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Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01) verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, werden der Beklagten zu einem Drittel und dem Kläger zu zwei Dritteln auferlegt.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Der Kläger besitzt die Staatsangehörigkeit der Republik Türkei. Er reiste am 15. Dezember 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stelle am 16. Januar 2018 einen Asylantrag.
3Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hörte den Kläger am 19. Januar 2018 an. Hierbei trug er im Wesentlichen vor: Er werde aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der HDP und DTP verfolgt. Er sei zu Unrecht zu 55 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er sei wegen Beihilfe an einem Mord verurteilt worden, den sein Onkel in der Nacht vom 24. auf den 25. November 2010 verübt habe. Es sei um Blutrache gegangen, da die drei Mordopfer, die von seinem Onkel getötet worden seien, zuvor dessen Bruder, also den Vater des Klägers, getötet hätten. Nach der Tat seien er und sein Onkel auf dem Polizeirevier festgehalten und drei Tage lang jede Stunde gefoltert worden. Auch habe er hungern müssen. Danach seien er und sein Onkel in Untersuchungshaft gekommen. Er habe in dieser Zeit viel Diskriminierung und Leid erlebt. Nach vier Jahren und zwei Monaten sei er aus der Haft entlassen worden. Er sei sowohl Mitglied der im Jahr 2009 verbotenen Partei DTP, sowie der späteren HDP gewesen. Schon im Jahr 2008 und 2009 sei er beschuldigt worden Verbindungen zur PKK zu haben. Er sei ein normales Mitglied der HDP gewesen und habe bei Wahlen geholfen und an Kongressen teilgenommen. Im Jahr 2016 sei er in Malatya für einen Tag in Untersuchungshaft genommen und am nächsten Tag dem Staatsanwalt vorgeführt worden. Es sei ihm gesagt worden, dass der Fall erneut vom obersten Gerichtshof beurteilt werden solle. Im Anschluss sei er wieder freigelassen worden. Am 15. Dezember 2016 sei es zu einer Urteilsverkündung in einem Strafprozess gegen ihn gekommen. Genau wie im Jahr 2008 und 2009 sei das nur wegen unterstellter PKK-Verbindungen passiert. Er sei erneut wegen der Beihilfe an einem Mord zu 55 Jahren Haft verurteilt worden. Dies sei im elektronischen Justiz-System der Türkei erst am 22. Januar 2017 vermerkt gewesen. An diesem Tag habe er festgenommen werden sollen. Zu diesem Zeitpunkt habe er sich in Istanbul befunden und habe von seinem Anwalt den Hinweis bekommen, dass seine Verhaftung bevorstehe. Am 14. März 2017 habe er die Türkei dann illegal in Richtung Griechenland verlassen. Bei einer Rückkehr befürchte er eine lebenslängliche Inhaftierung.
4Mit Bescheid vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01), dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 25. Mai 2020 zugestellt, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab (Ziffer 2). Es erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffern 1 und 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4) und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5). Abschließend befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Verurteilung des 2. Strafgerichts von Malatya sei erfolgt, um kriminelles Unrecht zu ahnden. Ein politischer Hintergrund sei nicht erkennbar. Auch aus dem Urteil vom 15. Januar 2015, der ersten Verurteilung des Klägers, ergebe sich nichts anderes. Die Mitgliedschaft des Klägers in der DTP bzw. der HDP spiele dort keine Rolle.
5Der Kläger hat am 3. Juni 2020 Klage erhoben.
6Zur Begründung seiner Klage nimmt der Kläger unter anderem Bezug auf das Klageverfahren seines Onkels, dessen Asylverfahren beim erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen 15 K 407/21.A anhängig war. Sein Onkel sei ebenso wie er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden. Sie seien wegen der zweiten Verurteilung gemeinsam ausgereist.
7Der Kläger beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01) zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
9hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01) zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
10weiter hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01) zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie nimmt zur Begründung Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
14Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens, des Verfahrens 22 K 8168/24.A und des Verfahrens 15 K 407/21.A sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe
17Das Gericht konnte ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
18Die Klage ist teilweise begründet.
19Die Ziffern 4 bis 6 des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01) sind im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ihm steht ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
20Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen. Danach steht § 60 Abs. 5 AufenthG einer Abschiebung entgegen, wenn im konkreten Einzelfall das tatsächliche Risiko („real risk“) einer Konventionsverletzung im Abschiebungszielstaat besteht. Dieses Risiko muss sich auf ernsthaften und stichhaltigen Tatsachen gründen. Die Gefahr darf nicht lediglich hypothetisch bestehen; unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls muss ihr Eintritt hinreichend sicher sein. Dem präventiven Schutzzweck der EMRK folgend setzt dies allerdings keinen eindeutigen, über alle Zweifel erhabenen Beweis voraus, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung einer konventionswidrigen Behandlung ausgesetzt wäre.
21Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 –, juris, Rn. 6 m. w. N.
22Eine Abschiebung ist insbesondere nach Art. 3 EMRK unzulässig, wenn dem Ausländer im Zielstaat nach dem vorgenannten Maßstab eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Dem Kläger droht eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung aufgrund der Haftbedingungen in der Türkei.
23Der Kläger ist ausweislich der Entscheidung des 1. Strafsenats des Obersten Gerichtshofs/Kassationshofs vom 20. Dezember 2016, die sich in deutscher Übersetzung im Verwaltungsvorgang des Bundesamts befindet, durch die 2. Strafkammer des Gerichts in Malatya wegen Beihilfe zum Mord und wegen Beihilfe zur einer Körperverletzung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Konkret lautet der Urteilsspruch drei Mal zwölf Jahre und sechs Monate sowie fünf Jahre und fünf Monate Freiheitsstrafe. Von dieser Haftstrafe hat der Kläger nach eigenen Vortrag bislang lediglich gut vier Jahre abgesessen. Die Freilassung auf Bewährung dürfte aufgrund des laufenden Berufungsverfahrens erfolgt sein. Bevor die vom Kassationshof bestätigte Reststrafe vollstreckt werden konnte, ist der Kläger ausgereist.
24Das Gericht geht anhand der aktuellen Erkenntnislage davon aus, dass die Haftbedingungen in der Türkei den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen in zahlreichen Haftanstalten nicht entsprechen und dass es regelmäßig einer verbindlichen Zusicherung durch die türkischen Behörden bedarf, dass die betroffene Person in einer die menschenrechtlichen Mindestanforderungen entsprechenden Haftanstalt inhaftiert werden wird.
25Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes,
26Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024, Stand: Januar 2024, S. 18,
27gilt insoweit folgendes: Die Bedingungen von Strafhaft in der Türkei sind, abhängig u.a. von Alter, Typ und Größe der Haftanstalt bzw. der Art der Unterbringung, landesweit unterschiedlich. Dabei bleibt die Überbelegung von Gefängnissen problematisch. Grundsätzlich können in türkischen Haftanstalten die EMRK-Standards eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen generell keine menschenrechtlichen Bedenken gegen die Unterbringung ausgelieferter Personen bestehen. Vor diesem Hintergrund werden zur Sicherung internationaler Mindeststandards bei der Auslieferung von Verfolgten im strafrechtlichen Rechtshilfe- und Auslieferungsverkehr von deutscher Seite völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen erbeten und von der Türkei regelmäßig erteilt. Dies betrifft etwa EMRK-konforme Haftbedingungen, das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung, den Spezialitätsgrundsatz und Besuchsrechte deutscher Auslandsvertretungen. Entsprechende von der Türkei abgegebene Zusicherungen werden von den Auslandsvertretungen überprüft (sog. „Monitoring“). Zusicherungen werden als belastbar erachtet.
28Eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung der Türkei liegt hier in Bezug auf den Kläger nicht vor. Einer solchen bedarf es jedoch, um sicherzustellen, dass der Kläger nicht in einer Haftanstalt untergebracht wird, in der ihm eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist nicht absehbar, in welcher Anstalt der Kläger die gegen ihn verhängte Strafhaft wird antreten müssen. Annahmen dazu lassen sich nicht aufgrund allgemeingültiger Gesichtspunkte treffen, da in der Türkei die Tendenz besteht, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren.
29Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Türkei, Version 9 vom 18. Oktober 2024, S. 182.
30Daher existiert für den Kläger das tatsächliche Risiko, in einem Gefängnis inhaftiert zu werden, in dem die Haftbedingungen den Mindeststandards der EMRK nicht genügen. In einem derartigen Fall ist es sowohl verfassungs- als auch konventionsrechtlich geboten, den im Auslieferungsverfahren geltenden Schutzmaßstab auf das asylrechtliche Verfahren zu übertragen, um insoweit einen „Gleichlauf“ herzustellen. Denn für den Kläger macht es keinen Unterschied, ob er die gegen ihn in der Türkei verhängte Haftstrafe in einer überbelegten Haftanstalt verbüßen muss, weil er ausgeliefert oder weil er abgeschoben worden ist. Die Gefahrenprognose ist in beiden Fällen die gleiche, weshalb für sie asylrechtlich kein anderer Maßstab anzulegen sein kann wie in einem Auslieferungsverfahren. Dort gilt indessen nach gefestigter Rechtsprechung, dass vor einer Rückführung in den Zielstaat eine Zusicherung der zuständigen Behörde einzuholen ist, wenn die Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung besteht, was bezogen auf die Türkei regelmäßig der Fall ist.
31Vgl. (zur Türkei) beispielhaft etwa BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2017 – 2 BvR 2259/17 –, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 2023 – Ausl 301 AR 105/21 –, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 3. Januar 2022 – 1 Ausl A 28/20 –, juris.
32Daher hat die Beklagte vor dem Erlass einer Abschiebungsandrohung sicherzustellen, dass eine geeignete verbindliche und belastbare Zusicherung der zuständigen türkischen Behörden vorliegt, wonach ihm im Fall seiner Inhaftierung und Verbüßung der gegen ihn verhängten Haftstrafe in der Türkei keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht.
33Siehe (zu ähnlich gelagerten Fällen) VG Dresden, Urteil vom 21. August 2023 – 3 K 2203/21.A –, juris, Ls 2 u. 3; VG Weimar, Urteil vom 21. März 2023 – 4 K 204/21 We –, juris, Ls. 4; VG Bremen, Beschluss vom 1. März 2023 – 2 V 1691/22 –, juris, Rz. 22 ff.; VG Köln, Urteil vom 30. November 2022 – 22 K 7927/18.A –, juris, Rn. 74; VG München, Urteil vom 15. Juli 2021 – M 1 K 17.49749 –, juris (dort lag eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung der Türkei vor).
34Sobald eine solche völkerrechtlich verbindliche Zusicherung abgegeben wurde, liegt eine geänderte Sachlage vor, weshalb die Beklagte durch die Rechtskraft des vorliegenden Urteils dann nicht gehindert ist, die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufzuheben und eine Abschiebungsandrohung mit der Zielstaatsbezeichnung „Türkei“ zu erlassen.
35Da dem Kläger ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots zusteht, war auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG aufzuheben.
36Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Die Ziffern 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2020 (Gesch.-Z.: N01) sind im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ihm steht ein Anspruch Anerkennung der Asylberechtigung nicht zu. Auch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus hat der Kläger nicht, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
37In Bezug auf Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG wird in Anwendung von § 77 Abs. 3 AsylG auf die weitere Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen und auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamts verwiesen. Der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter ist unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung vom 17. Juli 2024 sowie des gesamten Prozessstoffes nicht davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne von § 3a AsylG droht. Ebenso wie die 15. Kammer des erkennenden Gerichts im Verfahren des Onkels des Klägers mit dem gerichtlichen Aktenzeichen 15 K 407/21.A geht auch der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter nicht davon aus, dass die vom Kläger vorgetragene drohende Gefängnisstrafe eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne von § 3a AsylG darstellt. Für die Annahme, dass der Kläger im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens wegen seiner Ethnie oder der politischen Aktivitäten seiner Familie eine härtere Strafe – oder überhaupt eine Strafe – erhalten haben soll, bestehen entgegen seiner wiederholten Behauptung keine ausreichenden Anhaltspunkte. Die Verurteilung erfolgte, wie sich aus dem bereits benannten Beschluss des Kassationshofs ergibt, wegen kriminellen Unrechts, nämlich wegen der Teilnahme an Totschlags- und Körperverletzungsdelikten, die im Zusammenhang mit einer „Blutfehde“ begangen worden waren.
38Die Anerkennung der Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz scheitert vorliegend daran, dass der Kläger nach eigenem Vortrag auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. In diesem Fall kann sich der Kläger gemäß Art. 16a Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz nicht auf das Asylrecht berufen.
39Ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes steht dem Kläger ebenfalls nicht zu. Zwar stellen die Haftbedingungen in der Türkei eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar. Insoweit gelten die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK entsprechend. Dem Anspruch steht jedoch § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG entgegen. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AsylG gelten gilt dieser Ausschlussgrund auch für Ausländer, die sich in sonstiger Weise an den genannten Straftaten beteiligen.
40§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG definiert den Begriff der „schweren Straftat“ nicht näher. In systematischer Hinsicht ist bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs im jeweiligen Einzelfall zu berücksichtigen, dass dieser im Kontext weiterer in § 4 Abs. 2 Satz 1 AsylG geregelter Fälle zu lesen ist. Bei diesen weiteren Fällen handelt es sich namentlich um Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Nr. 1) sowie Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen (Nr. 3 AsylG). Vor dem Hintergrund dieser sehr gravierenden Verhaltensweisen ist ein erhebliches Gewicht sowohl der Straftaten als auch der schwerwiegenden Gründe für die Annahme, dass diese begangen worden sind, zu fordern. Der EuGH geht insoweit davon aus, dass die § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG zugrunde liegende Richtlinienvorgabe in Art. 17 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU wegen der hierin liegenden Abweichung von der in Art. 18 Richtlinie 2011/95/EU aufgestellten Regel restriktiv auszulegen ist.
41EuGH, Urteil vom 13. September 2018 – Rs. C-369/17 – Rn. 52.
42Es ist nach dem EuGH Sache der zuständigen nationalen Behörde bzw. des zuständigen nationalen Gerichts, die oder das über den Antrag auf subsidiären Schutz entscheidet, die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen, wobei eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen ist. Als zur Bestimmung einer „schweren Straftat“ relevante Faktoren werden dabei u. a. die Art und Weise der Tatbegehung, insbesondere die Verwendung gewalttätiger Methoden, die Art und das Ausmaß des verursachten Schadens oder das Strafmaß im Verhältnis zur Höchststrafe für die Straftat genannt. Dabei ist in Übereinstimmung mit dem Verständnis des UN-Flüchtlingskommissariats grundsätzlich zu fordern, dass es sich um ein Kapitalverbrechen oder eine besonders schwerwiegende Straftat handelt.
43UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, abrufbar unter: https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/04/UNHCR-Handbuch.pdf, Rn. 155; zum Rückgriff auf das UNHCR Handbuch EuGH, Urteil vom 13. September 2018 – Rs. C-369/17 –, Rn. 57; siehe auch Keßler in: NK-Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 3 AsylVfG Rn. 13 („Hier kommen nur Kapitalverbrechen, also insbesondere Tötungsdelikte in Betracht.“); Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 3 AsylG Rn. 9 ("Es wird sich somit wohl immer um ein Kapitaldelikt handeln müssen [...] Als Beispiele werden Mord, Vergewaltigung, Folter, Menschen- oder Drogenhandel oder Wirtschaftsdelikte mit bedeutenden Verlusten genannt."); Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausläderrecht, 43. Edition (Stand: 31. Oktober 2024), AsylG § 3, Rn. 23 („Bei der Beurteilung der Schwere der Straftat ist an die deutschen strafrechtlichen Wertungen anzuknüpfen. Danach muss mindestens ein Verbrechen iSd § 12 StGB vorliegen.“).
44Ausgehend von diesen Maßstäben bestehen hier schwerwiegende Gründe für die Annahme, dass sich der Kläger an einem Mord und damit an einer „schweren Straftat“ beteiligt hat. Zunächst handelt es sich bei dem Tötungsdelikt, das der Onkel des Klägers an drei Personen begangen hat, um einen Mord im Sinne des deutschen Strafgesetzbuches. Die Tötung eines Menschen aus dem Motiv der Blutrache ist nach der Rechtsprechung des BGH in der Regel in höchstem Maße verwerflich und erfüllt das Mordmerkmal der niederen Beweggründe.
45Vgl. hierzu Schneider, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2021, StGB § 211 Mord, Rn. 111 m. w. N. zur einschlägigen BGH-Rechtsprechung.
46Es bestehen auch gewichtige Gründe für die Annahme, dass sich der Kläger an der Tat seines Onkels beteiligt hat. Zwar hat der Kläger vorgetragen, dass er mit der Tat nichts zu tun gehabt habe. Die Verurteilung sowie die Bestätigung der Verurteilung durch den Kassationshof stellen aber gewichtige Anhaltspunkte für die Tatbeteiligung des Klägers dar. Insbesondere ist dabei zu berücksichtigen, dass nach den aktuellen Erkenntnissen die türkische Justiz in Strafverfahren, die – wie hier – kriminelles Unrecht zum Gegenstand hat, grundsätzlich keine gravierenden rechtsstaatlichen Mängel aufweist. Hinzu kommt, dass die Ehefrau des Klägers, die Klägerin zu 1 des beim erkennenden Gericht anhängigen Verfahrens 22 K 8168/24.A, in ihrer Anhörung beim Bundesamt am 25. November 2024 die Beteiligung des Klägers bestätigt hat. Wörtlich hat die Ehefrau des Klägers vorgetragen: „Mein Schwiegervater wurde umgebracht. Der Onkel von meinem Mann hat drei Mitglieder der anderen Familie umgebracht. Dadurch, dass mein Man seinem Onkel geholfen hat, ist er festgenommen, inhaftiert und verurteilt worden.“
47Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG.
48Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
49Rechtsmittelbelehrung
50Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Köln schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen und die Zulassungsgründe im Sinne des § 78 Abs. 3 Asylgesetz darlegen.
51Der Antrag ist durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten zu stellen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.