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Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. |
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Gründe
21. Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 6 K 4799/22 gegen die Ziffer 1 der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 01.08.2022 (Entziehung der Fahrererlaubnis) anzuordnen,
4hat keinen Erfolg.
5Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Bezug auf die Entziehung der Fahrerlaubnis ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 VwGO statthaft, weil die Anfechtungsklage des Antragstellers gegen die Entziehungsverfügung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 4 Abs. 9 StVG keine aufschiebende Wirkung entfaltet.
6Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Aufschub der Vollziehung das öffentliche Interesse an der nach § 4 Abs. 9 StVG gesetzlich vorgeschriebenen sofortigen Vollziehung des Bescheides überwiegt. Diese Interessenabwägung richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Ein überwiegendes Aussetzungsinteresse des Antragstellers kommt dabei regelmäßig nur dann in Betracht, wenn sich der Bescheid bei der im Eilrechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig darstellt und die sofortige Vollziehung damit nicht im öffentlichen Interesse geboten sein kann.
7Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Vielmehr überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers, weil sich die angefochtene Ordnungsverfügung des Antragsgegners bei summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt ihres Erlasses als offensichtlich rechtmäßig erweist. Die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage wird daher voraussichtlich erfolglos bleiben.
8Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist vorliegend § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG.
9Zu Erfolgsaussichten führende Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung vom 01.08.2022 bestehen nicht, insbesondere ist der Antragsteller vor Erlass der Verfügung ordnungsgemäß, angehört worden (§ 28 Abs. 1 VwVfG NRW). Auf das Anhörungsschreiben vom 25.05.2022 hat der Antragsteller ausführlich Stellung genommen.
10Auch die materiellen Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG liegen nach summarischer Prüfung vor.
11Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG hat die zuständige Behörde gegenüber den Inhabern einer Fahrerlaubnis folgende Maßnahmen stufenweise zu ergreifen, sobald sich in der Summe der folgende Punktestände ergeben: Ergeben sich vier oder fünf Punkte ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Ergeben sich sechs oder sieben Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen dieses Punktestandes schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG), wobei gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG in der Verwarnung unter anderem darüber zu unterrichten ist, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird. Ergeben sich acht oder mehr Punkte, gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG). Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Behörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird.
12Nach diesem kombinierten Tattag- und Rechtskraftprinzip hat der Antragsteller im Zeitpunkt der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit – am 20.01.2022 – acht Punkte erreicht. Diese maßgebliche Punktzahl ergibt sich aus den folgenden auch in der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung im Einzelnen aufgeführten vom Antragsteller innerhalb des Zeitraums vom 12.06.2016 bis zum 20.01.2022 begangenen Verkehrszuwiderhandlungen:
13Tattag |
Sachverhalt |
Rechtskraft |
Tilgungsdatum |
Punkte |
12.06.2016 |
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h |
13.02.2017 |
13.02.2022 |
2 |
09.11.2019 |
Benutzung eines elektronischen Geräts als Führer eines Kraftfahrzeugs |
30.01.2020 |
30.07.2022 |
1 |
21.08.2020 |
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 29 km/h |
07.11.2020 |
07.05.2023 |
1 |
20.12.2020 |
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 51 km/h |
29.01.2022 |
29.01.2027 |
2 |
10.01.2022 |
Benutzung eines elektronischen Geräts als Führer eines Kraftfahrzeugs |
23.04.2022 |
23.10.2024 |
1 |
20.01.2022 |
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 29 km/h |
20.04.2022 |
20.10.2024 |
1 |
Diese sind auch im Sinne des § 4 Abs. 5 StVG rechtskräftig geahndet worden. Eine weitere Überprüfung durch die Fahrerlaubnisbehörde findet dabei nicht statt, vielmehr ist diese an entsprechende Bußgeldbescheide gebunden (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG).
15Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 18.01.2006 – 16 B 2137/05 –, juris, Rn. 2.
16Der Antragsgegner hat auch das in § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG geregelte Stufensystem eingehalten, das im Hinblick auf seine Rechtfolgen in § 4 Abs. 6 StVG näher präzisiert wird.
17Gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nr. 2 (Verwarnung) oder Nr. 3 (Entziehung der Fahrerlaubnis) nur ergreifen, wenn die Maßnahme der davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nr. 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG verringert sich der Punktestand im Falle des Satzes 2 mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte (Nr. 1) und der Verwarnung auf sieben Punkte (Nr. 2), wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist.
18Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller vor der Entziehung der Fahrerlaubnis mit Schreiben vom 07.05.2015 beim Stand von vier Punkten zu Recht ermahnt worden ist. Zwar finden sich die entsprechende Ermahnung und Zustellungsurkunde nicht in dem vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsvorgang. Die Ermahnung selbst wird indes vom Antragsteller nicht angezweifelt und deckt sich mit den entsprechenden Eintragungen im Fahreignungsregister (vgl. Bl. 5 d. BA).
19Es ist im Ergebnis auch davon auszugehen, dass der Antragsteller ordnungsgemäß verwarnt worden ist.
20Keinen durchgreifenden Bedenken begegnet der Umstand, dass der Antragsteller auf Grundlage der Taten vom 21.11.2016 und vom 09.11.2019 bereits zu ermahnen gewesen wäre, weil nach einer zwischenzeitlichen Punktereduktion sein Punktestand erneut auf sechs Punkte anstieg. Eine Verwarnung unterblieb jedoch, obschon die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG aufgeführten Maßnahmen erneut zu ergreifen sind, wenn sich die dort genannten Punktestände zum wiederholten Mal ergeben haben.
21Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 08.04.2014 – 16 B 207/14 –, juris, Rn. 5.
22Auf die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung wirkt sich dies indes nicht aus. Ein Fahrerlaubnisinhaber ist im Falle der unterlassenen Verwarnung hinreichend durch § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG geschützt, der verhindert, dass eine Entziehung ohne vorhergehende Verwarnung erfolgt. Jedenfalls dann, wenn – wie hier – zwischen Verwarnung und Fahrerlaubnisentziehung die Punktegrenze für die Verwarnung nicht durch erneute Reduktion unterschritten wird, kommt einer zuvor unterlassenen Verwarnung keine Bedeutung zu.
23Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Antragsgegner den Antragsteller in Bezug auf die hier streitgegenständliche Maßnahme der Entziehung der Fahrerlaubnis mit Ordnungsverfügung vom 01.08.2022 rechtmäßig, auf Grundlage des sodann zutreffenden Punktestandes mit Schreiben vom 15.03.2022 in Übereinstimmung mit den entsprechenden Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes verwarnt hat, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG. Zwar ist dem Antragsteller die Verwarnung zunächst nicht zugegangen. Jedoch ist der Zustellungsmangel durch die Kenntniserlangung durch den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Rahmen der Akteneinsicht geheilt worden. Im Einzelnen:
24Bei der Verwarnung handelt es sich mangels Regelungswirkung nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG NRW; vielmehr wird dem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber nur sein tatsächlicher Punktestand im System mitgeteilt. Das Gesetz sieht ferner keine förmliche Zustellung vor, jedoch muss die Verwarnung dem jeweiligen Adressaten zugehen.
25Vgl. BayVGH, Beschluss vom 10.07.2019 – 11 CS 19.1018 –, juris, Rn. 11.
26Zugegangen ist ein Schriftstück, wenn es derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen.
27Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 26.07.2019 – 15 CS 19.1050 –, juris, Rn. 23 m. w. N.; VG Münster, Beschluss vom 10.07.2020 – 10 L 341/20 –, juris, Rn. 13 m. w. N.
28Zwar weist die Zustellungsurkunde aus, dass die Verwarnung vom 15.03.2022 durch den Zusteller am 17.03.2022 unter der Adresse S. -C. -Straße 00, 00000 C1. , zugestellt worden ist. Die als öffentliche Urkunde zu qualifizierende Zustellungsurkunde begründet auch nach § 98 VwGO i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen. Die Beweiskraft erstreckt sich daher auch darauf, dass der Postzusteller die Sendung in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum des Zustellungsempfängers gehörenden Briefkasten eingeworfen hat, nachdem er unter der angegebenen Anschrift weder den Adressaten noch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betracht kommende Person angetroffen hat. Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO erstreckt sich bei der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten jedoch nicht darauf, dass der Zustellungsempfänger tatsächlich unter der fraglichen Adresse wohnt.
29Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 03.06.1991 – 2 BvR 511/89 –, juris, Rn. 11, 14; BFH, Beschluss vom 06.12.2011 – Xl B 44/11 – , juris, Rn. 15; OVG NRW, Beschluss vom 12.08.2015 – 8 A 847/12 – , juris, Rn. 4 f. m. w. N.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.06.2018 – 3 M 227/18 –, juris, Rn. 4.
30Der durch die Zustellungsurkunde erbrachte Beweis, dass das Schreiben vom 15.03.2022 durch den Postzusteller am 17.03.2022 in den Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung an der Anschrift S. -C. -Straße 00, 00000 C1. eingelegt wurde, wird durch ein schlichtes Bestreiten des Erhalts nicht erschüttert. Die Urkunde stellt zudem regelmäßig ein beweiskräftiges Indiz für das Vorhandensein einer Wohnung unter der Zustelladresse dar, das nur durch objektive Umstände oder durch eine plausible und schlüssige Gegendarstellung des Zustellungsempfängers entkräftet werden kann. Von einem Zustellungsempfänger, der sich darauf beruft, an dem Zustellungsort nicht gewohnt zu haben, kann erwartet werden, dass er klare, vollständige und widerspruchsfreie Angaben über seine tatsächlichen Wohnverhältnisse macht.
31Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 03.06.1991 – 2 BvR 511/89 –, juris, Rn. 12 ff., 17 f.; OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2012 – 16 E 1300/11 –, juris, Rn. 4 m. w. N.
32Hier kann dahin stehen, ob die Beweiskraft der Urkunde nach § 418 ZPO auf Grundlage der im Eilverfahren vorgelegten Nachweise erschüttert ist.
33Jedenfalls ist der Antragsteller der indiziellen Bedeutung der Postzustellungsurkunde entgegengetreten, dass er im maßgeblichen Zeitpunkt des Zustellungsdatums eine Wohnung unter der Zustellungsadresse unterhielt. Die Kammer geht nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung davon aus, dass der Antragsteller jedenfalls im Zeitpunkt der Zustellung am 17.03.2022 nicht mehr unter der Zustellanschrift wohnte. Hierfür spricht die vorgelegte Meldebescheinigung der Stadt Wesseling vom 23.03.2022, wonach der Antragsteller seinen alleinigen Wohnsitz („Wohnstatus: Einzige Wohnung“) am 16.03.2022 in der T.----------straße 0 in X. begründete. Diese Angabe deckt sich mit der bereits im Verwaltungsverfahren eingeholten Auskunft aus dem Behördeninformationssystem (Bl. 71 d. BA) und der vom Antragsteller im Verwaltungsverfahren vorgelegten erweiterten Meldebescheinigung der Stadt X. vom 08.07.2022 (Bl. 82 f. d. BA). Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller entgegen dieser amtlichen Auskünfte im Zeitpunkt der Zustellung gleichwohl noch unter der Zustelladresse wohnte, liegen nicht vor. Sie ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Antragsteller die Ummeldung selbst erst am 23.03.2022 vorgenommen hat und das erfasste Umzugsdatum auf seinen Angaben gegenüber der Meldebehörde beruht. Vielmehr hat der Antragsteller plausibel dargelegt und glaubhaft gemacht, bis zum 15.03.2022 vorübergehend bei seinen Eltern gewohnt zu haben, nachdem sein zum Jahresanfang 2022 vorgesehener Umzug in ein Eigenheim nicht planmäßig habe erfolgen können. Dass die hier in Rede stehende Zustellung genau zwischen Begründung eines neuen Erstwohnsitzes und Mitteilung gegenüber der Meldebehörde liegt, begründet für sich genommen keine Zweifel am Wegfall des bisherigen Wohnsitzes, da der tatsächliche Vorgang des Beziehens einer neuen Wohnung und der Meldevorgang regelmäßig nicht zusammenfallen (vgl. § 17 Abs. 1 BMG). Dass der Antragsteller sein zwischenzeitliches Unterkommen bei seinen Eltern melderechtlich nicht mitgeteilt hat, kann sich auf die Zustellung der Verwarnung schon deswegen nicht auswirken, weil er jedenfalls seiner Meldepflicht bezogen auf seinen Wohnsitz im Zeitpunkt der Zustellung am 17.03.2022 innerhalb des von § 17 Abs. 1 BMG gesetzten Zeitrahmens nachgekommen ist.
34Allerdings ist durch die Aktensicht des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers eine Heilung der fehlerhaften Zustellung der Verwarnung eingetreten.
35Die Heilungsvorschrift des § 8 LZG NRW findet Anwendung gemäß § 1 Abs. 2 Fall 2 LZG NRW, weil eine behördliche Anordnung – wie hier (vgl. Bl. 51 d. BA) – die Zustellung per Postzustellungsurkunde bestimmt.
36Die Heilung nach § 8 LZG NRW setzt voraus, dass die Behörde den Willen hatte, eine Zustellung vorzunehmen. Ferner muss das Dokument dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen sein und der Zeitpunkt des Zugangs muss beweiskräftig feststehen.
37Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.07.2011 – 13 B 696/11 –, juris, Rn. 48 m. w. N.
38So liegen die Dinge hier.
39Entgegen teilweise vertretener Auffassung,
40vgl. hierzu Danker, in: Danker, Verwaltungszustellungsgesetz, 1. Aufl. 2012, § 8 VwZG, Rn. 7 m. w. N.; Dörndorfer, in BeckOK ZPO, 46. Edition, Stand 01.09.2022, § 189 ZPO, Rn. 4, wobei die Heilungsvorschrift des § 8 LZG NRW inhaltlich übereinstimmend mit § 189 ZPO n. F (§ 187 ZPO a. F.) ist, vgl. BT-Drs. 15/5216, S. 14 zur inhaltsgleichen Vorschrift des § 8 VwZG,
41ist eine Heilung der fehlerhaften Zustellung der Verwarnung durch Übersendung einer Akte in Kopie an einen Prozessbevollmächtigen zwecks Akteneinsichtnahme möglich.
42Vgl. etwa zum Fall der Heilung der fehlerhaften Zustellung einer Fahrerlaubnisentziehungsverfügung durch die Kenntniserlangung im Rahmen der Akteneinsicht: OVG NRW, Beschluss vom 28.08.2019 – 16 B 794/19 –, n.v.
43Der erforderliche Zustellungswille lag ausweislich der behördlichen Zustellungsanordnung vor. Ein solcher ist gegeben, wenn die zuständige Behörde das Schriftstück mit Wissen und Wollen und in der Absicht, Rechtsfolgen auszulösen, aus ihrem internen Bereich entäußert. Dies ergibt sich hier bereits daraus, dass die Verwarnung vom 15.03.2022 im Wege der Zustellung förmlich bekannt gegeben werden sollte. Zur Heilung ist dagegen gerade nicht erforderlich, dass auch die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten vom Willen der Behörde erfasst wird. Insoweit kann grundsätzlich auch die Übersendung einer Kopie die Heilung der Zustellung bewirken.
44Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.04.1997 – 8 C 43.95 –, juris, Rn. 29 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 25.11.2020 – 16 B 854/19 –, NJW 2021, 1479, 1480; OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.06.2018 – 3 M 227/18 –, juris, Rn. 6; dieser Auffassung „zuneigend“ auch OLG Hamm, Beschluss vom 08.08.2017 – 3 RBs 106/17 –, juris, Rn. 22.
45Dem Verfahrens- bzw. Prozessbevollmächtigte des Antragstellers ist die Verwarnung vom 15.03.2022 durch die Gewährung von Akteneinsicht auch nachweislich zugegangen. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den gleichlautenden Einlassungen im vorgerichtlichen Schriftsatz vom 16.07.2022 und im Antragsschriftsatz vom 23.08.2022, wonach der Antragsteller erstmalig im Zuge der Akteneinsicht Kenntnis von der schriftlichen Verwarnung vom 15.03.2022 erhielt. Unerheblich ist, dass der genaue Zeitpunkt der Kenntniserlangung nicht bekannt ist, da diese jedenfalls zwischen dem Erhalt der am 28.06.2022 an den Verfahrens- bzw. Prozessbevollmächtigten versandten Verwaltungsakte und dem erwähnten Schriftsatz vom 16.07.2022 stattfand und damit zeitlich vor dem Erlass der streitgegenständlichen Entziehungsverfügung lag.
46Ausreichend ist auch, dass die entsprechende Übersendung der Verwaltungsakte in Kopie an den Verfahrens- bzw. Prozessbevollmächtigten erfolgte. Denn Empfangsberechtigter im Sinne des § 8 LZG NRW ist derjenige, an den die Zustellung nach dem Gesetz zu richten war. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 LZG NRW können Zustellungen an den allgemein oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Bevollmächtigten gerichtet werden. Bestellt sich ein Rechtsanwalt als Verfahrensbevollmächtigter – wie hier mit Schreiben vom 03.06.2022 (Bl. 76 d. BA) – bei einer Behörde, umfasst die Vertretungsmacht grundsätzlich auch die Befugnis, Zustellungen entgegenzunehmen.
47Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.11.2020 – 16 B 854/19 –, NJW 2021, 1479, 1480.
48Die Kammer konnte über die vorliegende Sach- und Rechtsfrage im Rahmen des Verfahrens der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auch entscheiden, ohne den Antragsteller vorher darauf hinzuweisen, dass sie von der mitgeteilten vorläufigen Rechtseinschätzung der Berichterstatterin zu Frage der Heilungsmöglichkeit von Zustellungsmängeln durch Akteneinsicht abrückt. Zu dieser Frage ist in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt worden. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt und den Rechtsauffassungen vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Beide Verfahrensbeteiligten konnten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt erkennen, auf welchen Vortrag und welche maßgeblichen Rechtsfragen es für die Entscheidung ankommen kann. Soweit sich der Antragsgegner erstmals im Schriftsatz vom 21.10.2022 mit der streitigen Rechtsfrage zur Möglichkeit der Heilung eines Zustellungsmangels durch Akteneinsicht unter Anfügung konkreter Rechtsprechungsnachweise auseinandergesetzt hat, konnte der Antragsteller die Entscheidungsrelevanz dieser Frage erkennen und musste damit rechnen, dass das Gericht auch in diesem Punkt seine vorläufige Rechtsauffassung kritisch prüft. Insbesondere durfte der Antragsteller nicht mehr davon ausgehen, dass diese bislang nur angerissene, aber in keiner Weise vertiefte Rechtsfrage bereits in seinem Sinne vorab beantwortet worden wäre. Dass sich der Antragsteller daher in seinem letzten Schriftsatz vom 21.10.2022 zu dieser Frage nicht verhalten hat, ist nicht auf eine mangelnde Gelegenheit, sich zu allen entscheidungserheblichen Fragen zu äußern, zurückzuführen.
49Bedenken gegen die inhaltliche Richtigkeit der Verwarnung bestehen nicht. Nach dem kombinierten Tattag- und Rechtskraftprinzip hatte der Antragsteller im Zeitpunkt der letzten zur Verwarnung führenden Ordnungswidrigkeit am 20.12.2020 sieben Punkte erreicht. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 und 6 StVG i. V. m. § 29 Abs. 6 StVG ist auch unerheblich, dass im Zeitpunkt der Verwarnung hinsichtlich der Taten vom 12.06.2016 und einer Tat vom 08.02.2019 am 13.02.2022 bzw. am 13.09.2021 (Bl. 53 d. BA) Tilgungsreife eingetreten war. Denn nach § 4 Abs. 5 Satz 5, 7 StVG hat der Antragsgegner für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Spätere Verringerungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt. Danach war maßgeblicher Betrachtungspunkt für die Verwarnung hier der 20.12.2020 als letzter Tattag. Zu diesem Zeitpunkt war gerade noch keine Tilgungsreife eingetreten. Auch die einjährige Überliegefrist gemäß § 29 StVG war in diesem maßgeblichen Betrachtungszeitpunkt nicht überschritten. Bei der Verwarnung hat der Antragsgegner zudem – nach den vorstehenden Grundsätzen zu Recht – eine mit einem Punkt bewährte Tat vom 08.02.2019 mit Tilgungsdatum vom 13.09.2021 berücksichtigt. Der Tat lag zugrunde, dass der Antragsteller als Führer eines Kraftfahrzeugs ein elektronisches Gerät, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist, in vorschriftswidriger Weise genutzt hatte. Die entsprechende Tat wurde indessen für die spätere Entziehung der Ordnungsverfügung nicht herangezogen.
50Auch die übrigen Voraussetzungen für die Fahrerlaubnisentziehung lagen vor. Insoweit ist es unschädlich, dass die die streitgegenständliche Maßnahme auslösenden Taten vom 10.01.2022 und 20.01.2022 datieren und damit vor der entsprechenden Verwarnung erfolgt sind.
51Zwar konnte die Fahrerlaubnis nach dem alten Mehrfachtäter-Punktesystem nur entzogen werden, wenn deren Inhaber nach seiner Verwarnung eine weitere zur Überschreitung der Schwelle von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG a.F. führende Zuwiderhandlung begangen hatte. Weitere vor der Verwarnung begangene, der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt der Verwarnung aber noch nicht bekannte Zuwiderhandlungen konnten auf der Grundlage des Mehrfachtäter-Punktsystems nicht unmittelbar zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen (§ 4 Abs. 5 Satz 2 StVG a.F.).
52Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.2017 – 3 C 21.15 –, juris, Rn. 23.
53Hiervon hat sich der Gesetzgeber für das Fahreignungs-Bewertungssystem bewusst abgesetzt. Bei Fahrerlaubnisinhabern, die sich durch eine Anhäufung von innerhalb kurzer Zeit begangenen Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen haben, sollen die Verkehrssicherheit und das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, Vorrang vor dem Erziehungsgedanken haben. Nach dem nunmehrigen Fahreignungs-Bewertungssystem soll es nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Das neue System kennt keine verpflichtende Seminarteilnahme. Die Erziehungswirkung liege – so der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Begründung der vorgeschlagenen und im Gesetzgebungsverfahren angenommenen Änderungen des Regierungsentwurfs – dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde. Dies bedeute aber nicht, dass jede einzelne Maßnahme dem Fahrerlaubnisinhaber individuell ansprechen können muss in dem Sinne, dass nur sie die Verhaltensänderung bewirken kann. Vielmehr dienten die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen. Die Maßnahmen stellten somit lediglich eine Information über den Stand im System dar. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden sei, sei vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusse das Entstehen von Punkten nicht.
54Vgl. hierzu die ausdrückliche Klarstellung in BT-Drs. 18/2775, S. 9 f.
55Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde mithin auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Eine andere Betrachtung liefe dem Ziel der Gesetzesänderung zuwider, bei einer Anhäufung von Verkehrsverstößen die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu ermöglichen, wenn der Betroffene nach der Verwarnung die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr durch eine Änderung seines Verkehrsverhaltens verhindern kann.
56Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.2017 – 3 C 21.15 –, juris, Rn. 25.
57Nach den vorstehenden Grundsätzen hat der Antragsgegner die Maßnahme der Entziehung der Fahrerlaubnis hier rechtmäßig ergriffen.
58Aufgrund des zwingend zu berücksichtigenden Punktestandes von acht Punkten, dem Antragsgegner mitgeteilt am 23.05.2022, war dem Antragsteller die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen. Auch insoweit ist im Lichte des § 4 Abs. 5 Satz 5 und 6 StVG i. V. m. § 29 Abs. 6 StVG unerheblich, dass im Zeitpunkt der Entziehung der Fahrerlaubnis am 01.08.2022 hinsichtlich der Taten vom 12.06.2016 und der Tat vom 09.11.2019 am 13.02.2022 bzw. am 30.07.2022 Tilgungsreife eingetreten war. Denn maßgeblicher Betrachtungszeitpunkt war hier der 20.01.2022. Zu diesem Zeitpunkt war hinsichtlich der vorstehenden Taten indessen gerade noch keine Tilgungsreife eingetreten. Auch die einjährige Überliegefrist gemäß § 29 StVG war in diesem maßgeblichen Betrachtungszeitpunkt nicht überschritten.
59Ein Ermessen ist dem Antragsgegner hinsichtlich der Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 5 Nr. 3 StVG nicht eingeräumt.
60Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
612. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei berücksichtigt das Gericht in Orientierung an die Ziffern 46 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Entziehung der Fahrerlaubnis die Hälfte des für das Hauptsacheverfahren maßgeblichen Betrages von 5.000,00 Euro (Auffangstreitwert).
62Rechtsmittelbelehrung
63Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
64Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
65Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
66Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
67Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
68Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
69Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
70Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
71Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.