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Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichthof der Europäischen Union werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgelegt:
1. Kann ein Asylbewerber den Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat wegen Ablaufs der Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 VO 604/2013) geltend machen?
2. Falls Frage 1 zu bejahen ist: Kann ein Asylbewerber den Übergang der Zuständigkeit auch dann geltend machen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat weiterhin bereit ist, ihn aufzunehmen?
3. Falls Frage 2 zu verneinen ist: Kann aus der ausdrücklichen Zustimmung bzw. der fingierten Zustimmung (Art. 22 Abs. 7 VO 604/2013) des ersuchten Mitgliedstaats geschlossen werden, dass der ersuchte Mitgliedstaat weiterhin bereit ist, den Asylbewerber aufzunehmen?
4. Kann die Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 nach dem Ablauf der Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 enden, wenn der ersuchende Mitgliedstaat mehr als einen Monat nach Beginn der Dreimonatsfrist vergehen lässt, bevor er eine Anfrage an die Eurodac-Datenbank richtet?
5. Gilt ein Antrag auf internationalen Schutz bereits mit der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender oder erst mit der Protokollierung eines förmlichen Asylantrags als im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 gestellt? Insbesondere:
a) Ist die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender ein Formblatt oder ein Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013?
b) Ist zuständige Behörde im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 die Behörde, die für die Entgegennahme des Formblatts oder die Erstellung des Protokolls zuständig ist, oder die Behörde, die für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig ist?
c) Ist ein behördliches Protokoll der zuständigen Behörde auch dann zugegangen, wenn ihr der wesentliche Inhalt des Formblatts oder des Protokolls mitgeteilt wurde oder muss ihr dafür das Original oder eine Kopie des Protokolls übermittelt werden?
6. Können Verzögerungen zwischen dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl bzw. der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender und der Stellung eines Aufnahmegesuchs zu einem Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat entsprechend Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 VO 604/2013 führen oder den ersuchenden Mitgliedstaat verpflichten von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 Gebrauch zu machen?
7. Falls Frage 6 bezüglich einer der beiden Alternativen zu bejahen ist: Ab welchem Zeitraum ist von einer unangemessenen Verzögerung der Stellung eines Aufnahmegesuchs auszugehen?
8. Wahrt ein Aufnahmegesuch, in dem der ersuchende Mitgliedstaat nur das Datum der Einreise in den ersuchenden Mitgliedstaat sowie das Datum der Stellung des förmlichen Asylantrags nicht aber auch das Datum des erstmaligen Nachsuchens um Asyl bzw. das Datum der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender angibt, die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 oder ist ein solches Ersuchen "unwirksam"?
(Hinweis: Vorlagebeschluss an den EuGH)
2G r ü n d e :
31 I. Der Kläger ist eritreischer Staatsangehöriger. Er suchte am 14. September 2015 in N. bei der Regierung von Oberbayern um Asyl nach. Dabei legte er einen eritreischen Militärausweis vor. Am 22. Juli 2016 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt gab er an, er sei von Libyen aus über das Mittelmeer am 4. September 2015 nach Italien und von dort aus auf dem Landweg am 12. September 2015 nach Deutschland eingereist. Eine am 19. August 2016 durchgeführte Eurodac-Anfrage ergab, dass dem Kläger in Italien Fingerabdrücke abgenommen wurden, er dort aber keinen Asylantrag gestellt hat (Eurodac-Treffer IT2LE01HRQ). Das noch am selben Tag an die italienischen Behörden gerichtete Aufnahmegesuch blieb unbeantwortet.
42 Mit Bescheid vom 10. November 2016, dem Kläger zugestellt am 16. November 2016, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 2), und ordnete seine Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3). Dieses Land und nicht die Bundesrepublik Deutschland sei nach den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers zuständig. Außerdem befristete das Bundesamt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
53 Der Kläger hat am 17. November 2016 Klage erhoben und zusätzlich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gestellt. Er ist der Ansicht, die Zuständigkeit für die Durchführung seines Asylverfahrens sei gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 VO 604/2013 auf die Beklagte übergegangen, da das Aufnahmegesuch vom 19. August 2016 erst nach Ablauf der Frist des Art. 21 Abs. 1 VO 604/2013 gestellt worden sei. Entgegen der Auffassung des Bundesamts habe die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs nicht erst mit der Stellung des förmlichen Asylantrags (hier: 22. Juli 2016), sondern bereits mit der Äußerung eines formlosen Asylgesuchs (hier: 14. September 2015) zu laufen begonnen. Dies gelte auch dann, wenn - wie hier - ein Eurodac-Treffer vorliege. Die auf zwei Monate verkürzte Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 diene der Beschleunigung des Verfahrens. Aus diesem Grund werde sie durch die dreimonatige Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 begrenzt.
64 Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts vom 10. November 2016 aufzuheben.
85 Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
106 Sie ist unter Berufung auf die Abdullahi-Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) der Ansicht, dass die Fristenregelungen der Verordnung (EU) 604/2013 keine subjektiven Rechte begründen. Des Weiteren ist sie der Ansicht, dass die Fristen für die Stellung sowohl des Aufnahme- als auch des Wiederaufnahmegesuchs erst mit der Stellung eines förmlichen Asylantrags zu laufen beginnen.
117 Mit E-Mail vom 19. Dezember 2016 hat das Bundesamt Fragen des vorlegenden Gerichts zum Informationsaustausch zwischen Aufnahmeeinrichtungen, Ausländerbehörden und dem Bundesamt beantwortet.
128 Mit Beschluss vom 22. Dezember 2016 hat das vorlegende Gericht die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsanordnung angeordnet.
139 II. Die Kammer entscheidet über die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer Vorabentscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) und in der gleichen Besetzung, in der sie die Entscheidung treffen müsste, für die die Vorlagefragen erheblich sind. Diese erginge in der Besetzung von drei Richtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§§ 107, 5 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 VwGO). Wegen der Abhängigkeit des Vorabentscheidungsersuchens von der im ausgesetzten Verfahren zu treffenden Hauptsacheentscheidung findet § 5 Abs. 3 Satz 2 Alt. 1 VwGO, wonach bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung die ehrenamtlichen Richter nicht mitwirken, keine Anwendung.
14Vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. März 2008 - 10 C 32.07 -, juris Rn. 7.
1510 Der Rechtsstreit ist auszusetzen und dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV zur Beantwortung der im Tenor wiedergegebenen Fragen zur Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) - ABl. L 180, S. 31 - (sog. Dublin III-Verordnung) vorzulegen. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung der Verordnung sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.
1611 1. Auf den vorliegenden Fall finden die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 sowie das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (Bundesgesetzblatt - BGBl. - I, S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes vom 4. November 2016 (BGBl. I, S. 2460), Anwendung.
1712 a) Die Anwendbarkeit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ergibt sich aus deren Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 Halbsatz 1. Danach ist die Verordnung auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten, das heißt ab dem 1. Januar 2014, gestellt wurden. Wann der Kläger erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, hängt von der Beantwortung der Vorlagefrage 5 ab. Jedoch liegen alle aus Sicht des vorlegenden Gerichts in Betracht kommenden Zeitpunkte nach dem 1. Januar 2014, da der Kläger erstmals am 14. September 2015 um Asyl nachgesucht hat.
1813 Für die rechtliche Beurteilung der Klage sind insbesondere Art. 20 Abs. 2, Art. 21 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 und 7 VO 604/2013 maßgeblich. Auf eine Wiedergabe dieser Bestimmungen wird verzichtet.
1914 b) Das Asylgesetz unterscheidet zwischen dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl (§§ 18 Abs. 1, 19 Abs. 1 AsylG) und der Stellung eines förmlichen Asylantrags (§ 14 Abs. 1 Satz 1, 23 Abs. 1 AsylG). Ein förmlicher Asylantrag umfasst sowohl die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) als auch die Gewährung internationalen Schutzes gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG).
2015 Der Wortlaut aller in diesem Abschnitt zitierten Normen wird unter c) wiedergegeben.
2116 aa) Das Nachsuchen um Asyl stellt in der Regel den ersten Kontakt des Asylbewerbers zu einer deutschen Behörde dar. Diese Kontaktaufnahme kann sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen und erfolgt in der Regel nicht mit dem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Bundesamt, sondern mit einer Grenz-, Polizei- oder Ausländerbehörde (§§ 18 Abs. 1, 19 Abs. 1 AsylG). Diese Behörden leiten den Asylbewerber unverzüglich an eine Aufnahmeeinrichtung weiter. Dort werden in der Regel erstmals die Personalien des Asylbewerbers registriert und wird ihm auf Grundlage der von ihm erhobenen Daten eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (bis 4. Februar 2016) bzw. ein Ankunftsnachweis (ab 5. Februar 2016) ausgestellt (§ 63a Abs. 1 AsylG). Dem Kläger wurden zwei Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchender ausgestellt: Die erste am 14. September 2015 von der Regierung von Oberbayern (Bl. 11 Beiakte 2) und die zweite am 8. Oktober 2015 von der Zentralen Ausländerbehörde C. (Bl. 4 Beiakte 1). Mit dem Nachsuchen um Asyl wird die Zuständigkeit des Bundesamts für die Durchführung des Asylverfahrens begründet. Außerdem gilt in der Regel ab diesem Zeitpunkt der Aufenthalt des Asylbewerbers in Deutschland bis zum Abschluss des Asylverfahrens als gestattet und steht ihm ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung sowie auf Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu.
2217 bb) §§ 20 Abs. 2 Satz 2, 22 Abs. 3 Satz 4 und 23 Abs. 2 Satz 4 AsylG bestimmen, dass die Aufnahmeeinrichtung, in der ein Asylbewerber aufgenommen wird, dem Bundesamt unverzüglich mitzuteilen hat, dass der Asylbewerber um Asyl nachgesucht hat und in der Aufnahmeeinrichtung aufgenommen wurde. Nach Auskunft des Bundesamts leiten in einigen Fällen auch die Ausländerbehörden dem Bundesamt entsprechende Mitteilungen zu. Es ist allerdings allgemein bekannt, dass die zur Mitteilung verpflichteten Behörden insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2015 ihren Mitteilungspflichten häufig nicht nachgekommen sind, so dass das Bundesamt von einer beträchtlichen Anzahl von Personen, die bereits um Asyl nachgesucht hatten, keine Kenntnis hatte.
2318 Erhält das Bundesamt eine Mitteilung, geht diese in der Regel kurz nach der Aufnahme des Asylbewerbers in der Aufnahmeeinrichtung dort ein. Die Mitteilung erfolgt entweder durch Übersendung einer Kopie der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender bzw. des Ankunftsnachweises oder durch Übermittlung der Personalien des Asylbewerbers (in der Regel Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Familienstand und Religionszugehörigkeit). Werden dem Bundesamt lediglich Personalien übermittelt, wird regelmäßig eine Kopie der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender bzw. des Ankunftsnachweises zu den Akten genommen, wenn sich der Asylbewerber zur Stellung eines förmlichen Asylantrags beim Bundesamt vorstellt. Von welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt das Bundesamt Informationen über den Kläger erhalten hat, lässt sich der vom Bundesamt vorgelegten Akte nicht entnehmen. Aus der Akte ist jedoch ersichtlich, dass der Kläger am 14. Januar 2016 und nochmals am 6. Februar 2016 dem Bundesamt seine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender vom 8. Oktober 2015 übersandt hat.
2419 cc) §§ 14 Abs. 1 Satz 1, 23 Abs. 1 AsylG bestimmen, dass der Asylbewerber seinen förmlichen Asylantrag - abgesehen von hier nicht einschlägigen Ausnahmen - nur bei einer Außenstelle des Bundesamts und nur im Wege der persönlichen Vorsprache stellen kann. Voraussetzung für die Stelllung eines förmlichen Asylantrags ist, dass der Asylbewerber zuvor in einer Aufnahmeeinrichtung aufgenommen wurde. Im vorliegenden Fall konnte der Kläger erst ca. 10 Monate, nachdem er um Asyl nachgesucht hatte, einen förmlichen Asylantrag stellen. Dabei handelt es sich, wie dem vorlegenden Gericht aus der Bearbeitung zahlreicher Verfahren bekannt ist, nicht um einen Einzelfall. Jedenfalls für Asylbewerber, die ab der zweiten Jahreshälfte 2015 in Deutschland um Asyl nachgesucht haben, ist ein Zeitraum von mehreren Monaten zwischen dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl und der Stellung eines förmlichen Asylantrags die Regel, in Einzelfällen sind auch Zeiträume von über einem Jahr zu beobachten. Die Asylbewerber hatten keine Möglichkeit, die Entgegennahme ihres förmlichen Asylantrags durch das Bundesamt zu beschleunigen, weil ein förmlicher Asylantrag - wie bereits dargelegt - nur im Wege der persönlichen Vorsprache bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamts gestellt werden kann. Zwar bestimmt § 23 Abs. 1 AsylG, dass ein Asylbewerber verpflichtet ist, unverzüglich oder zu dem genannten Termin persönlich bei der Außenstelle zu erscheinen. Jedoch ging das Bundesamt aufgrund des starken Anstiegs der Zahl der Asylbewerber (s.u. dd) im Verlauf des Jahres 2015 zunehmend dazu über, förmliche Asylanträge nur nach Vergabe eines Termins aufzunehmen.
2520 dd) Die späte Entgegennahme der förmlichen Asylanträge durch das Bundesamt ist auf den außergewöhnlichen Anstieg der Zahl der nach Deutschland eingereisten Asylbewerber ab Juli 2015 zurückzuführen: Während - einschließlich Mehrfachzählungen und weitergereister Personen - im ersten Halbjahr 2015 etwa 230.000 Asylbewerber nach Deutschland einreisten, betrug diese Zahl für das zweite Halbjahr 2015 etwa 860.000 Asylbewerber. Im Vergleich hierzu wurden in Deutschland in den Jahren 2014 etwa 173.000, 2013 etwa 110.000, 2012 etwa 65.000 und 2011 etwa 46.000 Asylerstanträge registriert. Auf den starken Anstieg der 2015 nach Deutschland eingereisten Asylbewerber reagierte das Bundesamt mit zahlreichen organisatorischen und personellen Veränderungen. Die Zahl der Stellen wurde von etwa 2.350 Vollzeitstellen (Januar 2015) auf etwa 9.750 Vollzeitstellen (Dezember 2016) erhöht; insbesondere wurde die Zahl der Personen, die Anhörungen von Asylbewerbern durchführen und über Asylanträge entscheiden, von 370 (Januar 2015) auf 3.385 (Dezember 2016) erhöht. Trotz dieser Maßnahmen konnten von den 2015 - abzüglich Mehrfachzählungen und weitergereister Personen - etwa 890.000 nach Deutschland eingereisten Asylbewerbern nur etwa 440.000 noch 2015 einen förmlichen Asylantrag stellen. Die letzten der im Jahre 2015 eingereisten Asylbewerber konnten erst im Oktober 2016 einen förmlichen Asylantrag stellen; inzwischen soll die Nachregistrierung von Asylbewerbern aber abgeschlossen sein. 2016 wurden für den Zeitraum Januar bis November rund 305.000 neu eingereiste Asylbewerber registriert.
2621 c) Die vorstehend unter b) zitierten Normen des deutschen Asylgesetzes lauten:
27§ 1 Abs. 1 AsylG (Auszug):
28Dieses Gesetz gilt für Ausländer, die Folgendes beantragen:
291. Schutz vor politischer Verfolgung nach Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes oder
302. internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU …; der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU umfasst den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und den subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie; …
31§ 5 Abs. 1 AsylG:
32Über Asylanträge entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). Es ist nach Maßgabe dieses Gesetzes auch für ausländerrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen zuständig.
33§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG:
34Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 beantragt.
35§ 14 Abs. 1 Satz 1 AsylG:
36Der Asylantrag ist bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die der für die Aufnahme des Ausländers zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist
37§ 18 Abs. 1 AsylG:
38Ein Ausländer, der bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht, ist unverzüglich an die zuständige oder, sofern diese nicht bekannt ist, an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten.
39§ 19 Abs. 1 AsylG:
40Ein Ausländer, der bei einer Ausländerbehörde oder bei der Polizei eines Landes um Asyl nachsucht, ist in den Fällen des § 14 Abs. 1 unverzüglich an die zuständige oder, soweit diese nicht bekannt ist, an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten
41§ 20 Abs. 2 AsylG:
42Die Behörde, die den Ausländer an eine Aufnahmeeinrichtung weiterleitet, teilt dieser unverzüglich die Weiterleitung, die Stellung des Asylgesuchs und den erfolgten Hinweis nach Absatz 1 Satz 4 schriftlich mit. Die Aufnahmeeinrichtung unterrichtet unverzüglich, spätestens nach Ablauf einer Woche nach Eingang der Mitteilung nach Satz 1, die ihr zugeordnete Außenstelle des Bundesamtes darüber, ob der Ausländer in der Aufnahmeeinrichtung aufgenommen worden ist, und leitet ihr die Mitteilung nach Satz 1 zu
43§ 22 Abs. 3 AsylG (Auszug):
44Der Ausländer ist verpflichtet, der Weiterleitung an die für ihn zuständige Aufnahmeeinrichtung nach Absatz 1 Satz 2 oder Absatz 2 unverzüglich oder bis zu einem ihm von der Aufnahmeeinrichtung genannten Zeitpunkt zu folgen. … § 20 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 2 findet entsprechend Anwendung.
45§ 23 AsylG (Auszug):
46(1) Der Ausländer, der in der Aufnahmeeinrichtung aufgenommen ist, ist verpflichtet, unverzüglich oder zu dem von der Aufnahmeeinrichtung genannten Termin bei der Außenstelle des Bundesamtes zur Stellung des Asylantrags persönlich zu erscheinen.
47(2) … Die Aufnahmeeinrichtung unterrichtet unverzüglich die ihr zugeordnete Außenstelle des Bundesamtes über die Aufnahme des Ausländers in der Aufnahmeeinrichtung und den erfolgten Hinweis nach Satz 3.
48§ 63a Abs. 1 AsylG (bis 4. Februar 2016):
49Einem Ausländer, der um Asyl nachgesucht, aber noch keinen Asylantrag gestellt hat, wird unverzüglich eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender ausgestellt. Diese enthält die Angaben zur Person und ein Lichtbild des Ausländers sowie die Bezeichnung der Aufnahmeeinrichtung, in die sich der Ausländer zur Asylantragstellung unverzüglich zu begeben hat.
50§ 63a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylG (ab 5. Februar 2016, Auszug):
51(1) Einem Ausländer, der um Asyl nachgesucht hat und nach den Vorschriften des Asylgesetzes oder des Aufenthaltsgesetzes erkennungsdienstlich behandelt worden ist, aber noch keinen Asylantrag gestellt hat, wird unverzüglich eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (Ankunftsnachweis) ausgestellt. Dieses Dokument enthält folgende sichtbar aufgebrachte Angaben: (Aufzählung von 1. bis 21.)
5222 2. Die dem Gerichtshof zur Auslegung der Verordnung (EU) 604/2013 vorgelegten Fragen sind entscheidungserheblich.
5323 Nach den Zuständigkeitskriterien der Art. 8 ff. VO 604/2013 ist Italien für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Dies ergibt sich mangels vorrangiger Kriterien aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VO 604/2013. Danach ist der Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, dessen Land-, See- oder Luftgrenze ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal überschritten hat. Aufgrund seiner glaubhaften Angaben und des Eurodactreffers der Kategorie 2 für Italien ist das vorlegende Gericht davon überzeugt, dass der Kläger Anfang September 2015 von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien eingereist ist. Dieser Grenzübertritt erfolgte illegal; der Kläger hat selbst angegeben, nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels oder Visums gewesen zu sein. Der Kläger hat auch entsprechend den Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 Satz 2 VO 604/2013
54- zur Auslegung dieser Norm vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 1. Auflage 2014, Art. 13 Rn. K13 -
5524 innerhalb von zwölf Monaten nach seinem illegalen Grenzübertritt, nämlich - abhängig von der Beantwortung der Vorlagefrage 5 - spätestens am 22. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat (hier: Deutschland) gestellt. Da zudem mangels Antwort der italienischen Behörden auf das Aufnahmeersuchen des Bundesamts gemäß Art. 22 Abs. 7 VO 604/2013 davon auszugehen ist, dass diese dem Aufnahmegesuch stattgegeben haben, wäre Italien gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. a) VO 604/2013 verpflichtet, den Kläger aufzunehmen.
5625 Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO steht der Überstellung des Klägers nach Italien nicht entgegen. Nach dieser Norm setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Art. 8 ff. VO 604/2013 vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer laufen Asylbewerber, die - wie der Kläger - in Italien noch keinen Asylantrag gestellt haben, im Falle ihrer Überstellung nach Italien keine Gefahr, dort aufgrund von systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden.
57Vgl. VG Minden, Urteile vom 27. Januar 2016 - 10 K 535/15.A -, juris Rn. 43 ff., sowie vom 24. August 2016 - 10 K 2555/16.A - (nicht veröffentlicht).
5826 Dementsprechend wäre der angefochtene Bescheid rechtmäßig und die Klage abzuweisen.
5927 Etwas anderes würde dann gelten, wenn die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 3 VO 604/2013 wegen Überschreitung der Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs auf die Beklagte übergegangen wäre und der Kläger sich auf den Übergang der Zuständigkeit berufen könnte. In diesem Fall wäre der angefochtene Bescheid aufzuheben und wäre die Beklagte verpflichtet, über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden. Zur Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Fragen im Einzelnen:
6028 a) Fragen 1 bis 3 dienen der Klärung, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein Asylbewerber den durch den Ablauf der Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 VO 604/2013) bedingten Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat geltend machen kann. Kann sich der Kläger nicht hierauf berufen, bleibt seiner Klage grundsätzlich der Erfolg versagt. Kann er sich auf den Fristablauf und den damit verbundenen Übergang der Zuständigkeit berufen, hat die Klage Erfolg, wenn die weitere Prüfung ergibt, dass die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs überschritten wurde.
6129 b) Fragen 4 und 5 dienen der Klärung der Frage, mit welchem Zeitpunkt die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs zu laufen beginnt. Diese Klärung erfolgt in zwei Schritten:
6230 aa) Frage 4 betrifft das Verhältnis der Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 zur Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013. Zu klären ist, ob beide Fristen unabhängig nebeneinander stehen oder ob die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 den Rahmen für die Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 vorgibt. Stünden beide Fristen unabhängig nebeneinander, hätte das Bundesamt die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs unabhängig von der Antwort auf Frage 5 gewahrt, weil es das Gesuch am Tag des Erhalts des Eurodactreffers gestellt hat. Gäbe dagegen die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 den Rahmen für die Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 vor, könnte die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs, je nachdem wie der Gerichtshof Frage 5 beantwortet, überschritten worden sein.
6331 bb) Frage 5 betrifft den Beginn der Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013. Nach dieser Norm beginnt die Frist mit der Antragstellung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 zu laufen. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 bestimmt, dass ein Antrag auf internationalen Schutz als gestellt gilt, wenn den zuständigen Behörden ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Ob und ggf. in welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, soll durch die Unterfragen a) bis c) geklärt werden. Im Mittelpunkt dieser Unterfragen steht die Frage, ob die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender ein Formblatt oder ein Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 ist.
6432 Im vorliegenden Fall kommen für den Beginn der Dreimonatsfrist drei Zeitpunkte in Betracht: Der Zeitpunkt, in dem die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender der ausstellenden Behörde vorlag (hier: 14. September 2015), der Zeitpunkt, in dem das Bundesamt das Original oder eine Kopie der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender erhielt oder ihr der wesentliche Inhalt der Bescheinigung mitgeteilt wurde (hier: spätestens 14. Januar 2016), oder der Zeitpunkt der Protokollierung des förmlichen Asylantrags (hier: 22. Juli 2016). Sollte die Frist erst am 22. Juli 2016 begonnen haben, hätte das Bundesamt die Frist des Art. 21 Abs. 1 VO 604/2013 mit dem am 19. August 2016 gestellten Aufnahmegesuch auch dann gewahrt, wenn die Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 spätestens mit dem Ablauf der Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 abliefe (s. Frage 4). Sollte die Frist dagegen bereits am 14. September 2015 oder am 14. Januar 2016 in Lauf gesetzt worden sein, wäre das Aufnahmegesuch erst nach Ablauf der Frist gestellt worden.
6533 Fragen 4 und 5 stellen sich unabhängig davon, wie Fragen 1 bis 3 zu beantworten sind, da von ihnen auch die Beantwortung der Frage 8 abhängen kann.
6634 c) Falls aus den Antworten zu Fragen 1 bis 5 folgt, dass sich Asylbewerber nicht auf eine Überschreitung der Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuchs und den damit verbundenen Übergang der Zuständigkeit berufen können und/oder diese Frist im vorliegenden Fall eingehalten wurde, stellt sich die weitere Frage, ob und ggf. nach Ablauf welchen Zeitraums Verzögerungen zwischen dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl bzw. der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender und der Stellung eines Aufnahmegesuchs zu einem Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat entsprechend Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 VO 604/2013 führen oder den ersuchenden Mitgliedstaat verpflichten, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 Gebrauch zu machen. Der Klärung dieser Frage, die abhängig von der Antwort des Gerichtshofs zum Erfolg der Klage führen kann, dienen die Fragen 6 und 7.
6735 d) Schließlich wirft der vorliegende Fall die Frage auf, ob ein Aufnahmegesuch, in dem der ersuchende Mitgliedstaat dem ersuchten Mitgliedstaat nicht alle für die Entscheidung über die Zuständigkeit erforderlichen Informationen mitteilt, die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 wahrt oder ob ein solches Ersuchen "unwirksam" ist. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass das Bundesamt dem ersuchten Mitgliedstaat in seinem Aufnahmegesuch vom 19. August 2016 lediglich mitgeteilt hat, dass der Kläger am 12. September 2015 nach Deutschland eingereist ist und am 22. Juli 2016 einen Asylantrag gestellt hat. Dass der Kläger bereits am 14. September 2015 um Asyl nachgesucht und ihm an diesem Tag eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender ausgestellt wurde, hat das Bundesamt - wie in zahlreichen vergleichbaren Fällen - dem ersuchten Mitgliedstaat nicht mitgeteilt. Der Klärung dieser Frage, die abhängig von der Antwort des Gerichtshofs zum Erfolg der Klage führen kann, dient Frage 8.
6836 3. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, über die Vorlagefragen im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu entscheiden, da die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
6937 Das vorliegende Verfahren ist nach Einschätzung des vorlegenden Gerichts geeignet, zu einer Aussetzung einer Vielzahl von Dublin-Entscheidungen und damit zu einer beträchtlichen Verzögerung der Entscheidung über eine entsprechende Anzahl von Asylanträgen zu führen. Nach Einschätzung des vorlegenden Gerichts dürften sich die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zur Auslegung der Verordnung (EU) 604/2013 in der weit überwiegenden Anzahl der vom Bundesamt entschiedenen und in der nächsten Zeit noch zu entscheidenden Dublin-Fälle stellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Bundesamt derzeit pro Monat etwa 5.000 Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuche an andere Mitgliedstaaten richtet.
70Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl, November 2016.
7138 Bei der 10. Kammer des vorlegenden Gerichts waren am 20. Dezember 2016 etwa 40 Eilanträge gegen Dublin-Entscheidungen des Bundesamts anhängig. Lediglich in zwei dieser Fälle konnte nach überschlägiger Prüfung festgestellt werden, dass die Frist für die Stellung des Aufnahme-/Wiederaufnahmeersuchens nach jeder rechtlichen Betrachtungsweise eingehalten wurde. Dem entspricht die Einschätzung namhafter Kommentatoren, wonach dann, wenn der Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender als Beginn der Frist zur Stellung des Aufnahmeantrags zugrunde gelegt würde, "aktuell (Stand: Februar 2016) in Deutschland jedes Übernahmeersuchen verfristet" wäre.
72Vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch/Hruschka, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 60 AufenthG Rn. 35
7339 Aufgrund der ungeklärten Rechtslage ordnet das vorlegende Gericht auf einen entsprechenden Antrag der Kläger in Fällen, in denen eine Überschreitung der Frist für die Stellung des Aufnahme-/Wiederaufnahmegesuchs in Betracht kommt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die vom Bundesamt erlassene Abschiebungsanordnung an. Nach Einschätzung des vorlegenden Gerichts ist davon auszugehen, dass sich weitere Gerichte dem anschließen, zumal einige Gerichte bereits in der Vergangenheit die aufschiebende Wirkung in vergleichbaren Fällen angeordnet haben.
74Vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. August 2016 - 20 L 1609/16.A -, juris; VG Trier, Beschluss vom 30. August 2016 - 1 L 2969/16.TR - (nicht veröffentlicht).
7540 Die auf Grundlage der vorstehenden Ausführungen zu erwartende Verzögerung der Entscheidung über eine beträchtliche Anzahl von Asylanträgen widerspricht dem der Verordnung (EU) 604/2013 immanenten Gedanken, eine zügige Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz zu gewährleisten (vgl. Erwägungsgrund 5). Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass ein nach den üblichen Bestimmungen durchgeführtes Vorlageverfahren zwischen zwölf und 18 Monaten in Anspruch nimmt. Der Kläger wartet bereits seit dem 14. September 2015, also seit 15 Monaten darauf, dass über seinen Asylantrag in der Sache entschieden wird. Dieser Zeitraum würde sich ohne ein beschleunigtes Verfahren auf 27 bis 33 Monate verlängern - nur für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Zahlreiche weitere Asylbewerber befinden sich - wie dargelegt - in einer vergleichbaren Situation. Bei Durchführung eines beschleunigten Verfahrens ließe sich die Zeit bis zu einer Entscheidung über deren Asylanträge beträchtlich verkürzen.
7641 4. Die Empfehlungen des Gerichtshofs an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsverfahren (ABl. C 338, S. 1) geben dem vorlegenden Gericht unter Nr. 42 vor, dass es - soweit möglich - knapp angibt, wie die Vorlagefragen beantwortet werden sollten, wenn es - wie hier - einen Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens stellt.
7742 a) Frage 1 dürfte auf Grundlage der Entscheidungen des Gerichtshofs in den Verfahren C-63/15 (Ghezelbash) und C-155/15 (Karim) zu bejahen sein. In diesen Entscheidungen hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 27 Abs. 1 VO 604/2013 unter Berücksichtigung des 19. Erwägungsgrundes einem Asylbewerber einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über seine Überstellung gewährt, der insbesondere auf die Überprüfung der Anwendung dieser Verordnung abzielen und damit dazu führen kann, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats in Frage gestellt wird, auch wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestehen. Dementsprechend hat sich das mit einer Überstellungsentscheidung befasste Gericht nach Auffassung des Gerichtshofs zu vergewissern, dass diese Entscheidung nach einer fehlerfreien Durchführung des in der Verordnung vorgesehenen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergangen ist.
78Vgl. Urteile vom 7. Juni 2016 - C-63/15 (Ghezelbash) -, NVwZ 2016, 1157, Rn. 40, sowie - C-155/15 (Karim) -, NVwZ 2016, 1155, Rn. 22 und 26.
7943 Da die fehlerfreie Durchführung eines Verfahrens auch die Einhaltung von Fristen umfasst, dürften die Erwägungen des Gerichtshofs auf die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs zu übertragen sein.
80Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 -, NVwZ 2016, 1492, Rn. 22 f.; VG Köln, Beschluss vom 5. August 2016 - 20 L 1736/16.A - (nicht veröffentlicht); VG Trier, Beschluss vom 30. August 2016 - 1 L 2969/16.TR - (nicht veröffentlicht); Habbe, Asylmagazin 2016, 206, 210; Hoppe, NVwZ 2016, 1160, 1161; Hruschka/Maiani, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, Part D VI, Art. 27 Rn. 15; a.A. VG Hannover, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 B 4090/16 -, juris Rn. 31.
8144 Dennoch sollte der Gerichtshof erwägen, Frage 1 vor dem Hintergrund zu verneinen, dass die Übertragung der vorstehend dargestellten Erwägungen des Gerichtshofs auf die Fristen für die Stellung des Aufnahme-/Wiederaufnahmegesuchs dem mit den Verordnungen (EG) 343/2003 und (EU) 604/2013 (auch) verfolgten Ziel der Vermeidung des "forum shopping"
82- vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 - C-394/12 (Abdullahi) -, NVwZ 2014, 208, Rn. 53, sowie vom 7. Juni 2016 - C-63/15 (Ghezelbash) -, NVwZ 2016, 1157, Rn. 54 -
8345 entgegensteht. Hinsichtlich der Zuständigkeitskriterien des Kapitels III der Verordnung (EU) 604/2013 hat der Gerichtshof die Gefahr eines "forum shopping" verneint, weil die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht im Belieben des Asylbewerbers stehe.
84Vgl. Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 (Ghezelbash) -, NVwZ 2016, 1157, Rn. 54.
8546 Dies trifft für die Überschreitung der Frist für die Stellung des Aufnahme-/Wieder-aufnahmegesuchs nicht zu. Ob ein Asylbewerber den für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat verlässt und in welchen Mitgliedstaat er sich von dort aus begibt, hängt allein von ihm ab. Ein solches Verhalten wird zumindest indirekt honoriert und damit dem "forum-shopping" Vorschub geleistet, wenn sich der Asylbewerber auf die Überschreitung der Frist für die Stellung des Aufnahme-/Wiederaufnahmegesuchs berufen kann, weil sich die Chancen auf einen (vorläufigen) Verbleib im anderen Mitgliedstaat hierdurch nicht unerheblich erhöhen. Dies gilt insbesondere in den in der gerichtlichen Praxis häufig zu beobachtenden Fällen, in denen Asylbewerber sich nacheinander in mehrere andere Mitgliedstaaten oder mehrfach in denselben anderen Mitgliedstaat begeben.
86Vgl. VG Hannover, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 B 4090/16 -, juris Rn. 37 ff.
8747 b) Wird Frage 1 bejaht, dürfte Frage 2 auf Grundlage der Entscheidungen des Gerichtshofs in den Verfahren C-63/15 (Ghezelbash) und C-155/15 (Karim) ebenfalls zu bejahen sein. Nach diesen Entscheidungen hat sich das mit einer Überstellungsentscheidung befasste Gericht unabhängig davon, ob der ersuchte Mitgliedstaat weiterhin zur Aufnahme des Asylbewerbers bereit ist, zu vergewissern, dass diese Entscheidung nach einer fehlerfreien Durchführung des in der Verordnung vorgesehenen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergangen ist.
8848 c) Frage 3 dürfte jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn der ersuchende Mitgliedstaat den ersuchten Mitgliedstaat zutreffend über die für die Prüfung der Zuständigkeit wesentlichen Umstände des Falls informiert hat und die Frist für die Beantwortung des Aufnahmegesuchs (Art. 22 Abs. 1 und 6 VO 604/2013) abgelaufen ist. Unter diesen Voraussetzungen ist nicht ersichtlich, aufgrund welcher rechtlichen Grundlage der ersuchte Mitgliedstaat berechtigt sein sollte, seine Zustimmung zu widerrufen.
8949 d) Frage 4 dürfte dahingehend zu beantworten sein, dass die Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 durch die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 begrenzt wird. Dass diese Normen in Bezug auf den Fristbeginn an unterschiedliche Zeitpunkte (Antragstellung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 bzw. Erhalt des Eurodac-Treffers) anknüpfen, steht dem nicht entgegen. Sinn und Zweck des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 bestehen darin, die grundsätzlich dreimonatige Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs wegen der eindeutigen Beweislage bei Vorliegen eines Eurodactreffers auf zwei Monate zu verkürzen.
90Vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. August 2016 - 20 L 1609/16.A -, juris Rn. 9; VG Trier, Beschluss vom 30. August 2016 - 1 L 2969/16.TR - (nicht veröffentlicht); Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 27a AsylG Rn. 13.
9150 Dem würde es widersprechen, den Behörden der Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, durch das Hinauszögern der Eurodacabfrage die Frist zur Stellung des Aufnahmegesuchs zu verlängern.
9251 e) Frage 5 dürfte dahingehend zu beantworten sein, dass ein Antrag auf internationalen Schutz bereits mit der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender als im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 gestellt gilt.
93Vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. August 2016 - 20 L 1609/16.A -, juris Rn. 10; VG Trier, Beschluss vom 30. August 2016 - 1 L 2969/16.TR - (nicht veröffentlicht); Göbel-Zimmer-mann/Masuch/Hruschka, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 60 AufenthG Rn. 12 und 35; a.A. (förmlicher Asylantrag) VG Minden, Beschluss vom 24. August 2016 - 1 L 1299/16.A -, juris Rn. 25 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 23. November 2016 - 6a L 2587/16.A -, juris Rn. 17; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 27a Rn. 193 (Stand: November 2013); Marx, AsylG, 9. Auflage 2016, § 29 Rn. 78.
9452 aa) Unterfrage a) dürfte dahingehend zu beantworten sein, dass es sich bei der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender um ein behördliches Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 handelt. Diese Norm sieht die Schriftform vor allem aus Beweiszwecken vor, um dem Einwand von Asylbewerbern, sie hätten in einem bestimmten Mitgliedstaat keinen Asylantrag gestellt, entgegentreten zu können.
95Vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 1. Auflage 2014, Art. 20 Rn. K6.
9653 Diesen Anforderungen wird die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender gerecht; sie ist aufgrund der in ihr enthaltenen Angaben zum Nachweis geeignet, dass der Kläger in Deutschland internationalen Schutz beantragt hat.
9754 Art. 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) - ABl. L 180, S. 60 - (sog. Verfahrensrichtlinie) dürfte ungeachtet dessen, dass Richtlinien grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar sind, schon deshalb nicht (ergänzend) zur Klärung der aufgeworfenen Fragen heranzuziehen sein, weil Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 insoweit für das Dublin-Verfahren eine eigenständige Regelung trifft. Im Übrigen enthält Art. 6 Abs. 4 RL 2013/32 eine mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 weitgehend wortgleiche Regelung.
9855 bb) Unterfrage b) dürfte dahingehend zu beantworten sein, dass mit "zuständiger Behörde" diejenige Behörde gemeint ist, die für die Entgegennahme des Formblatts bzw. die Erstellung des Protokolls zuständig ist. Hierfür sprechen Sinn und Zweck des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013: Die Beweiskraft kommt dem Protokoll, hier der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender, bereits in dem Moment vor, in dem es bei der für die Erstellung des Protokolls zuständigen Behörde vorliegt. Dem steht nicht entgegen, dass nach dieser Auffassung ein Asylantrag bereits zu einem Zeitpunkt als gestellt gilt, in dem die für die Entscheidung über den Asylantrag zuständige Behörde hiervon noch keine Kenntnis hat. Der Verordnung (EU) 604/2013 lässt sich nicht entnehmen, dass deren Art. 20 Abs. 2 Satz 1 dem Schutz des Informationsflusses zwischen den Behörden eines Mitgliedstaates dient. Verteilt ein Mitgliedstaat Asylbewerber betreffende Zuständigkeiten auf verschiedene Behörden, ist es Sache des Mitgliedstaats, den Informationsfluss zwischen diesen Behörden sicherzustellen.
9956 cc) Unterfrage c) stellt sich nur, wenn Unterfrage b) dahingehend zu beantworten sein sollte, dass mit "zuständiger Behörde" diejenige Behörde gemeint ist, die für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig ist. Für diesen Fall dürfte Unterfrage c) dahingehend zu beantworten sein, dass ein behördliches Protokoll der zuständigen Behörde auch dann zugegangen ist, wenn ihr der wesentliche Inhalt des Protokolls mitgeteilt wurde, da sie auch in diesem Fall über die für die Durchführung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen verfügt.
10057 Bei der Beantwortung der Frage 4 und ihrer Unterfragen a) bis c) dürfte ergänzend zu berücksichtigen sein, dass die Fristenregelung in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 VO 604/2013 praktisch weitgehend leer liefe, wenn die Behörden der Mitgliedstaaten durch Verzögerungen bei der Entgegennahme des förmlichen Asylantrags den Beginn dieser Frist steuern könnten.
10158 Das vorlegende Gericht verkennt nicht, dass es dem Bundesamt aufgrund des unter 1. b) dd) dargestellten Anstiegs der Anzahl der Asylbewerber im zweiten Halbjahr 2015 über einen längeren Zeitraum aus objektiven Gründen nicht möglich gewesen sein dürfte, für sämtliche in Betracht kommenden Asylbewerber ein Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuch innerhalb der Fristen des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 VO 604/2013 zu stellen. Jedoch vermag das vorlegende Gericht der Verordnung (EU) 604/2013 keine Bestimmung zu entnehmen, die es erlaubt, derartigen Umstände z.B. im Wege einer vorübergehenden Verlängerung der von den nationalen Behörden einzuhaltenden Fristen angemessen Rechnung zu tragen.
10259 f) Frage 6 dürfte auf Grundlage der Entscheidungen des Gerichtshofs in den Verfahren C- 411/10 u.a. (N.S.) und C- 4/11 (Puid) dahingehend zu beantworten sein, dass Verzögerungen zwischen dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl bzw. der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender und der Stellung eines Aufnahmegesuchs den ersuchenden Mitgliedstaat zum Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 verpflichten, wenn sich die Stellung des Aufnahmegesuchs unangemessen verzögert.
103Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. (N.S.) -, NVwZ 2012, 417, Rn. 108, sowie vom 14. November 2013 - C-4/11 -, NVwZ 2014, 129, Rn. 35.
10460 Dies sollte unabhängig davon gelten, ob das Verfahren für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bereits eingeleitet wurde oder nicht.
10561 g) Frage 7 dürfte dahingehend zu beantworten sein, dass der ersuchende Mitgliedstaat die Stellung des Aufnahmegesuchs unangemessen verzögert, wenn er ein solches Ersuchen nicht innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt stellt, in dem der Asylbewerber erstmals bei einer Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats um Asyl nachgesucht hat. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Praktikabilität sollte der Zeitraum, nach dessen Verstreichen die Stellung des Aufnahmegesuchs unangemessen verzögert wurde, nicht nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt werden. Für den Zeitraum von einem Jahr orientiert sich das vorlegende Gericht an der Höchstdauer eines Aufnahmeverfahrens von elf Monaten, die sich aus drei Monaten für die Stellung des Aufnahmegesuchs (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013), zwei Monaten für die Antwort des ersuchten Mitgliedstaats (Art. 22 Abs. 1 VO 604/2013) und sechs Monaten für die Überstellung (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013) ergibt. In der Kommentarliteratur werden allerdings auch kürzere Zeiträume diskutiert.
106Vgl. z.B. Marx, AsylG, 9. Auflage 2016, § 29 Rn. 78 (zwei Monate).
10762 h) Frage 8 dürfte dahingehend zu beantworten sein, dass ein Aufnahmegesuch, in dem der ersuchende Mitgliedstaat nur das Datum der Einreise in den ersuchenden Mitgliedstaat sowie das Datum der Stellung des förmlichen Asylantrags, nicht aber auch das Datum des erstmaligen Nachsuchens um Asyl bzw. das Datum der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender angibt, die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 wahrt. Allerdings müssen die dem ersuchten Mitgliedstaat mit dem Aufnahmegesuch übermittelten Informationen zutreffend und vollständig sein, um diesen in die Lage zu versetzen, zu prüfen, ob er für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
108Vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. August 2016 - 20 L 1609/16.A -, juris Rn. 11; Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 27a AsylG Rn. 15; Hruschka/Maiani, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, Part D VI, Art. 21 Rn. 5.
10963 Dazu gehört auch die Prüfung, ob die Zuständigkeit aufgrund der Nichteinhaltung von Fristen auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergegangen ist. Zwar wäre es auch aus Sicht des vorlegenden Gerichts wünschenswert, wenn das Bundesamt in Fällen wie dem vorliegenden auch das Datum des erstmaligen Nachsuchens um Asyl bzw. das Datum der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender mitteilen würde, um etwaigen Nachfragen des ersuchten Mitgliedstaats zuvorzukommen. Jedoch hat das Bundesamt dem ersuchten Mitgliedstaat das Datum der erstmaligen Einreise nach Deutschland mitgeteilt. Aufgrund dieser Mitteilung ist für den ersuchten Mitgliedstaat ersichtlich, dass zwischen der Einreise nach Deutschland und der Stellung eines förmlichen Asylantrags ein beträchtlicher Zeitraum vergangen ist. Damit besteht für den ersuchten Mitgliedstaat ein Anlass zur Nachfrage, um die Frage eines etwaigen Zuständigkeitsübergangs zu klären. Aus Parallelverfahren ist dem Gericht auch bekannt, dass einige Mitgliedstaaten in vergleichbaren Fällen entsprechende Nachfragen stellen.