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Homosexuelle Personen in Kenia bilden eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
Der kenianische Staat ist nicht willens, homosexuellen Personen wirksamen Schutz vor Verfolgung i.S.d. § 3d AsylG zu bieten. Die Familie des Asylbewerbers ist daher nach § 3c Nr. 3 AsylG ein Akteur, von dem flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung ausgehen kann.
Dem Asylbewerber steht landesweit keine interner Schutz nach § 3e AsylG zur Verfügung. Es kann nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Nairobi oder anderen Landesteilen Kenias niederlässt, weil ihm dort wegen seiner Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gesellschaftliche Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt drohen, die kumuliert eine Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG begründen.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2019 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
2Der am 00.00.1987 in L. /Kenia geborene Kläger ist kenianischer Staatsangehöriger vom Volk der Luo. Er reiste am 28.06.2017 mit einem deutschen Schengen-Visum auf dem Luftweg von Kenia nach München in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 27.11.2018 stellte er, vertreten durch HAMIAM e.V., beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag. Zugleich legte der Kläger u.a. eine Stellungnahme seiner Schwester M. B. P. vom 17.11.2017 und seines Freundes N. N1. P1. vom 17.12.2017 vor.
3Am 31.05.2019 wurde der Kläger persönlich angehört. Zu seinen Asylgründen führte er im Wesentlichen aus: Er sei im Dorf L1. aufgewachsen. Sein Vater habe zwei Frauen. Mit der zweiten Frau lebe er in O. . Seine Mutter lebe im Dorf. Des Weiteren habe er einen älteren Bruder, vier Schwestern, einen Stiefbruder und Onkel und Tanten.
4Schon als Kind habe er gemerkt, dass er homosexuell sei. Nach der High School sei er zu seiner Schwester nach F. gezogen. Diese sei Polizistin. Über Facebook habe er andere homosexuelle Männer kennengelernt. 2009 habe er seine erste Beziehung gehabt. Im September 2009 habe der Exfreund seines damaligen Partners seine Schwester kontaktiert, die dadurch von seiner Homosexualität erfahren habe. Seine Schwester habe seine Eltern informiert und ihn rausgeworfen. Zurück im Dorf habe sein Vater ihn verprügelt. Seine Mutter und sein älterer Bruder hätten mitgemacht. Das ganze Dorf sei darauf aufmerksam geworden. Nach der Prügelattacke sei er für drei Tage zuhause eingeschlossen worden. Am dritten Abend habe sein Vater seinem jüngeren Bruder vorgeworfen, dass er ihm beigebracht habe, schwul zu sein. Dadurch habe er erfahren, dass sein Onkel auch schwul sei. Am vierten Tag sei er gefesselt und zu einem traditionellen Heiler nach C. gebracht worden. Der Heiler habe ihn mit einem Messer geschnitten und Kräuter benutzt, um ihn von seiner Homosexualität zu heilen. Sein Vater habe ihn ebenfalls geschlagen und mit einem Messer in den Bauch gestochen. Vermutlich habe er sich durch die Instrumente des Heilers mit HIV infiziert. Von September bis Januar habe er zuhause eine schwere Zeit erlebt. Man habe ihn als Fluch bezeichnet. Er sei depressiv gewesen und habe an Suizid gedacht. Mitte Januar 2010 sei er mit der Hilfe eines Freundes nach L2. L3. gegangen. In dieser Zeit sei seine HIV-Infektion diagnostiziert worden und er habe einen Suizidversuch unternommen. Bis etwa Juni 2010 sei er bei dem Freund in L3. geblieben. Über diesen habe er den Freund aus Dänemark (N. N1. P1. ) kennen gelernt. Er habe verschiedene Aushilfsjobs gemacht. Er habe auch Sex für Geld angeboten. Es sei nicht einfach gewesen. Während dieser Zeit sei er im Internet auf seine Schwester gestoßen. Sie habe ihn gefragt, ob sich die Situation verändert habe und ihm Hilfe mit dem College angeboten. Er habe die Chance angenommen und sie angelogen, dass er nicht mehr schwul sei. Er sei zu seiner Schwester gezogen und im September 2010 nach O. , um das College zu besuchen. Dort habe er zuerst bei seinem Bruder gelebt. Er und seine Frau hätten ihn aber schlecht behandelt und es sei zum Streit gekommen. Er sei daher zurück zu seinem Freund nach L3. gezogen. Im Februar 2011 habe das College angefangen. Seine Schwester habe ihm ein Zimmer in E. finanziert. Eines Tages habe sie ihn dort besucht und zusammen mit seinem damaligen Freund, dem Freund aus L3. , angetroffen. Seine Schwester habe Streit angefangen, was die Aufmerksamkeit der Leute erregt habe. Er und sein Freund hätten Angst gehabt, attackiert zu werden, und seien nach L3. gegangen. Seine Schwester habe das College danach nicht mehr weiter bezahlt. Sein Freund aus Dänemark habe ihm geholfen, das College zu bezahlen. Nach dem Abschluss habe er angefangen, zu arbeiten. Seine zweitjüngste Schwester (M. ) habe Kontakt zu ihm aufgenommen. Er habe ihr Geld geschickt, um sie bei der Schule zu unterstützen. Seine Eltern hätten mitbekommen, dass das Geld von ihm gewesen sei. Sie hätten gesagt, dass er in das Dorf kommen und heiraten solle. Er habe wegen der Ereignisse nicht viel Kontakt zu seinem Vater gehabt. Nachdem er den Job im B1. Hospital in O. angefangen habe, habe seine Familie den Druck zu Heiraten erhöht. Ende 2016 habe sein Vater angefangen, eine Frau für ihn zu suchen. Er habe ihm gesagt, dass er das nicht wolle. Entweder nähmen sie ihn so, wie er sei, oder sie müssten aufhören, miteinander zu kommunizieren. Sein Vater habe gedacht, dass er nur frech sein wolle. Er habe eine Frau für ihn ausgesucht. Im März 2017 habe er die Frau und ihr Kind bei sich aufgenommen. Er habe ihr aber erklärt, dass er schwul sei, sie unterstützen, aber nicht heiraten werde. Wenn sie einen Mann fände, den sie heiraten wolle, könne sie gehen und das Kind bei ihm lassen. Er habe eine enge Bindung zu dem Kind aufgebaut. In der Geburtsurkunde habe er sich als Vater eintragen lassen. Die Frau habe aber seinem Vater von der Abmachung erzählt. Dieser habe daraufhin wieder angefangen, ihm zu drohen. Er habe gesagt, dass er kein schwules Kind haben werde und ihm schon eine Chance gegeben habe, sich zu verändern. Irgendwann hätten sein Vater und sein Bruder geplant, ihn auf der Arbeit zu attackieren. Seine zweitjüngste Schwester habe von den Plänen erfahren und ihn gewarnt. Sie habe ihm per SMS geschrieben, dass sein Vater, sein Bruder und seine Mutter etwas planten und dass seine ältere Schwester geholfen habe, ihn zu orten. Seine Schwester habe aber keine Details gewusst und ihm geschrieben, dass er sehr achtsam sein solle. Nach dem, was ihm bereits passiert sei, habe er seinem Vater geglaubt, dass er es erledigen wolle. Sein Vater habe auch das Bild der Familie im Dorf wahren wollen. Das Dorf sei sehr katholisch und in der katholischen Kirche werde das nicht akzeptiert. Sein Onkel sei damals auch gezwungen worden, zu heiraten. Er habe dann die Idee mit dem Asyl gehabt und ein Visum beantragt, das aber zunächst abgelehnt worden sei. Das Kind habe er zu seiner Schwester gebracht. Die Frau habe damals einen anderen Mann gefunden, mit dem sie habe zusammen sein wollen.
5Ende April 2017 sei der Vorfall passiert. Er habe im Krankenhaus mit seinem Exfreund zusammen an der Rezeption gearbeitet. Von dort habe man eine gute Sicht auf den Eingang, auch wegen Notfällen. Er habe einen Patienten gehabt und nicht hingeschaut. Sein Exfreund, der die ganze Geschichte gekannt habe, habe seinen Vater, seinen Bruder und drei andere Männer gesehen, die Macheten bei sich gehabt hätten. Sein Exfreund habe ihn gewarnt, dass etwas nicht stimme. Die Security habe versucht, die Gruppe aufzuhalten wegen der Macheten. Die einzige Option für ihn sei gewesen, in Richtung Leichenhalle zu gehen. Die anderen Wege seien einsehbar gewesen. Er habe sich dann 15 Minuten lang im Leichenhaus versteckt. Er habe wenig mitbekommen, aber später sei ihm erzählt worden, was passiert sei. Die Gruppe habe Streit angefangen und allen erzählt, dass er schwul sei und seine Familie ihn suche. Die Security habe seine Familie schließlich weggeschickt. Er habe sich geschämt, weil jetzt alle Bescheid gewusst hätten. Er habe seinen Schlüssel und sein Handy genommen und sei noch in Arbeitskleidung weggegangen. Er habe seinen Freund aus Uganda angerufen und sei dorthin gegangen. Nach Hause zu gehen sei zu riskant gewesen. Die Gruppe sei auch zu seinem Haus nach M1. gegangen. Seine ältere Schwester sei Polizistin und habe ihn mit dem Handy geortet. Er habe nicht mehr nach Hause gekonnt und daher auch seine Medikamente nicht mehr nehmen können. Er habe sich auch eine andere SIM-Karte geholt, um nicht geortet zu werden. Wenn man eine neue SIM-Karte kaufe, werde diese registriert. Es dauere aber, bis man die Nummer orten könne. Die Polizei brauche erst eine Erlaubnis vom Telefonanbieter. Die nächsten Wochen sei er in L4. bei seinem Freund aus Uganda untergekommen. Zwischendurch habe er auch bei seinem Exfreund in L3. gewohnt. Er habe die Organisation in Deutschland kontaktiert und um ein Einladungsschreiben gebeten, weil sein Leben in Kenia in Gefahr gewesen sei. Er habe nicht zur Polizei gehen können. Seine Schwester sei Polizistin und hätte es erfahren. Außerdem sei Homosexualität in Kenia strafbar. Wenn er erzählt hätte, weswegen er bedroht worden sei, wäre das wie eine Selbstanzeige. In andere Städte habe er nicht gehen können, weil er viele Verwandte habe und nicht wisse, auf wen er dort stoßen würde. Er habe dann seinen Freund in Dänemark informiert und die Schwulenorganisation N2. , bei der er Mitglied gewesen sei. Mithilfe des Einladungsschreibens habe er ein Touristenvisum bekommen. Am 28.06.2017 habe er Kenia verlassen und sei einen Tag später in München angekommen. Zwischenzeitlich habe er sich nur im Transitbereich in Dubai aufgehalten. Die Ausreise habe er durch Ersparnisse und mit dem Geld eines Freundes finanziert. Seine Personaldokumente habe er schon nach dem ersten Vorfall als Vorsichtsmaßnahme seinem Freund in L3. gegeben. Nur seinen Personalausweis habe er immer bei sich gehabt, um z.B. seine SIM-Karte zu registrieren oder Geldtransfers zu tätigen. Kontakt habe er nur noch mit seiner Schwester, einem ehemaligen Arbeitskollegen und einem Freund. Es sei schmerzhaft, dass jemand, mit dem man blutsverwandt sei, jemand anheuern könne, um ihn umzubringen. Er habe auch Zeugenberichte von seiner jüngeren Schwester (Stellungnahme von M. B. P. vom 17.11.2017), des Freundes aus Dänemark (Stellungnahme von N. N1. P1. vom 17.12.2017) und des Freundes aus L3. (Stellungnahme von K. L5. , undatiert). Zudem habe er ein Foto von einer LGBT-Demonstration aus dem Jahr 2013. Er sei auf dem Foto zu sehen. Seine Schwester sei damals, was er nicht gewusst habe, bei den Polizisten gewesen, die die Demonstration begleitet hätten. Sie habe ihn gesehen und seinen Eltern davon erzählt.
6Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Anhörungsprotokolle vom 31.05.2019 und die vom Kläger vorgelegten Dokumente Bezug genommen (Beiakte 1, Bl. 113 ff.).
7Mit Bescheid vom 18.07.2019 – zugestellt am 19.07.2019 – lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) und die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4) und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Kenia an (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass der Kläger auf internen Schutz zu verweisen sei. Es lasse sich nicht feststellen, dass ihm wegen seiner homosexuellen Orientierung in Kenia landesweit eine Verfolgung drohe. Die strafrechtliche Ahndung homosexueller Handlungen werde nur sporadisch angewandt. Auch eine generelle Verfolgung durch die Polizei sei nicht ersichtlich. Homosexualität werde zwar aus kulturellen und religiösen Gründen kritisch betrachtet, dennoch seien Anzeichen für eine gesellschaftliche Trendwende zu sehen. Die Ablehnung durch die Zivilgesellschaft erreiche nicht die erforderliche Verfolgungsdichte. Darüber hinaus gebe es regionale Unterschiede. So seien Homosexuelle in der Hauptstadt O. keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Zudem setze sich die Organisation GALCK (Gay and Lesbian Coalition of Kenya) auch gegenüber staatlichen Stellen für einzelne Betroffene ein. In allen größeren Städten Kenias, zumindest in O. und Mombasa, gebe es Homosexuellenszenen. Aus dem Vorbringen des Klägers sei ferner nicht erkennbar, dass seine Familie willens oder in der Lage sei, ihn landesweit zu verfolgen. Dem Kläger sei es möglich und zumutbar, sich z.B. in Mombasa niederzulassen.
8Der Kläger hat am 25.07.2019 Klage erhoben.
9Zur Begründung macht er geltend, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ihm drohe in Kenia Verfolgung wegen seiner Homosexualität. Auf internen Schutz könne er nicht verwiesen werden. Seine Schwester arbeite für die Polizei und sei bereits in der Vergangenheit in der Lage gewesen, ihn ausfindig zu machen. Dies werde auch in Zukunft möglich sein, sobald er sich ein Mobiltelefon zulege. Außerdem habe er eine große Familie und könne überall auf Verwandte treffen. Zur Sicherung eines Existenzminimums sei er zudem gezwungen, durch Erwerbstätigkeit nach außen zu treten. Des Weiteren sei ihm eine Neuansiedlung allenfalls dort zumutbar, wo er seine Homosexualität offen ausleben könne. Das sei landesweit nicht gegeben. Homosexuelle Männer könnten in Kenia ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich ausleben und seien massiven Diskriminierungen ausgesetzt. 2019 habe das höchste kenianische Gericht die Strafgesetze gegen Homosexualität bestätigt. Ein Umdenken in der kenianischen Gesellschaft sei ebenfalls nicht erkennbar.
10Der Kläger beantragt,
11die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2019 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12hilfsweise ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
13hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
14Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
15die Klage abzuweisen.
16Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
17Am 00.00.2022 heiratete der Kläger in E1. den deutschen Staatsangehörigen I. B2. .
18Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Zu den Einzelheiten seiner Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Zum Sach- und Streitstand wird ergänzend Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Asylakte des Bundesamtes und der Ausländerakte des Klägers.
19Entscheidungsgründe
20Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Möglichkeit der Entscheidung auch bei ihrem Fernbleiben vom Termin hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
21Die zulässige Klage ist begründet.
22Der Bescheid des Bundesamtes vom 18.07.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG (1.) und einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG (2.).
231.
24Dem Kläger ist nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zu-zuerkennen.
25Einem Ausländer ist nach § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
26Dies setzt eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1 und 2 AsylG voraus, die an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG anknüpft und von einem Akteur i.S.v. § 3c AsylG ausgeht. Weiter muss es an einem effektiven Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat fehlen (§§ 3d, 3e AsylG) und es dürfen keine Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG vorliegen.
27Maßgeblich für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes befindet, ist der Prognose-maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23.12 –, juris Rn. 19, 32 m.w.N.; OVG NRW, Urteil vom 05.01.2016 – 11 A 324/14.A –, juris Rn. 16.
29Dabei greift nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugunsten eines vorverfolgt ausgereisten Schutzsuchenden die tatsächliche Vermutung, dass ihm bei einer Rück-kehr in sein Herkunftsland erneut Verfolgung droht. Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen.
30Vgl. zur Vorgängerregelung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 5.09 –, juris Rn. 19 ff.
31Abzustellen ist bei der Gefahrenprognose auf den tatsächlichen Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland. Dies ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 13 m.w.N.
33Nach diesen Maßstäben ist der Kläger Flüchtling i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG. Unter Würdigung seines Vorbringens sowie der allgemeinkundigen und der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach O. eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.
34Dem Kläger kommt dabei die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute, da er von einer Verfolgung unmittelbar bedroht war. Die unmittelbar drohende Verfolgung ist mit bereits erlittener Verfolgung gleichzustellen, wenn sich die Gefährdung schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 – 10 C 24.08 –, juris Rn. 14 m.w.N; OVG NRW, Urteil vom 17.08.2010 – 8 A 4063/06.A –, juris Rn. 41.
36So liegt der Fall hier. Der Kläger ist vor seiner Ausreise von seinem Vater D. P. P2. und seinem Bruder E2. P3. P. bedroht worden und musste jederzeit befürchten, dem Tod oder zumindest massiver Gewalt ausgesetzt zu werden. Dies stellt eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar.
37Als Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Als Verfolgung kann insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG).
38Der Kläger ist durch den versuchten Angriff seines Vaters und seines Bruders in seinen grundlegenden Menschenrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit schwerwiegend bedroht worden. Er hat das für ihn relevante Kerngeschehen glaubhaft geschildert. In der Anhörung beim Bundesamt hat er vorgetragen, dass seine Familie – mit Ausnahme seiner jüngeren Schwester (M. ) – seine Homosexualität ablehne. Bereits im September 2009 sei er deswegen verprügelt, eingesperrt und zu einem Heiler gebracht worden. Auch 2011 habe es Streit mit seiner Schwester (B3. ) gegeben, als diese ihn mit seinem damaligen Freund angetroffen habe. Zwischenzeitlich habe er keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. Ende 2016 habe seine Familie ihn verstärkt zum Heiraten gedrängt. Weil er dies abgelehnt habe, sei der Streit im März 2017 erneut eskaliert. Seine jüngere Schwester (M. ) habe ihn schließlich gewarnt, dass seine Eltern und die beiden älteren Geschwister etwas gegen ihn planten. Tatsächlich seien sein Vater, sein Bruder und andere mit Macheten bewaffnete Männer Ende April 2017 zu seinem Arbeitsplatz im Krankenhaus in O. gekommen. Er habe sich rechtzeitig verstecken können. Die Gruppe habe im Krankenhaus Streit angefangen und allen erzählt, dass er schwul sei und von seiner Familie gesucht werde. Anschließend habe die Gruppe auch seinen Wohnort in M1. /O. aufgesucht.
39Das Gericht ist überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass das Vorbringen des Klägers erlebnisbasiert ist. Seine Aussage beim Bundesamt war von hoher inhaltlicher Qualität. Die umfangreichen und komplexen Ausführungen zu seiner Homosexualität, seinem Lebenslauf und der Entwicklung des familiären Konflikts waren logisch konsistent. Sie ließen sich widerspruchsfrei in einen schlüssigen, in sich stimmigen Zusammenhang bringen. Die Aussage war zudem quantitativ detailreich, insbesondere hinsichtlich der beschriebenen Handlungen, Orte und Personen. Des Weiteren weisen die Schilderungen sowohl hinsichtlich des Kern- als auch des Randgeschehens raum-zeitliche Verknüpfungen auf. Ebenso wird das Geschehen an die situativen Umstände des individuellen Lebensumfelds der beteiligten Personen angeknüpft. Daneben werden Komplikationen im Handlungsverlauf beschrieben, wie der zunächst abgelehnte Visumantrag. Die Aussage ist außerdem geprägt durch die Schilderung zahlreicher nebensächlicher Einzelheiten, die für das in Frage stehende Kerngeschehen nicht von Bedeutung sind. Hinsichtlich der Aussagegenese ist festzuhalten, dass der Kläger beim Bundesamt zunächst umfassend frei berichtet hat. Die im Anschluss gestellten Fragen der Anhörerin beantwortete er, ohne dass sich dabei logische Brüche oder Widersprüche zeigten. Auch seine Angaben in der mündlichen Verhandlung waren inhaltlich konstant. Soweit der Kläger auf Nachfragen des Gerichts ergänzende Ausführungen machte, präzisierten diese das Geschehen nachvollziehbar. An der Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen ebenfalls keine Zweifel. Das Gericht verkennt nicht, dass im Asylverfahren die Motivation einer intentionalen Falschaussage nicht ausgeschlossen werden kann. Im Fall des Klägers überwiegt in der Gesamtschau jedoch die hohe inhaltliche Qualität seiner verfahrensrelevanten Bekundungen.
40Stichhaltige Gründe i.S.v. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, die die aufgrund der Vorverfolgung bestehende Vermutung einer erneuten Verfolgung des Klägers bei einer Rückkehr nach O. widerlegen könnten, sind nicht ersichtlich. Der familiäre Konflikt ist bis heute nicht beigelegt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, ausschließlich zu seiner jüngeren Schwester M. Kontakt zu haben. Zudem verzichte er nach wie vor darauf, seine Homosexualität online auszuleben, weil er nicht wisse, ob er nach Kenia zurückkehren müsse. Auch sonst sind keine Anhaltpunkte dafür erkennbar, dass die Familie des Klägers von ihrer ablehnenden Haltung oder Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt abgerückt wäre.
41Die Verfolgungshandlung knüpft gemäß § 3a Abs. 3 AsylG an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit des Klägers zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG – hier der homosexuellen Menschen in Kenia – an.
42Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet.
43Diese Voraussetzungen liegen vor. Die sexuelle Identität einer Person ist ein unveränderbares Merkmal, das so bedeutsam für die Identität ist, dass die Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten oder sie geheim zu halten.
44Vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 – C-199/12 –, juris Rn. 46, 70, 71; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 – 2 BvR 1807/19 –, juris Rn. 19.
45Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt zudem die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
46Vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 – C-199/12 –, juris Rn. 48.
47Das kenianische Strafgesetzbuch (englisch: „Penal Code“) enthält solche Vorschriften, die sich spezifisch gegen Homosexuelle richten. Artikel 162 kriminalisiert „Geschlechtsverkehr wider die natürliche Ordnung“ (englisch: „carnal knowledge against the order of nature“). Die Vorschrift wird als Verbot homosexueller Handlungen aufgefasst. Im Falle einer Verurteilung droht eine Höchststrafe von 14 Jahren Haft. Der Versuch wird gemäß Artikel 163 mit sieben Jahren Haft bestraft. Artikel 165 stellt außerdem „grob unsittliches Verhalten“ (englisch: „gross indecency“) zwischen Männern unter Strafe, unabhängig davon ob dieses in der Öffentlichkeit oder im Privaten stattfindet. Hierbei droht eine fünfjährige Haftstrafe.
48Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 50; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 2; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 20; Immigration and Refugee Board of Canada, Situation of persons with diverse sexual orientation and gender identity and expression (SOGIE), including their treatment by society and state authorities; state protection and support services (2019-July 2021), 13.07.2021.
49Der Kläger gehört dieser bestimmten sozialen Gruppe an. Das Gericht ist von seiner homosexuellen Identität überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO). In der Anhörung beim Bundesamt hat er hierzu glaubhafte Angaben gemacht. Auch das Bundesamt hat insoweit im streitgegenständlichen Bescheid keine Zweifel geäußert.
50Die Familie des Klägers ist nach § 3c Nr. 3 AsylG ein Akteur, von dem flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung ausgehen kann.
51Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i.S.d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten (Nr. 3). Nach § 3d Abs. 2 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.
52Nach der Erkenntnislage des Gerichts ist der kenianische Staat nicht willens, homosexuellen Personen wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten.
53Schon die strafgesetzlichen Bestimmungen gegen homosexuelle Handlungen verdeutlichen, dass der kenianische Staat nicht willens ist, von Diskriminierung, Bedrohung oder Gewalt betroffene homosexuelle Personen wirksam zu schützen. Die Strafgesetze gegen Homosexualität werden zwar nicht konsequent durchgesetzt. Die Erkenntnislage ist insoweit allerdings nicht eindeutig. So berichtete Human Rights Watch im Mai 2019, dass innerhalb der letzten zehn Jahre nur zwei Fälle strafrechtlicher Verfolgung nach Artikel 162 bekannt geworden seien. Das UK Home Office zitierte im April 2020 zwei Quellen, die unterschiedliche Zahlen zur strafrechtlichen Verfolgung von bzw. Verhaftung wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen anführen. Laut CNN aus Februar 2018 seien zwischen 2010 und 2014 595 Fälle von Homosexualität strafrechtlich verfolgt worden, laut The Guardian aus Mai 2019 sei es zwischen 2013 und 2017 zu 537 Verhaftungen gekommen. Im März 2021 berichtete das US Department of State, dass die Polizei im Jahr 2020 Personen nach diesen Bestimmungen inhaftiert habe, u.a. seien in Kakamega County zwei Männer aufgrund homosexueller Handlungen verhaftet worden. Im Juli 2021 berichtete das Immigration and Refugee Board of Canada, dass Vertretern von PEMA und Jinsiangu keine Fälle strafrechtlicher Verfolgung nach den Artikeln 162 und 165 bekannt seien, dass hingegen ein Menschenrechtsverteidiger angegeben habe, Einzelpersonen würden regelmäßig nach diesen Artikeln strafrechtlich verfolgt. Im September 2021 äußerte ein Vertreter einer kenianischen LGBTI-Organisation, dass zwischen 2008 und 2015 in der kenianischen Küstenregion mehrere LBQ-Frauen wegen „unnatürlicher Straftaten“ angeklagt worden seien.
54Vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 2 f.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 20; Immigration and Refugee Board of Canada, Situation of persons with diverse sexual orientation and gender identity and expression (SOGIE), including their treatment by society and state authorities; state protection and support services (2019-July 2021), 13.07.2021.
55Die Polizei nutzt die gegen Homosexualität bestehenden Strafgesetze aber jedenfalls, um Personen festzunehmen, insbesondere Personen, die der Prostitution verdächtigt werden. Auch The Advocates for Human Rights berichtete, dass Exekutivbeamte LGB-Personen unter Anwendung der Artikel 162 und 165 ins Visier nähmen. Ein Muster sei die Verhaftung von LGB-Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, die dann aber wegen anderer Verbrechen, wie Herumlungern oder Glücksspiel, angeklagt oder ohne Anklage inhaftiert würden. Des Weiteren schildern LGBTQI+ Organisationen, dass Verhaftungen von LGBTQI+ Menschen anstatt auf Gesetze gegen Homosexualität vermehrt auf Gesetze zur öffentlichen Ordnung, etwa zur Unruhestiftung, gestützt würden.
56Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 51; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 2 f.
57Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten, dass die Polizei generell zum Schutz von homosexuellen Personen gegen Übergriffe aus der Bevölkerung einschreitet. Zwar gibt es Berichte über positive Entwicklungen, wie eine zunehmende Sensibilisierung staatlicher Stellen für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Die Polizei gilt aber zugleich als einer der größten Täter gegen LGBTQ-Personen. Berichten zufolge kommt es regelmäßig zu Belästigungen, Einschüchterungen und körperlichen Misshandlungen von LGBTQI+ Menschen in Polizeigewahrsam. Auch sollen Polizisten homosexuellen Männern mit zwangsweisen Analuntersuchungen drohen, obwohl diese 2018 verboten wurden. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zeigte sich im Mai 2021 ebenfalls besorgt über Berichte von LGBTI-Personen, die Schikanierung, Diskriminierung und Gewalt erfahren hätten, darunter Verletzungen, die von Exekutivbeamten und Bürgerwehren begangen worden seien. LGBTI-Personen seien zudem von Hindernissen beim Zugang zu Gerechtigkeit und Rechtsmitteln betroffen. Auch Human Rights Watch berichtete im Mai 2019, dass die Polizei die Gesetze gegen Homosexualität unter anderem als Vorwand für die Verweigerung von Dienstleistungen an LGBT-Personen, die Opfer von Gewalt geworden seien, anwendeten. Anderen Berichten zufolge fordere die Polizei für Freilassungen auch Bestechungsgelder oder sexuelle Gefälligkeiten. Auch sonst wird berichtet, dass es für LGBTQ-Personen schwierig sei, sich an die Polizei zu wenden. Anzeigen würden nicht ernst genommen und die Tatsache, LGBT zu sein, könne gegen die Person verwendet werden. Eine Anzeige könne dadurch die Situation des Betroffenen potentiell verschlimmern.
58Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 51; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 4 f.; Immigration and Refugee Board of Canada, Situation of persons with diverse sexual orientation and gender identity and expression (SOGIE), including their treatment by society and state authorities; state protection and support services (2019-July 2021), 13.07.2021.
59Von anderen staatlichen Stellen ist ebenfalls kein wirksamer Schutz zu erlangen. Ob sich homosexuelle Menschen mit Erfolg an die Kenya National Commission on Human Rights (KNCHR) wenden können, erscheint zweifelhaft. Die Kommission nennt hinsichtlich ihrer Arbeit lediglich intersexuelle Personen als spezielle Interessengruppe, wobei sie Intersexualität definiert als Kondition eines Menschen, dessen physiologische Merkmale nicht ausschließlich dem binären Konzept von männlich und weiblich zugeordnet werden können,
60vgl. KNCHR, Intersex Persons in Kenya, <https://www.knchr.org/Our-Work/Special-Interest-Groups/Intersex-Persons-in-Kenya>, zuletzt abgerufen am 07.10.2022.
61Im Beschwerdeformular besteht zwar die Möglichkeit, die sexuelle Orientierung (schwul, lesbisch, heterosexuell, bisexuell, asexuell) anzugeben,
62vgl. KNCHR, Report Violation, <https://www.knchr.org/Report-Violation>, zuletzt abgerufen am 07.10.2022.
63Im Übrigen sind auf der Webseite der KNCHR aber keine Informationen gezielt für homosexuelle Menschen oder Berichte über deren Lage in Kenia zu finden. Unabhängig davon ist nicht erkennbar, dass die Kommission ausreichend Befugnisse besitzt, um homosexuellen Menschen, die Opfer von Verfolgung geworden oder davon bedroht sind, wirksamen Schutz zu bieten. So beschreibt die KNCHR ihre Aufgabe lediglich dahingehend, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und Wiedergutmachung anzubieten, die Einhaltung von Menschenrechten zu überwachen und dahingehende Bildung, Kampagnen etc. zu ermöglichen,
64vgl. KNCHR, Establishment <https://www.knchr.org/About-Us/Establish ment>, zuletzt abgerufen am 07.10.2022.
65Ohnehin ist angesichts der nach wie vor bestehenden Strafandrohung nicht anzunehmen, dass sich homosexuelle Opfer staatlicher oder nichtstaatlicher Übergriffe der KNCHR offenbaren.
66Auch sonst lässt die Haltung des kenianischen Staates nicht erkennen, dass er bereit ist, zum Schutz homosexueller Menschen tätig zu werden. Vereinzelt gibt es zwar Fortschritte. So entschied der Court of Appeal im März 2018, dass Zwangsanaluntersuchungen von Personen, die gleichgeschlechtlicher Beziehungen verdächtigt würden, rechtswidrig seien. Auch entschied der Court of Appeal im März 2019, dass die Regierung die Registrierung von LGBTI-Organisationen nicht mit Verweis auf die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen verhindern dürfe. Es hielt damit eine Entscheidung des High Court aus dem Jahr 2015 aufrecht, die sexuellen Minderheiten die gleichen Rechte wie anderen Kenianern zusprach, einschließlich der Vereinigungsfreiheit.
67Vgl. UK Home Office, Sexual orientation and gender identity and expression, 02.04.2020, S. 8 f., 17 ff.
68Staatliche Stellen erlauben seither die Registrierung und das Tätigwerden von Organisationen, die sich für LGBTQI+ einsetzen. Zu diesen privaten Organisationen gehören etwa GALCK („Gay and Lesbian Coalition of Kenya“; jetzt: galck+), Jinsiangu, PEMA Kenya und WKLFF („Western Kenya LBQT Feminist Forum“).
69Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 51; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 6 f.
70Davon abgesehen hat die kenianische Regierung aber bislang keine konkreten Schritte unternommen, um homosexuelle Menschen gegen Gewalt und Diskriminierung zu schützen. Rechtsschutzmöglichkeiten betreffend Arbeit, Gesundheit, Wohnung oder andere sozio-ökonomische Bereiche existieren nicht. Auch die kenianische Verfassung schützt nicht ausdrücklich gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität.
71Vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Situation of persons with diverse sexual orientation and gender identity and expression (SOGIE), including their treatment by society and state authorities; state protection and support services (2019-July 2021), 13.07.2021; UK Home Office, Sexual orientation and gender identity and expression, 02.04.2020, S. 7 f.
72Darüber hinaus lehnte der kenianische High Court im Mai 2019 eine Aufhebung der strafrechtlichen Bestimmungen gegen Homosexualität einstimmig ab, was als erheblicher Rückschlag für LGBT+ Rechte in Afrika gewertet wird. Der Entscheidung lagen zwei Petitionen von LGBTQI+ Aktivisten zugrunde, die 2016 die Verfassungsgemäßheit der Strafgesetze angefochten hatten. Der High Court begründete seine Entscheidung damit, dass nicht ausreichend bewiesen sei, dass die Vorschriften LGBTQI+ Rechte verletzten. Die Bestimmungen seien nichtdiskriminierend, da sie nicht direkt auf LGBT-Personen abzielten. Zugleich führte das Gericht aus, dass eine Aufhebung gegen die Verfassung verstoße, weil diese eine Ehe zwischen Mann und Frau vorschreibe. Die LGBTQI+ Gemeinschaft legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein, über die nach dem Erkenntnisstand des Gerichts noch nicht endgültig entschieden wurde.
73Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 51; Human Rights Watch, Kenya – Events of 2021, 01.01.2022, S. 5; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 5; UK Home Office, Sexual orientation and gender identity and expression, 02.04.2020, S. 19 ff.
74Von Seiten der kenianischen Regierung sind auch sonst keine Fortschritte zu erwarten. Vielmehr äußerte sich der frühere kenianische Präsident Kenyatta im April 2018 und im November 2019 dahingehend, dass LGBTI-Rechte den kenianischen kulturellen Überzeugungen widersprächen, keine Menschenrechte darstellten und für die Politik keine Relevanz hätten.
75Vgl. UK Home Office, Sexual orientation and gender identity and expression, 02.04.2020, S. 8, 21 f.
76Dass sich daran mit der neu gewählten Regierung unter William Ruto etwas ändern wird, ist derzeit nicht erkennbar.
77Interner Schutz bzw. eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG sind für den Kläger landesweit nicht gegeben.
78Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Ob einem Ausländer in einem anderen Landesteil keine für den internationalen Schutz relevanten Gefahren drohen, ist regelmäßig nur dann entscheidungserheblich, wenn die in einem anderen Landesteil drohenden Gefahren nicht von dem Staat ausgehen. Geht eine Gefahrenlage von einem anderen Akteur aus (§ 3c Nr. 2 AsylG) und besteht sie nur in einem Teil seines Herkunftslandes, setzt der Verweis auf einen anderen Landesteil als Ort des internen Schutzes voraus, dass dem Ausländer dort nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine für internationalen Schutz beachtliche Gefahrenlage droht. Die Tatsache der Verfolgung in einem Landesteil ist nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor neuerlicher Verfolgung auch am Ort des internen Schutzes begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
79Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.2021 – 1 C 4.20 –, juris Rn. 14 f.
80Nach diesen Maßstäben steht dem Kläger kein internen Schutz nach § 3e Abs. 1 AsylG offen. Stichhaltige Gründe für die Annahme, dass er in O. oder anderen Landesteilen Kenias vor einer erneuten Verfolgung durch seine Familie geschützt wäre, sind nicht ersichtlich. Nach den glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung war seine Familie bereits in der Vergangenheit in der Lage, seine Wohn- und Arbeitsorte in O. in Erfahrung zu bringen. Der Kläger führt dies darauf zurück, dass seine Schwester B3. ihn im Rahmen ihrer polizeilichen Tätigkeit mithilfe der auf ihn registrierten SIM-Karte orten konnte. Diese Vermutung ist mit Blick auf die gerichtliche Erkenntnislage nicht fernliegend. So stehen dem nationalen Geheimdienst (National Intelligence Service) weitreichende Befugnisse zur Telekommunikationsüberwachung zu. Aber auch die Polizei (National Police Service) verfügt über Überwachungsbefugnisse. Dabei kommen behördlicherseits verschiedene Überwachungstechnologien zum Einsatz, unter anderem Mobilfunk-Spionagesoftware. Auch das Bundesamt schreibt in seinem Länderreport, dass Menschenrechtsorganisationen zufolge die gesamte und mobile Telekommunikation Kenias kraft Gesetz von Polizei und Geheimdiensten mit neuester Technologie zeitgleich überwacht und kontrolliert werden kann.
81Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 21; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 13; UK Home Office, Actors of Protection, 20.05.2020, S. 11 f.
82Der Kläger wird bei einer Rückkehr nach Kenia auch nicht auf die Nutzung einer Mobilfunkkarte verzichten können, schon um Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt zu erhalten. So verwendeten 2018 93 % der Kenianer Mobiltelefonie, mehr als 70 % überwiesen oder empfingen Geld per Handy. 2020 nutzten schon 97 von 100 Einwohnern Mobilfunkangebote.
83Vgl. UK Home Office, Kenya, 20.05.2020, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Kenia, 17.07.2018, S. 17.
84Auch sonst bestehen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass der Kläger in O. oder anderen Landesteilen Kenia, etwa einer großen Stadt wie Mombasa, unentdeckt leben könnte. Zwar gibt es weder ein zentrales Meldewesen noch eine Meldepflicht,
85vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 23.
86Der Kläger müsste aber seine Identität offen legen, um Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt aber auch zur notwendigen Gesundheitsversorgung zu erhalten. Hierdurch würde jedoch zugleich das Risiko steigen, dass seine Schwester ihn im Rahmen ihrer polizeilichen Möglichkeiten ausfindig machen könnte. Ebenso setzt z.B. die Ausstellung eines Führerscheins die Nutzung eines digitalen Bürgerportals voraus und hat damit die digitale Erfassung personenbezogener Daten zur Folge,
87vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Requirements and procedures to obtain a driver’s licence, including residents and non-residents; government authorities responsible for verifying license and driving history, 08.10.2021.
88Darüber hinaus hat der Kläger glaubhaft geschildert, dass seine Familie im ganzen Land verteilt ist. Seine Mutter lebt nach wie vor in L1. , dem Herkunftsdorf des Klägers in der Nähe von L. im Osten Kenias. Zwischenzeitlich lebte der Kläger auch bei seiner Schwester B3. in F. , das ca. 110 km nordwestlich von L. liegt. B3. wohnt und arbeitet mittlerweile in O. , wo auch der Vater und Bruder des Klägers leben. Seine Schwester U. wohnt in der Stadt O1. . Auch im Westen Kenias, einschließlich Mombasa, leben Angehörige seiner Großfamilie. Schließlich würde der Kläger aufgrund seiner gleichgeschlechtlichen Ehe besondere Aufmerksamkeit erregen. Denn bei der Rückkehrprognose ist nicht nur zu berücksichtigen, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, seine Homosexualität geheim zu halten,
89vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 – C-199/12 –, juris Rn. 71, 75, 76,
90sondern auch, dass er zusammen mit seiner in Deutschland bestehenden Kernfamilie, d.h. mit seinem Ehemann, nach Kenia zurückkehren würde,
91vgl. BVerwG, Urteile vom 04.07.2019 – 1 C 45.18 –, juris Rn. 16 ff.; und vom 16.08.1993 – 9 C 7.93 –, juris Rn. 10.
92Davon unabhängig kann vom Kläger nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in O. oder anderen Landesteilen Kenias niederzulassen.
93Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Die Zumutbarkeit der Niederlassung tritt selbständig neben die Sicherheit vor (neuerlicher) Verfolgung (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Zumutbar ist die Niederlassung dann, wenn am Ort des internen Schutzes auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen.
94Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.2021 – 1 C 4.20 –, juris Rn. 27 f.
95Davon ausgehend ist dem Kläger eine Niederlassung in O. oder anderen Landesteilen Kenias nicht zumutbar, weil ihm dort wegen seiner Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gesellschaftliche Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt drohen, die kumuliert eine Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 2 begründen.
96Nach der Erkenntnislage des Gerichts sind Gewalt und Diskriminierung gegen homosexuelle Menschen in Kenia weitverbreitet. Die kenianische Gesellschaft steht LGBTI-Personen mehrheitlich ablehnend gegenüber. Homosexualität gilt als unafrikanisch und unmännlich. In einer Studie aus Juni 2020 vertraten nur 14 % der Befragten die Auffassung, dass Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert sein sollte (2013: 8 %). Homosexuelle Menschen sind Diskriminierungen, verbalen Schikanen, Erpressung, sexuellen Übergriffen, Hassverbrechen und Gewalt bis hin zu Mord ausgesetzt. Betroffen sind alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, vom Wohnungs- und Arbeitsmarkt bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor. So drohen Diskriminierungen bei der Jobsuche, illegale Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen, Zwangsräumungen, wenn dem Vermieter die sexuelle Identität des Betroffenen, z.B. durch Nachbarn, bekannt wird, die Verweigerung medizinischer Behandlungen, der Ausschluss aus Schulen etc. Im familiären Bereich kommt es zu Gewalt, Konversionstherapien, Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung und „korrigierender Vergewaltigung“ (englisch: „corrective rape“). Gewaltsame Übergriffe drohen auch durch Bürgerwehren. Berichten zufolge ist das Ausmaß der Gewalt regional unterschiedlich. Während es in ländlichen Gebieten weniger Gewalt und Diskriminierung gebe, sei die Situation in den Städten schlimmer. Anderen Quellen zufolge drohen gerade im ländlichen Bereich Übergriffe durch Bürgerwehren. Weitere Faktoren sind der sozio-ökonomische Status des Betroffenen und die Religion. So gelten etwa die islamisch geprägten Küstenregionen Kenias als weniger tolerant im Vergleich zu den größeren Städten wie O. .
97Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 51; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 4; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 19; Immigration and Refugee Board of Canada, Situation of persons with diverse sexual orientation and gender identity and expression (SOGIE), including their treatment by society and state authorities; state protection and support services (2019-July 2021), 13.07.2021; UK Home Office, Sexual orientation and gender identity and expression, 02.04.2020, S. 12.
98Infolge der Covid-19-Pandemie hat sich das homophobe Klima verschärft. So berichten LGBTQI+ Organisationen von einem Anstieg an Konversionstherapien und -praktiken. Zurückzuführen sei dies auf den Umstand, dass viele LGBTQI+ Personen in feindlich gesinnte häusliche Umgebungen und Gemeinschaften zurückkehren mussten, nachdem sie im Zuge der Covid-19-Pandemie ihre Arbeitsplätze verloren hatten. Auch andere LGBTQI+ Gruppen berichten über einen Anstieg an Misshandlungsfällen während der Pandemie. So hätten Lockdowns und Ausgehbeschränkungen zu einer verstärkten Beobachtung der Lebensführung der Menschen geführt. GALCK berichtete im November 2020 von bis zu zehn Angriffen pro Monat auf die LGBTQ-Gemeinschaft während der Covid-19-Pandemie. Im Mai 2021 wurde zudem ein bekannter Menschenrechtsverteidiger, der unter anderem für HAPA Kenya (HIV and AIDs People Alliance of Kenya) tätig war, in Mombasa getötet.
99Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 51; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 20.
100Auch in anderen Bereichen der Gesellschaft kommt Homophobie offen zum Ausdruck. So verbot das Kenya Film Classification Board 2018 den Film „Rafiki“, der von der Liebesgeschichte zwei junger Frauen handelt. Nachdem das Verbot zwischenzeitlich gerichtlich aufgehoben worden war, konnte der Film in O. präsentiert werden. Das Verbot wurde im April 2020 jedoch wieder in Kraft gesetzt. Ein weiterer Film zum Thema Homosexualität, „I Am Samuel“, wurde im September 2021 mit der Begründung verboten, dass der Film versuche, gleichgeschlechtliche Eheschließung als akzeptable Lebensweise darzustellen und gegen Artikel 165 des Strafgesetzbuches verstoße.
101Vgl. US Department of State, Kenya 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 52; Human Rights Watch, Kenya – Events of 2021, 01.01.2022, S. 4 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Kenia: Informationen zur Lage von LGBT-Personen (Strafbarkeit weiblicher Homosexualität, Übergriffe seitens der Gesellschaft, Schutz lesbischer Frauen durch die Behörden), 15.12.2021, S. 6.
102Die strafrechtlichen Bestimmungen gegen Homosexualität befördern Homophobie und werden täglich zur Verfolgung und Diskriminierung sexueller Minderheiten ausgenutzt. Sie geben gleichsam einen Freifahrtschein für die Misshandlung von LGBT-Menschen, ohne dass staatliche Folgen zu befürchten wären. Auch im Länderreport des Bundesamtes werden die Gesetze und Strafen, die die Menschenwürde von LGBTIQ-Personen verletzen, ihre Handlungen kriminalisieren und diskriminieren, als eines der wichtigsten Menschenrechtsprobleme in Kenia im Jahr 2020 genannt.
103Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 9; Immigration and Refugee Board of Canada, Situation of persons with diverse sexual orientation and gender identity and expression (SOGIE), including their treatment by society and state authorities; state protection and support services (2019-July 2021), 13.07.2021.
104Das Gericht verkennt nicht, dass es daneben positive Entwicklungen gibt, gerade durch die Arbeit der privaten LGBTQI+ Organisationen und die zunehmende Diskussion dieser Themen in den öffentlichen und sozialen Medien. Auch in der Zivilgesellschaft sind graduelle Verbesserungen bemerkbar.
105Vgl. UK Home Office, Sexual orientation and gender identity and expression, 02.04.2020, S. 8 f., 29 ff.
106Das Gericht ist gleichwohl nicht der Auffassung, dass dem Kläger eine Niederlassung an einem anderen Ort in Kenia zumutbar ist.
107So aber z.B. VG Cottbus, Urteil vom 24.05.2022 – 5 K 632/19.A –, juris; VG Potsdam, Gerichtsbescheid vom 05.03.2021 – VG 15 K 5680/17.A –, juris.
108Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass ihm bei einer öffentlichen Identifizierung als homosexuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt drohen. Das Bundesamt erwähnt in seinem Länderreport den Fall des Autors Wainaina, der 2014 als eine der ersten Personen des öffentlichen Lebens in Kenia seine Homosexualität verteidigte und anschließend Opfer vieler Anfeindungen wurde,
109vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Kenia (Stand: 09/2021), S. 19 f.
110Aber auch Personen, die – wie der Kläger – nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen, haben keine Möglichkeit, ihre homosexuelle Identität gefahrlos auszuleben, sondern müssen mit weitreichenden Folgen für ihre persönliche und wirtschaftliche Existenz rechnen. Nach der vorgenannten Erkenntnislage kann es in allen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt kommen, ohne dass dagegen staatlicher Schutz zur Verfügung steht. Ganz im Gegenteil geht mit der fortbestehenden Strafandrohung eine erhebliche einschüchternde Wirkung einher, auch wenn die Straftatbestände nicht, jedenfalls nicht konsequent, durchgesetzt werden. Die sich aus der Kumulierung dieser Maßnahmen ergebende Wirkung ist so gravierend, dass sie in der Gesamtschau einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung gleichkommt. Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartende soziale Ächtung stellt mit Blick auf die Bedeutsamkeit der sexuellen Identität für die Persönlichkeit des Klägers eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Das gleiche gilt bei einem unter dem Verfolgungsdruck erzwungenen Verzicht auf das öffentliche Ausleben seiner Sexualität. Insoweit hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargestellt, seine Homosexualität in Kenia aus Furcht vor homophoben Angriffen nicht offen ausgelebt und dadurch einen Teil seiner Identität geheim gehalten zu haben. Bis heute halte er sich, z.B. bei der Nutzung sozialer Medien, zurück aus Angst vor den potentiell tödlichen Folgen eines Bekanntwerdens seiner sexuellen Identität.
111Ausschlussgründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 und 3 AsylG oder § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 bzw. 3 AufenthG liegen nicht vor.
1122.
113Der Kläger hat aus den vorgenannten Gründen auch einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG.
114Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung. Allerdings kommen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Verfolgungsmaßnahmen Drittter als politische Verfolgung in Betracht. Dies setzt voraus, dass sie dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind. Hierfür kommt es darauf an, ob der Staat den Betroffenen mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es begründet die Zurechnung, wenn der Staat zur Schutzgewährung entweder nicht bereit ist oder wenn er sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter Dritter (hinreichend) einzusetzen. Anders liegt es, wenn die Schutzgewährung die Kräfte eines konkreten Staates übersteigt; jenseits der ihm an sich zur Verfügung stehenden Mittel endet seine asylrechtliche Verantwortlichkeit.
115Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. –, juris Rn. 40, 46 f.
116Dies zugrunde gelegt droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Kenia politische Verfolgung. Dem kenianischen Staat ist die an die Homosexualität des Klägers anknüpfende Verfolgung von seiner Familie zuzurechnen, weil er nicht willens ist, dem Kläger den erforderlichen Schutz zu gewähren. Dem Kläger steht auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Im Einzelnen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
117Die Asylanerkennung ist auch nicht gemäß Art. 16a Abs. 2 GG i.V.m. § 26a Abs. 1 AsylG ausgeschlossen. Danach kann sich auf Absatz 1 nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Das ist hier nicht der Fall. Der Kläger ist ausweislich des Feuchtdruckstempels in seinem Reisepass auf dem Luftweg unmittelbar von Kenia nach München gereist.
118Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
119Rechtsmittelbelehrung
120Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1211. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
126Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
127Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
128Die Antragsschrift sollte einfach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.