. Entsprechend ist der gerichtliche Spielraum bei der Auslegung auch geringer, wenn der Antragsteller zwar nicht anwaltlich vertreten ist, aber aus anderem Grund erkennbar über verwaltungsrechtlichen Sachverstand verfügt. Neben dem geäußerten Willen ist auch die Interessenlage eines Antragstellers bei der Auslegung zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Vortrag und sonstigen für das Gericht und den Antragsgegner als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt.
11Vgl. Peters/Kujath, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 88 Rn. 25 ff.
12Dies berücksichtigend begehrt der Antragsteller mit den unter Ziffer 2 und 3 gestellten Anträgen insgesamt, dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu untersagen, ihm gegenüber vorläufig (bis zu einer Entscheidung in einer noch zu erhebenden Hauptsache) keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen.
13Der so verstandene Antrag hat keinen Erfolg. Er ist unbegründet.
14Der aufgrund des bestandskräftigen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 22. Mai 2017 (Bl. 55 BA001) durch rechtskräftige Abweisung der Klage mit Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 29. März 2018 - 12 K 5167/17.A - (Eintritt der Rechtskraft am 15. Mai 2018) vollziehbar ausreisepflichtigen Antragsteller hat jedenfalls den erforderlichen Anordnungsanspruch nicht dargelegt bzw. glaubhaft gemacht. Es sind keine Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ersichtlich.
15Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine rechtliche Unmöglichkeit kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 2 Abs. 2, 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa mit Blick auf Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind. Abschiebungsverbote können aber auch aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit einfachgesetzlichen Rechten folgen, wenn diese Rechte dem Ausländer eine Rechtsposition einräumen, die durch eine Abschiebung verloren geht. Im gerichtlichen Verfahren ist das Bestehen einer solchen Rechtsposition vom Ausländer glaubhaft zu machen.
16Darüber hinaus kann eine Duldung im Ermessenswege erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen eine vorübergehende weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet erfordern (§ 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Ziel des Gesetzgebers ist es, der vollziehbar ausreisepflichtigen Person im Ermessenswege einen vorübergehenden Aufenthalt zu ermöglichen, wenn der vorübergehende Aufenthalt zwar aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen erforderlich ist, sich der Aufenthaltszweck jedoch nicht zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verdichtet hat und tatsächliche Abschiebungshindernisse nicht vorliegen. Dringende humanitäre oder persönliche Interessen liegen vor, wenn die persönlichen Interessen des Betroffenen an der weiteren vorübergehenden Anwesenheit im Bundesgebiet schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der Ausreisepflicht.
17Gemessen an diesen Maßstäben ist die Abschiebung des Antragstellers weder tatsächlich oder rechtlich unmöglich, noch liegen dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen vor, die ihre vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern.
18Der Antragsteller beruft sich allein darauf, dass ihm ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG zustehe.
19Die bloße Anhängigkeit eines Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führt nicht per se auf ein im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu sicherndes vorläufiges Bleiberecht für die Dauer des Aufenthaltserlaubnisverfahrens. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des OVG NRW,
20vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Dezember 2011 - 18 B 910/11 -, und vom 12. Februar 2008 - 18 B 230/08 -; VG Minden, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 7 L 71/12 -,
21dass die Erteilung einer Duldung für die Dauer eines Aufenthaltserlaubnisverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen grundsätzlich ausscheidet, wenn ein vorläufiges Bleiberecht nach § 81 AufenthG - wie im vorliegenden Fall - nicht eingetreten ist. Sofern von dem genannten Grundsatz eine Ausnahme für die Fälle zu machen ist, in denen eine auf einen Aufenthaltstitel führende ausländerrechtliche Regelung ihrem Sinn und Zweck nach die Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet erfordert, setzt die Gewährung eines verfahrensbedingten Bleiberechts im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zumindest voraus, dass dem Ausländer ein derartiger Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels überhaupt zusteht. Voraussetzung ist, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der entsprechenden Regelung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfüllt sind.
22Vgl. auch_ Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 23. Dezember 2022, Bl. 2, abrufbar unter: https://www.ggua.de/fileadmin/downloads/Chancen-Aufenthaltsrecht/Anwendungshinweise_zum_Chancen-Aufenthaltsrechtsgesetz.pdf, wonach eine antragstellende Person bis zur Titelerteilung weiterhin vollziehbar ausreisepflichtig bleibe und mit der Antragstellung kein zusätzlicher Duldungsgrund geschaffen werde, gleichwohl seien die Ausländerbehörden angehalten, jedenfalls nach Antragstellung […] bis zur Entscheidung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen […].
23Dies ist hier nicht der Fall.
24Nach § 104c Abs. 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1, 1a und 4 sowie § 5 Absatz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat und er 1. sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und 2. nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben (Satz 1). Die Aufenthaltserlaubnis nach Satz 1 soll versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert. Für die Anwendung des Satzes 1 sind auch die in § 60b Absatz 5 Satz 1 genannten Zeiten anzurechnen (Satz 2).
25Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Zum einen ist der Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung der Erlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht und auch später nicht geduldet (a.). Zum anderen hat sich der Antragsteller nicht am 31. Oktober 2022 (Stichtag) seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten; ungeachtet dessen hat er jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass er sich im relevanten Zeitraum zwischen Einreise und Stichtag fortwährend im Bundesgebiet aufgehalten hat (b.). Außerdem begründet das Verhalten des Antragstellers einen atypischen Fall i.S.d. Vorschrift, sodass die Aufenthaltserlaubnis („soll“) zu versagen ist (c.).
26a. Der Antragsteller war zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts nicht geduldet i.S.d. § 60a Abs. 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Abschiebung eines Ausländers ist auch auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre. Einem Ausländer kann eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Soweit die Beurkundung der Anerkennung einer Vaterschaft oder der Zustimmung der Mutter für die Durchführung eines Verfahrens nach § 85a ausgesetzt wird, wird die Abschiebung des ausländischen Anerkennenden, der ausländischen Mutter oder des ausländischen Kindes ausgesetzt, solange das Verfahren nach § 85a nicht durch vollziehbare Entscheidung abgeschlossen ist.
27Nach dem Wortlaut von § 104c Abs. 1 AufenthG sowie Sinn und Zweck der Norm muss der Antragsteller (jedenfalls) zum Zeitpunkt der Antragsstellung geduldet sein.
28Vgl. so auch: Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat zur Ein-führung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 23. Dezember 2022, Bl. 3.
29Maßgeblicher Zeitpunkt i.S.d. § 104c Abs. 1 AufenthG ist - mangels anderweitiger Informationen - daher die (konkludente) Antragstellung mit Einreichung des Antrags auf einstweilige Anordnung vom 13. Januar 2023 (Bl. 1 GA), da der Antragsteller beim Antragsgegner (zuvor) keinen Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gestellt hat.
30Eine Duldungsbescheinigung oder ein (allein erforderlicher) Duldungsgrund,
31vgl. dazu: Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 23. Dezember 2022, Bl. 3.
32lagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Allein in Betracht kommt eine Duldung aus tatsächlichen Gründen wegen fehlender Reisedokumente.
33Vgl. dazu: Kluth/Breidenbach, in: BeckOK, Ausländerrecht, AufenthG, 35. Edition 1.10.2022, § 60a Rn. 11.
34Dieser Duldungsgrund ist bereits vor Antragstellung weggefallen. Vorliegend wurde die Ausstellung eines Passersatzpapiers (im Folgenden PEP) bereits am 4. Januar 2023 zugesichert (Bl. 42 PEP-Unterlagen). Der Antrag wurde am 6. Januar 2023 eingereicht. Dass die Bearbeitung der Unterlagen erst nach Einreichen des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG abgeschlossen wurde, kann nicht zugunsten des Antragstellers berücksichtigt werden. Es liegt keine erhebliche Verzögerung vor. Dass die erforderlichen PEP-Unterlagen zeitnah ausgestellt würden, stand zum Zeitpunkt von dessen Beantragung bereits sicher fest. Denn der Antragsteller wurde 2019 von den nigerianischen Behörden identifiziert (Bl. 204 ff. BA001) und eine PEP-Zusage lag für den ersten Abschiebetermin im Jahre 2020 auch schon einmal vor (Bl. 146 BA001). Eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen ist von Verzögerungen zu unterscheiden, die sich aus verwaltungsorganisatorischen Gründen bei der Vorbereitung der Abschiebung ergeben können. Denn zeitlich kurze Verzögerungen begründen keine Unmöglichkeit i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Eine Duldung ist grundsätzlich nur dann zu erteilen, wenn die Abschiebung zwar möglich ist, die Ausreisepflicht des Ausländers aber nicht ohne erhebliche Verzögerung durchgesetzt werden kann.
35Vgl. Kluth/Breidenbach, in: BeckOK AuslR, 35. Edition 1. Oktober 2022, AufenthG § 60a Rn. 9; BT-Drs. 11/6321, S. 76 zu § 55 AuslG.
36Dass seit Antragstellung ein Duldungsgrund entstanden sein könnte, ist weder nachvollziehbar vorgetragen worden noch anderweitig ersichtlich.
37b. Zudem hat sich der Antragsteller nicht am 31. Oktober 2022 (Stichtag) seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder hat sich mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten. Der Aufenthalt des Antragstellers wurde ab Stellung seines Asylantrags bis zu dessen Ablehnung gestattet (§ 55 AsylG) und anschließend mangels Reisedokumenten (z.B. Pass) bis Anfang 2020 geduldet. Im Januar 2020 lag dann eine PEP-Zusage vor, sodass einer Abschiebung des Antragstellers (zunächst) keine Gründe mehr entgegenstanden haben. Der Antragsteller konnte an dem vorgesehenen Termin am 6. Februar 2020 allerdings nicht abgeschoben werden, weil er untergetaucht war. Die Stadt W. meldete ihn zum 22. Januar 2020 nach unbekannt ab (Bl. 18 GA). Erst am 12. Oktober 2022 wurde der Antragsteller bei einer Polizeikontrolle (wieder) aufgegriffen. Entgegen der Ansicht des Antragstellers kann nicht von einer (faktischen) Duldung über den Zeitraum des „Untertauchens“ von rund zweieinhalb Jahren ausgegangen werden. Der Duldungsgrund der tatsächlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung greift nicht zugunsten derjenigen Ausländer, die in zumutbarer Weise die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise tatsächlich haben und diese Möglichkeit in vorwerfbarer Weise nicht wahrnehmen; dies gilt sogleich auch für den Fall, dass durch zumutbare Anstrengungen festgestellte Hindernisse von dem Ausländer überwunden werden können, wie etwa durch die Mitwirkung bei der Passbeschaffung.
38Vgl. Kluth/Breidenbach, in: BeckOK, Ausländerrecht, AufenthG, 35. Edition 1. Oktober 2022, § 60a Rn. 11.
39Diese Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Der Antragsteller kann sich nicht auf das Erlöschen der PEP-Zusage Anfang 2020 (90 Tageszeitraum) berufen, da er selbst aktiv den Grund geschaffen hat, dass die Abschiebung verhindert wurde. Insbesondere verhinderte er, dass die zuständige Ausländerbehörde Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatte.
40Sollte entgegen der vorgenannten Auffassung der Zeitraum des „Untertauchens“ grundsätzlich als ein geduldeter Aufenthalt zu werten sein, so hat der Antragsteller jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass er sich im relevanten Zeitraum fortwährend im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der Zeitraum ist als erheblicher Unterbrechungszeitraum zu werten. Nach der Gesetzesbegründung sind alle ununterbrochenen Voraufenthaltszeiten, in denen sich der Ausländer in asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren, also geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, anrechenbar. Kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu drei Monaten, die keine Verlegung des Lebensmittelpunkts beinhalten, sollen unschädlich sein.
41Vgl. BT-Drs. 20/3717, S. 44; Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 23. Dezember 2022, Bl. 3.
42Es ist nicht glaubhaft dargelegt worden, dass sich der Antragsteller im Rahmen des Zeitraums des „Untertauchens“ wirklich im Bundesgebiet aufgehalten hat. Nach seinen Äußerungen in den Verwaltungsvorgängen habe er erst bei einer Frau gelebt und dann mit Freunden in einer Wohnungsgemeinschaft. Eine nähere Konkretisierung findet nicht statt. Eine Nachprüfbarkeit anhand der Verwaltungsvorgänge ist ebenfalls nicht möglich. Aussagekräftige Belege hat der Antragsteller nicht eingereicht (vgl. auch § 82 Abs. 1 AufenthG).
43c. Schließlich begründet das zweieinhalbjährige Untertauchen des Antragstellers zumindest einen atypischen Fall i.S.d. Vorschrift. § 104c Abs. 1 AufenthG ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet. Dies bedeutet, dass der Titel bei Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen grundsätzlich zu erteilen ist. Ausnahmen sind nur bei Vorliegen atypischer Umstände denkbar. Die Versagung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis kommt in Betracht, wenn zwar formal die Erteilungsvoraussetzungen für ein Chancen-Aufenthaltsrecht erfüllt sind, aber der gesetzliche Zweck, den Übergang in ein Bleiberecht auf rechtssicherer Grundlage zu ermöglichen, durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erkennbar nicht erreicht werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn in der Gesamtschau eine Erfüllung der Integrationsvoraussetzungen nach §§ 25a, 25b AufenthG augenscheinlich nicht in Betracht kommt. Dies ist im Wege der Einzelfallbetrachtung zu entscheiden. Beispiele für atypische Fälle können ein widersprüchliches Verhalten des Ausländers sein, wenn dieser zwar ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablegt, sein tatsächliches Verhalten aber eine andere Schlussfolgerung rechtfertigt oder die Sicherheitsbehörden über Erkenntnisse zu einem Extremismus- oder Terrorismusbezug verfügen, oder tatsächliche Anhaltspunkte für eine sonstige Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung haben. Hierbei ist darauf zu achten, dass die vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen nicht unterlaufen werden. So können etwa Nichtmitwirkungen unterhalb der Schwelle von § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht als „atypische Umstände“ herangezogen werden.
44Vgl. Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 23. Dezember 2022, Bl. 4.
45In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/3717, S. 44) heißt es dazu:
46„§ 104c Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 AufenthG-E gibt im Übrigen den Rahmen der ausländerbehördlichen Ermessensausübung nach § 5 Absatz 3 Satz 2 vor. Abweichungen von den in Nummer 2 genannten gesetzlichen Vorgaben sind nur nach umfassender Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls in äußerst außergewöhnlichen, also atypischen Fallkonstellationen zulässig. Sie müssen jeweils insbesondere mit Blick auf Ziel und Zweck des Chancen-Aufenthaltsrechts konkret begründet werden. Ermessenserwägungen, die bei der Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts eine Rolle gespielt haben, sind auch bei einer späteren Prüfung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25a oder § 25b AufenthG zu übernehmen, wenn der Sachverhalt unverändert geblieben ist“.
47Nach diesen Grundsätzen liegt ein atypischer Fall vor. Es liegt ein widersprüchliches Verhalten des Antragstellers vor, wenn er sich nun zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt, davor aber zweieinhalb Jahre jegliche seiner Pflichten gegenüber dem Antragsgegner missachtet. Zudem ist sein Untertauchen kurz vor seiner geplanten Überstellung in sein Heimatland Anfang 2020 als eine aktive Verhinderung der Abschiebung zu werten, die über der Schwelle von § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG liegt. Nach § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG soll die Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert. Auch läuft es dem Zweck der Vorschrift zuwider, wenn ein Antragsteller sich die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen durch rechtswidriges Verhalten erschleicht. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller nicht nur jahrelang untergetaucht war, er ist auch nur deshalb wieder „aufgetaucht“, weil er am 12. Oktober 2022 bei einer Polizeikontrolle aufgegriffen wurde.
48Andere Gründe für eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Antragsteller selbst vorgetragen, keine Kinder zu haben und sich von seiner Lebensgefährtin getrennt zu haben. Nach Vorstehendem liegen auch keine dringenden humanitären oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen vor, die eine vorübergehende weitere Anwesenheit des Antragstellers im Bundesgebiet erfordern (§ 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG).
49Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass auch die Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen, wonach einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Anhaltspunkte für eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit sind hier - wie zuvor dargelegt - nicht ersichtlich.
50Andere Gründe für eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers oder sonstige Aussetzungsgründe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
51II. Der Antrag zu 1. ist ebenfalls unbegründet. Der Antragsteller hat - wie zuvor dargelegt - keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG.
52Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 39 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.