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Asyl (Türkei): Nichtstaatliche Verfolgung eines Homosexuellen durch seine Familie
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26.11.2021 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
2Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger, reiste am 00.00.2021 mit dem Flugzeug von Konya über Istanbul aus der Türkei nach Düsseldorf nach Deutschland ein und stellte am 30.09.2021 einen Asylantrag.
3Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 03.11.2021 gab er im Wesentlichen an: Im Jahr 2011 sei er von einem Lehrer vergewaltigt und erpresst worden. Daraufhin sei er zur Polizei gegangen. Der Lehrer habe dann behauptet, es sei einvernehmlicher Geschlechtsverkehr gewesen. Deswegen sei er – der Lehrer – nur wegen Erpressung verurteilt worden und die türkischen Behörden hätten ihm – dem Kläger – unterstellt, homosexuell zu sein. Seither werde er von türkischen Behörden als Homosexueller abgestempelt und auf verschiedene Weise diskriminiert. Beispielsweise habe man seine Bewerbung um eine Stelle beim türkischen Militär wegen seiner Homosexualität abgelehnt und seine hiergegen gerichtete Klage habe man im Jahr 2019 abgewiesen. Er sei auch tatsächlich homosexuell und befürchte, zum Wehrdienst einberufen zu werden. Diesen würde er nicht überleben. Eine Ausmusterung wegen seiner Homosexualität komme nicht in Betracht, weil seine Familie dann von seiner Homosexualität erfahren würde und er keine Arbeit mehr finden würde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf das Protokoll zur Anhörung vom 03.11.2021 Bezug genommen (Bl. 89 ff. d. BA 1).
4Mit Bescheid vom 26.11.2021 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers ab. Insbesondere erkannte sie die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1) und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Die Homosexualität des Klägers an sich habe offenbar nicht zur Ausreise geführt. Soweit er auf eine drohende Einziehung zum Wehrdienst verweise, sei dies nicht nachvollziehbar, weil Homosexuelle in der Türkei wegen Wehrdienstuntauglichkeit vom Wehrdienst befreit würden. Soweit der Kläger auf Probleme bei der Arbeitssuche im Falle einer Ausmusterung verweise, überzeuge auch dies nicht, weil keine Kenntnisse darüber vorlägen, dass in der Türkei jedem potentiellen Arbeitgeber eine Bescheinigung über den Wehrdienst vorgelegt werden müsste. Außerdem seien wesentliche Angaben des Klägers zu seinem Verhalten in der Türkei in Bezug auf seine Homosexualität oberflächlich sowie undetailliert und könnten nicht nachvollzogen werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf den Ablehnungsbescheid vom 26.11.2021 Bezug genommen (Bl. 197 ff. d. BA 1). Dieser wurde dem Kläger am 13.12.2021 zugestellt.
5Am 14.12.2021 hat der Kläger Klage erhoben.
6Er vertieft im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und trägt ergänzend vor: Bislang habe er seiner Familie erzählt, er sei nach Deutschland gegangen, um die deutsche Sprache zu erlernen. Zwischenzeitlich habe seine Familie jedoch erfahren, dass er homosexuell und deswegen nach Deutschland geflohen sei. Deshalb sei er von seiner Familie bedroht worden und habe zu ihr keinen Kontakt mehr.
7Der Kläger beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26.11.2021 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise, festzustellen, dass hinsichtlich der Türkei Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen, äußerst hilfsweise, das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie nimmt Bezug auf die Begründung zu dem angegriffenen Ablehnungsbescheid.
12In der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2023 hat das Gericht den Kläger zu seinen Asylgründen persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
13Entscheidungsgründe
14Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO verhandeln und entscheiden, obwohl eine Vertreterin bzw. ein Vertreter der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.05.2023 nicht erschienen ist, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und über die Folgen des Ausbleibens belehrt worden ist.
15Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
16Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 26.11.2021 ist rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat gegen die Beklagte zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie einen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter.
17Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dieser Anspruch folgt aus § 3 Abs. 4 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
18Insbesondere handelt es sich bei dem Kläger um einen Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Ausländer ein Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslands befindet.
19Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
20Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt dabei einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
21Vgl. BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 – 1 C 37.18 –, juris, Rn. 13; Beschl. v. 15.08.2017 – 1 B 120.17 –, juris, Rn. 8; Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 32.
22Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
23Vgl. BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 – 1 C 37.18 –, juris, Rn. 13; Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 32.
24Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist.
25Vgl. BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 – 1 C 37.18 –, juris, Rn. 13.
26Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen.
27Vgl. OVG NRW, Urt. v. 14.02.2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.
28Vor diesem Hintergrund ist das Gericht auf der Grundlage des Inhalts der Akten sowie dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in dem vorgenannten Sinne droht.
29Der Vortrag des Klägers ist vollumfänglich glaubhaft und kann der Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht nach der Überzeugung des Gerichts uneingeschränkt zugrunde gelegt werden. Der Kläger hat seine Fluchtgründe umfassend, realitätsnah, in sich widerspruchsfrei und insgesamt detailreich vorgetragen. Dabei hat er die erlebten Geschehnisse nicht bloß chronologisch geschildert. Vielmehr enthielt sein Bericht nachvollziehbare, assoziative Sprünge. Auf Nachfragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung konnte er zu jedem Zeitpunkt seine Angaben vertiefen, erläutern und um konkrete Beispiele oder sonstige Details ergänzen. Insoweit ist es im Übrigen auch nachvollziehbar, dass der Kläger auf Befragen zu den Drohungen seiner Familie angesichts deren obszönen Inhalts diese zunächst nur zurückhaltend und unspezifisch schilderte, bevor er nach einer Ermunterung durch das Gericht ausführlicher berichtete und insbesondere mehrere konkrete Beispiele nannte bzw. einzelne Drohungen zitierte. Insoweit steht der Glaubhaftigkeit der Angaben nicht entgegen, dass der Kläger auf die Nachfrage des Gerichts die geschilderten Drohnachrichten nicht vorzeigen konnte. Vielmehr konnte er plausibel darlegen, dass er die Nachrichten nach einer – wenn auch falschen – Auskunft einer Sekretärin im Büro seiner Prozessbevollmächtigten auf den Ratschlag von Personen des rubicon e.V. gelöscht bzw. sich ein neues Handy zugelegt hat, um die mit den Nachrichten einhergehenden psychischen Belastungen hinter sich zu lassen. Außerdem war sein Vortrag sowohl beim Bundesamt (vgl. insb. Bl. 95 d. BA 1) als auch in der mündlichen Verhandlung von einer nachvollziehbaren Emotionalität geprägt. Insgesamt waren die Schilderungen nicht durchweg objektiv, sondern enthielten immer wieder realitätsnahe subjektive Eindrücke des Klägers. So ist es beispielsweise nachvollziehbar und spricht für ein tatsächliches Erlebnis, dass der Kläger nach seiner Ankunft in Deutschland eine erhebliche Angst davor hatte, in einer Sammelunterkunft untergebracht zu werden und dort als Homosexueller aus den von ihm geschilderten Gründen der Gefahr von gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Soweit die Beklagte in ihrem Ablehnungsbescheid sinngemäß bezweifelt, dass der Kläger tatsächlich homosexuell sei, weil er die hierzu gestellten Fragen nur oberflächlich beantwortet habe (vgl. Bl. 201 f. d. BA 1), kann dem nicht gefolgt werden. Die auch in der mündlichen Verhandlung knappen Antworten auf Fragen zur sexuellen Orientierung oder zu bisherigen Beziehungen dürften nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck eher darauf zurückzuführen sein, dass eine Erörterung dieser Thematik für den Kläger auch weiterhin mit einem erheblichen Schamgefühl behaftet ist. Dies ist angesichts seiner Schilderungen zu verschiedenen Diskriminierungen wegen seiner Homosexualität durch öffentliche Stellen in der Türkei sowie vor dem Hintergrund der Intimität der Thematik auch nachvollziehbar. Das Gericht sieht deshalb keinen Anlass, an der Homosexualität des Klägers zu zweifeln. So hat der Kläger demgegenüber anschaulich, realitätsnah und jederzeit nachvollziehbar seine Eindrücke geschildert, die er als Homosexueller nach seiner Ankunft in Deutschland gemacht hat.
30Aus diesem glaubhaften Vortrag und den weiteren Umständen des Verfahrens ist im Falle einer Rückkehr des Klägers in die Türkei auf die vorgenannte beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung zu schließen.
31Der Kläger gehört als Homosexueller einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des §§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Fall 5, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Danach gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass die betreffende Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann dabei auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet.
32Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Insbesondere hat die Gruppe der homosexuellen Personen in der Türkei eine deutlich abgegrenzte Identität, weil sie von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. So kommt es nicht nur regelmäßig zu diskriminierenden Äußerungen, Hassreden oder Maßnahmen von der Seite der türkischen Regierung. Homosexuelle Menschen sind in der Türkei vielmehr auch im gesellschaftlichen Bereich erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt, weil eine andere als eine heterosexuelle Orientierung nicht akzeptiert wird. Entsprechend werden homosexuelle Menschen bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung häufig von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld ausgegrenzt oder belästigt und nicht selten Opfer von Gewalt. Im Bereich des Militärs zählt Homosexualität noch immer als eine „fortgeschrittene psychosexuelle Störung“. All diese Umstände setzen denklogisch voraus, dass homosexuelle Personen in der Türkei als ein Teil einer von der Mehrheitsgesellschaft deutlich abgegrenzten Gruppe wahrgenommen werden.
33Vgl. zum Ganzen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei (Version 6) v. 22.09.2022, S. 77, 173 f., 176; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022) v. 28.07.2022, S. 13 ff.; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der Niederlande, General Country of Origin Information Report Turkey (March 2021) v. 01.03.2021, S. 58; vgl auch VG Köln, Urt. v. 24.11.2021 – 22 K 8825/17.A –, juris, Rn. 38 ff.; Gerichtsbescheid v. 03.11.2020 – 22 K 1012/20.A –, juris, Rn. 28 f.
34Ferner besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt würde.
35Zwar fehlt es an ausreichenden, konkreten Anhaltspunkte für eine Einzelverfolgung des Klägers durch einen aktiv handelnden türkischen Staat. Insbesondere könnte sich der Kläger einer drohenden Einberufung zum Wehrdienst entziehen, indem er erklärt, er sei homosexuell. In diesem Fall würde er wegen einer „fortgeschrittenen psychosexuellen Störung“ als wehrdienstuntauglich angesehen und vom Wehrdienst befreit.
36Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei (Version 6) v. 22.09.2022, S. 76 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022) v. 28.07.2022, S. 13.
37Auch dürften die geschilderten Probleme bei der Suche nach einem Arbeitsplatz nur dann eine taugliche Verfolgungshandlung darstellen können, wenn sie – wofür hier wohl keine ausreichenden Anhaltspunkte bestehen dürften – das Existenzminimum der betroffenen Person durch eine ernsthafte Gefährdung der Grundlagen ihrer menschenwürdigen unmittelbaren physischen Existenz infrage stellen.
38Vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 – 9 C 321.85 –, juris, Rn. 13; Treiber, in: Funke-Kaiser, GK-AsylG, AsylG, § 3a Rn. 80.
39Auch bestehen auf der Grundlage der aktuellen Auskunftslage keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von homosexuellen Personen in der Türkei anzunehmen wäre. Diese werden zwar – wie vorstehend ausgeführt – erheblich sowie auf vielfältige Weise diskriminiert. Diese bestehenden Diskriminierungen erreichen jedoch nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsdichte oder Verfolgungsdichte.
40Vgl. VG Köln, Urt. v. 24.11.2021 – 22 K 8825/17.A –, juris, Rn. 53 ff.; VG Göttingen, Urt. v. 08.11.2022 – 4 A 175/19 –, juris, Rn. 37.
41Vorliegend besteht jedoch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer nichtstaatlichen Verfolgung des Klägers durch seine Familie.
42Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung folgt im Wesentlichen aus den erheblichen Gewalt- und Todesdrohungen, die die Familie des Klägers diesem gegenüber geäußert hat. Dem Kläger wurde nicht nur erhebliche physische und psychische Gewalt, sondern in mehreren Zusammenhängen und von verschiedenen Personen auch seine Tötung angedroht. Es ist angesichts der vorstehend erläuterten Lage für homosexuelle Personen in der Türkei sowie angesichts der durch den Kläger geschilderten konservativen Einstellung seiner Familie auch beachtlich wahrscheinlich, dass die Familie versuchen würde, diese Drohungen in Taten umzusetzen. Dies gilt insbesondere für den sich derzeit (noch) wegen erheblicher Gewaltdelikte in Haft befindenden Cousin des Klägers, der diesem bereits plausibel in Aussicht gestellt hat, notfalls für die Tötung des Klägers auch eine erneute Inhaftierung in Kauf nehmen zu wollen.
43Die Familie des Klägers stellt auch einen tauglichen Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG dar. Danach kann die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat bzw. die Organisation, die zumindest einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Familie des Klägers erfüllt, weil der türkische Staat nach der aktuellen Auskunftslage erwiesenermaßen nicht willens ist, homosexuellen Personen einen wirksamen Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. Es bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat geeignete Schritte einleiten würde, um eine Verfolgung des Klägers durch seine Familie zu verhindern oder auch nur wesentlich zu erschweren.
44In der Türkei besteht nur ein begrenzter Schutz für Personen, die einer sexuellen Minderheit angehören und deshalb bedroht oder die deshalb Opfer von Gewalttaten werden. Die türkische Regierung und die türkischen Medien behaupten immer wieder, dass die Orientierung und die Aktivitäten der sexuellen Minderheiten mit der öffentlichen Moral und den spirituellen Werten der türkischen Gesellschaft unvereinbar seien und dass sie Familienwerte bedrohten. In diesem Zusammenhang beruft sich die türkische Regierung auch auf die öffentliche Ordnung und behauptet, sie könne die Sicherheit von LGBT-Gruppen nicht garantieren. Es kommt regelmäßig vor, dass die türkische Polizei Fälle von Gewalt gegen LGBT-Personen nicht oder nicht in effektiver Weise verfolgt oder eine Rechtfertigung zugunsten der Täter annimmt, weil entsprechende Taten als „entschuldbar“ angesehen werden und die Opfer sie gewissermaßen „verdient“ hätten. Eine Straflosigkeit für Täter bei solchen Hasstaten – auch im Falle von Tötungen – ist weit verbreitet. Außerdem haben Beschuldigte im Falle von Gewalttaten gegen Angehörige von sexuellen Minderheiten eine geringere Strafe zu erwarten, weil seitens der Gerichte routinemäßig eine Regelung angewendet wird, wonach eine Strafmilderung möglich ist, wenn der Täter zur Tat „ungerechtfertigt provoziert“ worden ist. Entsprechende Entscheidungen werden auch von höheren Instanzen unter Verweis auf die „sittenwidrige Natur“ der Opfer bestätigt. All dies führt dazu, dass die Opfer regelmäßig nicht zur Polizei gehen und wenn sie es tun, dass ihr Fall nicht sachgerecht behandelt und sie nicht effektiv geschützt werden.
45Vgl. zum Ganzen Immigration and Refugee Board of Canada, Türkiye: Treatment of persons with diverse sexual orientation, gender identity and expression, and sex characteristics (SOGIESC) by society and state authorities, including state protection (2020-November 2022) v. 23.11.2022, S. 5, 8 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei (Version 6) v. 22.09.2022, S. 173 f., 176; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der Niederlande, General Country of Origin Information Report Turkey (March 2021) v. 01.03.2021, S. 60 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022) v. 28.07.2022, S. 15; vgl. auch VG Köln, Urt. v. 24.11.2021 – 22 K 8825/17.A –, juris, Rn. 61; VG Göttingen, Urt. v. 08.11.2022 – 4 A 175/19 –, juris, Rn. 54.
46Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht nach § 3e Abs. 1 AsylG ausgeschlossen. Danach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil es keinen Landesteil der Türkei gibt, in dem der Kläger keine Verfolgung begründet zu befürchten hätte. Es besteht vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger nach einer etwaigen Rückkehr in die Türkei unabhängig von seinem konkreten Aufenthaltsort in absehbarer Zeit – jedenfalls nach seinem erforderlichen Kontakt zum türkischen Militär wegen des Wehrdienstes – ausfindig gemacht würde. So hat er glaubhaft geschildert, dass seine Familie insbesondere in mehreren Großstädten (Istanbul und Ankara), in denen es immerhin in Teilbereichen möglich sein soll, Homosexualität zu zeigen,
47vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei (Version 6) v. 22.09.2022, S. 176; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022) v. 28.07.2022, S. 14 f.,
48gut vernetzt ist. Außerdem arbeiten verschiedene Familienangehörige des Klägers bei staatlichen Stellen – etwa bei der Polizei, beim Militär oder beim Finanzamt – und könnten die dort vorhandenen Ressourcen bzw. jedenfalls die über diese Stellen erhältlichen Informationen nutzen, um den Kläger aufzuspüren. Dass in der Türkei Familienangehörige über Bekannte bei den jeweiligen Behörden an eigentlich geheime bzw. geschützte Daten zu Personen erlangen, deren Aufenthaltsort sie zum Zwecke der Verfolgung herausfinden möchten, ist im Übrigen keine Seltenheit.
49Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Zugriff auf Daten zum Aufenthaltsort bei drohendem Verbrechen im Namen der „Ehre“ v. 23.11.2021, S. 5 ff.
50Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger schließlich nicht zumutbar, in die Türkei zurückzukehren.
51Ein Ausnahmefall nach § 3 Abs. 4 Hs. 2 AsylG liegt nicht vor. Weder erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG noch hat das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen.
52Auf der Rechtsfolgenseite besteht ein gebundener Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft („wird […] zuerkannt“).
53Der Kläger hat gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter. Dieser Anspruch folgt aus Art. 16a Abs. 1 GG. Danach genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass es sich – wie vorstehend erörtert – nicht um eine aktive staatliche Verfolgung handelt, sondern dass die Verfolgungshandlungen von dritten Personen – der Familie des Klägers – ausgehen. Der türkische Staat muss sich diese Verfolgungshandlungen zurechnen lassen, weil er dem Kläger nach den vorstehenden Ausführungen den erforderlichen Schutz versagen würde.
54Vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980 – 1 BvR 147/80 –, juris, Rn. 48; BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 – 9 C 15.95 –, juris, Rn. 16.
55Auch ist der Anspruch des Klägers nicht nach Art. 16a Abs. 2 GG ausgeschlossen, weil er nicht aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen sicheren Drittstaat, sondern mit dem Flugzeug aus der Türkei direkt nach Deutschland eingereist ist.
56Über die gestellten Hilfsanträge ist angesichts des Erfolgs des Hauptantrags nicht zu entscheiden. Die weiteren negativen Entscheidungen aus dem Bescheid vom 26.11.2021 wie die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5) und die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 6) sind zudem aufzuheben.
57Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 83b AsylG.
58Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
59Rechtsmittelbelehrung
60Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
611. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
66Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
67Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
68Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.