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Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. April 2021 (Gesch.-Z.: N02) verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, werden der Beklagten auferlegt.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Der Kläger besitzt die Staatsangehörigkeit der Republik Türkei. Er reiste am 00. Dezember 0000 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 13. Februar 2020 einen förmlichen Asylantrag.
3Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hörte den Kläger am 28. Februar 2020 an. Hierbei trug der Kläger im Wesentlichen vor: Er sei in seinem Herkunftsland Mitglied der HDP gewesen. Er sei sehr aktiv für diese Partei gewesen. Er habe alles organisiert und sei bei vielen Kundgebungen dabei gewesen. Auch habe er Wahlwerbung für die HDP gemacht. Als 2019 die Kommunalwahlen stattgefunden hätten, sei er zwei Mal von Sicherheitskräften in ein Waldstück mitgenommen worden. Beim ersten Mal habe man ihm Geld für die Weitergabe von Informationen geboten. Beim zweiten Mal habe man ihm eine Frist von 20 Tagen gegeben, dann würden die Sicherheitskräfte wieder auf ihn zukommen und nach Informationen fragen. Man habe ihm auch gesagt, dass man ihn umbringen würde, wenn keine Informationen weitergeben würde. Daher habe er sein Herkunftsland am 20. Mai 2019 legal verlassen und sei zunächst nach Serbien geflogen. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, getötet oder für viele Jahre inhaftiert zu werden.
4Der Kläger legte ein Foto vor, auf welchem vermerkt ist, dass er Mitglied der DBP-Partei sei. Das Dokument ist auf den 24. August 2013 datiert. Der Kläger erklärt hierzu, es handele sich um die Vorgänger-Partei der HDP. Einen Parteiausweis der HDP habe er zwar besessen, aber in der Türkei gelassen, da er nicht davon ausgegangen sei, dass er ihn in Deutschland brauche. Weiterhin legte Antragsteller er ein auf den 00. August 0000 datiertes Schreiben vor, welches das Justizministerium der Türkei als Aussteller erkennen lässt. Der Kläger ist namentlich als Angeklagter erwähnt. Das Schreiben enthält nicht die Überschrift „Anklageschrift“ und keinen konkreten Tatvorwurf. Der Kläger legt weiterhin einen Ausdruck der Seite „„Name wurde entfernt““ vor. Oben rechts ist das Datum 00. Juni 0000 erwähnt. Darunter steht eine Liste von Angeklagten. Diese Liste trägt das Datum 00. Februar 0000. Der Kläger ist als einer von vielen Beklagten erwähnt.
5Mit Bescheid vom 12. März 2020 (Gesch.-Z.: N02) lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und drohte die Abschiebung nach Slowenien an. Nach Ablauf der Überstellungsfrist hob das Bundesamt den Bescheid auf. Das hiergegen gerichtete verwaltungsgerichtliche Verfahren wurde eingestellt.
6Mit Bescheid vom 30. April 2021 (Gesch.-Z.: N02), den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 12. Mai 2021 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab (Ziffer 2). Es erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1 und 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4) und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5). Zuletzt befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Der Kläger habe eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht.
7Der Kläger hat am 21. Mai 2021 Klage erhoben.
8Im Gerichtsverfahren legt der Kläger mit Schriftsatz vom 8. August 2024 verschiedene Unterlagen vor, unter anderem einen Festnahmebeschluss vom 00. Oktober 0000, eine Anklageschrift vom 00. Oktober 0000 und ein Sitzungsprotokoll vom 10. Juni 0000.
9Der Kläger beantragt,
10die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. April 2021 (Gesch.-Z.: N02) zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
11hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. April 2021 (Gesch.-Z.: N02) zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen,
12weiter hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. April 2021 (Gesch.-Z.: N02) zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Zur Begründung nimmt die Beklagte Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18Das Gericht konnte entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung am 22. Januar 2025 nicht erschienen ist. Denn die Beklagte ist ordnungsgemäß geladen und auf diese Folge hingewiesen worden, § 102 Abs. 2 VwGO.
19Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamts vom 30. April 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
20Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
21Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungs-gründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegen-de Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
22Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
23Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
24Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, ju-ris, Rn. 32; BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 13.
25Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
26Vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32; BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 13.
27Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 13.
29Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Diese Vermutung kann aber wiederlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5.09 –, juris, Rn. 23; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 14.
31Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
32Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90 –, juris, Rn. 2; OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.
33Gemessen an diesen Grundsätzen konnte der Einzelrichter die Überzeugung gewinnen, dass dem Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Das Bundesamt ist auf Grundlage des nunmehrigen Sach- und Erkenntnisstands im Zeitpunkt der der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im Ergebnis zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich eine begründete Verfolgungsfurcht im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nicht feststellen lasse.
34Es besteht nach Überzeugung des Einzelrichters eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei die Festnahme und die Verhängung einer Gefängnisstrafe wegen des Vorwurfs, Propaganda für eine Terrororganisation betrieben zu haben, drohen. Es steht ferner zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die bisher gegen den Kläger eingeleiteten und die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden strafrechtlichen Maßnahmen Ausdruck politischer Verfolgung sind. Diese Überzeugung beruht auf den Einlassungen des Klägers sowie den vorgelegten Dokumenten, insbesondere auf der vom Klägerin vorgelegten Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft Şanliurfa vom 00. Oktober 0000, dem Festnahmebeschluss der 3. Strafkammer des Amtsgericht Şanliurfa vom 00. Oktober 0000 und dem Sitzungsprotokoll des 5. Großen Strafgerichts Şanliurfa vom 00. Juni 0000. In der mündlichen Verhandlung konnte das Gericht zudem über den UYAP-Zugang des Klägers ein weiteres Sitzungsprotokoll des 5. Großen Strafgerichts Şanliurfa vom 00. November 0000 einsehen. Gegenstand dieses Strafverfahrens mit dem gerichtlichen Aktenzeichen N03 ist der Vorwurf der Propaganda für eine Terrororganisation.
35Die Echtheit der von der Klägerin überreichten Dokumente steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest. Sämtliche Dokumente konnten in der mündlichen Verhandlung anhand der auf den Dokumenten vorhandenen UYAP-Codes online über das UYAP-System verifiziert werden.
36Im Hinblick auf politisierte Strafverfahren, wie es beim hier in Rede stehenden Straftatbestand der Propaganda für eine Terrororganisation der Fall ist, ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass die türkischen Gerichte keine Unabhängigkeit besitzen und ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren bzw. eine faire Prozessführung nicht gewährleistet ist.
37Siehe insgesamt Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024 (im Folgenden: Lagebericht 2024), Stand: Januar 2024, S. 11 ff.; vgl. auch VG Bremen, Urteil vom 24. September 2021 – 2 K 813/19 –, juris, Rn. 26 ff.; vgl. zudem OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A –, juris, Rn. 104 ff.
38Ausweislich der Länderinformation der Staatendokumentation Türkei des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) existiert vor allem bei Fällen von (vermeintlichem) Terrorismus und organisierter Kriminalität eine Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und es kommt zu einer sehr lockeren Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen, was zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür führt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet.
39Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22. September 2022 (BFA Länderinformation Türkei 2022), Version 6, S. 46; siehe auch VG Bremen, Urteil vom 24. September 2021 – 2 K 813/19 –, juris, Rn. 29.
40Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern in der Ausübung ihrer Ämter wird danach tatsächlich durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte) unterlaufen.
41BFA Länderinformation Türkei 2022, S. 50.
42In Bezug auf die konkrete Entscheidungsfindung bestehen darüber hinaus erhebliche Defizite. So kommt es nach der Zusammenfassung des BFA zu einer „schablonenhaften Entscheidungsfindung“ ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall. Entscheidungen in massenhaft abgewickelten Verfahren betreffend Terrorismus-Vorwürfen leiden häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem werden danach teilweise Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt.
43BFA Länderinformation Türkei 2022, S. 51 f.; siehe auch VG Bremen, Urteil vom 24. September 2021 – 2 K 813/19 –, juris, Rn. 29.
44Es ist schließlich auch davon auszugehen, dass der Festnahmebefehl bei Rückkehr des Klägers in die Türkei vollstreckt würde. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass der Kläger bereits am Flughafen identifiziert und zur Vollstreckung der Haftstrafe festgenommen würde. Denn bei der Einreise in die Türkei besteht eine allgemeine Personenkontrolle und es wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind.
45Siehe AA Lagebericht 2021, S. 23; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A –, juris, Rn. 104 ff. (auch zur möglichen Gefahr von Misshandlungen bei einer bereits verurteilten Person); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2013 – A 12 S 2023/11 –, juris, Rn. 31.
46Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 AsylG steht dem nicht entgegen. Danach wird ein Ausländer in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat. Dies gilt jedoch nicht, wenn dieser Entschluss einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht. So liegt der Fall hier. Zwar betrifft das oben genannte Strafverfahren eine Tat, die der Kläger am 1. April 2021 begangen haben soll, zu einem Zeitpunkt also, zu dem der Kläger bereits aus der Türkei ausgereist und in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war. Der Kläger war aber bereits lange Zeit vor seiner Ausreise aus der Türkei oppositionspolitisch tätig gewesen. Dass der Kläger bereits im Heimatland eine gefestigte oppositionelle Überzeugung gebildet hatte, ist für das Gericht angesichts des gesamten klägerischen Vortrags sowie der bereits im Verwaltungsverfahren von ihm vorgelegten Unterlagen, namentlich die Unterlagen zu dem im Jahr 2008 geführten Strafverfahren, nicht zweifelhaft.
47Da dem Kläger nach dem zuvor Gesagten ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind ebenfalls aufzuheben.
48Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83b AsylG.
49Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
50Rechtsmittelbelehrung
51Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Köln schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen und die Zulassungsgründe im Sinne des § 78 Abs. 3 Asylgesetz darlegen.
52Der Antrag ist durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten zu stellen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.