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Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 10. September 2020 verpflichtet, über den klägerischen Antrag, mittels verkehrsrechtlicher Anordnung die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem im Lärmgutachten vom 26. Februar 2020 benannten Abschnitt 1 der N.------straße auf Tempo 30 km/h zu reduzieren, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
2Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, seinen Antrag, aus Lärmschutzgründen die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einem in einem Lärmgutachten näher benannten Straßenabschnitt in der Nähe seiner Wohnanschrift auf Tempo 30 km/h zu reduzieren, unter Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
3Der Kläger bewohnt ein Mehrfamilienhaus unter der postalischen Adresse N.------straße 00, 00000 Köln. Die N.------straße ist eine Gemeindestraße i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 3 StrWG NRW, die aufgrund ihrer Länge von knapp 1,5 km die Gemeindestraße T. straße mit der Bundesstraße E. Straße verbindet. Die N.------straße kreuzt mit einer Mehrzahl von Straßen und verfügt über eine Vielzahl von Abzweigungen.
4Das vom Kläger bewohnte Grundstück liegt im Straßenabschnitt der N.------straße zwischen der O.------straße und der D.------straße . Von diesem etwa 90 Meter entfernt in Fahrtrichtung T. befindet sich eine Grundschule (N.------straße 0-00), in deren Bereich die zulässige Höchstgeschwindigkeit bereits auf 30 km/h herabgesetzt ist. Die Beschränkung ist fahrbahnrichtungsabhängig und beginnt jeweils ca. 100 m vor dem Grundstück der Schule, in südöstlicher Fahrtrichtung aufseiten des Wohnhauses des Klägers wenige Meter hinter dem klägerischen Wohnhaus. Im Übrigen gilt nahezu auf der gesamten N.------straße , auch im Bereich des vom Kläger bewohnten Grundstücks, eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Die auf dem Straßenabschnitt zwischen I. Straße und F. Straße unmittelbar von der N.------straße abzweigenden Nebenstraßen N1. Straße, O.------straße und D.------straße sind sämtlich als Tempo-30-Zonen und Einbahnstraßen ausgestaltet.
5Das Grundstück des Klägers liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans. Die Eigenart der näheren Umgebung entspricht nach Angaben der Beklagten der Gebietsart „Allgemeines Wohngebiet“ nach § 4 BauNVO.
6Unter dem 12. Dezember 2017 stellte der Kläger bei der Beklagten den Antrag, den Lärm in der N.------straße durch geeignete Maßnahmen so zu senken, dass Gefahren für seine Gesundheit sowie schädliche Umwelteinwirkungen nicht zu befürchten seien.
7Hierauf bestätigte das Amt für Straßen und Verkehrstechnik der Beklagten dem Kläger den Eingang seines Antrags und teilte ihm unter dem 7. März 2018 des Weiteren mit, das zuständige Umweltamt sei beauftragt worden, die notwendigen Unterlagen zur Prüfung des Antrags vorzulegen. Auf eine Nachfrage vom 8. März 2019, innerhalb welcher Fristen mit dem Abschluss der erforderlichen Prüfung zur rechnen sei, erhielt der Kläger unter dem 19. März 2019 die Auskunft, das zuständige Umwelt- und Verbraucherschutzamt prüfe den Vorgang und man melde sich mit Informationen zum Zeitrahmen.
8Das seitens der Beklagten in Auftrag gegebene Schallschutzgutachten der B. D1. Institut für Immissionsschutz GmbH vom 26. Februar 2020 (Berichts-Nr.: B0000000-00(0)_ver26Feb2020) unterteilt die N.------straße in sechs Abschnitte und bezeichnet den Abschnitt zwischen I. Straße und dem Beginn des temporeduzierten Bereichs in südöstlicher Fahrtrichtung vor der Grundschule als Abschnitt 1. In diesem Abschnitt 1 liegt auch das Grundstück des Klägers. Ausweislich des Gutachtens vom 26. Februar 2020 betragen die Immissionswerte am klägerischen Wohnhaus in der begutachteten Ist-Situation gerundet 63 bis 64 dB(A) tags und 53 bis 54 dB(A) nachts. Die Begutachtung umfasst eine hypothetische Verkehrssituation: Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Abschnitt 1 von 50 km/h auf 30 km/h (Verkehrsbetrachtung II), wodurch die Beurteilungswerte am klägerischen Wohnort um 3 dB (2,2 bis 2,5 db) auf gerundete 61 dB(A) tags und 51 dB(A) nachts gesenkt werden könnten.
9Mit Bescheid vom 27. April 2020 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, dass die Werte der Lärmschutzrichtlinien für den Straßenverkehr am Wohnort des Klägers nicht überschritten würden. Die N.------straße sei eine wichtige innerbezirkliche Verbindungsstraße. Auf dieser gelte die von der Straßenverkehrs-Ordnung vorgesehene Regelgeschwindigkeit von 50 km/h. Eine Ausnahme gelte nur auf Höhe der Grundschule. Eine Gesamtbetrachtung ergebe, dass aufgrund der Verkehrsbedeutung und der Unterschreitung der maßgeblichen Richtwerte eine Herabsetzung der geltenden Höchstgeschwindigkeit gemäß der Straßenverkehrs-Ordnung nicht umgesetzt werden könne.
10Unter Aufhebung ihres Bescheids vom 27. April 2020 beschied die Beklagte den klägerischen Antrag mit Bescheid vom 10. September 2020 erneut. In diesem Bescheid führte die Beklagte aus, sie habe nunmehr insbesondere die Orientierungswerte der 16. BImSchV betrachtet. Um die Lärmwerte im Bereich der N.------straße gering zu halten, habe der Straßenbaulastträger im betreffenden Bereich bereits einen als lärmmindernd einzustufenden Asphaltbelag (sog. „Splittmastixasphalt“) eingebaut. Der Austausch dieses Asphaltbelags gegen einen sog. „Flüsterasphalt“ bewirke keine Verbesserung der Lärmwerte, da erst ab einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von mehr als 50 km/h die Rollgeräusche der Fahrzeuge die Motorengeräusche überwögen. Die N.------straße sei als wichtige Verbindungsachse im Stadtbezirk 3 zu betrachten und nehme die Funktion seit Jahrzehnten ein. Die vorhandene Bebauung entlang der N.------straße existiere seit Jahrzehnten in der derzeitigen Form. Durch eine Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit käme es zu einer Verdrängung des Verkehrs auf kleinere Straßen im Viertel, die die dortigen Anwohner zusätzlich belaste. Selbst bei Überschreitung der Werte der 16. BImSchV sei daher eine Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h nicht zu rechtfertigen. Eine solche Maßnahme sei zwar geeignet, um die Lärmbelastung zu reduzieren, aufgrund der gegebenen örtlichen Umstände aber weder angemessen noch erforderlich.
11Der Kläger hat bereits am 15. Mai 2019 Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht Köln erhoben, an der er auch nach dem Bescheid vom 10. September 2020 festhält.
12Zur Begründung führt er aus, nach der gefestigten Rechtsprechung sei neben den Werten der Lärmschutzrichtlinien für den Straßenverkehr auch auf die Werte der 16. BImSchV als Orientierungswerte abzustellen. Diesen Immissionsgrenzwerten sei ganz allgemein die Wertung des Normgebers zu entnehmen, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion anzunehmen sei. Während bei Erreichen der Werte der 16. BImSchV die Pflicht der Straßenverkehrsbehörde zu einer pflichtgemäßen Ermessensausübung einsetze, könne sich bei Überschreitung der Richtwerte der Lärmschutzrichtlinien für den Straßenverkehr das Ermessen der Behörde bereits zu einer Pflicht zum Einschreiten verdichten. Die Orientierungswerte der 16. BImSchV würden ausweislich des Gutachtens vom 26. Februar 2020 um 4-5 dB(A) tags wie nachts überschritten. Mit einer Verdrängung des bisher auf der N.------straße in Höhe des Klägerwohnsitzes stattfindenden Straßenverkehrs in die anliegenden Nebenstraßen sei auch bei Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der N.------straße nicht zu rechnen, da in den Nebenstraßen bereits Tempo 30 gelte. Der Bescheid sei ermessensfehlerhaft, weil die Beklagte keine belastbare Prüfung der gegenseitigen Belange vorgenommen habe.
13Der Kläger beantragt,
14die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 10. September 2020 zu verpflichten, über den klägerischen Antrag, mittels verkehrsrechtlicher Anordnung die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem im Lärmgutachten vom 26. Februar 2020 benannten Abschnitt 1 der N.------straße auf Tempo 30 km/h zu reduzieren, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
15Die Beklagte beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Sie verteidigt ihren Bescheid und bezieht sich auf ihr bisheriges Vorbringen.
18Mit Beschluss vom 21. April 2022 ist das Verfahren hinsichtlich des ursprünglich ebenfalls gestellten Antrags des Klägers auf Vornahme verkehrsbeschränkender Maßnahmen aus Gründen des Schutzes der Wohnbevölkerung vor Abgasen (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StVO) gemäß § 93 Satz 2 VwGO abgetrennt worden und wird unter dem Aktenzeichen 18 K 2431/22 fortgeführt.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe
21Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
22Die als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO statthafte Klage ist zulässig. Der Kläger konnte gemäß § 75 VwGO bereits im Mai 2019 Klage erheben, obwohl sein im Verwaltungsverfahren gestellter Antrag von der Beklagten zu diesem Zeitpunkt noch nicht förmlich beschieden war.
23Vgl. Porsch, in: Schoch/Schneider, VwGO, 41. EL Juli 2021, § 75 Rn. 4, wonach § 75 VwGO seinem Sinn und Zweck und entgegen seinem Wortlaut auch anwendbar ist, wenn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens vor Klageerhebung durch Gesetz ausgeschlossen ist.
24Nach der Ablehnung des Antrags des Klägers durch die Beklagte im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens konnte der Kläger sein Klagebegehren auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) fortführen.
25Insoweit ist der Kläger auch klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Seine Klagebefugnis ergibt sich aus der nicht von vornherein ausgeschlossenen Möglichkeit eines Anspruchs aus § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO i.V.m. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO.
26§ 45 Abs. 1 StVO ist zwar grundsätzlich auf den Schutz der Allgemeinheit gerichtet. In der Rechtsprechung ist aber anerkannt, dass der Einzelne einen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde gerichteten Anspruch auf verkehrsregelndes Einschreiten hat, wenn eine Verletzung seiner geschützten Individualinteressen in Betracht kommt. Die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO umfassen dabei nicht nur die Grundrechte wie körperliche Unversehrtheit und Eigentum. Dazu gehört auch der Schutz vor Einwirkungen des Straßenverkehrs, die das nach allgemeiner Anschauung zumutbare Maß übersteigen, insbesondere soweit § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO Anordnungen zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen vorsieht.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 – 7 C 76.84 – juris Rn. 10; OVG Münster, Urteile vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 30, vom 12. Januar 1996 – 25 A 2475/93 – juris Rn. 28, und vom 21. Januar 2003 – 8 A 4230/01 – juris Rn. 5.
28Die genannten Vorschriften geben dem Einzelnen einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein straßenverkehrsrechtliches Einschreiten, wenn Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 – 7 C 76.84 – juris Rn. 10; OVG Münster, Beschluss vom 28. März 2018 – 8 A 1247/16 – juris Rn. 5; VGH München, Beschluss vom 23. März 2022 – 11 ZB 20.2082 – juris Rn. 10.
30Gemessen daran ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Kläger als Anwohner der hier in Rede stehenden Straße einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrages auf die Durchführung verkehrsrechtlicher Maßnahmen hat, um dafür zu sorgen, dass der Straßenlärm reduziert wird. Denn insoweit kann sich der Kläger auf eine Gefahr für Leib und Leben stützen.
31Die Klage ist auch begründet.
32Die Ablehnung des Antrags des Klägers auf verkehrsbeschränkende Maßnahmen ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 Hs. 1 VwGO. Der Kläger hat nach der hier maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung,
33vgl. OVG Münster, Beschluss vom 6. Juni 2019 – 8 B 821/18 – juris Rn. 12 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteile vom 23. September 2010 – 3 C 32.09 – juris Rn. 23 sowie 3 C 37.09 – juris Rn. 28; OVG Münster, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 8 A 10/17 – juris Rn. 27, Urteil vom 2. Dezember 1997 – 25 A 4997/96 – juris Rn. 8; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. September 2020 – 14 K 3555/16 – juris Rn. 6,
34einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf verkehrsbeschränkende Maßnahmen aus Lärmschutzgründen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO i.V.m. § 45 Abs. 9 StVO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.
35Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO i.V.m. § 45 Abs. 9 StVO für ein Einschreiten der Beklagten zum Schutz des Klägers als Anwohner der N.------straße vor Straßenverkehrslärm liegen vor (I.). Die danach von der Beklagten zu treffende Ermessensentscheidung erweist sich als ermessensfehlerhaft (II.).
36I. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränken oder verbieten oder den Verkehr umleiten. Nach Abs. 9 dieser Vorschrift kommt eine den fließenden Verkehr beschränkende Anordnung nur in Betracht, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage für die in § 45 StVO geschützten Rechtsgüter besteht, die das allgemeine Risiko einer Rechtsbeeinträchtigung erheblich übersteigt.
37Ein Einschreiten zum Schutz vor Verkehrslärm setzt nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO dabei tatbestandlich nicht voraus, dass ein bestimmter Schallpegel überschritten wird; maßgeblich ist vielmehr, ob der Lärm Beeinträchtigungen mit sich bringt, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss.
38Die Grenze des billigerweise zumutbaren Verkehrslärms ist dabei nicht durch gesetzlich bestimmte Grenzwerte festgelegt.
39Vgl. OVG Münster, Urteil vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 32.
40Auch durch die in den Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-StV) vom 23. November 2007 enthaltenen Schallpegel wird diese Grenze nicht bestimmt. Ziffer 1.2 der Lärmschutz-Richtlinien-StV hält ausdrücklich fest, dass die Grenze des billigerweise zumutbaren Verkehrslärms nicht durch gesetzlich bestimmte Grenzwerte festgelegt ist. Maßgeblich ist danach vielmehr, ob die Lärmbeeinträchtigung jenseits dessen liegt, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen werden muss. Nach den Richtlinien kommt zwar ein straßenverkehrsrechtliches Einschreiten der Behörde „insbesondere in Betracht“, wenn „der vom Straßenverkehr herrührende Beurteilungspegel“ am Immissionsort gewisse Richtwerte überschreitet. Das besagt jedoch nur, dass in derartigen Fällen sich das Ermessen der Behörde zu einer Pflicht zum Einschreiten verdichten kann; es bedeutet also nicht, dass geringere Lärmeinwirkungen straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen ausschlössen. Dementsprechend geben die Richtlinien der Behörde im Einzelfall u.a. auf, den Grad der Beeinträchtigung im Hinblick auf die Leichtigkeit der Realisierung von Abwehrmaßnahmen zu beurteilen.
41Vgl. so bereits zur Vorgänger-Fassung der Lärmschutz-Richtlinien-StV [„Vorläufige Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-StV) vom 6. November 1981“]: BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 – 7 C 76.84 – juris Rn. 14.
42Ebenso wenig können die Vorschriften der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung; im Folgenden 16. BImSchV) bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung im Rahmen des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO unmittelbar angewendet werden. Diese Verordnung bestimmt durch Festlegung von Immissionsgrenzwerten die Schwelle der Zumutbarkeit von Verkehrslärm nämlich nur für den Bau und die wesentliche Änderung u.a. von öffentlichen Straßen (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV).
43Desgleichen gelten die Richtlinien für den Verkehrslärmschutz an Bundesfernstraßen in der Baulast des Bundes von 1997 (VLärmSchR 1997) lediglich für planerische Maßnahmen bei der Linienführung und Trassierung (Lärmschutz durch Planung), für bauliche Maßnahmen an der Straße (aktiver Lärmschutz) und an lärmbetroffenen baulichen Anlagen (passiver Lärmschutz) beim Neubau und bei der wesentlichen Änderung von Straßen (Lärmvorsorge) und zur Verminderung der Lärmbelastung an bestehenden Straßen (Lärmsanierung) sowie für die Entschädigung wegen verbleibender Beeinträchtigungen.
44Demgegenüber geht es bei § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO um straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen des Lärmschutzes für bestehende Straßen.
45Vgl. VGH München, Urteil vom 21. März 2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 27.
46Unabhängig von der danach fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit der genannten Regelungen ist in der Rechtsprechung allerdings anerkannt, dass die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO als Orientierungshilfe für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze, deren Überschreitung die Behörde zur Ermessensausübung verpflichtet, herangezogen werden können. Die Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV lassen dabei ganz allgemein erkennen, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion, zumindest auch dem Wohnen zu dienen, anzunehmen ist. Eine Unterschreitung der Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV ist danach jedenfalls ein Indiz dafür, dass die Lärmbelastung auch die Zumutbarkeitsschwelle in straßenverkehrsrechtlicher Hinsicht nicht erreicht. Werden gar die in Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV aufgeführten und im Vergleich zur 16. BImSchV strengeren Grenzwerte überschritten, ist tatbestandlich erst Recht von einer Unzumutbarkeit auszugehen.
47Vgl. OVG Münster, Beschlüsse vom 28. März 2018 – 8 A 1247/16 – juris Rn. 32, und vom 6. Juni 2019 – 8 B 821/18 – juris Rn. 17; Urteil vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1993 – 11 C 45.92 – juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. September 2020 – 14 K 3555/16 – juris Rn. 76.
48Gemessen an diesen Grundsätzen bringt der straßenverkehrliche Lärm vorliegend Beeinträchtigungen mit sich, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit dem Kläger zugemutet werden muss.
49Dabei kommt vorliegend dem Überschreiten der Grenzwerte nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 der 16. BImSchV zumindest indizielle Bedeutung für die Unzumutbarkeit zu.
50Als Orientierungswerte sind vorliegend gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 der 16. BImSchV die Werte für reine und allgemeine Wohngebiete und Kleinsiedlungsgebiete in Höhe von 59 dB(A) tags und 49 dB(A) nachts heranzuziehen. Denn die Eigenart der näheren Umgebung des vom Kläger bewohnten Grundstücks entspricht nach Angabe der Beklagten einem faktischen Wohngebiet. Die vorgenannten Orientierungswerte wurden überschritten.
51Zwar ist nach Einholung des Lärmgutachtens der B. D. Institut für Immissionsschutz GmbH vom 26. Februar 2020 und vor Ergehen einer Entscheidung in der vorliegenden Sache mit Wirkung zum 1. März 2021 eine überarbeitete Fassung der 16. BImSchV in Kraft getreten (Verkehrslärmschutzverordnung - 16. BImSchV vom 4. November 2020 (BGBl. I S. 2334)), die zur Bestimmung der Beurteilungspegel ein neues Berechnungsverfahren vorsieht. Hierdurch ist die Indizwirkung, die durch die unter Geltung der bisherigen Berechnungsmethode ermittelten Immissionswerte des durch die Beklagte eingeholten Gutachtens begründet wird, jedoch nicht in Zweifel gezogen.
52Gemäß § 3 Abs. 1 der 16. BImSchV ist der Beurteilungspegel für Straßen nach Abschnitt 3 in Verbindung mit Abschnitt 1 der Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen – Ausgabe 2019 – RLS-19 (VkBl. 2019, Heft 20, lfd. Nr. 139, S. 698) zu berechnen. Die Vorgängerfassung dieser Vorschrift verwies noch auf Anlage 1 zur 16. BImSchV, die wiederum die Berechnungsmethode der Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen – Ausgabe 1990 – RLS-90 (VkBl. 1990, Heft 7, lfd. Nr. 79) für anwendbar erklärte. Auch wenn sich damit mit Wirkung zum 1. März 2021 die Berechnungsgrundlage zur Bestimmung der Immissionswerte maßgeblich geändert hat, bleiben die im vorliegenden Lärmgutachten ermittelten Immissionswerte insoweit belastbar, als jedenfalls nicht anzunehmen ist, dass eine Ermittlung der Beurteilungswerte auf Basis der neuen RLS-19 zu Ergebnissen führen würde, die unterhalb der Orientierungswerte der 16. BImSchV liegen. Diese Annahme wird durch den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Zweiten Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung - 16. BImSchV) bestätigt. In diesem wird zum Verhältnis der Berechnungen nach bisheriger RLS-90 und neuer RLS-19 ausgeführt:
53„Bei Autobahnen zeigt der Vergleich, dass das aktualisierte Berechnungsverfahren nach den RLS-19 Immissionswerte ausgibt, die um durchschnittlich rund 2 dB(A) nachts höher liegen als beim bisherigen Verfahren nach den RLS-90.
54Für Bundesstraßen außerorts werden mit den RLS-19 um voraussichtlich etwa 1 dB(A) höhere Immissionswerte als mit den RLS-90 berechnet.
55Bei Landesstraßen außerorts ist durch die Anwendung des Berechnungsverfahrens nach den RLS-19 mit um fast 3 dB(A) höheren Immissionspegeln zu rechnen.
56Für Kommunalstraßen innerorts werden dagegen mit den RLS-19 um ca. 1dB(A) geringere Immissionswerte als mit den RLS-90 berechnet.“
57Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur - Zweite Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung - 16. BImSchV), S. 12 f., Stand: 12.2.2020, abrufbar unter: https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/Gesetze/Gesetze-19/zweite-verordnung-zur-aenderung-der-sechzehnten-verordnung-zur-durchfuehrung-des-immissionsschutzgesetz.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 10. Mai 2022.
58Unterstellt man auf dieser Basis, dass die Beurteilungspegel am klägerischen Wohnort nach der neuen Berechnungsmethode unter Anwendung der RLS-19 um ca. 1 dB(A) geringer ausfallen, so hätten die Beurteilungspegel am klägerischen Wohnort im ursprünglichen Ist-Zustand immer noch bei gerundeten 62-63 dB(A) tags und 52-53 dB(A) nachts und somit bis zu 4 dB(A) tags wie nachts über den vorgenannten Orientierungswerten gelegen. An dieser Wertung würde auch die weitere Berücksichtigung eines großzügigen Puffers nichts ändern.
59II. Die Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Vornahme verkehrsbeschränkender Maßnahmen aus Gründen des Lärmschutzes in Gestalt der Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf dem im Lärmgutachten vom 26. Februar 2020 benannten Abschnitt 1 der N.------straße auf 30 km/h ermessensfehlerhaft abgelehnt.
60Das Gericht kann dabei die Ermessensentscheidung nur darauf überprüfen, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens eingehalten und ob sie von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 Satz 1 VwGO). Das Gericht darf die getroffene Entscheidung nur anhand derjenigen Erwägungen überprüfen, die die Behörde angestellt hat. Tragen diese Erwägungen nicht, so ist die Entscheidung rechtswidrig und muss aufgehoben werden. Das Verwaltungsgericht ist hingegen nicht befugt, die behördliche Entscheidung aus Gründen, die für die Verwaltung nicht oder nicht allein ausschlaggebend waren, im Ergebnis aufrechtzuerhalten oder sich aus Erwägungen, welche die Behörde (noch) nicht angestellt hat, an die Stelle der Behörde setzen und das Ermessen selbst ausüben.
61VG Düsseldorf, Urteil vom 25. Januar 2022 – 14 K 5164/21 – juris Rn. 54; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. September 2020 – 14 K 3555/16 – juris Rn. 91.
62Im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung muss die Behörde eine Gesamtbilanz der Folgen unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls vornehmen. Dabei wirkt Ziffer 12 (X.) zu Zeichen 274 der VwV-StVO ermessenslenkend, wonach Geschwindigkeitsbeschränkungen aus Gründen des Lärmschutzes nur nach Maßgabe der Lärmschutz-Richtlinien-StV angeordnet werden dürfen.
63Die Behörde hat im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens neben den Interessen des Betroffenen sowohl die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer zu würdigen als auch die Interessen der Anlieger anderer Straßen in Rechnung zu stellen, ihrerseits von übermäßigem Lärm verschont zu bleiben, der als Folge verkehrsberuhigender oder verkehrslenkender Maßnahmen eintreten kann. Sie darf dabei in Wahrung allgemeiner Verkehrsrücksichten und sonstiger entgegenstehender Belange von derartigen Maßnahmen umso eher absehen, je geringer der Grad der Lärmbeeinträchtigung ist, dem entgegengewirkt werden soll. Aber auch bei erheblichen Lärmbeeinträchtigungen kann sie von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen ermessensfehlerfrei absehen, wenn dies im Einzelfall mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile gerechtfertigt erscheint. Bei erheblichen Lärmbeeinträchtigungen müssen die der Anordnung verkehrsberuhigender oder verkehrslenkender Maßnahmen entgegenstehenden Verkehrsbedürfnisse und der genannten Anliegerinteressen allerdings schon von einigem Gewicht sein, wenn mit Rücksicht auf diese Belange ein Handeln der Behörde unterbleibt.
64Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 – 7 C 76.84 – juris Rn. 15, und Beschluss vom 18. Oktober 1999 – 3 B 105.99 – juris Rn. 2; OVG Münster, Urteile vom 2. Dezember 1997 – 25 A 4997/96 – juris Rn. 22, und vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 50 f.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. September 2020 – 14 K 3555/16 – juris Rn. 82.
65Zwar kann die zuständige Verkehrsbehörde im Rahmen einer Abwägung zwischen den unzumutbar beeinträchtigten Interessen der Anwohner und möglicherweise übergeordneten Verkehrsinteressen zu dem Ergebnis kommen, keine oder andere als die von den Betroffenen gewünschten verkehrsbeschränkenden Maßnahmen anzuordnen. Voraussetzung hierfür ist jedoch stets, dass eine solche Abwägung überhaupt nachvollziehbar stattgefunden hat und auch im Ergebnis vertretbar ist.
66Vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 9. November 2017 – 2 LB 22/13 – juris Rn. 126.
67Bei der Prüfung, ob und gegebenenfalls welche verkehrsregelnden Anordnungen im Einzelfall geboten sind, ist auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit sowie auf das Vorhandensein bzw. das Fehlen einer Lärmvorbelastung abzustellen. Maßgeblich sind auch andere Besonderheiten des Einzelfalles. Von Bedeutung für die Bewertung der Zumutbarkeit des Lärms ist dabei insbesondere, ob der ihn auslösende Verkehr die betroffenen Straßen funktionsgerecht oder funktionswidrig in Anspruch nimmt.
68Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juni 1986 – 7 C 76.84 – juris Rn. 13, und vom 15. Februar 2000 – 3 C 14.99 – juris Rn. 15; VGH Mannheim, Urteil vom 16. Mai 1997 – 5 S 1842/95 – juris Rn. 30; OVG Münster, Urteile vom 2. Dezember 1997 – 25 A 4997/96 – juris Rn. 22, und vom 21. Januar 2003 – 8 A 4230/01 – juris Rn. 18.
69Dabei ist auch zu beachten, dass Verkehrslärm, der von den Anliegern einer Bundesfernstraße (einschließlich Ortsdurchfahrt) oder auch einer Landesstraße bzw. einer Kreisstraße wegen ihrer der Widmung entsprechenden Verkehrsbedeutung ertragen werden muss, den Anliegern einer Ortserschließungsstraße nicht ohne Weiteres in gleicher Weise zumutbar ist.
70Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 – 7 C 76.84 – juris Rn. 13; OVG Münster, Urteile vom 2. Dezember 1997 – 25 A 4997/96 – juris Rn. 43, und vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 55.
71Darüber hinaus hat die Straßenverkehrsbehörde zu prüfen, ob und welche Verkehrsregelungen, die den Verkehr zum Zwecke der Verkehrssicherheit oder -ordnung lenken oder beschränken sollen, zu dem angestrebten Zweck geeignet und erforderlich sind.
72Vgl. OVG Münster, Urteil vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 61. m.V.a. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1993 – 11 C 35.92 – juris Rn. 17, Beschluss vom 23. März 1990 – 3 B 25.90 – juris Rn. 3; OVG Münster, Urteil vom 2. Dezember 1997 – 25 A 4997/96 – juris Rn. 19.
73Dabei ist nicht zuletzt darauf abzustellen, welche Lärmminderung aufgrund der jeweiligen Verkehrsregelung zu erwarten ist. Die Lärmschutz-Richtlinien-StV fordern insoweit im Regelfall eine Pegelminderung von mindestens 3 dB(A) (Nr. 4.1). Allerdings ist zumindest bei besonders hoher Lärmbelastung zu berücksichtigen, dass nach akustischen Erkenntnissen auch eine Pegelminderung von weniger als 3 dB(A) wahrnehmbar ist,
74OVG Münster, Urteil vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 63,
75und in Betracht zu ziehen, dass schon das Unterbleiben einzelner Spitzenpegel für das akustische Empfinden der Betroffenen eine spürbare Erleichterung bedeuten kann, auch ohne dass eine Reduzierung des insoweit nur beschränkt aussagekräftigen Mittelungspegels um 2 oder 3 dB(A) erreicht wird.
76Vgl. OVG Münster, Urteile vom 1. Juni 2005 – 8 A 2350/04 – Rn. 65, vom 12. Januar 1996 – 25 A 2475/93 – Rn. 55, und vom 21. Januar 2003 – 8 A 4230/01 – juris Rn. 66.
77Ausgehend von diesen Maßstäben erweist sich die Ermessensentscheidung der Beklagten als rechtswidrig, denn eine Abwägung zwischen den unzumutbar beeinträchtigten Interessen des Klägers und möglicherweise übergeordneten Verkehrsinteressen hat nicht nachvollziehbar stattgefunden. Die Beklagte verkennt den maßgeblichen Prüfungsmaßstab und erfasst die Interessen des Klägers unzureichend.
78Die Ablehnungsbegründung verkehrsbeschränkender Maßnahmen in Bezug auf die N.------straße zwischen I. Straße und dem Beginn der temporeduzierten Zone vor der Schule (Abschnitt 1) ist nicht nachvollziehbar und in sich unplausibel. Zwar führt die Beklagte aus, die N.------straße übe seit Jahrzehnten die Funktion einer wichtigen Verbindungsachse im Stadtbezirk aus. Nicht ausreichend und nicht belegt ist die Behauptung, eine Herabsetzung der derzeit zulässigen Höchstgeschwindigkeit führe zu einer Verdrängung des Verkehrs auf kleinere Straßen im Viertel und belaste dortige Anwohner zusätzlich. Insoweit fehlt es an einer nachvollziehbaren, an belastbare Tatsachen anknüpfenden Prognose, die sich etwa mit einer durch eine Geschwindigkeitsherabsetzung eintretenden Verkehrsbelastung und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Leichtigkeit des Verkehrs befasst. Insbesondere hat sich die Beklagte nicht mit dem vom Kläger in diesem Zusammenhang geltend gemachten Einwand auseinander gesetzt, dass mit einer Verlagerung des Verkehrs auf Nebenstraßen nicht zu rechnen sei, da in diesen bereits Tempo 30 gelte. Ebenso bleibt die Beklagte eine Auseinandersetzung mit einer aktuellen Studie des Umweltbundesamtes schuldig, in der es in diesem Zusammenhang heißt:
79„Hauptverkehrsstraßen dienen der Bündelung des durchgehenden Verkehrs und sollen so zu einer Entlastung des untergeordneten (Wohn-)straßennetzes beitragen. Eine Tempo-30-Anordnung soll diesen Grundsatz in der Regel nicht in Frage stellen. Die Verkehrsfunktion der übergeordneten Straße soll auch mit Tempo 30 erhalten bleiben.
80Die Gefahr unerwünschter Verlagerungen besteht vor allem, wenn die Nutzung untergeordneter Straßen Reisezeitvorteile gegenüber der Hauptstraße verspricht. Das Verkehrsverhalten wird aber nicht nur von rationalen und messbaren Faktoren wie der Reisezeit beeinflusst, sondern auch von der subjektiven Wahrnehmung. So können Störungen im Kfz-Verkehrsfluss und damit verbundene häufige Halte auch bei vergleichbaren Reisezeiten dazu führen, dass eine Strecke gewählt wird, auf der zwar langsamer, aber stetiger gefahren werden kann.
81Geringe Reisezeitverluste, verstetigte Verkehrsflüsse und die in den Nebennetzen häufig vorhandenen Tempo-30-Zonen mit Rechts-vor-Links-Regelungen führen in vielen Fällen dazu, dass die Gefahr von unerwünschten Schleichverkehren gering ist.“
82Umweltbundesamt, Fachgebiet 3.1 Umwelt und Verkehr, „Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen“, November 2016 (abrufbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/2546/publikationen/wirkungen_von_tempo_30_an_hauptstrassen.pdf), zuletzt abgerufen am 10. Mai 2022.
83Auch in der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte auf Frage des Gerichts erklärt, zu Verlagerungseffekten nach im Stadtgebiet bereits erfolgten Geschwindigkeitsherabsetzungen über keinerlei Dokumentation zu verfügen. Ihr seien jedoch in Einzelfällen Verlagerungseffekte bekannt.
84Weiter ist nicht erkennbar, dass die Beklagte die Belange des Klägers überhaupt in relevanter Weise in ihre Abwägung eingestellt hat. Weder im Bescheid noch im Schriftwechsel im Gerichtsverfahren geht sie auf den Grad der Lärmbelastung und der damit verbundenen Nachteile für den Kläger, etwa in Form von Gesundheitsrisiken, ein.
85Die Beklagte verkennt, dass es für die von ihr im Rahmen der Ermessensbetätigung vorzunehmenden Gesamtbilanz der Folgen unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls wesentlich darauf ankommt, in welchem Maße die jeweiligen Orientierungswerte – hier die der 16. BImSchV – überschritten sind. Nach der vorgenannten höchstrichterlichen Rechtsprechung bestimmt der Grad der Lärmbeeinträchtigung gerade, welches Gewicht die etwa entgegenstehenden Verkehrsinteressen haben müssen, um ein Absehen von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen zu rechtfertigen.
86Der Anspruch des Klägers auf fehlerfreie Ausübung des der Beklagten eingeräumten Ermessens ist nach alledem nicht erfüllt, so dass die Beklagte den Antrag des Klägers erneut bescheiden muss. Da keine Spruchreife vorliegt und die Beklagte vielmehr noch weitere erhebliche Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht und eine darauf gestützte Abwägungsentscheidung vorzunehmen hat, die verschiedene gegenläufige Belange und Interessen vollständig berücksichtigt, war die Beklagte entsprechend dem Antrag des Klägers gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
87Vgl. VG Regensburg, Urteil vom 19. April 2018 – RN 5 K 17.1540 – juris Rn. 71; VG Arnsberg, Urteil vom 29. November 2007 – 7 K 3982/06 – juris Rn. 74-79.
88In diesem Zusammenhang weist die Kammer vorsorglich darauf hin, dass eine ordnungsgemäße Ermessensausübung aufgrund des von der 16. BImSchV nun vorausgesetzten RLS-19-Berechnungsverfahrens von der Beklagten verlangen dürfte, die anhand überholter Maßstäbe ermittelten Immissionswerte am klägerischen Wohnort erneut zu bestimmen. Denn nur auf Basis belastbarer Beurteilungspegel wird die Beklagte in der Lage sein, die Betroffenheit des Klägers ausreichend in ihre Ermessenserwägungen einzustellen und hinreichend zu würdigen.
89Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
90Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 709 Satz 2 ZPO.
91Rechtsmittelbelehrung
92Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
931. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
100Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5,
10148143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
102Beschluss
103Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
1045.000.- €
105festgesetzt.
106Gründe
107Der festgesetzte Streitwert entspricht dem gesetzlichen Auffangstreitwert im Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 46.15 des Streitwertkatalogs des Bundesverwaltungsgerichts).
108Rechtsmittelbelehrung
109Gegen diesen Beschluss kann Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
110Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
111Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.