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Vorlagebeschluss an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der folgenden Fragen:
1. Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahingehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in diesem Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat?
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist:
Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahingehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat, obwohl das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat von dem anderen Mitgliedstaat noch wiedereröffnet werden kann, wenn der Antragsteller dies in dem anderen Mitgliedstaat beantragt?
3. Falls Frage 2 zu bejahen ist:
Gibt das Unionsrecht vor, welcher Zeitpunkt bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend ist, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann, oder richtet sich diese Frage allein nach nationalem Recht?
4. Falls Frage 3 dahingehend zu beantworten ist, dass das Unionsrecht entsprechende Vorgaben enthält:
Welcher Zeitpunkt ist nach den Vorgaben des Unionsrechts bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann?
VG Minden, Vorlagebeschluss vom 28. Oktober 2022 - 1 K 4316/21.A
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahingehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in diesem Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat?
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist:
Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahingehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat, obwohl das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat von dem anderen Mitgliedstaat noch wiedereröffnet werden kann, wenn der Antragsteller dies in dem anderen Mitgliedstaat beantragt?
3. Falls Frage 2 zu bejahen ist:
Gibt das Unionsrecht vor, welcher Zeitpunkt bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend ist, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann, oder richtet sich diese Frage allein nach nationalem Recht?
4. Falls Frage 3 dahingehend zu beantworten ist, dass das Unionsrecht entsprechende Vorgaben enthält:
Welcher Zeitpunkt ist nach den Vorgaben des Unionsrechts bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann?
G r ü n d e :
21 A. Der Kläger ist libanesischer Staatsangehöriger und wurde ausweislich eines Auszugs aus dem libanesischen Familienregister am 23. Februar 1989 geboren. Der Kläger reiste am 2. März 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und suchte am selben Tag um Asyl nach. Seinen förmlichen Asylantrag registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 30. April 2020. Eine Eurodac-Abfrage des Bundesamts ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Polen. Einem Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts stimmten die polnischen Behörden mit Schreiben vom 29. April 2020 zu.
32 Mit Bescheid vom 25. Juni 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, das Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen, und ordnete seine Abschiebung nach Polen an. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, Polen sei für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Gegen diesen dem Kläger am 1. Juli 2020 ausgehändigten Bescheid erhob der Kläger am 6. Juli 2020 Klage und stellte zusätzlich einen Eilantrag. Einige Tage später teilte das Bundesamt den polnischen Behörden mit, dass eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil ein Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung eingelegt worden sei. Mit Beschluss vom 31. Juli 2020 lehnte das Verwaltungsgericht Düsseldorf den Eilantrag des Klägers ab. Mitte September 2020 wurde dem Bundesamt mitgeteilt, dass sich der Kläger mit sofortiger Wirkung im Kirchenasyl aufhält. Anfang November 2020 teilte das Bundesamt den polnischen Behörden mit, dass die aufschiebende Wirkung zum 31. Juli 2020 weggefallen sei, eine Überstellung derzeit aber nicht möglich sei, weil der Kläger flüchtig sei, so dass die Überstellungsfrist am 31. Januar 2022 ende.
43 Mit Schreiben vom 2. Februar 2021 hob das Bundesamt den Bescheid vom 25. Juni 2020 mit der Begründung auf, dass die Überstellungsfrist abgelaufen sei. Auf ein vom Bundesamt an die polnischen Behörden gerichtetes Informationsersuchen teilten diese mit Schreiben vom 28. April 2021 mit, dass das vom Kläger in Polen betriebene Asylverfahren am 20. April 2020 eingestellt worden sei. Dieses Asylverfahren habe der Kläger innerhalb von neun Monaten und damit bis Januar 2021, wieder aufnehmen können.
54 Mit Bescheid vom 14. Juli 2021, per Einschreiben zur Post gegeben am 16. Juli 2021, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers erneut als unzulässig ab, stellte fest, das Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger die Abschiebung in den Libanon an. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Gemäß § 71a Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) sei kein weiteres Asylverfahren durchzuführen. Das vom Kläger in Polen betriebene Asylverfahren sei erfolglos abgeschlossen. Wiederaufgreifensgründe gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) lägen nicht vor. Weder die Sach- noch die Rechtslage hätten sich geändert. Der Kläger habe auch keine neuen Beweismittel vorgelegt.
65 Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 27. Juli 2021 Klage erhoben.
76 Mit Beschluss vom 31. August 2021 (1 L 547/21.A) hat das vorlegende Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsanordnung angeordnet und dies im Wesentlichen damit begründet, dass aufgrund der Ausführungen der Europäischen Kommission (im Folgenden Kommission) zum Begriff des Folgeantrags im Verfahren C-8/20, auf die der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in diesem Verfahren nicht näher eingegangen sei, ernstliche Zweifel bestünden, ob § 71a AsylG mit Unionsrecht vereinbar sei. Mit Beschluss vom 18. Oktober 2021 hat das vorlegende Gericht das Klageverfahren mit Blick auf das beim Gerichtshof anhängige VerfahrenC-497/21 ausgesetzt. Nachdem der Gerichtshof die entsprechende Frage in seinem Urteil vom 22. September 2022 - C- 497/21 - offen gelassen hatte, hat das vorlegende Gericht das Verfahren fortgesetzt.
87 B. Der Rechtsstreit ist auszusetzen und dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV zur Beantwortung der im Tenor wiedergegebenen Fragen zu Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 2 lit. q) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie, im Folgenden: RL 2013/32/EU) vorzulegen. Die vorgelegten Fragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.
98 I. Die nationale Rechtlage stellt sich wie folgt dar:
109 1. Stellt ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, einen weiteren Asylantrag, spricht das nationale Recht von einem Zweitantrag (§ 71a Abs. 1 AsylG). Die Prüfung eines Zweitantrags erfolgt - ebenso wie die Prüfung eines Folgeantrags (§ 71 Abs. 1 AsylG) - zweistufig: Die erste Stufe betrifft die Frage, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist (§ 71a Abs. 1 AsylG). Die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, ergeben sich - soweit hier von Belang - aus § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG. Liegt kein Grund für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vor, ist der Zweitantrag als unzulässig abzulehnen (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG); die vom Antragsteller vorgebrachten Gründe, warum er in seinem Herkunftsstaat Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden befürchtet, sind dann abweichend von § 31 Abs. 2 AsylG nicht weiter zu prüfen, wohl aber das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht (§ 31 Abs. 3 AsylG). Das Zweitantragsverfahren ist damit - vorbehaltlich einer gerichtlichen Überprüfung - abgeschlossen. Liegt dagegen ein Grund für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vor, ist der Zweitantrag zulässig und die zuständige Behörde hat auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist.
1110 Der Unterschied zwischen einem Folge- (§ 71 Abs. 1 AsylG) und einem Zweitantrag (§ 71a Abs. 1 AsylG) besteht darin, dass das erste Asylverfahren bei einem Folgeantrag in Deutschland und bei einem Zweitantrag in einem sicheren Drittstaat durchgeführt wurde.
12Vgl. VG Schleswig, Vorlagebeschluss vom 16. August 2021 - 9 A 178/21 -, ECLI:DE:VGSH:2021:0816.9A178.21.00, juris Rn. 20.
1311 Sinn und Zweck des § 71a AsylG ist es, den Zweitantrag dem Folgeantrag und damit die asylrechtliche Entscheidung des Drittstaats einer asylrechtlichen Entscheidung des Bundesamts gleichzustellen.
14Vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 27; BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, ECLI:DE:BVerwG:2016:141216U1C4.16.0, Rn. 30.
1512 Aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs steht fest, dass § 71a Abs. 1 AsylG keine Anwendung findet, wenn es sich bei dem Drittstaat nicht um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt
16- vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C 8/20 -, ECLI:EU:C: 2021:404, Rn. 31 ff. (von Norwegen abgelehnter Asylantrag).
1713 oder es sich bei diesem zwar um einen Mitgliedstaat handelt, dieser aber nicht an die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU) gebunden ist.
18Vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 - C-497/21 -, ECLI: EU:C:2022:721, Rn. 36 ff. (von Dänemark abgelehnter Asylantrag).
1914 Dagegen hat der Gerichtshof die Frage, ob der Begriff "Folgeantrag" in Art. 2 lit. q) und Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU mitgliedstaatsübergreifend angewendet werden kann, bisher ausdrücklich offengelassen.
20Vgl. EuGH, Urteile vom 20. Mai 2021 - C 8/20 -, ECLI:EU:C: 2021:404, Rn. 30 und 40, sowie vom 22. September 2022 -C-497/21 -, ECLI:EU:C:2022:721, Rn. 36 und 46.
2115 Diese Frage stellt sich in zwei unterschiedlichen Fallkonstellationen: Bei der ersten Fallkonstellation hat die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats den dort gestellten Asylantrag in der Sache geprüft und bestandskräftig abgelehnt. Diese Konstellation ist Gegenstand eines Verfahrens, das das vorlegende Gericht bereits mit Vorlagebeschluss vom 28. Oktober 2022 (1 K 1829/21.A) dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt (dortiges Aktenzeichen: C-123/23) hat. Das vorliegende Verfahren hat die zweite Fallkonstellation zum Gegenstand, bei der die zuständige Behörde des anderen Mitgliedstaats entschieden hat, das dort geführte Asylverfahren einzustellen, weil der Antragsteller dieses Verfahren nicht weiter betrieben hat.
2216 2. Die einschlägigen nationalen Normen lauten:
2317 § 26a AsylG (Sichere Drittstaaten)
2418 […]
2519 (2) Sichere Drittstaaten sind außer den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die in Anlage I bezeichneten Staaten. […]
2620 § 29 AsylG (Unzulässige Anträge)
2721 (1) Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn
2822 […]
2923 5. im Falle eines Folgeantrags nach § 71 oder eines Zweitantrags nach § 71a ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist.
3024 […]
3125 § 31 AsylG (Entscheidungen des Bundesamtes über Asylanträge)
3226 […]
3327 (2) In Entscheidungen über zulässige Asylanträge und nach § 30 Abs. 5 ist ausdrücklich festzustellen, ob dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz zuerkannt wird und ob er als Asylberechtigter anerkannt wird. […]
3428 (3) In den Fällen des Absatzes 2 und in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge ist festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen. […]
3529 § 33 AsylG (Nichtbetreiben des Verfahrens)
3630 (1) Der Asylantrag gilt als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt.
3731 (2) Es wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er
3832 1. einer Aufforderung zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen gemäß § 15 oder einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 nicht nachgekommen ist,
3933 2. untergetaucht ist oder
4034 3. […]
4135 Die Vermutung nach Satz 1 gilt nicht, wenn der Ausländer unverzüglich nachweist, dass das in Satz 1 Nummer 1 genannte Versäumnis oder die in Satz 1 Nummer 2 und 3 genannte Handlung auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte. Führt der Ausländer diesen Nachweis, ist das Verfahren fortzuführen. […]
4236 (5) In den Fällen der Absätze 1 und 3 stellt das Bundesamt das Asylverfahren ein. Ein Ausländer, dessen Asylverfahren gemäß Satz 1 eingestellt worden ist, kann die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Der Antrag ist persönlich bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die der Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist, in welcher der Ausländer vor der Einstellung des Verfahrens zu wohnen verpflichtet war. Stellt der Ausländer einen neuen Asylantrag, so gilt dieser als Antrag im Sinne des Satzes 2. Das Bundesamt nimmt die Prüfung in dem Verfahrensabschnitt wieder auf, in dem sie eingestellt wurde. Abweichend von Satz 5 ist das Asylverfahren nicht wieder aufzunehmen und ein Antrag nach Satz 2 oder Satz 4 ist als Folgeantrag (§ 71) zu behandeln, wenn
4337 1. die Einstellung des Asylverfahrens zum Zeitpunkt der Antragstellung mindestens neun Monate zurückliegt oder
4438 2. das Asylverfahren bereits nach dieser Vorschrift wieder aufgenommen worden war.
4539 […]
4640 § 71 AsylG (Folgeantrag)
4741 (1) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Absatz 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt. […]
4842 § 71a AsylG (Zweitantrag)
4943 (1) Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Absatz 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt.
5044 […]
5145 § 77 AsylG (Entscheidung des Gerichts)
5246 (1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. […]
5347 § 51 VwVfG (Wiederaufgreifen des Verfahrens)
5448 (1) Die Behörde hat auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn
5549 1. sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat;
5650 2. neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden;
5751 3. […]
5852 (2) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
5953 II. Die aus dem Tenor ersichtlichen Fragen sind klärungsbedürftig und entscheidungserheblich.
6054 1. Fragen 1 und 2 sind entscheidungserheblich, weil die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG für die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nach dem bisherigen Sach- und Streitstand vorliegen. Die Beklagte ist für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig (a.). Es liegt auch ein in einem anderen Mitgliedstaat erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren vor (b.). Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens liegen nach dem bisherigen Sach- und Streitstand nicht vor (c.). Dementsprechend wäre die Klage gegen Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids auf Grundlage des nationalen Rechts abzuweisen. Dagegen wäre der gesamte angefochtene Bescheid aufzuheben, wenn § 71a Abs. 1 AsylG nicht mit Unionsrecht zu vereinbaren wäre und folglich unangewendet bleiben müsste. In diesem Fall müsste das Bundesamt von Amts wegen prüfen, ob dem Kläger internationaler Schutz zuzuerkennen ist.
6155 a. Die Beklagte ist mit Ablauf des 31. Januar 2021 für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. An diesem Tag lief die sechsmonatige Frist für die Überstellung des Klägers nach Polen mit der Folge ab, dass die Zuständigkeit auf die Beklagte überging. Dies folgt aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-Verordnung, im Folgenden VO 604/2013).
6256 Die sechsmonatige Überstellungsfrist beginnt gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 VO 604/2013 mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch die Behörden des anderen Mitgliedstaats zu laufen. Die polnischen Behörden nahmen das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts am 29. April 2020 an. Dementsprechend wäre die Überstellungsfrist am 29. Oktober 2020 abgelaufen. Die Frist wurde jedoch durch den fristgerechten Eingang des Eilantrags beim Verwaltungsgericht Düsseldorf unterbrochen.
63Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2016 - 1 C 15.15 -, ECLI:DE: BVerwG:2016:260516U1C15.15.0, Rn. 12, und vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 -, ECLI:DE:BVerwG:2021:260121U1C42.20.0, Rn. 23.
6457 Mit Erlass des den Eilantrag ablehnenden Beschlusses am 31. Juli 2020 begann die Überstellungsfrist erneut zu laufen
65- vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2016 - 1 C 15.15 -, ECLI: DE:BVerwG:2016:260516U1C15.15.0, Rn. 11 und 12, und vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 -, ECLI:DE:BVerwG:2021:260121 U1C42.20.0, Rn. 23 -,
6658 so dass die Überstellungsfrist erst am 31. Januar 2021 endete. Dass der Kläger sich ab Mitte September 2020 nicht mehr an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort, sondern im Kirchenasyl aufhielt, führt nicht zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 VO 604/2013. Da der Kläger dem Bundesamt seinen Aufenthaltsort mitgeteilt hatte, war der Kläger nicht im Sinne dieser Norm flüchtig.
67Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 -, ECLI: DE:BVerwG:2021:260121U1C42.20.0, Rn. 24 ff.
6859 b. Das in Polen eingeleitete Asylverfahren des Klägers ist i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG erfolglos abgeschlossen. Polen ist als Mitgliedstaat der Europäischen Union, für den die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gilt, ein sicherer Drittstaat i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG. Ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren ist auch dann i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG erfolglos abgeschlossen, wenn der dieses Asylverfahren einleitende Asylantrag wegen Nichtbetreibens des Verfahrens als zurückgenommen gilt und eine Wiederaufnahme (= Wiedereröffnung) des Verfahrens ausgeschlossen ist. Dabei richtet sich die Frage, ob das in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitete Asylverfahren wieder aufgenommen (= wiedereröffnet) werden kann und somit (noch) nicht als endgültig abgeschlossen gilt, nach dem Recht des anderen Mitgliedstaats, im vorliegenden Fall also nach polnischem Recht.
69Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, ECLI: DE:BVerwG:2016:141216U1C4.16.0, Rn. 29 bis 31.
7060 Welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob das in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitete Asylverfahren als endgültig abgeschlossen gilt, nach nationalem Recht maßgebend ist, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Als mögliche Zeitpunkte kommen der Zeitpunkt der Stellung eines Asylantrags in Deutschland (hier: 2. März 2020 oder 30. April 2020 - je nachdem, ob auf den Zeitpunkt des erstmaligen Nachsuchens um Asyl oder den Zeitpunkt der Stellung des förmlichen Asylantrags beim Bundesamt abzustellen ist)
71- vgl. z.B. VG Braunschweig, Urteil vom 4. Januar 2022 - 2 A 168/18 -, ECLI:DE:VGBRAUN:2022:0104.2A168.18.00, juris Rn. 30; VG Hamburg, Urteil vom 25. Februar 2022 - 8 A 1051/21 -, ECLI:DE:VGHH:2022:0225.8A1051.21.00 , juris Rn. 23 ff.; Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 30. Januar 2023 - 1 LA 85/22 -, ECLI:DE:OVGSH:2023:0130. 1LA 85.22.00 -, juris Rn. 7 ff. -,
7261 der Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers (hier: 31. Januar 2021)
73- vgl. z.B. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, ECLI:DE:VGHBW:2015:0429.A11S121.15.0A, juris Rn. 36; Bayerischer VGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 13a B 15.50069 u.a. -, ECLI:DE:BAYVGH:2015:1203.13AB15. 50069.0A, juris Rn. 25; OVG Bremen, Urteil vom 3. November 2020 - 1 LB 28/20 -, ECLI:DE:OVGHB:2020:1103.1LB28.20.00, juris Rn. 32 ff.; VG Bremen, Beschluss vom 21. Dezember 2021 - 5 V 2053/21 -, ECLI:DE:VGHB:2021:1221.5V2053.21.00, juris Rn. 29 -
7462 oder der Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag des Klägers (hier: 14. Juli 2021) bzw. der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts
75- vgl. Funke-Kaiser, in: GKAsylG, § 71a AsylG Rn. 26 (Stand: 25. November 2022); Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 71a AsylG Rn. 19 (Stand: August 2021) -
7663 in Betracht. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist nach nationalem Recht auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs abzustellen.
7764 Danach ist das in Polen eingeleitete Asylverfahren i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG endgültig abgeschlossen. Aus der Mitteilung der polnischen Behörden an das Bundesamt vom 28. April 2021 ergibt sich, dass die polnischen Behörden das in Polen eingeleitete Asylverfahren des Klägers am 20. April 2020 eingestellt haben, weil der Kläger sich seit Anfang März 2020 in Deutschland aufhielt. Das in Polen eingeleitete Asylverfahren ist zum maßgeblichen Zeitpunkt, dem 31. Januar 2021, auch endgültig abgeschlossen, weil das Verfahren in Polen nur bis zum 20. Januar 2021 wieder aufgenommen werden konnte. Dies ergibt sich ebenfalls aus der Mitteilung der polnischen Behörden vom 28. April 2021; danach kann ein Asylverfahren in Polen nur bis zum Ablauf von neun Monaten ab seiner Einstellung wieder aufgenommen werden.
7865 c. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens liegen nach dem bisherigen Sach- und Streitstand nicht vor. Insbesondere hat sich die Sach- und Rechtslage nicht maßgeblich zugunsten des Klägers geändert. Eine solche Änderung ist in unionsrechtskonformer Auslegung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG anzunehmen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zu Tage getreten oder vorgetragen worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass dem Kläger internationaler Schutz zuzuerkennen ist.
79Vgl. VG Minden, Urteil vom 21. Juni 2022 - 1 K 2351/20.A -, ECLI:DE:VGMI:2022:0621.1K2351.20A.00, juris Rn. 31 f.; VG Köln, Beschluss vom 3. August 2022 - 20 L 800/22.A -, ECLI:DE:VGK:2022:0803.20L800.22A.00, juris Rn. 18 ff.
8066 "Neu" i.S.d. Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU sind nicht nur solche Elemente oder Erkenntnisse, die nach dem rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Asylantrag eingetreten sind, sondern auch solche Elemente oder Erkenntnisse, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller damals nicht geltend gemacht wurden.
81Vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-18/20 -, ECLI:EU: C:2021:710, Rn. 44.
8267 Neue Erkenntnisse und Elemente sind jedoch nur zu berücksichtigen, wenn ein Antragsteller ohne grobes Verschulden außerstande war, diese Elemente oder Erkenntnisse im Erstverfahren oder einem sich daran anschließenden gerichtlichen Verfahren geltend zu machen. Dies folgt aus der ausdrücklichen Verweisung in § 71 Abs. 1 AsylG auf § 51 Abs. 2 VwVfG, mit der der nationale Gesetzgeber in unionsrechtskonformer Weise von dem ihm durch Art. 40 Abs. 4 RL 2013/32/EU eröffneten Regelungsermessen Gebrauch gemacht hat.
83Vgl. VG E1. , Beschluss vom 24. Januar 2022 - 1 L 34/22.A -, ECLI:DE:VGD:2022:0124.1L34.22A.00, juris Rn. 6 f.; VG Minden, Urteil vom 21. Juni 2022 - 1 K 2351/20.A -, ECLI: DE:VGMI:2022:0621.1K2351.20A.00, juris Rn. 34 ff.
8468 §§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG, 51 Abs. 2 VwVfG stehen auch ansonsten mit Unionsrecht in Einklang. Dass § 51 Abs. 2 VwVfG ("grobes Verschulden") im Wortlaut von Art. 40 Abs. 4 RL 2013/32/EU ("eigenes Verschulden") abweicht, steht dem nicht entgegen. Erstere Regelung begünstigt Antragsteller und ist deswegen unionsrechtlich nicht zu beanstanden (Art. 5 RL 2013/32/EU).
85Vgl. VG Minden, Urteile vom 10. Februar 2022 - 2 K 41/19.A -, ECLI:DE:VGMI:2022:0210.2K41.19A.00, juris Rn. 45 f., und vom 21. Juni 2022 - 1 K 2351/20.A -, ECLI:DE:VGMI:2022: 0621.1K2351.20A.00, juris Rn. 34 ff.
8669 Ausgehend davon hat der Kläger keine neuen Elemente oder Erkenntnisse vorgetragen, die zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen. Ausweislich des Protokolls seiner Anhörung vor dem Bundesamt bezieht sich der Kläger zur Begründung seines Asylantrags ausschließlich auf tatsächliche Geschehnisse vor seiner Ausreise aus dem Libanon. Um neue Elemente oder Erkenntnisse kann es sich dabei nur dann handeln, wenn er diese Geschehnisse nicht bereits in Polen vorgebracht hat. Sollte dies der Fall sein, ist aber nicht ersichtlich, aus welchen Gründen er ohne grobes Verschulden daran gehindert gewesen sein sollte, diese Umstände im Rahmen des in Polen eingeleiteten Asylverfahrens oder einem sich an dieses anschließenden Gerichtsverfahren vorzubringen.
8770 2. Fragen 3 und 4 sind ebenfalls entscheidungserheblich. Die Beantwortung der Frage, ob das in Polen eingeleitete Asylverfahren endgültig abgeschlossen ist, hängt davon ab, auf welchen Zeitpunkt für die Beantwortung dieser Frage abzustellen ist. Als mögliche Zeitpunkte kommen - wie bereits dargelegt - der Zeitpunkt des erstmaligen Nachsuchens um Asyl in Deutschland, der Zeitpunkt der Stellung des förmlichen Asylantrags in Deutschland, der Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers auf Deutschland sowie der Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag des Klägers bzw. der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts in Betracht.
8871 Wäre auf den Zeitpunkt des erstmaligen Nachsuchens um Asyl (2. März 2020) oder den Zeitpunkt der Stellung des förmlichen Asylantrags beim Bundesamt (30. April 2020) abzustellen, wäre das in Polen eingeleitete Asylverfahren nicht endgültig abgeschlossen, da dieses Asylverfahren in Polen - wie bereits dargelegt - noch bis zum 20. Januar 2021 wieder aufgenommen werden konnte. Dementsprechend lägen die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG nicht vor und wäre der angefochtene Bescheid aufzuheben. Wäre dagegen auf den Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers (31. Januar 2021) oder einen späteren Zeitpunkt abzustellen, wäre das in Polen eingeleitete Asylverfahren endgültig abgeschlossen, da dieses Asylverfahren in Polen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wieder aufgenommen werden konnte. Dementsprechend lägen die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG vor und wäre die Klage gegen Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids abzuweisen.
8972 III. Zu den aufgeworfenen Fragen nimmt das vorlegende Gericht wie folgt Stellung:
9073 Zu Frage 1:
9174 a. Der Umstand, dass es sich bei dem Mitgliedstaat, der das erste Asylverfahren des Klägers mit der Begründung eingestellt hat, er habe das Verfahren nicht betrieben, und dem Mitgliedstaat, der den weiteren Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt hat, nicht um denselben Mitgliedstaat handelt, steht der Ablehnung des weiteren Asylantrags als unzulässig nicht entgegen. Das vorlegende Gericht befürwortet in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe im Verfahren C-8/20 (ECLI:EU:C:2021:221) eine mitgliedstaatsübergreifende Anwendung des in Art. 2 lit. q), Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 bis 42 RL 2013/32/EU geregelten Folgeantragskonzepts. Zur weiteren Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich auf die Ausführungen des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe im Verfahren C-8/20 (Rn. 49 bis 86) und die diese ergänzenden Ausführungen des vorlegenden Gerichts in seinem Vorlagebeschluss vom 28. Oktober 2022 - 1 K 1829/21.A (Rn. 56 bis 62) Bezug genommen.
9275 b. Auch Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU steht der Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags des Klägers als unzulässig nicht entgegen. Allerdings wird die hier vorliegende Konstellation, bei der ein Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in diesem Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat, vom Wortlaut des Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU erfasst.
93So zutreffend VG Cottbus, Beschluss vom 12. Januar 2015 - 3 L 193/14.A -, ECLI:DE:VGCOTTB:2015:0112.3L193.14.A.0A, juris Rn. 23.
9476 Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU bestimmt, dass der Begriff "Folgeantrag" einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz bezeichnet, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32/EU abgelehnt hat. Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 2013/32/EU eröffnet der zuständigen Behörde für den Fall, dass der Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder er das Verfahren nicht weiter betreibt, zwei Optionen: Sie kann das Verfahren einstellen oder den Asylantrag nach einer angemessenen inhaltlichen Prüfung ablehnen. Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU ("abgelehnt hat") nimmt nur die zweite dieser Optionen in Bezug ("abzulehnen"), nicht aber die erste Option ("einzustellen").
9577 Jedoch sieht Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU vor, dass ein weiterer Asylantrag unter den dort geregelten Voraussetzungen unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU "als Folgeantrag behandelt und nach Maßgabe der Art. 40 und 41 geprüft werden kann." Die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU liegen hier vor: Die polnischen Behörden haben das dort eingeleitete Asylverfahren eingestellt, weil der Kläger seinen in Polen gestellten Asylantrag stillschweigend zurückgenommen hat, indem er sich in Deutschland aufgehalten und sein Asylverfahren in Polen nicht fortgeführt hat [vgl. Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. b) RL 2013/32/EU]. Das polnische Recht sieht - wie sich aus der Mitteilung der polnischen Behörden vom 28. April 2021 ergibt - vor, dass ein Asylverfahren nach Ablauf von neun Monaten ab seiner Einstellung nicht mehr wieder aufgenommen und ein neuer Antrag als Folgeantrag behandelt werden kann.
9678 c. Die Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags des Klägers als unzulässig könnte in der hier vorliegenden Fallkonstellation aber an Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 scheitern. Diese Norm bestimmt, dass dann, wenn der zuständige Mitgliedstaat in den in den Anwendungsbereich von Art. 18 Abs. 1 lit. c) RL 2013/32/EU fallenden Fällen die Prüfung nicht fortgeführt hat, nachdem der Antragsteller den Antrag zurückgezogen hat, bevor eine Entscheidung in der Sache in erster Instanz ergangen ist, dieser Mitgliedstaat sicher stellt, dass der Antragsteller berechtigt ist, zu beantragen, dass die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wirdoder einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, der nicht (Hervorhebung durch das vorlegende Gericht) als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird. Einige nationale Gerichte sind der Ansicht, dass Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 in der hier vorliegenden Fallkonstellation (Einstellung des Verfahrens wegen Nichtbetreibens) der Behandlung eines weiteren Asylantrags als Folgeantrag und seiner Ablehnung als unzulässig entgegensteht. Diese Gerichte verstehen Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 dahingehend, dass der zuständige Mitgliedstaat in den Fällen des Art. 18 Abs. 1 lit. c) VO 604/2013 gewährleisten muss, dass der Asylantrag in der Sache geprüft wird, sofern dies - wie hier - zuvor noch nicht geschehen ist, weil das betreffende Asylverfahren ohne inhaltliche Prüfung eingestellt wurde.
97Vgl. VG Cottbus, Beschluss vom 12. Januar 2015 - 3 L 193/14.A -, ECLI:DE:VGCOTTB:2015:0112.3L193.14.A.0A, juris Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, ECLI:DE:VGHBW:2015:0429.A11S121.15. 0A, juris Rn. 37.
9879 Andere nationale Gerichte sind dagegen der Auffassung, dass Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU in Fällen der vorliegenden Art keine Anwendung findet. Sie meinen, dass Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU Vorrang vor Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 zukommt. Dies folgern sie aus Art. 28 Abs. 3 RL 2013/32/EU, wonach Art. 28 RL 2013/32/EU "unbeschadet der Verordnung (EU) Nr. 604/2013" gilt.
99Vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Februar 2021 - A 13 K 183/19 -, ECLI:DE:VGSIGMA:2021:1902.A13K183.19.0.A, juris Rn. 40; VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 17. Juni 2021 - 10 K 97/21.A -, ECLI:DE:VGFRANK:2021:0617.10K97.21.A.00, juris Rn. 27.
10080 Das vorlegende Gericht hat Zweifel an dem vorstehend referierten Verständnis des Art. 28 Abs. 3 RL 2013/32/EU und neigt eher zu dem Verständnis, dass die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Vorrang gegenüber Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU beansprucht. Die deutsche Fassung der Norm lässt beide Möglichkeiten zu. Als Synonym für "unbeschadet" findet sich einerseits "trotz" oder "ungeachtet". Danach ginge Art. 28 RL 2013/32/EU der Verordnung vor. Andererseits wird gerade im juristischen Sprachgebrauch auch "bleibt unberührt" als Synonym für "unbeschadet" angegeben. Danach ginge die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und damit auch deren Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 vor. Letzteres Verständnis scheint auch durch die englische ("without prejudice to"), die niederländische ("doet geen afbreuk aan") und die französische ("sans prejudice du") Fassung gestützt zu werden.
10181 Das vorlegende Gericht hat aber aus anderen Gründen Zweifel, ob Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 auf den vorliegenden Fall Anwendung findet. Allerdings liegt ein Fall des Art. 18 Abs. 1 lit. c) VO 604/2013 vor, da der Kläger seinen Asylantrag während der Antragsprüfung entsprechend Art. 2 lit. e) VO 604/2013 stillschweigend zurückgezogen hat, indem er nach Deutschland ausgereist ist und sein Asylverfahren in Polen nicht weiter betrieben hat. Deswegen hat der zuständige Mitgliedstaat (zu diesem Zeitpunkt: Polen) das Asylverfahren des Klägers nicht fortgeführt, sondern hat es - bevor eine Entscheidung in der Sache erging - eingestellt. Für diesen Fall bestimmt Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Satz 1 VO 604/2013, dass dieser (Hervorhebung durch das vorlegende Gericht) Mitgliedstaat sicher stellt, dass der Antragsteller berechtigt ist, zu beantragen, dass die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird. Bei "diesem" Mitgliedstaat handelt es sich nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts um denselben Mitgliedstaat, der das Verfahren eingestellt hat - eine solche Fallgestaltung lag der Entscheidung des Gerichthofs vom 17. März 2016 - C-695/15 PPU -, ECLI:EU:C:2016:188, zugrunde. Dementsprechend scheint der hier vorliegende Fall, dass die Zuständigkeit aufgrund einer Fristüberschreitung auf einen anderen Mitgliedstaat übergeht, vom Wortlaut des Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Satz 1 VO 604/2013 nicht erfasst zu sein.
10282 Andererseits heißt es in Art. 18 Abs. 2 Unterabsatz 2 Satz 2 VO 604/2013, dass die Mitgliedstaaten (Hervorhebungen durch das vorlegende Gericht; auch die englische, die niederländische und die französische Fassung verwenden an dieser Stelle den Plural) in diesen Fällen gewährleisten, dass die Prüfung des Antrags abgeschlossen wird. Daraus wird teilweise der Schluss gezogen, dass nicht nur der ursprünglich für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständige Mitgliedstaat, sondern auch der nach einem Übergang der Zuständigkeit zuständig gewordene Mitgliedstaat sicherzustellen hat, dass der Antragsteller in diesem Mitgliedstaat einen neuen Asylantrag stellen kann, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird.
103Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, ECLI:DE:VGHBW:2015:0429.A11S121.15.0A, juris Rn. 37.
10483 Im Übrigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Anwendung des Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 auf den vorliegenden Fall zu einem für das vorlegende Gericht nur schwer nachvollziehbaren Ergebnis führen würde: Hätte der Kläger seinen ersten Asylantrag in Deutschland gestellt und wäre sein Asylverfahren wegen Nichtbetreibens des Verfahrens eingestellt worden, fände die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und damit auch deren Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 keine Anwendung. Folglich wäre ein weiterer Asylantrag als Folgeantrag zu behandeln, sofern der Kläger das Verfahren erst nach Ablauf von neun Monaten ab der Einstellung des Verfahrens wiederaufnimmt. Bei Anwendung des Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 auf den vorliegenden Fall würde der weitere Asylantrag des Klägers dagegen als Erstantrag behandelt, obwohl die beiden Fälle sich nur darin unterscheiden, dass im ersten Fall beide Asylanträge in demselben Mitgliedstaat gestellt wurden, während im zweiten Fall der erste Antrag und der weitere Antrag in verschiedenen Mitgliedstaaten gestellt wurden. Damit würde Sekundärmigration "belohnt". Dies scheint dem vorlegenden Gericht mit dem Ziel des Gemeinsamen Asylsystems (GEAS), Sekundärmigration zu verhindern
105- vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 u.a. (H. und R.) -, ECLI:EU:C:2019:280, Rn. 77 -,
10684 nicht zu vereinbaren.
10785 Zu Frage 2:
10886 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist Frage 2 zu bejahen. Ist der mitgliedstaatsübergreifende Folgeantrag unionsrechtlich zulässig, darf es keinen Unterschied machen, ob der Erstantrag und der weitere Antrag in demselben Mitgliedstaat oder in verschiedenen Mitgliedstaaten gestellt werden. Dementsprechend findet Art. 28 Abs. 2 RL 2013/32/EU auch auf mitgliedstaatsübergreifende Folgeanträge Anwendung. Nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts darf der Übergang der Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens auf einen anderen Mitgliedstaat nicht zu einer Verschlechterung der verfahrensrechtlichen Position des betroffenen Antragstellers führen.
109Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, ECLI: DE:BVerwG:2016:141216U1C4.16.0, Rn. 34 ff.
11087 Eine solche Verschlechterung ist weder in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 noch in der Richtlinie 2013/32/EU vorgesehen. Dementsprechend ist das auf einen weiteren Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitete Asylverfahren als Erstverfahren durchzuführen, wenn das im ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat eingestellte Verfahren als Erstverfahren fort- oder wie ein Erstverfahren durchzuführen wäre.
11188 Zu Frage 3:
11289 Frage 3 ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts schon deshalb zu bejahen, damit das Konzept des mitgliedstaatsübergreifenden Folgeantrags in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewendet wird. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die - wie hier Art. 2 lit. q) und Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU - für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung insbesondere des Kontexts der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss.
113Vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 -, ECLI: EU:C:2021:709, Rn. 34 f.
11490 Zu Frage 4:
11591 Frage 4 ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts dahingehend zu beantworten, dass für die Beurteilung der Frage, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren endgültig abgeschlossen ist oder ob es noch wiedereröffnet werden kann, auf den Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 abzustellen ist. Das vorlegende Gericht hat in seiner Stellungnahme zu Frage 2 ausgeführt, dass der Übergang dieser Zuständigkeit auf einen anderen Mitgliedstaat nicht zu einer Verschlechterung der verfahrensrechtlichen Position des betroffenen Antragstellers führen darf. Umgekehrt sollte der Übergang dieser Zuständigkeit auf einen anderen Mitgliedstaat aber auch nicht zu einer Verbesserung der verfahrensrechtlichen Position des betroffenen Antragstellers führen. Genau dies wäre aber der Fall, wenn für die Beurteilung der Frage, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren endgültig abgeschlossen ist oder ob es noch wiedereröffnet werden kann, auf den Zeitpunkt des Nachsuchens um Asyl oder den Zeitpunkt der Stellung eines förmlichen Asylantrags in einem weiteren Mitgliedstaat abzustellen wäre. Denn dann würden Entscheidungen des (noch) zuständigen Mitgliedstaats, die dieser zwischen dem Zeitpunkt des Nachsuchens um Asyl bzw. der Stellung eines förmlichen Asylantrags in einem weiteren Mitgliedstaat und dem Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf diesen Mitgliedstaat unberücksichtigt bleiben. Dies zeigt auch der vorliegende Fall: Die polnischen Behörden haben das Asylverfahren des Klägers in Polen am 20. April 2020 und damit erst nach dem Zeitpunkt eingestellt, zu dem der Kläger in Deutschland um Asyl nachgesucht hat (2. März 2020). Zwar liegt der Zeitpunkt der Einstellung des Asylverfahrens des Klägers in Polen vor dem Zeitpunkt der förmlichen Asylantragstellung des Klägers (30. April 2020). Jedoch ist die Zeitspanne zwischen Asylgesuch und der Stellung eines förmlichen Asylantrags im vorliegenden Fall ungewöhnlich lang. Üblicherweise erfolgt die Stellung eines förmlichen Asylantrags nach den Beobachtungen des vorlegenden Gerichts in anderen von ihm bearbeiteten Asylverfahren innerhalb weniger Tage nach dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl. Dies zeigt, dass dann, wenn auf den Zeitpunkt des Nachsuchens um Asyl oder den Zeitpunkt der Stellung eines förmlichen Asylantrags in einem weiteren Mitgliedstaat abzustellen wäre, die Einstellung des Verfahrens im anderen Mitgliedstaat in der Regel in dem weiteren Mitgliedstaat nicht zu berücksichtigen wäre. Eine unionsrechtliche Rechtfertigung für dieses Ergebnis ist für das Gericht nicht ersichtlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der andere Mitgliedstaat in der Regel erst durch das Wiederaufnahmegesuch des weiteren Mitgliedstaats davon erfährt, dass die Voraussetzungen für die Einstellung des in dem anderen Mitgliedstaat durchgeführten Asylverfahrens vorliegen. Denn angesichts der Entfernung und der offenen Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten liegen zwischen der Ausreise aus dem anderen Mitgliedstaat, der Stellung eines Asylantrags in einem weiteren Mitgliedstaat und der Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs durch den weiteren Mitgliedstaat in der Regel nur wenige Tage.
11692 Noch deutlicher wird der vorstehend beschriebene Effekt dann, wenn der andere Mitgliedstaat das Verfahren nicht einstellt, sondern er von dem ihm in Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 2013/32/EU eröffneten Wahlrecht Gebrauch macht, den Asylantrag einer Person, die ihren Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, nach angemessener inhaltlicher Prüfung abzulehnen. Hätten die polnischen Behörden den Asylantrag des Klägers am 5. Mai 2020, d.h. etwa zwei Wochen nach Eingang des Wiederaufnahmegesuchs am 20. April 2020, abgelehnt, so wäre diese Entscheidung nicht zu berücksichtigen, wenn für die Beurteilung der Frage, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren endgültig abgeschlossen ist, auf den Zeitpunkt des Nachsuchens um Asyl oder den Zeitpunkt der Stellung eines förmlichen Asylantrags in einem weiteren Mitgliedstaat abzustellen wäre.
11793 Ein späterer Zeitpunkt als der Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens dürfte schon deshalb ausscheiden, weil der andere Mitgliedstaat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Aus diesem Grund ist nicht ersichtlich, warum vom anderen Mitgliedstaat nach diesem Zeitpunkt getroffene Entscheidungen noch Einfluss auf die Durchführung des in dem weiteren Mitgliedstaat durchgeführten Asylverfahrens haben sollten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass dann, wenn auf einen späteren Zeitpunkt abzustellen wäre, die Beurteilung der Frage, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann, von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden und Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über den Asylantrag oder einen gegen eine ablehnende Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf.
118Vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 -, ECLI: EU:C:2021:709, Rn. 41.