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In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren
1. der Alternative für Deutschland (AfD), vertreten durch den Bundesvorstand, dieser vertreten durch den Bundessprecher, Herrn Tino Chrupalla, und die stellvertretende Bundessprecherin, Frau Alice Weidel, Schillstraße 9, 10785 Berlin,
2. Junge Alternative für Deutschland (JA), vertreten durch den Bundesvorsitzenden, Herrn Carlo Clemens, Schillstraße 9, 10785 Berlin,
Klägerinnen,
Prozessbevollmächtigte: XXX
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, Merianstraße 100, 50765 Köln, Gz.: Z13 018 570002 0032 0006/19S,
Beklagte,
Prozessbevollmächtigte: XXX
wegen Einstufung der „Jungen Alternative“ als Verdachtsfall
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldnerinnen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Klägerin zu 1. ist eine im Deutschen Bundestag, in allen 16 deutschen Landesparlamenten und im Europäischen Parlament vertretene politische Partei. Die Klägerin zu 2. ist die offizielle satzungsgemäße Jugendorganisation der Klägerin zu 1.
3Im Juni 2018 beschloss die Klägerin zu 2. auf einem Bundeskongress den „Deutschlandplan“, den sie als ihren Wertekompass mit den Grundprinzipien ihrer politischen Arbeit bezeichnet.
4Am 3. September 2018 gaben der Bremer Innensenator und der Innenminister Niedersachsens bekannt, dass die dortigen Landesverbände der Klägerin zu 2. zu Beobachtungsobjekten der jeweiligen Landesverfassungsschutzbehörden erklärt worden seien.
5Am 13. September 2018 beschloss der Bundesvorstand der Klägerin zu 1. die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema einer möglichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz (nachfolgend Bundesamt) befasst. Ebenso beauftragte die Klägerin zu 1. den Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek mit der Erstellung eines Gutachtens zur Erarbeitung von Handlungsempfehlungen, um eine Beobachtung und Einstufung des Bundesamtes zu verhindern.
6Um eine mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu vermeiden, erstellten die Klägerinnen zudem ein Elf-Punkte-Papier. Dieses beinhaltete unter anderem das Unterlassen des Absingens aller drei Strophen des Deutschlandliedes, einen schnelleren Ausschluss auffälliger Mitglieder, die Verlängerung der Probezeit für Neuzugänge auf ein halbes Jahr, die Abschaffung von WhatsApp- und Facebook-Gruppen auf Kreisebene und die Überwachung von WhatsApp-und Facebook-Gruppen auf Landesebene durch zwei Verantwortliche.
7Die Klägerin zu 2. beschloss im Rahmen eines außerordentlichen Bundeskongresses am 4. November 2018 die Auflösung ihres niedersächsischen Landesverbandes. Hinsichtlich des Landesverbandes Bremen wurde eine Kommission eingerichtet, die Vorschläge für das weitere Vorgehen erarbeiten sollte.
8Im November 2018 erklärte auch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg den baden-württembergischen Landesverband der Klägerin zu 2. zum Beobachtungsobjekt, was durch Presseveröffentlichungen am 15. November 2018 publik wurde. Am 16. November 2018 erklärten 44 Mitglieder des Landesverbandes ihren Austritt.
9Der Präsident des Bundesamtes gab im Rahmen einer Pressekonferenz am 15. Januar 2019 bekannt, dass die Klägerin zu 1. - als Ergebnis der Prüfung zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung bei der Klägerin zu 1. und ihren Teilorganisationen auf der Grundlage eines behördeninternen Gutachtens (nachfolgend Gutachten I) - als „Prüffall“ bearbeitet werde. Dem Bundesamt lägen erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Politik der Klägerin zu 1. vor. Diese seien nicht hinreichend verdichtet, um eine Beobachtung auch unter Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln einzuleiten.
10Die Klägerin zu 2. (und die der Klägerin zu 1. zugeordnete Sammlungsbewegung „Der Flügel“) würden hingegen bereits als Verdachtsfall eingestuft. Es lägen inhaltlich und numerisch hinreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei der Klägerin zu 2. um eine extremistische Bestrebung handele. Eine gründliche politikwissenschaftliche und juristische Analyse legten nahe, dass die Klägerin zu 2. die Würde des Menschen als obersten Wert der Verfassung nicht respektiere. Sie ziele auf den Vorrang eines ethnisch-homogenen Volksbegriffs und mache diejenigen, die dieser ethnisch geschlossenen Gemeinschaft nicht angehörten, in eindeutiger Weise verächtlich. So fordere die Klägerin zu 2. unter anderem eine generelle abendliche Ausgangssperre für alle männlichen Flüchtlinge, „um die Sicherheit für die Bevölkerung vor allem der Frauen in Deutschland zu erhöhen“. Eine über reine Islamkritik deutlich hinausgehende Muslimfeindlichkeit trete in vielen Redebeiträgen zutage, in denen immer wieder von einem „Bevölkerungsaustausch“ durch Muslime gewarnt werde. So bezeichne die Klägerin zu 2. die Migrationspolitik der Bundesregierung als „wahnsinniges Bevölkerungsexperiment“, für welches das „Volk [...] mit seinem Blut“ bezahle und welches dazu führe, dass das deutsche Volk „abgeschafft“ werde. Es lägen darüber hinaus klare Anhaltspunkte für eine migrations- und insbesondere islamfeindliche Haltung vor. Dieser werde mit aggressiver Rhetorik Nachdruck verliehen. Die Klägerin zu 2. richte sich nach bisherigen Erkenntnissen auch gegen das Demokratieprinzip. Es lägen zahlreiche pauschal diffamierende Aussagen über die Regierung und das gesamte politische System vor. In der Gesamtschau stellten sich diese als absolute Verächtlichmachung des Parlamentarismus dar, ohne dass von Seiten der Klägerin zu 2. eine den verfassungsrechtlichen Vorgaben pluralistischer Willensbildung entsprechende Alternative benannt werde. Den etablierten Parteien, „diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz“, werde unverhohlen angedroht: „Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht - denn wir sind das Volk“. Die Programmatik der Partei zeichne sich auch durch die drastische Missachtung rechtsstaatlicher Grundprinzipien, insbesondere des Gewaltmonopols des Staates und der Rechtsbindung der Verwaltung, aus.
11Am 16. und 17. Februar 2019 beschloss die Klägerin zu 2. auf einem Bundeskongress Änderungen an ihrem „Deutschlandplan“.
12Auf den Eilantrag der Klägerin zu 1. untersagte das VG Köln dem Bundesamt mit seitens der Beklagten nicht mit Rechtsmitteln angegriffenem Beschluss vom 26. Februar 2019 im Wege der einstweiligen Anordnung, in Bezug auf die Klägerin zu 1. zu äußern oder verbreiten, diese werde als „Prüffall“ bearbeitet (13 L 202/19). Gegenstand des Eilverfahrens war (allein) die Einstufung der Klägerin zu 1. als Prüffall und die Bekanntgabe dieser Einstufung. Die Einstufung der Klägerin zu 2. war mangels entsprechenden Antrags nicht Gegenstand des Verfahrens.
13Auf einer Pressekonferenz der Klägerin zu 2. am 25. Juni 2019 setzte sich diese mit dem Gutachten I und der Einstufung durch das Bundesamt auseinander. Der Deutschlandplan sei modifiziert worden, um Missverständnissen vorzubeugen. Im Übrigen habe das Bundesamt den Volksbegriff der Klägerin zu 2. falsch ausgelegt.
14Mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 forderten die Klägerinnen das Bundesamt auf, es zu unterlassen, die Klägerin zu 2. als Verdachtsfall einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen, sowie es zu unterlassen, Daten über die Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ zu sammeln, zu speichern und/oder gespeichert zu lassen.
15Am selben Tag gab das Bundesamt bekannt, dass es alle Mitglieder der Klägerin zu 2. in die Kategorie „Rechtsextremismus“ einordne.
16Mit Schreiben vom 6. Januar 2020 lehnte das Bundesamt gegenüber den Klägerinnen ab, die geforderte Unterlassungserklärung abzugeben.
17Die Klägerinnen haben am 13. Januar 2020 Klage erhoben.
18Zur Begründung tragen sie vor, dass sie beide in eigenen Rechten betroffen seien. Auch die Klägerin zu 1. sei unmittelbar betroffen, da die Prüfung der Klägerin zu 2. auch der Einschätzung diene, ob die Klägerin zu 1. selbst verfassungsfeindlich agiere und beobachtet werde.
19Die Klägerinnen hätten vor der Einstufung durch das Bundesamt angehört werden müssen. Es fehle überdies eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die Handlungen des Bundesamtes. Die Handlungen des Bundesamtes kämen - insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Medienlandschaft - einem Parteienverbot gleich, daher müssten auch die für ein Parteiverbot geltenden Maßstäbe angelegt werden. Gem. Art. 21 Abs. 4 GG liege die Entscheidungskompetenz allein beim Bundesverfassungsgericht. Das BVerfSchG sei auf politische Parteien daher nicht anwendbar. Das Bundesamt missachte zudem die Anforderungen der EMRK und der Venedig-Kommission.
20Die Vorgaben der §§ 3 und 4 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) lägen überdies nicht vor. Es gebe keine Erklärungen der Klägerin zu 2., die Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung darstellten. Die Klägerinnen grenzten sich mit einer Unvereinbarkeitsliste bewusst von extremistischen Organisationen ab. Die Klägerin zu 2. propagiere keinen ethnischen Volksbegriff. Die Klägerin zu 2. schließe auch Zuwanderer ein, die sich dem deutschen Volk zugehörig fühlten. Dies sei maximal inklusiv und verfassungsrechtlich unbedenklich. Überdies sei auch die bloße Verwendung eines Volksbegriffs nicht relevant, da er nicht mit einem planvollen politischen Konzept verbunden sei und daher keine politischen Implikationen habe. Ob ein solches politisches Konzept gegen die Menschenwürde verstoße, hänge von der konkreten Ausgestaltung des Konzepts ab, nicht aber von einem gewissen Volksverständnis. Dem Gesetzgeber sei eine Bezugnahme auf ethnische oder kulturelle Kriterien - auch im Zusammenhang mit Fragen der Staatsangehörigkeit - ohnehin nicht fremd. Es sei ein rechtlich zulässiges politisches Ziel, sich dafür einzusetzen, dass eine bestehende Bevölkerungsstruktur im Wesentlichen erhalten bleibe, sofern Menschen nicht diskriminiert oder rechtlos gestellt würden. Gleiches gelte für die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft. Auch zähle etwa das Grundrecht auf Asyl nicht zu den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten unveränderlichen Grundrechten. Daher könne auch eine Reduzierung des aktuellen Status nicht verfassungsfeindlich sein. Der Gebrauch von typischerweise von Rechtsextremisten verwendeten Vokabulars stelle auch (allein) keinen Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung dar. Es komme auf den Willen an, verfassungsfeindliche Handlungen vorzunehmen.
21Die Klägerin zu 2. lebe den vom Bundesamt behaupteten rassistischen Volksbegriff auch faktisch nicht. In ihr engagierten sich zahlreiche Mitglieder mit Migrationshintergrund. Auch im aktuellen Bundesvorstand befänden sich mehrere Personen mit Migrationshintergrund, etwa der Bundesvorsitzende Carlo Clemens, der philippinische Wurzeln habe.
22Ebenso sei polemische Kritik einer Oppositionspartei gegenüber den übrigen Parteien oder der Bundesregierung nicht sogleich Kritik am parlamentarischen Regierungs- oder Demokratiesystem. Den Äußerungen einzelner Parteimitglieder liege auch keine ausländer-, islam- oder muslimfeindliche Agitation zugrunde, die als hinreichend konkrete Anhaltspunkte einzustufen seien. Die Klägerin zu 2. äußere sich insbesondere nicht pauschal abwertend über Ausländer. Dass männliche Zuwanderer im Zusammenhang mit Straftaten, bei denen Messer verwendet würden, überproportional häufig zu finden seien, werde durch die Polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt. Die Statistiken rechtfertigten zwar nicht den Vorwurf, jeder Migrant sei kriminell. Solche Vorwürfe seien aber auch nicht geäußert worden. Die vom Bundesamt geäußerte Kritik an dem über den Webshop der Klägerin zu 2. vertriebenen Aufkleber mit der Aufschrift „Black Knives Matter“ überzeuge nicht. Denn dieses Motto sei weltweit bekannt. Auch über Amazon könnten T-Shirts mit dem Aufdruck bestellt werden. Die Gleichsetzung des Islam mit Islamismus sei nicht per se unzulässig, da islamistische Elemente in islamischen Quellen enthalten seien. Nur weil der Islam abgelehnt werde, folge daraus nicht, dass jeder Mensch islamischen Glaubens abgelehnt werde.
23Die Äußerungen der Klägerin zu 2. richteten sich auch nicht gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip. Insbesondere ergebe sich aus dem Begriff der „System“- oder „Kartellpartei“ nicht, dass das Mehrparteiensystem schlechthin angegriffen werde. Gleiches gelte für den Begriff der „Corona-Diktatur“. Dadurch werde die parlamentarische Demokratie nicht in Frage gestellt. Immer wieder seien Maßnahmen der Bundesregierung als offensichtlich verfassungswidrig aufgehoben worden, daher dürfe man dies auch überzogen kritisieren.
24Auch müsse die „Republikaner-Rechtsprechung“ zur Beurteilung herangezogen werden. Insbesondere sei auch bei der Verdachtsfall-Einstufung erforderlich, dass sich in der Partei ein einheitliches Bild hinsichtlich einer verfassungsfeindlichen Bestrebung ergebe. Das Bundesamt habe dies aber nicht dargelegt.
25Auch hätten die Klägerinnen Maßnahmen eingeleitet, um Entgleisungen einzelner Mitglieder entgegen zu treten. So sei etwa der gesamte niedersächsische Landesverband der Klägerin zu 2. im Jahr 2018 aufgelöst worden, zudem seien einige Mitglieder ausgetreten. Dies - wie auch andere entlastende Umstände - habe das Bundesamt nicht angemessen gewürdigt. Das Bundesamt habe ebenfalls die Erklärung der Klägerin zu 1. vom 18. Januar 2021 nicht angemessen gewürdigt. Diese räume Missverständnisse über das Volksverständnis der Klägerinnen aus und sei von dem damaligen Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2. und dem gesamten im April 2021 neugewählten Bundesvorstand der Klägerin zu 2. unterzeichnet worden. Dass die Erklärung nicht taktisch motiviert sein könne, folge aus dem Umstand, dass es sich nicht um eine neue Positionierung handele, sondern um die Klarstellung einer bereits bestehenden Positionierung. Bei der Beurteilung der Äußerungen von Marvin Neumann unterstelle das Bundesamt, dass dessen Positionen den Delegierten vor seiner Wahl hätten bekannt sein müssen. Es gebe aber keinen Beleg für diese Vermutung. Auch sei Neumann letztlich auf Druck des Bundesvorstands der Klägerin zu 1. ausgetreten. Dies sei den Klägerinnen entlastend zuzurechnen, auch wenn es innerhalb der Partei abweichende Meinungen dazu gegeben habe. Die Äußerungen Neumanns seien auch insbesondere vom aktuellen Vorsitzenden der Klägerin zu 2. verurteilt worden.
26Das Bundesamt habe sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen und handele aus politischen Motiven. Die Innenministerin habe selbst in einer vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften Publikation veröffentlicht. Durch das Weiterleiten vertraulicher Schriftsätze an die Presse werde Druck auf Gericht und ehrenamtliche Richter aufgebaut. Das Gutachten III sei manipuliert worden. Die Bundesregierung habe Einfluss genommen und der Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe an der Erstellung der Gutachten mitgewirkt.
27Das Bundesamt lege Aussagen der Mitglieder der Klägerinnen falsch aus. Man dürfe sich bei der Auslegung von Äußerungen nicht auf den Wortlaut beschränken. Es müsse vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) - insbesondere im Falle eines politischen Meinungskampfes - jeweils der Kontext beleuchtet werden. Lasse eine von mehreren Deutungen eine verfassungskonforme Auslegung zu, so habe die Beklagte diese Auslegung zugrunde zu legen. Äußerungen, die für sich genommen verfassungsrechtlich zulässig seien, könnten nicht gleichzeitig als Beleg für eine verfassungsfeindliche Bestrebung dienen. Das Bundesamt verkenne die Begriffe der Menschenwürde, der Demokratie und des Rechtsstaats. Auch könne nicht jede Äußerung eines jeden Mitglieds der Klägerin zu 2. zugerechnet werden, wenn diese die Äußerung nicht gebilligt oder geduldet habe. Das Bundesamt habe dazu nicht substantiiert vorgetragen. Entgleisungen einzelner Anhänger reichten nicht aus. Erforderlich sei, dass die Partei von einer entsprechenden Grundtendenz beherrscht werde. Auch müssten verfassungsfeindliche Bestrebungen von einem direkten Vorsatz begleitet sein. Ergreife die Partei Maßnahmen, um Entgleisungen einzelner Mitglieder zu unterbinden, so entfalle der Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung. Das Bundesamt verkenne die Darlegungs- und Beweislast.
28Die Datensammlung des Bundesamtes stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der Klägerin auf informationelle Selbstbestimmung dar und unterliege daher einem Beweisverwertungsverbot. Die vom Bundesamt im Juni 2021 nachgelieferten Verwaltungsvorgänge seien zudem deshalb nicht verwertbar, da nicht mitgeteilt worden sei, welche Unterlagen für das Verfahren Relevanz hätten. Auch sei es ein Versäumnis des Bundesamtes, dass die Unterlagen dem Gericht - und damit den Klägerinnen - nicht schon früher übermittelt worden seien. Vor dem Hintergrund der jahrelangen Praxis der Beklagten, V-Leute schon vor der Beobachtung in Parteien einzuschleusen, sei es Aufgabe der Beklagten, darzulegen, welche Aussagen von Personen getätigt worden seien, die im Einflussbereich des Staates stünden.
29Die Einstufung und Beobachtung sei darüber hinaus unverhältnismäßig. Dies folge bereits aus dem Umstand, dass die Klägerin zu 2. bereits am 15. Januar 2019 als Verdachtsfall eingestuft worden sei und nunmehr seit zwei Jahren beobachtet und geprüft werde, ohne dass eine Hochstufung erfolgt sei. Auch sei damit im aktuellen Medienzeitalter ein so gravierender Eingriff in die Rechte der Klägerinnen als politische Partei verbunden, dass dieser nicht gerechtfertigt werden könne, zumal auf Seiten des Bundesamtes nur ein Verdacht vorliege. Auch bei anderen Parteien - insbesondere der CSU - fänden sich im Übrigen vergleichbare Äußerungen zur Begrenzung der Zuwanderung. Es liege zudem eine Ungleichbehandlung gegenüber der Jugendorganisation der Linkspartei vor. Diese werde vom Bundesamt insgesamt nicht als Verdachtsfall eingestuft, obwohl die mitgliederstärksten Landesverbände als erwiesen extremistisch eingestuft seien. Auch sei das vom Bundesamt beurteilte extremistische Personenpotenzial der Jugendorganisation der Linkspartei im Verhältnis deutlich höher.
30Die Öffentlichkeit habe über die Einstufung auch nicht unterrichtet werden dürfen. Eine Verdachtsberichterstattung sei unzulässig. Es liege ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht vor.
31Die unter dem 3. Januar 2022 dem Gericht vorgelegte Materialsammlung sei rechtswidrig angelegt worden, da sie der gegenüber dem Gericht abgegebenen Stillhaltezusage widerspreche. Auch zeige die Datensammlung, dass es sich nur um Ausreißer handele. Insbesondere zeige der Vorwurf, auf den Dienst „Telegram“ verwiesen zu haben, dass das Bundesamt krampfhaft versuche, Verstöße zu konstruieren. Denn verfassungsschutzrechtlich relevant sei die vom Bundesamt beanstandete Passage nicht. Auch seien die genannten Äußerungen nicht kontextualisiert und falsch interpretiert worden. Schließlich habe der Bundesvorstand die betroffenen Parteimitglieder zu schriftlichen Stellungnahmen aufgefordert, diese intern ausgewertet und im Anschluss Parteiordnungsmaßnahmen ergriffen.
32Die Klägerinnen beantragen,
331. die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, die Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen,
hilfsweise,
36die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, die Klägerin zu 2. aufgrund der Sachlage im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung und der Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als „Verdachtsfall“ einzuordnen, zu beobachten, behandeln, zu prüfen und/oder zu führen,
372. die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, durch das Bundesamt für Verfassungsschutz öffentlich bekanntzugeben, dass die Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ eingeordnet, beobachten, behandelt, geprüft und/oder geführt wird,
hilfsweise,die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, aufgrund der Sachlage im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung und der Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz öffentlich bekanntzugeben, dass die Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ eingeordnet, beobachtet, behandelt, geprüft und/oder geführt wird,
403. der Beklagten für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das Verbot der Ziffer 1. und/oder 2. ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 10.000 Euro anzudrohen,
4. festzustellen, dass die Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung der Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ am 15. Januar 2019 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war,
5. festzustellen, dass die öffentliche Bekanntgabe der Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung der Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ am 15. Januar 2019 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war,
6. festzustellen, dass die Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung der Klägerin zu 2. als „Verdachtsfall“ im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt,
49die Klage abzuweisen.
50Sie trägt zur Begründung vor, dass eine Anhörung der Klägerinnen nicht erforderlich gewesen sei. Die Klage sei hinsichtlich der Einstufung zum Verdachtsfall unzulässig, da es sich dabei um eine rein behördeninterne Maßnahme handele, die mangels Außenwirkung nicht angegriffen werden könne. Erst wenn an die behördeninterne Einstufung Maßnahmen im Außenverhältnis geknüpft würden, sei Rechtsschutz gegen diese Maßnahmen möglich.
51Für eine Beobachtung der Klägerin zu 2. reichten vereinzelte tatsächliche Anhaltspunkte aus. Wie gewichtig diese Anhaltspunkte sein müssten, ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Nicht erforderlich sei insbesondere, dass die beobachtete Partei von einer verfassungsfeindlichen Grundtendenz beherrscht werde. Dieses Erfordernis gelte nur für Parteiverbote. Die Beobachtung und Einstufung der Klägerin zu 2. sei mit einem Parteiverbot aber nicht gleichzusetzen. Abstufungen hinsichtlich der Art und Intensität der Beobachtung ergäben sich nur aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Sobald erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung vorlägen, erlaube § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG die Sammlung und Auswertung diesbezüglicher Informationen. Im Rahmen einer Prüfungsphase werde auf Grundlage offenen Materials geprüft, ob sich die Anhaltspunkte erhärteten oder nicht. Sei das der Fall, so erfolge eine Einordnung als Verdachtsfall und Beobachtungsobjekt, welches bei Vorliegen weiterer gesetzlicher Voraussetzungen unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel beobachtet werden dürfe, um die Bestrebungen weiter aufzuklären. Bei der Auslegung einzelner Äußerungen sei nicht der Maßstab der äußerungs- und strafrechtlichen Maßstäbe anzuwenden, denn es gehe hier nicht darum, ob hinsichtlich einzelner Äußerungen Unterlassungs- oder Widerrufsansprüche bestünden oder diese gar strafbar seien. Für die Feststellung einer Verfassungsfeindlichkeit werde nicht vorausgesetzt, dass die in Rede stehenden Handlungen und Äußerungen illegal oder strafbar seien.
52Es existierten zahlreiche Äußerungen der Mitglieder der Klägerin zu 2., die tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung darstellten. Es handele sich um eine Vielzahl von Äußerungen, die nicht von beliebigen Parteimitgliedern, sondern von Vorstandsmitgliedern der Klägerin zu 2. oder anderen Funktionsträgern abgegeben worden seien. Diese seien der Klägerin zu 2., die hiergegen nicht konsequent einschreite, daher auch ohne weiteres zuzurechnen.
53Eine der zentralen politischen Vorstellungen und Propagandainhalte der Klägerin zu 2. sei die Vorstellung, dass das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand erhalten werden müsse und ethnisch „Fremde“ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben müssten. Es werde ein Konzept der Erhaltung der „ethnisch-kulturellen Identität“ des deutschen Volkes verfolgt. Dabei stelle das „kulturelle“ Identitätsmoment einen allenfalls untergeordneten, wenn nicht sogar vorgeschobenen Faktor dar, während es tatsächlich um die „ethnische“ Identität gehe. Das von der Klägerin zu 2. propagierte Volksverständnis stehe in Widerspruch zu dem Begriff des Volkes im Grundgesetz. Es ziele darauf ab, das grundgesetzliche Verständnis des deutschen Volkes durch einen hiervon abweichenden, engeren, und zwar ethnisch verstandenen Volksbegriff zu ersetzen unter Ausklammerung der ethnisch nicht diesem Volk zugerechneten Menschen ohne Rücksicht auf deren Staatsangehörigkeit. Eine solche Sichtweise verstoße gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Entgegen dem von der Klägerin zu 2. vertretenen Verständnis, kenne das Grundgesetz keine Differenzierung zwischen den Begriffen „Volk“ und „Staatsvolk“. Das Grundgesetz verwende diese Begriffe vielmehr synonym. Es bestünden nach dem Konzept der Klägerin zu 2. tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass diese die Zuwanderung nach ethnischen, völkisch-abstimmungsmäßigen und letztlich rassetypischen Kriterien steuern wolle. Die Klägerin zu 2. führe auch die Kultur letztlich wiederum auf die Ethnie zurück. Verstärkt werde dies dadurch, dass die Klägerin zu 2. die „ethnisch-kulturelle Identität“ des Volkes mittels Begriffen und Beschreibungen diskutiere, die in rechtsextremistischen Kreisen als Signalwörter gebraucht würden. Dabei verwende die Klägerin zu 2. insbesondere die Begriffe „großer Austausch“, „Umvolkung“, „Abschaffung“, „Verschwinden“, „Untergang“ und „Aussterben“ des deutschen Volkes. Deutliche Anhaltspunkte für das Konzept einer ethnisch-kulturellen Identität ergäben sich aus der Programmschrift der Klägerin zu 2., dem Deutschlandplan. Dieser bekenne ausdrücklich, dass die von der Klägerin geforderte Migrationspolitik „an die erste Stelle den kulturellen und ethnischen Erhalt des deutschen Volkes“ stelle. Auch fordere die Klägerin dort das „Leitbild des assimilierten und loyalen Einwanderers“. Als Vergleichsmaßstab für die geforderte Assimilation werde der „autochthone Deutsche“ und gerade nicht das deutsche Volk als die Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen genannt. Damit würden in diskriminierender Weise alle deutschen Staatsangehörigen ausgegrenzt, die nicht zu den alteingesessenen Staatsangehörigen gehörten, sondern selbst eingewandert seien. Die von der Klägerin zu 2. erhobene Assimilations-Forderung sei so hoch gesetzt, dass Einbürgerungen praktisch gänzlich ausgeschlossen werden könnten. Die aufgestellten Anforderungen gingen nicht nur weit über die Gesetzeslage hinaus, sondern seien nicht ohne Verstoß gegen Art. 1, 3 und 4 GG umsetzbar. In einem Facebook-Beitrag im Juli 2019 der Klägerin zu 2. und ihres Bundesvorsitzenden zu Berichten über eine Vergewaltigung einer 18-jährigen auf Mallorca durch vier Deutsche mit Migrationshintergrund seien die mutmaßlichen Täter trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nicht als Deutsche bezeichnet worden. Die Klägerin zu 2. habe nicht nur gerügt, dass hinsichtlich der mutmaßlichen Täter deren Migrationshintergrund hätte angegeben werden sollen, sondern auch, dass ihre Nationalität verschwiegen worden sei. Daraus folge, dass die Klägerin zu 2. die betreffenden Personen trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nicht als Deutsche anerkenne. Ein völkisch-ethnisches Volksverständnis komme auch in zahlreichen Äußerungen von führenden Repräsentanten und Landesverbänden der Klägerin zu 2. zum Ausdruck.
54Die Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis entfielen auch nicht durch die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin zu 1. vom 18. Januar 2021. Es dränge sich der Verdacht auf, dass die Erklärung taktisch motiviert sei und überdies keine wirkliche Abkehr von dem bisher vertretenen Volksverständnis bedeute. Zwar werde dort das „deutsche Staatsvolk“ als Summe aller Personen bezeichnet, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand habe. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk sei von der ethnisch-kulturellen Identität rechtlich unabhängig. In Ziffer 2 der Erklärung werde sodann aber eine Unterscheidung zum „Deutschen Volk“ gemacht, welches langfristig erhalten werden wolle. Damit suggeriere die Klägerin zu 2., dass das „deutsche Staatsvolk“ ein rechtliches Gebilde, wohingegen das „deutsche Volk“ ein dem rechtlichen Konstrukt vorausliegendes tatsächliches und ethnisch-kulturell bestimmtes Gebilde sei. Auch die übrigen Formulierungen verstärkten dieses Verständnis. Das von der Klägerin zu 2. formulierte politische Ziel, „dem deutschen Staatsvolk auch eine deutsche kulturelle Identität über den Wandel der Zeit erhalten“, laufe darauf hinaus, die Einbürgerungsvoraussetzungen so zu gestalten, dass das „Staatsvolk“ dem „deutschen Volk“ möglichst entspreche und es nicht zu viele Abweichungen gebe. Dass die angebliche Zustimmung der Klägerin zu 2. zu der betreffenden Erklärung kein Beleg für die Ablehnung völkischer und rassistischer Einstellungen sei, zeige sich überdies an dem Vorgang um den ebenfalls neugewählten Co-Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2., Marvin Neumann. Dieser sei bereits vor seiner Wahl mit einer Reihe von völkischen und rassistischen Twitter-Beiträgen hervorgetreten und auf dem Bundeskongress dennoch mit deutlicher Mehrheit gewählt worden. Er sei zwar am 30. April 2021 aus der Klägerin zu 1. ausgetreten, nachdem er in einem weiteren Beitrag das chinesische Staatsmodell befürwortet und der Bundesvorstand der Klägerin zu 1. deswegen Druck ausgeübt habe. Es sei aber bezeichnend, dass der Druck nicht nur nicht von der Klägerin zu 2. ausgegangen sei, sondern diese das Vorgehen des Bundesvorstandes der Klägerin zu 1. sogar öffentlich verurteilt und eine Distanzierung abgelehnt habe. Auch zeigten zahlreiche Äußerungen nach Unterzeichnung der Erklärung, dass die Klägerin zu 2. an ihrem Verständnis und der ausländerfeindlichen Agitation festhalte.
55Der weitere Einwand der Klägerinnen, die bloße Verwendung eines Begriffes sei verfassungsschutzrechtlich irrelevant, wenn hieran nicht politische Forderungen, Ziele und Konzepte geknüpft seien, gehe fehl. Denn die Klägerin zu 2. und ihre Repräsentanten propagierten in ihren Verlautbarungen ein mit der Verfassung nicht zu vereinbarendes Volksverständnis, würben um Unterstützung und nutzten dieses Konzept als Grundlage für ihre fortwährende Kritik an der Bundesregierung. Die Klägerin zu 2. sei überdies die offizielle Jugendorganisation der Klägerin zu 1. und damit Teil einer politischen Partei. Sie wolle daher ihrem Wesen nach Einfluss auf die Gesamtpartei und auf diesem Wege auf Parlamente und Gesetzgebung nehmen.
56Darüber hinaus sei bei der Klägerin zu 2. eine ausländerfeindliche Agitation zu erkennen. In den Reihen der Klägerin fänden sich Forderungen, die darauf abzielten, Ausländern einen möglichst ungünstigen Rechtsstatus zuzuweisen und insbesondere Flüchtlinge weitgehend rechtlos zu stellen. Es gebe zahlreiche Äußerungen, mit denen Migranten pauschal verunglimpft, verächtlich gemacht und in der Folge als minderwertig und vor allem als kriminell herabgewürdigt würden. Migranten würden als „Invasoren“ und existenzielle Bedrohung des deutschen Volkes angesehen. Es werde das Ziel der „Remigration“ ausgegeben. Es sei auch insbesondere eine islam- und muslimfeindliche Agitation zu erkennen. In dieser Hinsicht entwickle die Klägerin zu 2. Vorschläge, Rechte der Muslime in Deutschland zu beschneiden. Dies reiche von der Zielsetzung, Muslimen pauschal und generell den Zuzug nach Deutschland aufgrund ihres Glaubens zu erschweren, über die Verhinderung von Moscheeneubauten bis hin zu der unter dem Slogan einer „Reconquista“ erklärten Zielsetzung, Muslime aus Deutschland und Europa zu vertreiben.
57Das Verständnis der Klägerin zu 2. vom Individuum im Verhältnis zum Volk beeinträchtige die politische und gesellschaftliche Stellung des einzelnen in menschenwürdewidriger Weise.
58Ferner lägen auf Seiten der Klägerin zu 2. tatsächliche Anhaltspunkte für gegen die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und das Rechtsstaatsprinzip gerichtete Bestrebungen vor. Die fortwährende pauschale Agitation gegen Muslime gefährde die demokratische Gleichheit. Auch existierten Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche Demokratie gerichtete revisionistische Haltung. Der Staat und die sie tragenden Parteien würden verunglimpft. Vertreter der Klägerin zu 2. schenkten dem staatlichen Gewaltmonopol nicht in vollem Umfang Beachtung und riefen zum gewaltsamen Widerstand auf.
59Die tatsächlichen Anhaltspunkte entfielen auch nicht durch die von der Klägerin zu 2. ergriffenen Maßnahmen. So sei die Auflösung des niedersächsischen Landesverbandes Klägerin zu 2. erst nach der Einstufung als Beobachtungsobjekt durch das Landesamt für Verfassungsschutz erfolgt. Auch habe der stellvertretende Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2. im Anschluss lediglich von „einzelnen Mitgliedern“, die in eklatanter Weise gegen die Grundsätze der Klägerin zu 2. verstoßen hätten, gesprochen. Dies erwecke den Eindruck, dass die Auflösung ein taktisches Manöver gewesen sei. Hinzu komme die Inkonsequenz, dass der Landesverband Bremen nicht aufgelöst worden sei und die Klägerin zu 2. nicht konsequent gegen Funktionäre auf Bundes-, Landes- und Kreisebene bzw. ihre Untergliederungen vorgehe. Auch sei die Klägerin zu 2. nicht gegen den baden-württembergischen Landesverband vorgegangen. Im Gegenteil seien dort 44 Mitglieder mit der Begründung ausgetreten, dass sich der Landesverband radikalisiert habe, Parallelstrukturen mit engen Verbindungen zur Identitären Bewegung aufgebaut habe und es etwa 50 Prozent der aktiven Mitgliedschaft schon lange nicht mehr um freiheitlich-patriotische Jugendpolitik gehe, sondern um die Verfestigung einer in keiner Weise konstruktiven totalen Ablehnung des „Systems“, also der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Der von der Klägerin zu 2. erstellte „Mäßigungs-Katalog“ lasse die tatsächlichen Anhaltspunkte auch nicht entfallen. Die damit verbundene gesteigerte interne Kontrolle belege zwar das Bewusstsein, dass vielfach problematische Auffassungen bekundet worden seien, hingegen nicht, dass von diesen Vorstellungen Abstand genommen worden sei. Es gehe allein um eine Mäßigung nach außen. Auf einer Pressekonferenz am 25. Juni 2019 sei von Seiten der Klägerin zu 2. im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Gutachten des Bundesamtes das Festhalten an einem ethnisch-kulturellen Volksbegriff eingeräumt und verteidigt worden. Insbesondere sei erneut eine Differenzierung zwischen den Begriffen „Volk“ und „Staatsvolk“ vorgenommen worden, die dem grundgesetzlichen (einheitlichen) Volksbegriff widerspreche. Die Klägerin zu 2. habe darüber hinaus - indem sie Passagen des Deutschlandplans als „missverständlich“ bezeichnet habe - immerhin teilweise eingeräumt, dass die Vorwürfe des Bundesamtes berechtigt seien. So habe auch der Vorsitzende der „Arbeitsgruppe Verfassungsschutz“ der Klägerin zu 1. von „Hausaufgaben“ gesprochen, die die Klägerin zu 2. zu erledigen habe.
60Eine zeitliche Obergrenze für die Einstufung der Klägerin zu 2. als Verdachtsfall und ihre Beobachtung existiere nicht. Es sei vielmehr Aufgabe des Verfassungsschutzes, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten, solange tatsächliche Anhaltspunkte bestünden.
61Überdies habe das Bundesamt die Öffentlichkeit gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG über die Einstufung als „Verdachtsfall“ informieren dürfen. Der Verfassungsschutz als Instrument der wehrhaften Demokratie diene als Frühwarnsystem hinsichtlich Gefährdungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Information der Öffentlichkeit solle die politische Auseinandersetzung mit der betreffenden Bestrebungen ermöglichen. Die Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden bezwecke, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Gruppierungen im Vorfeld einer Gefährdung zu gewinnen und zusammen und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art. und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise entgegenzuwirken. Erforderlich sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die jeweils vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte nach Gewicht und Dichte hinreichend seien, die betreffende Berichterstattung auch mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile zu rechtfertigen. Solche hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte lägen hier vor. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit sei auch verhältnismäßig. Etwaige mögliche Nachteile auf Seiten der Klägerinnen träten vorliegend hinter das öffentliche Informationsinteresse zurück. Die Klägerin zu 1. sei im Bundestag, in sämtlichen Landtagen, im europäischen Parlament sowie einer Vielzahl von Kommunalparlamenten vertreten und erziele dabei teils beträchtliche Stimmenanteile. Daher bestehe ein erhebliches und überwiegendes Interesse daran, die Öffentlichkeit über das Bestehen von tatsächlichen Anhaltspunkten für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen des offiziellen Jugendverbandes der Klägerin zu 1. unterrichten. Auch hätten die Klägerinnen das öffentliche Informationsinteresse selbst angefeuert. Funktionäre und Gremien der Klägerinnen hätten wiederholt an die Öffentlichkeit getragen, dass jedenfalls einzelne Personen und Gruppierungen innerhalb der Klägerin zu 2. vom Bundesamt als extremistisch angesehen oder jedenfalls diesbezügliche Anhaltspunkte gesehen würden. Die Klägerinnen seien daher nicht unversehens und überraschend mit einer Einstufung durch das Bundesamt konfrontiert worden, sondern hätten zuvor selbst eben diese Diskussion in die Öffentlichkeit getragen. Auch seien Art. und Weise der Medieninformation angemessen gewesen. Sie sei inhaltlich zutreffend, Sprache und Darstellungsweise seien sachlich und neutral gehalten und auf die Mitteilung der wesentlichen Formalitäten beschränkt.
62Die Klägerin zu 1. hat am 18. Januar 2021 eine Erklärung „zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ abgegeben, die zunächst der damalige Vorsitzende der Klägerin zu 2. und - nach seiner Neuwahl im April 2021 - der gesamte Bundesvorstand der Klägerin zu 2. unterzeichnet haben.
63Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten - auch in den beigezogenen Verfahren 13 K 207/20, 13 K 325/21, 13 K 326/21, 13 L 104/21 und 13 L 105/21 - und die jeweils beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
64Entscheidungsgründe
65Die Klage ist nur teilweise zulässig und soweit zulässig unbegründet.
66I. Die Klage ist - mit Ausnahme des Klageantrags zu 6. - zulässig.
67Soweit sich die Klage auf Unterlassung richtet (Klageanträge zu 1. bis 3.), ist die Leistungsklage die statthafte Klageart, im Übrigen (Klageanträge zu 4. bis 6.) die Feststellungsklage.
68Die Klägerin zu 1. kann für die Klägerin zu 2. klagen. Nach § 43 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann unter anderem die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.
69Hier geht es um das Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, denn die Klägerinnen begehren jeweils die Feststellung, dass das Bundesamt nicht berechtigt war, die Maßnahmen vorzunehmen bzw. diese öffentlich zu verlautbaren.
70Es besteht auch zwischen der Klägerin zu 1. und dem Bundesamt hinsichtlich der Klägerin zu 2. ein Rechtsverhältnis bzw. - soweit die Feststellung für die Vergangenheit begehrt wird - bestand ein solches. Unter einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO sind die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer Rechtsnorm (des öffentlichen Rechts) ergebenden Beziehungen einer Person zu einer anderen Person zu verstehen,
71vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 23. Januar 1992 ‑ 3 C 50.89 ‑, Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 89, 327 (329); BVerwG, Urteil vom 26. Januar 1996 ‑ 8 C 19.94 ‑, BVerwGE 100, 262 (264); BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 ‑ 8 C 38.09 ‑, BVerwGE 136, 75 (78) = juris Rn. 32 stRspr; W.-R. Schenke, in Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 43 Rn. 11; Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 7.
72Ein feststellungsfähiges konkretes Rechtsverhältnis setzt voraus, dass zwischen den Beteiligten dieses Rechtsverhältnisses ein Meinungsstreit besteht, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können,
73vgl. BVerwG, wie vor, BVerwGE 89, 327 - Leitsatz 1.
74Rechtliche Beziehungen eines Beteiligten zu einem anderen haben sich mithin erst dann zu einem bestimmten konkretisierten Rechtsverhältnis verdichtet, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits überschaubaren Sachverhalt streitig ist,
75BVerwG, wie vor, BVerwGE 89, 327 (329) stRspr.
76Für die rechtlichen Beziehungen, die ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis begründen, ist wesensnotwendig, dass sie zumindest ein subjektives öffentliches Recht zum Gegenstand haben, wie etwa ein einen Anspruch vermittelndes subjektives öffentliches Recht,
77W.-R. Schenke, a.a.O., § 43 Rn. 11 (S. 488),
78wobei dieser Anspruch auch auf ein Unterlassen gerichtet sein kann.
79Gemessen daran besteht ein Rechtsverhältnis. Das subjektive Recht der Klägerinnen ergibt sich aus der Parteienfreiheit (in Form der Gründungsfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG, der Betätigungsfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG und der aus einer Zusammenschau der Art. 3, 21 und 38 GG abzuleitenden politischen Chancengleichheit) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.
80Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, auf das sich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch die Klägerin zu 1. als Partei und juristische Person bzw. Personenverband im Rahmen ihres Aufgabenbereichs berufen kann,
81vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 -, BVerwGE 131, 171 = juris Rn. 16; VG München, Urteil vom 17. Oktober 2014 - M 22 K 13.2076 -, juris Rn. 21,
82umfasst den Schutz vor staatlichen Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf das Bild der betroffenen Person in der Öffentlichkeit auszuwirken,
83vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2004 - 1 BvR 263/03 -, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGK) 3, 319 = juris Leitsatz 1.
84Hierzu zählen auch das Verfügungsrecht und das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Außendarstellung sowie der Schutz des sozialen Geltungsanspruchs, der sog. „äußeren Ehre“ als des Ansehens in den Augen anderer,
85vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 -, BVerwGE 131, 171 = juris Rn. 16.
86Infolge dessen kann der von einer Äußerung Betroffene Unterlassung verlangen, wenn ihm eine derartige Rechtsverletzung (wiederholt) droht oder eine solche bereits eingetreten ist und noch andauert,
87vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 -, BVerwGE 131, 171 Rn. 13; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) Beschluss vom 9. September 2013 - 5 B 417/13 - juris Rn. 13 m. w. N.
88Dies gilt hier nicht nur für die Bekanntgabe der Einordnung als Verdachtsfall, sondern auch für die Einordnung als solche.
89Sowohl die - eigentlich von dem Klagegenstand betroffene - Klägerin zu 2., als auch die Klägerin zu 1. ist auch in eigenen Rechten betroffen. Denn die Einstufung ihres Jugendverbandes als Teilorganisation hat in der Öffentlichkeit ebenfalls Ausstrahlungswirkung auf die Klägerin zu 1. als Gesamtpartei. Neben dieser öffentlichen Wirkung hat die Einordnung und Beobachtung der Klägerin zu 2. auch zur Folge, dass die aus der Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse bei der Beurteilung, Einstufung und damit auch Beobachtung der Klägerin zu 1. berücksichtigt werden und damit die Rechte der Klägerin zu 1. auch insoweit tangiert werden.
90Dies gilt auch für die (isolierte) Einordnung als Verdachtsfall (Klageantrag 1. <teilweise> und 4.). Auch die bloße Einordnung durch das Bundesamt stellt einen Eingriff in die Rechte des betroffenen Beobachtungsobjekts und damit in die Rechte der Klägerinnen dar.
91Zwar hat das erkennende Gericht mit Hängebeschluss vom 27. Januar 2021 (13 L 105/21) ausgeführt:
92„Soweit die Antragstellerin mit dem Antrag zu 1 Buchstabe a auch bezüglich der Einordnung, Prüfung und Führung als Verdachtsfall eine Zwischenentscheidung begehrt, fehlt es ebenfalls an der Notwendigkeit einer solchen Regelung. Bei der Einstufung, Prüfung sowie Führung handelt es sich - auch in Ansehung der Ausführungen der Antragstellerin im Schriftsatz vom 27. Januar 2021 - um interne Maßnahmen des Bundesamtes. Mangels öffentlicher Bekanntgabe sind keine Auswirkungen der bloß internen Einstufung etc. hinsichtlich der Mitglieder, Wähler oder Unterstützer konkret zu erwarten.“
93Das OVG NRW hat im dazu ergangenen Beschwerdeverfahren (Beschluss vom 18. Februar 2021 ‑ 5 B 163/21 ‑ S. 5) ebenfalls hierzu ausgeführt:
94„Entgegen dem Beschwerdevorbringen folgen aus der Einstufung einer Vereinigung als „Verdachtsfall“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz für sich genommen keine Nachteile in dem vorgenannten Sinne. Angesichts der Stillhaltezusage der Antragsgegnerin, eine entsprechende Entscheidung bis zur Entscheidung im Eilverfahren nicht zu veröffentlichen, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz zudem das Notwendige getan, um auch mittelbare Einflüsse auf die Antragstellerin zu vermeiden. Dabei versteht der Senat die Stillhaltezusage so, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nur eine öffentliche Bekanntgabe etwa im Wege einer Pressemitteilung oder sonstiger offizieller Verlautbarungen unterlassen wird, sondern auch jegliche in ihrer Wirkung gleichkommende Maßnahmen der Information der Öffentlichkeit insgesamt oder einzelner Presseorgane.“
95Auch hat etwa das VG München entschieden, dass politische Parteien keine Klagebefugnis für das Verlangen einer Streichung aus einem Verzeichnis zur Prüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst haben, da die Aufnahme und Nennung einer Partei in einem solchen Verzeichnis allenfalls mittelbare Auswirkungen für diese habe,
96VG München, Urteil vom 13. Oktober 1998 - M 5 K 96.5786 -, juris Rn. 21.
97Anders als dort ist die Einstufung einer Partei als Verdachtsfall aber unmittelbar (und untrennbar) mit der Einstufung als Beobachtungsobjekt verbunden, sodass die Partei planmäßig (und erforderlichenfalls - allerdings bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen - auch unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel) beobachtet werden darf, um die betreffenden Bestrebungen weiter aufzuklären,
98Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, BVerfSchG § 4 Rn. 100; Warg, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 524,
99sodass die Einstufung einer Partei als Verdachtsfall der Steuerung der Intensität der Beobachtung dieser Partei dient und sich daher - anders als in dem vom VG München entschiedenen Fall - unmittelbar gegen die Partei selbst richtet.
100Unabhängig davon hat die Prozessgeschichte jedenfalls gezeigt, dass die Einstufung der Klägerin zu 2. nicht behördenintern bleibt (und geblieben ist), sodass zumindest eine mittelbar diskriminierende Wirkung durch die öffentliche Verbreitung dieser Einstufung entfaltet wird.
101Die Klägerinnen sind auch hinsichtlich der Unterlassungsanträge klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO analog. Insoweit gilt das zum Rechtsverhältnis Gesagte entsprechend.
102Des Weiteren haben die Klägerinnen das erforderliche Feststellungsinteresse. Höhere Anforderungen sind an die Feststellung des Nichtbestehens in der Vergangenheit liegender Rechtsverhältnisse zu stellen. Dies ist gegeben bei anhaltenden abträglichen Wirkungen, die etwa bei Wiederholungsgefahr und fortdauernder Diskriminierung (Rehabilitationsinteresse) bejaht werden. Ein Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr setzt die hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung oder Maßnahme ergehen wird. Ausreichend ist, wenn der Beklagte den Standpunkt vertritt, seine Verfahrensweise gebe zu Beanstandungen keinen Anlass,
103vgl. NK-VwGO/Helge Sodan, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 91.
104Davon ist angesichts der Stellungnahmen des Bundesamtes vorliegend auszugehen. Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass die streitgegenständliche Einstufung rechtmäßig war und ist.
105Der Klageantrag zu 6. ist hingegen unzulässig. Der damit geltend gemachte Feststellungsantrag ist subsidiär gem. § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Danach kann die Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies ist hier der Fall: Der Klageantrag zu 1. ist auf Unterlassung der Einstufung als Verdachtsfall (im nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung) gerichtet und stellt eine Leistungsklage dar. Im Rahmen der Leistungsklage unter Ziffer 1 ist inzident zu prüfen, ob die Einstufung rechtswidrig ist. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Einstufung ist daher in dem Unterlassungsantrag bereits enthalten, einen Anspruch auf isolierte Feststellung schließt § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO aus.
106II. Die Klage ist - soweit zulässig - mit Haupt- und Hilfsanträgen unbegründet.
1071. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Unterlassung der Einordnung, Prüfung, Behandlung und Beobachtung der Klägerin zu 2. als Verdachtsfall durch das Bundesamt (Klageantrag zu 1.).
108Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch,
109vgl. zum allgemein anerkannten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch BVerwG Beschluss vom 11. November 2010 - 7 B 54.10 -, juris, Rn. 14,
110setzt voraus, dass die Einordnung, Prüfung und Beobachtung - im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - durch das Bundesamt rechtswidrig ist.
111Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Denn der Unterlassungsanspruch wird im Rahmen einer Leistungsklage geltend gemacht und richtet sich in die Gegenwart,
112vgl. Polzin, Der maßgebliche Zeitpunkt im Verwaltungsprozess, JuS 2004, 211, 213 m.w.N.
113Ermächtigungsgrundlage für die Einordnung, Prüfung und Beobachtung der Klägerin zu 2. durch das Bundesamt ist § 8 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 5, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG
114- Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz - BVerfSchG) vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 5. Juli 2021 (BGBl. I S. 2274). § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG entspricht dabei wörtlich dem § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG a.F.
115Ausdrücklich ist in § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG nicht die Einstufung als Verdachtsfall geregelt. Diese ergibt sich aber aus dem Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung,
116vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 5 B 163/21 -, juris Rn. 24; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 28, 38.
117Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG darf das Bundesamt für Verfassungsschutz die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten erheben, verarbeiten und nutzen.
118Gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG ist Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes u.a. die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG sind Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in Abs. 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in diesem Sinne zählen gem. Abs. 2 das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen (a), die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (b), das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition (c), die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung (d), die Unabhängigkeit der Gerichte (e), der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft (f) und die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte (g).
119Eine Anhörung der Klägerinnen war nicht erforderlich, auch wenn es sich bei der Einordnung und Behandlung als Verdachtsfall um Eingriffe in Grundrechte der Klägerin handeln mag. Eine Anhörung ist gesetzlich nicht vorgesehen, sie ergibt sich auch nicht aus einer analogen Anwendung des § 28 VwVfG. Darüber hinaus wäre ein Anhörungsmangel jedenfalls entsprechend § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG geheilt,
120vgl. zur Berichterstattung im Rahmen des Verfassungsschutzberichts OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris, Rn. 6 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 -, juris, Rn. 6 ff.; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24. Januar 2003 ‑ 11 TG 1982/02 -, juris, Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 -, beck-online Rn. 23; VG Berlin Beschluss vom 28. Mai 2020 ‑ VG 1 L 97.20 -, beck-online Rn. 28.
121Bei der Klägerin zu 2. handelt es sich als satzungsgemäße Jugendorganisation einer politischen Partei um einen Personenzusammenschluss. Ein solcher ist in Abgrenzung zur Einzelperson jede Personenmehrheit unabhängig von ihrer Rechtsform, in der eine Mehrheit von Personen einen gemeinsamen Zweck verfolgt,
122Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 7 m.w.N.
123Eine politische Partei - wie die Klägerin zu 1. - ist gem. § 2 Abs. 1 PartG eine Vereinigung von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Es handelt sich bei einer Partei daher um eine Personenmehrheit, die ein gemeinsames Ziel verfolgt.
124Auch Parteien fallen unter den Begriff des Personenzusammenschlusses und können von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet werden. Insbesondere steht nicht das Parteienprivileg nach Art. 21 Abs. 4 GG entgegen. Denn die Einordnung, Prüfung und Beobachtung durch das Bundesamt stellen - anders als die Klägerinnen meinen - kein Parteienverbot und keine dem Parteienverbot vergleichbaren Maßnahmen dar, die nach dem Maßstab des Art. 21 GG zu beurteilen wären.
125Die verbindliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei kann gemäß Art. 21 Abs. 4 GG nur das Bundesverfassungsgericht in dem nach den Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vorgesehenen Verfahren treffen (Parteienprivileg). Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts schließt damit ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten,
126vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 16.
127An dieser Bestands- und Schutzgarantie des Grundgesetzes haben auch die Klägerinnen vollen Anteil. Die Beobachtung durch das Bundesamt ist aber keine solche Maßnahme, sondern dient der Aufklärung des Verdachts, dass die Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Die Zulässigkeit einer solchen Aufklärung wird von der Verfassung vorausgesetzt. Auch ohne die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit darf die Überzeugung gewonnen und vertreten werden, eine Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele,
128BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 (130 f.); BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 21.
129Die verfassungsschutzbehördliche Beobachtung einer politischen Partei ist nämlich keine administrative Maßnahme, die sich gegen den Bestand der Partei richtet. Denn sie führt erkennbar nicht zum vollständigen Ausschluss der betroffenen Partei aus dem Willensbildungsprozess. So kann die Partei trotz Beobachtung weiterhin insbesondere an Wahlen teilnehmen und in Parlamenten vertreten sein (und auch alle anderen Rechte einer Partei wahrnehmen); sie partizipiert auch weiter von der Parteienfinanzierung. Es widerspräche auch dem Schutzzweck der § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG, das durch die Einstufung und Beobachtung gewährleistete „Frühwarnsystem der Demokratie“ hinsichtlich der durch tatsächliche Anhaltspunkte belegten Gefährdungen der grundgesetzlichen Ordnung „auszuschalten“ und bereits für die Einleitung eines Verfahrens, das der Aufklärung eines Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen dienen soll, dieselben Maßstäbe anzulegen, wie bei einem Parteiverbot, das erst am Ende eines solchen Verfahrens stehen kann.
130Soweit § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG das Bundesamt für Verfassungsschutz ermächtigt, bei Anhaltspunkten verfassungsfeindlicher Bestrebungen eine politische Partei zu beobachten, steht die Vorschrift auch mit Art. 21 Abs. 1 GG in Einklang. Das erkennende Gericht schließt sich diesbezüglich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an. Dieses hat dazu ausgeführt:
131„Nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit; ihre Gründung ist frei. Das Grundgesetz setzt die Staatsfreiheit der Parteien als frei gegründeter, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnder Gruppen voraus und gewährleistet ihre Unabhängigkeit vom Staat. Ihnen steht das Recht auf Selbstbestimmung zu. Zu dessen Kernbereich gehört das Recht der Parteien, selbst und ohne staatliche Einflussnahme oder Überwachung über ihre Ziele, Organisation und Tätigkeiten zu entscheiden. Sowohl die Freiheit der inneren Willensbildung als auch die freie Entfaltung der Tätigkeiten als Partei sind gewährleistet.
132Das Selbstbestimmungsrecht der Parteien findet seine Schranke in der Entscheidung des Grundgesetzes für eine „streitbare Demokratie“. Diese Grundentscheidung ist im Wesentlichen aus Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 20 Abs. 4, Art. 21 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 3 GG herzuleiten. Sie wird in den Zuständigkeitsvorschriften der Art. 73 Nr. 10 Buchst. b und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG bestätigt. Das Grundgesetz vertraut aufgrund geschichtlicher Erfahrung nicht allein darauf, die freiheitliche Demokratie werde sich im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ohne Weiteres behaupten. Es hat darüber hinaus dem Staat die Aufgabe übertragen, die zentralen Grundwerte der Verfassung durch (repressive) Schutzvorkehrungen zu sichern und zu gewährleisten. Die Beobachtung einer politischen Partei auf verfassungsfeindliche Bestrebungen hin zielt dabei nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen vorzubereiten. Sie bezweckt vielmehr auch, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art. und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken. Um die Überschreitung der Linie feststellen zu können, von der an verfassungsfeindliche Betätigungen zu einer Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung werden, der nicht mehr mit politischen Mitteln, sondern nurmehr mit juristischen Mitteln begegnet werden kann, muss dieses Vorfeld notwendig beobachtet werden (so unter Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 30.97 - BVerwGE 110, 126 <131 ff.>).
133Der Gesetzgeber hat die Aufgaben und Befugnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz so bestimmt, dass Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Parteien auf das zur Selbstverteidigung der freiheitlichen Demokratie zwingend Gebotene beschränkt bleiben. Die widerstreitenden Prinzipien der Parteienfreiheit und der streitbaren Demokratie sind namentlich in § 8 Abs. 5 BVerfSchG und § 9 BVerfSchG mit Hilfe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einem angemessenen Ausgleich zugeführt. Die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall genügt zur Wahrung der Rechte und schützenswerten Belange Betroffener. Dies gilt auch für politische Parteien (Urteil vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 30.97 - BVerwGE 110, 126 <134 f.>).
134Werden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beobachtung von Parteien durch den Verfassungsschutz eingehalten und wird dabei insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt, greift diese Beobachtung nicht stärker in den offenen Wettbewerb der Parteien um die Möglichkeit politischer Gestaltung ein, als dies mit Rücksicht auf die Verteidigung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Demokratie erforderlich ist. Das Bundesverfassungsschutzgesetz lässt es nicht zu, den Verfassungsschutz darüber hinaus einseitig parteipolitisch, namentlich im Interesse der Regierungsparteien zu instrumentalisieren. Missbräuchlich, und deshalb von den eingeschränkten Ermächtigungsgrundlagen des Bundesverfassungsschutzgesetzes nicht gedeckt, wäre eine einseitige und gezielte, zudem verdeckte Weitergabe von gewonnenen Erkenntnissen an einzelne Parteien oder Politiker, namentlich zur Verwendung im Wahlkampf. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes, Munition für den Wahlkampf bereitzustellen. Welche Folgerungen daraus für die Anforderungen zu stellen sind, unter denen in einem Verfassungsschutzbericht (§ 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG) politische Parteien oder einzelne Personen als extremistisch oder verfassungsfeindlich bewertet werden dürfen, bedarf hier keiner Entscheidung.“
135BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 22 - 26.
136Ferner stehen die Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder aber die Leitlinien der Venedig-Kommission - jeweils zu Parteiverboten - der Anwendbarkeit der § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 5, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG nicht entgegen. Denn es liegt kein Parteienverbot vor und die streitgegenständlichen Handlungen des Bundesamtes erreichen auch nicht die Intensität eines Parteienverbots; daher sind die aus der EMRK abgeleiteten Voraussetzungen eines Parteienverbots auch nicht heranzuziehen.
137Es liegen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Klägerin zu 2. vor.
138Voraussetzung für die Sammlung und Auswertung von Informationen im Sinne des § 3 Abs. 1 ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte, § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG (Satz 3 a.F.). Liegen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor, besteht ein Verdacht solcher Bestrebungen. Die Anhaltspunkte müssen mithin geeignet sein, einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu begründen. Die dann einsetzende Beobachtung dient (erst) der Klärung des Verdachts,
139BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 29.
140Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist - entgegen der Auffassung der Klägerinnen - nicht in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 21 Abs. 2 GG (und Art. 9 Abs. 2 Alt. 2 GG) dahingehend einzuschränken, dass eine Konzentration auf nur wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind, vorgenommen werden muss, namentlich die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und das Rechtstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG. Diese Rechtsprechung betrifft den Ausnahmefall des Parteiverbots. Danach kommt ein Ausschluss aus dem Prozess der politischen Willensbildung erst dann in Betracht, wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar ist und daher außerhalb jedes Streits stehen muss,
141BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 ‑ 2 BvB 1/13 ‑, BVerfGE 144, 20 Rn. 535.
142Vorliegend geht es nicht um den Ausschluss der Klägerinnen aus dem Prozess der politischen Willensbildung und um ein Parteienverbot. Es ist auch nicht erforderlich, dass die Bestrebungen auf die Abschaffung oder Außerkraftsetzung sämtlicher im Grundgesetz verbürgter Menschenrechte abzielen. Denn es wäre nicht mit dem Gesetzeszweck - Schutz der Menschenrechte - zu vereinbaren, käme er erst dann zum Zuge, wenn eine Person oder Gruppierung ihre umfassende Beseitigung anstrebte. Es genügt also, dass sich die Aktivitäten des Personenzusammenschlusses gegen einzelne dieser Menschenrechte richten, dazu zählen neben der Menschenwürde - die ohnehin zu den zentralen Grundprinzipien zählt - auch die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG),
143vgl. VG München Urteil vom 29. August 2002 - M 24 K 02.2483 ‑, juris Rn. 34; Roth, a.a.O., § 4 BVerfSchG Rn. 51.
144Tatsächliche Anhaltspunkte verlangen mehr als bloße Vermutungen, Spekulationen, Mutmaßungen oder Hypothesen, die sich nicht auf beobachtbare Fakten stützen können. Andererseits ist keine Gewissheit hinsichtlich des Vorliegens verfassungsfeindlicher Bestrebungen erforderlich. Es müssen vielmehr konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtung auf das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen hindeuten,
145vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 28, 30; OVG NRW, Urteil vom 12. Februar 2008 - 5 A 130/05 ‑, juris Rn. 270.
146Die Anforderungen an das Gewicht der Anhaltspunkte sind geringer als bei einer Berichterstattung in Verfassungsschutzberichten, weil die Beobachtung der Aufklärung dient, ob verfassungsfeindliche Bestrebungen gegeben sind und welche Gefahren von diesen ausgehen,
147BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 29.
148Bloß vereinzelte Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses genügen allerdings nicht,
149BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 54.
150Es reicht aber aus, dass die Gesamtschau aller vorhandenen tatsächlichen Anhaltspunkte, d.h. der vielfältigen Einzelakte der Vereinigung und ihrer Funktionäre und Mitglieder, auf entsprechende Bestrebungen hindeuten, selbst wenn jeder einzelne Anhaltspunkt für sich genommen nicht genügen würde,
151BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 30.
152Es ergibt sich kein anderer Maßstab aus der von den Klägerinnen ins Feld geführten sog. „Republikaner-Rechtsprechung“,
153VG Berlin, Urteil vom 31. August 1998 - VG 26 A 623.97 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 ‑, juris.
154Anders als die Klägerinnen meinen, ist es - jedenfalls bei der hier streitgegenständlichen Einstufung als Verdachtsfall - unerheblich, ob sich angesichts gegenläufiger Äußerungen ein uneinheitliches Bild der Partei im Bereich der Ausländer- und Asylpolitik ergibt.
155Es ist insoweit nämlich keine quantitative Betrachtung anzustellen. Dass die für die Verfassungsfeindlichkeit sprechenden Anhaltspunkte einer mehr oder weniger großen Zahl unverfänglicher Sachverhalte scheinbar untergeordnet sind, spricht allein noch nicht gegen ihre Aussagekraft. Ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen können bereits dann gegeben sein, wenn aussagekräftiges Tatsachenmaterial lediglich einen Teilbereich der Zielsetzungen, Verlautbarungen und Aktivitäten des Personenzusammenschlusses widerspiegelt. Deren Aussagekraft wird nicht allein dadurch in Frage gestellt, dass daneben eine Vielzahl von verfassungsschutzrechtlich irrelevanten oder wertneutralen Äußerungen existiert, denen sich keine Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Ausrichtung entnehmen lassen,
156vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 45, 49; OVG NRW, Urteil vom 12. Februar 2008 - 5 A 130/05 - juris Rn. 304; VG Köln, Urteil vom 1. November 2004 ‑ 20 K 1882/03 - juris Rn. 122; Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 103.
157Gerade die innere Zerrissenheit einer Partei, Flügelkämpfe und eine Annäherung an extremistische Gruppierungen oder Parteien können eine Beobachtung durch Verfassungsschutzbehörden erfordern. Nur so ist festzustellen, in welche Richtung sich die Partei letztlich bewegt. Allein durch die Beobachtung können die Regierung, das Parlament und die Öffentlichkeit über den Fortgang der weiteren, noch nicht abgeschlossenen Entwicklung der Partei sachkundig und angemessen unterrichtet werden. So können eindeutige verfassungsfeindliche Bestrebungen einzelner Gruppierungen innerhalb einer Partei Anhaltspunkte dafür liefern, in welche Richtung die Partei sich entwickeln kann. Das erfordert die Beobachtung der Partei insgesamt, nicht nur - aber auch - der einzelnen Gruppierung, mag auch diese für sich einen Personenzusammenschluss im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG darstellen. Es ist auch danach zu fragen, inwieweit die verfassungsfeindlichen Bestrebungen einzelner Gruppierungen für die künftige Entwicklung der Gesamtpartei von Bedeutung sein können,
158BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 45.
159Der Begriff der „Bestrebung“ erfordert - in Abgrenzung insbesondere zur bloßen Meinungsäußerung - ein aktives, aber nicht notwendigerweise kämpferisch aggressives Vorgehen zur Realisierung eines bestimmten Ziels. Es bedarf Aktivitäten, die über eine bloße Missbilligung oder Kritik an einem Verfassungsgrundsatz hinausgehen,
160BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 -, BVerfGE 113, 63 = juris Rn. 70; BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 ‑, BVerwGE 137, 275 Rn. 59; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 94; VG Düsseldorf, Urteil vom 28. Mai 2013 - 22 K 2532/11 -, juris Rn. 88.
161Kritik an einem Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung muss danach nur als „bloße“ Kritik unberücksichtigt bleiben, nicht jedoch, wenn sie verbunden ist mit der Ankündigung konkreter Aktivitäten zur Beseitigung dieses Verfassungsgrundsatzes oder mit der Aufforderung zu solchen Aktivitäten. Bei Meinungsäußerungen, die von oder innerhalb einer politischen Partei abgegeben werden, liegt es zumindest nahe, dass sie mit der Intention einer entsprechenden Änderung der realen Verhältnisse abgegeben werden; denn politische Parteien sind gerade auf Änderung der politischen Verhältnisse ausgerichtet,
162BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 61; VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2016 - VG 1 K 255.13 -, juris Rn. 29; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933 Rn. 26; Murswiek, Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht, NVwZ 2006, 121 (128).
163Belege für verfassungsfeindliche Bestrebungen können sich aus dem Programm und der Satzung des in den Blick genommenen Personenzusammenschlusses ergeben, aus den Äußerungen und Taten von führenden Persönlichkeiten und sonstigen Vertretern, Mitarbeitern und Mitgliedern der Gruppierung sowie aus deren Schulungs- und Werbematerial,
164BVerfG, Urteil vom 17. August 1956 - 1 BvB 2/51 -, BVerfGE 5, 86 = juris Rn. 228; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 -, juris Rn. 47; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 47; OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1994 - 5 B 1236/93 -, juris Rn. 46.
165Schließlich kommt es - entgegen der Auffassung der Klägerinnen - nicht entscheidend darauf an, ob die zur Feststellung des Bestehens verfassungsfeindlicher Bestrebungen herangezogenen Äußerungen für sich genommen zulässig sind, da sie vom Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst sind. Im politischen Meinungskampf gilt zwar für die Abhandlung von Themen, an denen ein öffentliches Interesse besteht, allgemein die Vermutung für die freie Rede und sind auch scharfe und übersteigerte Äußerungen grundsätzlich zulässig,
166BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2001 - 2 WD 42.00, 2 WD 43.00 -, BVerwGE 114, 258 = juris Rn. 37 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 -, juris Rn. 168.
167Mit der Feststellung, dass die einzelnen Äußerungen unter den Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen, ist jedoch nicht zugleich gesagt, dass deswegen die Berücksichtigung im Rahmen der verfassungsbehördlichen Beurteilung unzulässig wäre. Es ist dem Staat nicht verwehrt, aus Meinungsäußerungen, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genießen, also weder verboten sind noch bestraft werden können, Schlüsse zu ziehen und Maßnahmen zum Rechtsgüterschutz zu ergreifen. Das Gesetz definiert den Begriff der Bestrebung nicht anhand der Merkmale legal/illegal. Deshalb können die Verfassungsschutzbehörden an die Inhalte von Meinungsäußerungen anknüpfen, soweit diese Ausdruck eines Bestrebens sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Die verfassungsfeindliche Zielrichtung kann sich auch aus einer Zusammenschau erlaubter Äußerungen ergeben,
168vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 ‑ OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 32; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 -, juris Rn. 47; BayVGH, Beschluss vom 7. Oktober 1993 - 5 CE 93.2327 -, juris Rn. 24; VG Berlin Urteil vom 21. Januar 2016 - VG 1 K 255.13 ‑, juris Rn. 32.
169Nach diesen Maßstäben liegen tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung vor.
170Zunächst - und zuvorderst - bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine zen-trale politische Vorstellung der Klägerin zu 2. der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand ist und ethnisch „Fremde“ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollen. Ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde. Denn die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfasst die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede. Sie wird beeinträchtigt bei allen Formen rassisch motivierter Diskriminierung sowie wenn einzelne Personen oder Personengruppen grundsätzlich wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden,
171vgl. VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933 Rn. 30, beck-online; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 31 ff; ebenso hinsichtlich des „ethnokulturellen“ Volksbegriffs der Identitären Bewegung VG Ansbach, Urteil vom 25. April 2019 - AN 16 K 17.01038 -, juris Rn. 39 ff.; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 63 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. November 2019 ‑ OVG 1 M 119.19 -, juris Rn. 11; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 - OVG 1 N 96.20 -, juris Rn. 9 ff.
172Das Grundgesetz kennt überdies einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, „von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 gleichgestellten Personen“ gebildet wird,
173BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 1990 ‑ 2 BvF 2, 6/89 ‑, BVerfGE 83, 37 (51).
174Für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk und den daraus sich ergebenden staatsbürgerlichen Status ist demgemäß die Staatsangehörigkeit von entscheidender Bedeutung. Dabei überlässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber, wie sich aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 116 Abs. 1 GG ergibt, die Regelung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit. Er kann insbesondere bei einer erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes dem Ziel einer Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft staatlicher Herrschaft Unterworfenen durch eine Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit für Ausländer, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, Rechnung tragen,
175vgl. BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 1990 ‑ 2 BvF 2, 6/89 ‑, BVerfGE 83, 37 (51 f.).
176Der Gesetzgeber ist bei der Konzeption des Staatsangehörigkeitsrechts nicht an den Abstammungsgrundsatz gebunden. Demgemäß kommt bei der Bestimmung des „Volkes“ im Sinne des Grundgesetzes ethnischen Zuordnungen keine exkludierende Bedeutung zu. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus Sicht der Verfassung unabhängig von seiner ethnischen Herkunft Teil des Volkes,
177vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 691.
178Diese verfassungsrechtliche Vorgabe steht in deutlichem Gegensatz zur Auffassung der Klägerin zu 2., die zwischen deutschen Staatsangehörigen - die sie mitunter als „Passdeutsche“ bezeichnet (siehe dazu unten) - und dem „Deutschen Volk“ differenziert und nach deren Überzeugung daher der Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht dazu führen soll, dass der Eingebürgerte ebenfalls Teil des deutschen Volkes wird.
179Die mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes unvereinbare Auffassung der Klägerin zu 2. kommt bereits in ihrem Parteiprogramm - dem sog. „Deutschlandplan“ - unverkennbar zum Ausdruck. Darüber hinaus folgt er aus den Verlautbarungen von (hochrangigen) Funktionären und einigen Landesverbänden der Klägerin zu 2.
180Ein gewichtiger Anhaltspunkt dafür, dass der Klägerin zu 2. ein ethnisches Volksverständnis zugrunde liegt, folgt aus dem sog. „Deutschlandplan“, dem verschriftlichten politischen Programm der Klägerin zu 2. Dieser wurde auf dem 7. Bundeskongress der Klägerin zu 2. am 2./3. Juni 2018 verabschiedet und auf dem 8. Bundeskongress am 16./17. Februar 2019 geändert.
181Darin definiert die Klägerin zu 2. Grundprinzipien für ihre künftige politische Arbeit. Ziel ist es, sowohl Mitgliedern, als auch Interessenten und der allgemeinen Öffentlichkeit deutlich zu machen, wofür sie steht und eintritt. Im Abschnitt „H. Migration“ hebt die Klägerin zu 2. hervor, dass sie „der Willkommensbesoffenheit des linken Mainstreams [...] einen umfassenden scharfkantigen Gegenentwurf entgegen“ setzen werde: „Die Migrationspolitik, die wir fordern, setzt an die erste Stelle den kulturellen und ethnischen Erhalt des deutschen Volkes“,
182JA, Deutschlandplan, Seite 28, abrufbar unter https://netzseite.jungealternative.online/wp-content/uploads/2019/08/Junge-Alternative-Deutschlandplan.pdf.
183Unter Ziffer 4 wird das Leitbild des assimilierten und loyalen Einwanderers formuliert. Dort heißt es, dass Deutschland von allen Einwanderern verlangen müsse, sich angemessen zu assimilieren. Dies bedeute nicht nur, dass Einwanderer Deutsch sprechen, keine Straftaten begehen und dem Grundgesetz Sympathie entgegenbringen würden. Vielmehr setze dies voraus, dass der Einwanderer „sich darüber hinaus soweit dem deutschen Volk und seinem Staat verbunden fühlt, dass er bereit ist, für sie einzutreten und unsere Identität an kommende Generationen so weiterzugeben, wie es autochthone Deutsche tun.“
184JA, Deutschlandplan, a.a.O., Seite 29.
185Die Forderung der Assimilation steht der Zielsetzung des ethnischen Erhalts des deutschen Volkes nicht entgegen. Denn wie das Bundesamt zutreffend darlegt, ist in den Augen der Klägerin zu 2. Vergleichsmaßstab für die geforderte Assimilation nicht das deutsche Volk als die Gesamtheit der Staatsangehörigen, sondern der autochthone Deutsche. Dieser Begriff meint im völkerkundlichen Sinne „eingeboren“, „einheimisch“ oder „indigen“,
186https://www.duden.de/rechtschreibung/autochthon.
187Indigen meint die erste, ursprüngliche Bevölkerung eines Gebiets betreffend oder diesem zugehörig,
188https://www.duden.de/rechtschreibung/indigen,
189sodass ihrerseits eingewanderte oder einen Migrationshintergrund aufweisende deutsche Staatsangehörige in der Vorstellung der Klägerin zu 2. keine adäquate Vergleichsgruppe sind. Es existieren nach der Vorstellung der Klägerin zu 2. demnach deutsche Staatsangehörige erster und zweiter Klasse. Idealbild ist der autochthone Deutsche. Mit dem genannten Maßstab werden alle Deutschen ausgegrenzt, die nicht zu den autochthonen Deutschen zählen, da sie eingewandert sind oder einen Migrationshintergrund aufweisen. Diese Klassifizierung ist auch für den Einzelnen unveränderlich, da sie auf einem ethnischen - und nicht auf einem kulturellen - Kriterium beruht,
190vgl. auch VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933, beck-online Rn. 31; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 36.
191Darüber hinaus ist die Forderung nach vollständiger Assimilation kaum oder jedenfalls nur bei einer vollständigen Aufgabe der kulturellen Wurzeln denkbar.
192Ein ethnisches Volksverständnis kommt auch beim ehemaligen (II/2018 - VII/2021) Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2., Damian Lohr (* 1993), zum Ausdruck. Dieser hat in einem Facebook-Eintrag vom 7. Juli 2019 im Kontext von Berichten über eine Vergewaltigung einer 18-Jährigen auf Mallorca durch mutmaßlich vier Deutsche mit Migrationshintergrund geschrieben:
193„Die ‚deutschen‘ Mallorca-Vergewaltiger Serhat K, Azad K., Yakub und Baran D.
194Typisch Lügenpresse!
195Dass bei der Täterbeschreibung die Nationalität verschwiegen wird ist mittlerweile ein alter Hut. Der aktuelle Fall ist jedoch besonders dreist. Man wurde nicht müde uns die ‚Südländer‘, die auf Mallorca eine Gruppenvergewaltigung begangen haben sollen, als deutsche Touristen aufzubinden. Als klar wurde, dass es sich um Migranten mit deutscher Staatsangehörigkeit handelt wurde es weitestgehend still im Blätterwald.“ (Bl. 1 BA 1).
196Der damalige Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2. beanstandet hier also nicht allein, dass der Migrationshintergrund der mutmaßlichen Täter hätte angegeben werden sollen. Er bezeichnet die mutmaßlichen Täter trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nur in Anführungszeichen als deutsch und behauptet, ihre Nationalität sei verschwiegen worden und die Bezeichnung als „deutsche Touristen“ sei eine Lüge. Damit zählt er ersichtlich die betreffenden Personen trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nicht zu dem Volk der Deutschen, sondern ordnet sie einer anderen Nationalität zu. Ein Deutscher ist nach dem Verständnis des ehemaligen Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2. daher offenbar nur der autochthone Deutsche, also nicht derjenige, der einen Migrationshintergrund aufweist.
197Auf dem Bundeskongress am 17./18. April 2021 wurde - als Nachfolger von Damian Lohr - neben Carlo Clemens auch Marvin T. Neumann zum Co-Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2. gewählt. Neumann hat bereits vor seiner Wahl eine Reihe von völkischen und rassistischen Twitter-Beiträgen abgegeben.
198„Es gibt keine ‚Schwarze Deutsche und Europäer‘. Sie sind bestenfalls Teil der Gesellschaft und besitzen bestimmte Staatsbürgerschaften, aber sie sind nicht Teil einer tradierten, authentischen ‚europäischen Identität‘. Das wissen, trotz linksliberaler Propaganda, die meisten.“ (Bl. 811 GA)
199„Muss man das offensichtliche erklären? Es gibt schwarze Bundesbürger mit deutscher Staatsbürgerschaft, die Teil der Gesellschaft sind etc. Ja. Aber ‚dem Deutschen‘ liegt, wie den meisten Völkern der Welt, auch eine ethnische Komponente zugrunde. Und die ist weiß-europäisch.“ (Bl. 813 GA)
200„[...] Ich kann als Deutscher auch niemals Teil des japanischen Volkes werden, obgleich ich mich noch so gut assimiliere. Es wird immer eine Lücke geben. Das ist aber auch in Ordnung, solange die Mehrheitsgesellschaft ethnisch autochthon ist.“ (Bl. 813 GA)
201„[...] Völker sind keine Vereine, denen man mal eben beitritt. Wenn ich in Japan Kinder hätte, wären sie immer ‚die Deutschen‘, aufgrund ihrer Abstammung. Die Realität ist nun mal kein liberales Wunschkonzert.“ (Bl. 813 GA)
202„Je ähnlicher/näher sich ethnische Gruppen sind, desto wahrscheinlicher und möglicher ist eine Annäherung bzw. ‚Vermischung‘ resp. Assimilation. Wenn es eine Armenieren ist, ist vielmehr größer als z.B. bei einer Senegalesin. Das ist nicht sonderlich schwer zu erkennen, oder?“ (Bl. 814 GA)
203„Die BRD hat längst das Endspiel um die Entdeutschifizierung unserer Heimat losgetreten und die Forderung zur Selbstaufgabe der einheimischen deutschen (Noch-)Mehrheitsgesellschaft institutionalisiert.“ (Bl. 815 GA)
204Dennoch ist Neumann auf dem Bundeskongress mit deutlicher Mehrheit (209 Ja-Stimmen, 40 Nein-Stimmen, 17 Enthaltungen) gewählt worden und hat damit mehr Zustimmung erhalten als der zum weiteren Co-Bundesvorsitzenden gewählte und als eher gemäßigt geltende Carlo Clemens (155 Ja-Stimmen, 94 Nein-Stimmen, 17 Enthaltungen). Zwar ist Neumann am 30. April 2021 als Mitglied aus der Klägerin zu 1. - und auch der Klägerin zu 2. - ausgetreten, nachdem er in einem weiteren Beitrag das chinesische Staatsmodell befürwortet hatte -
205„Nach einigen Diskussionen mit Ordnungsstaatlern fällt auf, dass trotz grundsätzlicher Differenz, man oftmals beim chinesischen Modell als im groben sinnvollste Form zukunftsfähiger Staats-, Wirtschaft-und Gesellschaftsordnung ankommt. Das gilt es als für Europa zu formulieren.
206Ist natürlich keine große Neuigkeit und etliche haben da bereits einiges geleistet. Aber dass der völlig fragmentierte Westen eine Neuordnung, zwecks integraler Gesellschaftsformung, von Wirtschaft bis zur Religion, benötigt, ist in Zeiten des ‚Wokeismus‘ nicht zu übersehen“ (Bl. 816 GA, Fortschreibung Materialsammlung Bl. 56) -
207und der Bundesvorstand der Klägerin zu 1. Druck ausgeübt hatte. Gegen die Klägerin zu 2. spricht aber, dass diese das Vorgehen des Bundesvorstandes der Klägerin zu 1. nicht nur nicht unterstützt, sondern sogar öffentlich verurteilt und eine Distanzierung abgelehnt hat:
208„Wir bedauern es, dass Marvin T. Neumann, der bis heute Bundesvorsitzender der Jungen Alternative für Deutschland war, von weiten Teilen des AfD-Bundesvorstands zum Austritt aus der Partei gedrängt wurde, der gleichbedeutend ist mit seinem Rücktritt als Bundesvorsitzender der JA.
209Der Bundesvorstand der AfD hat Druck auf uns ausgeübt, damit wir uns von Neumann distanzieren. Eine solche Distanzierung kommt für uns nicht infrage. Stattdessen distanzieren wir uns vom Vorgehen der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz, die im Kampf gegen junge Patrioten sich von linksradikalen und aus dem Umfeld der Antifa kommenden Autoren treiben ließ. Man greift lieber auf Antifaquellen zurück, anstatt direkten Kontakt zum Bundesvorstand der JA aufzunehmen - denn eine solche Kontaktaufnahme blieb aus.
210Wir respektieren Neumanns Entscheidung. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, Schaden von der Partei abzuwenden und uns allen unnötige, parteischädigende und in den Massenmedien ausgetragene Diskussionen in wichtigen Wahlkampfzeiten zu ersparen.
211Auf die gegen Neumann vorgebrachten Vorwürfe möchten wir nicht näher eingehen - er hat diesbezüglich intern schon Stellung bezogen und wird eine entsprechende Erklärung hierzu noch veröffentlichen. In aller Kürze: Neumann und damit stellvertretend Tausende junger Menschen hierzulande für Äußerungen, wie die von ihm getätigten, mundtot machen zu wollen, schafft eine Atmosphäre der Angst und besorgt das Geschäft des politischen Gegners. Es kann nicht sein, daß selbst innerhalb der AfD die linke Cancel Culture Einzug hält.
212Es ist schade, wie eine ohnehin schon stigmatisierte AfD mit ihrer noch stärker stigmatisierten Parteijugend umgeht. In der JA engagieren sich junge Patrioten, die für ein besseres Deutschland in jungen Jahren alles riskieren. Sie hätten Anerkennung, Respekt und Rückendeckung verdient. Nichts davon haben sie vom Bundesvorstand der AfD erhalten. [...]“ (Bl. 817 GA)
213Daran zeigt sich, dass der Bundesvorstand hinter den rassistischen und das chinesische Staatsmodell befürwortenden Äußerungen seines zurückgetretenen Vorsitzenden steht und das Eingreifen des Bundesvorstandes der Klägerin zu 1. und die Arbeit der parteiinternen „AG Verfassungsschutz“ aufs Schärfste kritisiert. Nach dem Verständnis Neumanns kann ein Einwanderer niemals Teil des Volkes werden. Auch soll eine Assimilation unwahrscheinlich oder schwer werden, je „unähnlicher“ sich die ethnischen Gruppen seien.
214Hinzu kommen Äußerungen aus dem amtierenden Vorstand der Klägerin zu 2.:
215Der Bundesschriftführer der Klägerin zu 2., Nils Hartwig, verwendete in einem Tweet am 24. Februar 2021 den Begriff des „(Großen) Austauschs“:
216„Was ist wichtiger, in der Bahn keine Maske zu tragen oder den Bevölkerungsaustausch zu stoppen? Bitte endlich wieder Prioritäten setzen.“ (Bl. 818 GA)
217Am 31. März 2021 klagte er über zu viele Ausländer im Stadtbild westdeutscher Städte:
218„Wenn der Deutsche Städte- und Gemeindebund davon spricht, dass wir unsere Innenstädte nach der Pandemie nicht mehr wieder erkennen, heißt das dann, dass wir im Westen wieder Deutsche beim durch die Stadt bummeln sehen?“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 43)
219Am 16. Mai 2021 kommentierte er Forderungen nach einer Familienzusammenführung von Geflüchteten aus Eritrea und knüpft damit an die Forderung der „Remigration“ an:
220„Eine Familienzusammenführung kann so einfach sein. Schickt sie einfach wieder in die Heimat zurück!“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 85)
221Am 18. Mai 2021 kommentierte er einen Bericht über die vorläufige Unterbringung von Geflüchteten in einem Stadion mit den Worten:
222„No Way!
223you will not make Europe Home!“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 90)
224In einem Tweet vom 30. Mai 2021 sprach er mit Bezug auf einen Pressebericht zu jugendlichen Randalierern in Stuttgart von einem „ethnischen Experiment“, dass es zu stoppen gelte.
225„Deutschlands Zukunft. Stoppt dieses ethnische Experiment endlich.“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 92)
226Am 1. Juni 2021 schrieb er:
227„Wer niemanden einreisen lässt, der braucht auch niemanden abschieben.“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 94)
228Weitere Anhaltspunkte für ein völkisch-ethnisches Volksverständnis liefern auch zahlreiche Äußerungen von Funktionären und Landesverbänden der Klägerin zu 2., in denen vorwiegend unter Verwendung überkommener rechtsextremer Kampfbegriffe die „Umvolkung“, der „Austausch“ und „Untergang“ des deutschen Volkes beschworen wird. Der autochthone Deutsche wird als Idealbild dargestellt, auf die deutsche Staatsangehörigkeit allein soll es nicht ankommen.
229Der Bremer Landesverband der Klägerin zu 2. schrieb am 20. Februar 2017 in einem Facebook-Eintrag:
230„In Gröpelingen ist der Große Austausch bittere Realität! [...] Stoppt diesen Wahnsinn, stoppt den Großen Austausch“ (Belegsammlung I, Bl. 3909).
231Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern schrieb am 12. Mai 2017:
232„Eine Schule in Birmingham. So sieht ‚Vielfalt‘ im Endstadium aus. Unsere Kritik richtet sich bei diesem Austausch des Heimatsvolkes gegen jene, die sich nicht anpassen wollen, aber vielmehr an die Regierungen der EU bzw. an die EU, denn sie ermöglichen erst solche Zustände. Es werden täglich Afrikaner vom Mittelmeer nach Europa geschifft, wir gewähren gefühlt jedem Asyl, der aus Afrika oder Nahost kommt, Abschiebungen laufen schleppend. Bei der sogenannten Einwanderung ist kein Ende in Sicht, nebenbei haben solche Migranten auch noch eine höhere Geburtenrate als die Europäer. Jedes Land hat ein Recht auf die Erhaltung seiner Kultur und seines Volkes, dafür kämpfen wir!“ (Gutachten I, S. 258).
233Dieser Äußerung liegt ein ethnisches Volksverständnis zugrunde, da durch Einwanderung per se der Erhalt der Kultur und des Volkes in Gefahr sein soll.
234Der hessische Landesverband der Klägerin zu 2. verwendete in einem Twitter-Eintrag vom 16. November 2017 den Hashtag „Umvolkung“:
235„Jeder zweite Wiener hat #Migrationshintergrund. Eine #Umvolkung findet nicht statt. Das sind Zustände, die wir nicht wollen.
236#Remigration
237X #Mutlikulti“ (Bl. 2 BA 1).
238Derselbe Landesverband beklagte in einem Facebook-Eintrag vom 18. Februar 2018, dass die autochthonen Deutschen durch den Zuzug von Ausländern „ersetzt“ würden. Zudem warf er darin die Frage auf, warum man Politiker wählen solle, die diesen Austausch aktiv vorantrieben.
239„Wir wollen keinen Waschlappen wie Herrn Peter Feldmann als Oberbürgermeister mehr in Frankfurt haben, der tatenlos dazu beiträgt, dass die historische Stadt bald vollkommen zum Multikulti-Oase mit rechtsfreien Vierteln wird.
240Die heutige Folie zeigt auf, wie rasant sich der Ausländeranteil vermehrt hat und stetig steigt. Seit 2014 bilden die autochthonen Deutschen keine Mehrheit mehr in der einst wunderschönen Großstadt. [...]
241Die ‚fehlenden‘ autochthonen Deutschen wurden entsprechend durch den Zuzug von Ausländern vollständig ersetzt.
242Passdeutsche sind mit einer Steigerungsrate von fast 117 % (+ rd. 90 Tsd.) die am schnellsten wachsende Gruppe in Frankfurt. [...]
243Inwiefern profitiert der verbliebene Teil der angestammten Bevölkerung von der eigenen Ersetzung und warum sollte man Politiker wählen, die diesen Austausch aktiv vorantreiben?“ (Gutachten I, S. 263, Belegsammlung I Bl. 3920).
244Nach Vorstellung des hessischen Landesverbandes besteht das deutsche Volk somit allein aus „autochthonen“ Deutschen, nicht aber aus deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund, die als bloße „Passdeutsche“ - also Deutsche zweiter Klasse - bezeichnet werden.
245Der hessische Landesverband teilte am 5. März 2018 auf seiner Facebook-Seite die Erklärung des damaligen Landesvorsitzenden Nolte, die ebenfalls den „Austausch“ der Bevölkerung zum Gegenstand hat:
246„Die allermeisten davon ganz normale Bürger und Steuerzahler. Sie wollen nicht hinnehmen, was keiner ernsthaft leugnen kann: Der langsame Austausch der Deutschen durch muslimische Einwanderer. [...] Die Schande sind Politiker, die das Volk, das sie finanziert, mit seinem Blut für ein wahnsinniges Bevölkerungsexperiment bezahlen lassen. [...] Trotzdem sind mutige Bürger, die die unumkehrbare Abschaffung Deutschlands nicht hinnehmen, ein Lichtblick für dieses Land.“, Belegsammlung I Bl. 3907).
247Der Begriff des „Großen Austauschs“ wird auch in einer Twitter-Nachricht vom 25. Juni 2018 (Bl. 134 GA) vom Bremer Landesverband verwendet (Belegsammlung I Bl. 3905, 4247).
248Auf gleicher Linie liegt der dokumentierte Gebrauch von Tier-Metaphern, die allesamt verdeutlichen sollen, dass zwischen Migranten und Deutschen ein unüberwindlicher biologischer, abstammungsmäßiger Unterschied bestehe.
249Der damalige stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Baden-Württemberg schrieb am 15. April 2019 auf seiner Facebook-Seite:
250„Wie wird eine Taube zum Pferd? Ach ja stimmt, durch einen gesunden Tieraustausch. Eine Taube, die in einen Schweinestall fliegt, wird noch lange kein Pferd.“ (Bl. 7 BA 1).
251In einem Beitrag des Landesverbandes Baden-Württemberg vom 8. Juli 2019 heißt es:
252„Apropos; Kater, die in einem Pferdestall zur Welt kommen, sind Kater und keine Pferde.“ (Bl. 8 BA 1)
253Der sächsische Landesverband schrieb in einem Blog am 5. März 2021:
254„Der Umgang mit Einwanderung ist dabei nur ein Teil der Frage, ob wir das Verständnis von Deutschland als Heimat des historisch gewachsenen deutschen Volkes weiter tragen oder zulassen, dass seine Bedeutung mehr und mehr auf die eines identitätslosen Territoriums zurückgestutzt wird. Dazu zählt aber auch im Felde der regulierten und wirtschaftlich sinnvollen Migration nach dem Vorbild Kanadas, klarzustellen, dass der Fortbestand unseres Volkes ohne Wenn und Aber über wirtschaftlichen Zielen stehen muss.“ (Bl. 820 GA)
255Auch dort kommt ein ethnisches Volksverständnis zum Vorschein und wird der Fortbestand durch Einwanderung infrage gestellt.
256Die in den Gerichtsakten und Verwaltungsvorgängen dokumentierten Beiträge des niedersächsischen Landesverbandes können unerwähnt bleiben, da der Landesverband vor dem maßgeblichen Zeitpunkt, nämlich im November 2018, aufgelöst worden ist.
257Schließlich bekennen sich auch weitere exponierte Repräsentanten der Klägerin zu 2. ausdrücklich zu einem völkisch-ethnischen Volksverständnis. So sprach etwa der damalige Vorsitzende des Bremer Landesverbandes Teske in einer Twitter-Nachricht unter dem Hashtag „Remigration“ vom 15. Februar 2017, der „große Austausch“ sei Wirklichkeit (Belegsammlung I, Bl. 3950, 4246).
258Der damalige hessische Landesvorsitzende und Abgeordnete der Fraktion der Klägerin zu 1. Nolte sprach am 10. Juni 2017 auf seiner Facebook-Seite, dass die „Altparteien [...] nichts weniger als die Abschaffung unserer Nation“ betrieben (Belegsammlung I Bl. 3886). In einer Rede am 19. Juni 2017 legte er einen ethnischen Volksbegriff zugrunde:
259„Man will uns an erziehen, dass Nationalität, Geschlecht und sexuelle Orientierung selbst wählbare Beliebigkeiten seien, sodass sie sich wie ein Kleidungsstil nach Trends und den Erwartungen anderer richten könnten. Es ist kein Volk von Natur aus schlicht, auch dass Deutschen nicht.[...] und es wird auch keine Bevölkerungsexperimente auf deutschem Boden mehr geben. Niemand hat uns gefragt, ob wir in einem Vielvölkerstaat aufgehen wollen, und doch zahlen wir jeden Tag die Zeche für diesen Irrsinn. Dass wir zu uns selbst und unserer Kultur und unserer Nation stehen, ist erste Voraussetzung dafür, Einwanderer überhaupt erfolgreich integrieren zu können. Es ist richtig, zu sagen, dass wir nach etwas Natürlichem und ganz und gar Gesundem streben, wenn wir die deutsche Identität entkrampfen wollen. Aber das wäre noch zu kurz gegriffen. Dass wir uns unserer Identität, unseres Volkes und unseres kulturellen Erbes bewusst sind, ist unabdingbare Grundlage für einen lebensfähigen deutschen Staat.[...] und obwohl wir unseren Einwanderern, die Deutschland mit echter Leistung und echtem Fleiß, tatsächlich bereichern wollen, nicht verschließen, sagen wir doch ganz klar, dass jede Politik darauf ausgerichtet sein muss, dass das deutsche Volk in diesem Lande immer die Mehrheit stellt.“ (Gutachten I, S. 256 f., Belegsammlung I Bl. 3887-3889).
260Er stellt klar, dass in seinen Augen zwischen Migranten und Deutschen ein unüberbrückbarer Unterschied liegt. Wenn er sich dagegen wendet, dass Nationalität, Geschlecht und sexuelle Orientierung selbst wählbare Beliebigkeiten seien, kann dies im Kontext mit den Beispielen Geschlecht und sexuelle Orientierung nur so verstanden werden, dass auch die Nationalität nach seiner Lesart angeboren und unveränderlich ist. Ausländern ist damit der Zugang zum deutschen Volk verwehrt.
261Da damalige Landesvorsitzende in Sachsen, Matthias Scholz, prangerte auf einer Kundgebung der Klägerin zu 2. am 24. März 2018 in Dresden Einwanderung als „Multikulti-Kriminalität“ an:
262„Doch die Multikulti-Kriminalität ist nur ein Symptom, ein Symptom einer falschen Ideologie der Selbstaufgabe. Die Auswüchse der 68er haben unter dem Schleier der Gleichberechtigung ihren krankhaften Geist der Gleichmacherei Stück für Stück in den Geist unseres Volkes gesät. Dem Volk wird quasi von klein auf eingetrichtert, dass es gar nicht existiert. Unsere geliebte Kultur, mit all unserer Tradition und Werten soll belanglos und schlecht gemacht werden. Mit Gendermüll und Deutschlandhass soll mit aller Gewalt unsere Identität zermürbt werden. Doch wir wehren uns gegen den feuchten Traum von Claudia Roth, unser Volk gegen eine Horde von identitätsleeren Konsumenten auszutauschen.“ (Gutachten I, S. 264, Belegsammlung I Bl. 3930).
263Einwanderer werden vom Redner als „identitätslose Konsumenten“ herabgewürdigt, die offenbar nicht zum Volk gehören, sondern dieses „austauschen“.
264Gegen jede Form der Zuwanderung sprach sich in einem Facebook-Eintrag vom 5. Juli 2018 der damalige Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen der Klägerin zu 2. aus:
265„Sprachpolizei im Einsatz. Jeder nicht gehirngewaschene weiß: Umvolkung/betreutes Aussterben findet jetzt gerade statt. Deutschland braucht keine Zuwanderung, erst recht keine afro-orientalische.“ (Bl. 10 BA 1)
266Der stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Bayern der Klägerin zu 2. knüpfte in einem Tweet am 7. Mai 2021 an die Forderung der „Remigration“ an:
267„Die einzige Ansiedlung, die es geben darf und muß, ist eine zurück in ihre Heimatländer.“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 81)
268Auch Verbindungen zu als verfassungsfeindlich eingestuften Organisationen liefern im hier maßgeblichen Zusammenhang tatsächliche Anhaltspunkte.
269Zwar geht aus der Bundessatzung der Klägerin zu 2. hervor, dass die Mitgliedschaft in der „Identitären Bewegung Deutschland“ und deren Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden,
270vgl. zu Anhaltspunkten einer verfassungsfeindlichen Bestregung hinsichtlich der Identitären Bewegung und ihres Volksverständnisses VG Berlin, Urteil vom 12. November 2020 - VG 1 K 606.17 -, juris; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 - OVG 1 N 96.20 -, juris,
271grundsätzlich mit einem Engagement innerhalb der Klägerin zu 2. unvereinbar ist. Funktionäre der Klägerin zu 2. äußern sich in dieser Hinsicht aber uneinheitlich. So bestätigte der Berliner Landesvorsitzende im Januar 2017 gegenüber der Presse die Existenz von Doppelmitgliedschaften. Er stellte auch klar, die Mitglieder der Identitären Bewegung „ticken gar nicht so unterschiedlich zu uns, sie drücken sich nur anders aus“ (Gutachten I, S. 304).
272Der damalige Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2., Markus Frohnmaier, erklärte im April 2017, dass eine Kooperation mit der Bewegung nicht erfolgen könne, solange diese durch den Verfassungsschutz beobachtet werde. Es gelte jedoch, fortwährend die inhaltliche Rechtfertigung dieser Beobachtung zu kontrollieren (Gutachten I, S. 304 f.).
273Der Berliner Funktionär der Klägerin zu 2., Jörg Sobolewski, äußerte sich auf dem Bundeskongress der Klägerin zu 2. im Februar 2018, bei dem er in das Amt des stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt wurde:
274„Sobald die ‚Identitäre Bewegung‘ aus dem Fokus des Verfassungsschutzes raus ist - und da muss sie jetzt auch endlich raus, soweit ich weiß, wird dagegen auch geklagt - muss natürlich auch dieser Abgrenzungsbeschluss wieder auf den Prüfstand. Aber solange er da ist und solange die Beobachtung da ist, muss das auch eingehalten werden.“ (Gutachten I, S. 305).
275Der Vorsitzende des Bremer Landesverbandes Teske erklärte im Juni 2017:
276„Die Identitären machen gute Aktionen und werden zu Unrecht vom Verfassungsschutz beobachtet.“ (Gutachten I, S. 305)
277Darüber hinaus waren hochrangige Funktionäre der Klägerin zu 2. jedenfalls zeitweise auch für die Identitäre Bewegung aktiv, ohne dass dies in jedem Fall geahndet worden ist (vgl. im Einzelnen Gutachten I, S. 306). Die Klägerinnen haben sich dazu nicht erklärt.
278Am 17. Juni 2016 haben mehrere Funktionäre der Klägerin zu 2. - darunter der stellvertretende rheinland-pfälzische Vorsitzende der Klägerin zu 2. Salka, das Berliner Landesvorstandsmitglied Ha und der Schatzmeister des Berliner Landesverbands - an einer Demonstration der Identitären Bewegung teilgenommen. Der Vorsitzende des Bremer Landesverbandes Teske und sein Stellvertreter Mergard beteiligten sich im Juni 2017 ebenfalls an einer solchen Demonstration. Konsequenzen sind nicht bekannt geworden und wurden von den Klägerinnen auch nicht vorgetragen (vgl. dazu im Einzelnen Gutachten I, S. 308) - Teske und Mergard behielten ihre Ämter im Landesvorstand.
279Der ehemalige Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2., Lohr, lief im Rahmen einer Demonstration im März 2018 unmittelbar vor dem Block der Identitären Bewegung (vgl. Gutachten I, S. 309). Der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Junge stellte diesen Umstand als bedeutungslos dar:
280„Solche Zusammenkünfte können durchaus passieren in einem Demonstrationszug. Damian Lohr skandiert nicht mit, er ist nicht für die breite Masse erkennbar als AfD-Abgeordneter. Ich sehe da überhaupt kein Problem, finde ich alles in Ordnung.“ (Gutachten I, S. 309).
281Hinzu kommt, dass Vertreter der Klägerin zu 2. und Vertreter der Identitären Bewegung ähnliches Vokabular verwenden. Es tauchen regelmäßig die oben genannten Begriffe der „Remigration“ und des „Großen Austauschs“ auf (vgl. auch Gutachten I, S. 309 ff.).
282Die von den Vertretern der Klägerin zu 2. wiederholt verwendeten Begriffe wie „Umvolkung“, „Großer Austausch“ und „Remigration“ sind zudem in der Vergangenheit öfters im Kontext mit rechtsextremen Vereinigungen aufgetaucht; dies reicht in der Gesamtschau für die Annahme hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte aus.
283Zu einer Aussage, die sich ebenfalls gegen eine „Umvolkung“ richtet, hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass sie darauf gerichtet sei, Asylbewerbern und Migranten ihre Menschenwürde abzusprechen,
284BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE, 144, 20 Rn. 720 f. (NPD); vgl. auch BVerwG, Urteil vom 5. August 2009 ‑ 6 A 3.08 -, BVerwGE 134, 275 = juris Rn. 67, 69 (Collegium Humanum).
285Der Terminus des „Großen Austauschs“ bezeichnet nach dem Verständnis der Identitären Bewegung einen schrittweisen Prozess, durch den die heimisch angestammte Bevölkerung durch (insbesondere außereuropäische) verdrängt und ausgetauscht wird. Da dieses Konzept auf völkisch-ethnischen Vorstellungen eines ethnisch vorhergehenden deutschen Volkes beruht, stellt das Vertreten dieses Konzepts einen tatsächlichen Anhaltspunkt für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen dar,
286vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 673 ff., 690 ff.; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 ‑, juris Rn. 68; VG Weimar, Beschluss vom 9. Januar 2013 - 1 E 1194/12 We -, juris Rn. 8. ff.
287Dies gilt auch für den Begriff der „Remigration“, der auch von der Identitären Bewegung verwendet wird,
288vgl. VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 ‑, juris Rn. 68.
289Die Klägerin zu 2. verwendet im Kontext mit dem Ziel der Vertreibung muslimischer Menschen aus Deutschland auch den Begriff der „Reconquista“.
290Exemplarisch hierzu:
291„Wir lassen Bremen nicht islamisieren. Reconquista der Heimat - in jedem Stadtbezirk.“ (Bremen, Gutachten I, S. 277, Belegsammlung I Bl. 4031)
292Reconquista steht für „Rückeroberung aus arabischer Herrschaft“. Dies ist die spanische und portugiesische Bezeichnung für das Entstehen und die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs der christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel unter Zurückdrängung des muslimischen Machtbereichs (al-Andalus) im Mittelalter,
293https://de.wikipedia.org/wiki/Reconquista [abgerufen am 25. Januar 2022].
294Dieser Begriff wird - auch seitens der Vertreter der Klägerin zu 2. - auf die heutigen Verhältnisse übertragen und im Sinne einer Zurückdrändung des Islams in Europa verwendet,
295vgl. zur Identitären Bewegung, VG München Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 68.
296Es kann dahinstehen, ob allein aus der Verwendung von Begriffen, die etwa in rechtsextremen Kreisen verwendet werden, tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung hervorgehen, da es auf den jeweiligen Kontext der Äußerung ankommen soll,
297so Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, 2020, S. 176 f.
298Vorliegend finden sich diese Vokabeln von Vertretern der Klägerin zu 2. jedoch wiederholt und über einen langen Zeitraum und in offenkundiger Kenntnis des damit verbundenen Verständnisses und Kontextes. Denn die Begrifflichkeiten werden kontinuierlich weiter verwendet, obwohl das von dem Staatsrechtler Prof. Murswiek eigens für die Klägerin zu 1. erstellte Gutachten ausdrücklich empfiehlt, solche extremistischen Reizwörter zu vermeiden,
299vgl. Murswiek, Rechtliche Voraussetzungen für die Beobachtung einer politischen Partei durch den Verfassungsschutz. Kurzgutachten und Handlungsempfehlungen für die AfD, abrufbar unter https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2019/01/2018-10-22_vs-kurzgutachten_prof-murswiek_voraussetzungen-allgemein.pdf, S. 41 [abgerufen am 7. März 2022].
300Auch ist im jeweiligen Kontext klar erkennbar, dass der „Austausch“ der heimischen Bevölkerung durch außereuropäische Bevölkerung kritisiert und das Ziel des Erhalts der ethnisch deutschen Bevölkerung propagiert wird. Es geht vorliegend auch nicht um die Frage, ob die Verwendung dieser Begriffe eindeutig eine verfassungsfeindliche Zielrichtung belegt. Denn die Einstufung als Verdachtsfall und Beobachtungsobjekt erfordert allein einen Verdacht der verfassungsfeindlichen Bestrebung und das Vorliegen von (tatsächlichen) Anhaltspunkten.
301Es ergibt sich auch nichts anderes aus dem Umstand, dass die Klägerin zu 2. wörtlich nicht von einem rein ethnischen, sondern einem ethnisch-kulturellen Volksverständnis spricht. In diesem Kontext trägt die Klägerin zu 2. vor, dass ihr Volksverständnis „maximal inklusiv“ sei und auch Zuwanderer einschließe, die sich dem deutschen Volk kulturell zugehörig fühlten. Auch aus der im Januar 2021 abgegebenen Erklärung folge, dass die Klägerinnen die deutsche Staatsangehörigkeit von Zugewanderten und deren rechtlichen Status akzeptierten.
302Darin liegt weder eine Distanzierung noch wird dadurch die Bewertung der aufgeführten zahlreichen Äußerungen durch das erkennende Gericht in Frage gestellt. Abgesehen davon, dass es einige Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Erklärungen taktisch motiviert sind, ist die politische Forderung nach dem Erhalt der ethnischen Identität des deutschen Volkes aber ohnehin nicht erst dann verfassungswidrig, wenn sie die rechtliche Ausgrenzung und Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger anderer ethnischer Zugehörigkeit bedeutet und mit der Forderung der Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger wegen ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit verbunden wird,
303anders aber Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, S. 167 ff.
304Völkisch-abstammungsmäßige und rassistische Kriterien verstoßen auch dann gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn sie nicht absolut gelten und es Ausnahmen geben soll. Entscheidend ist die insgesamt verfolgte, objektiv erkennbare Zielrichtung des Personenzusammenschlusses, wie sie sich in der Zusammenschau der vorgelegten Belege ergibt,
305vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 - OVG 1 N 96.20 -, juris Rn. 13; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 37; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 -, juris Rn. 37.
306Aus den oben genannten zahlreichen Belegen geht aber hervor, dass die Klägerin zu 2. - zum Teil unter Verwendung rassistischer und martialischer Rhetorik - den Erhalt der deutschen Ethnie verfolgt und ethnische Kriterien damit den Ausschlag für weitere Einbürgerungen geben sollen. Aus den Verlautbarungen der Klägerin zu 2. ergibt sich zudem, dass sehr hohe bzw. nahezu unerreichbare Hürden für eine Einbürgerung aufgestellt werden und als Maßstab der autochthone Deutsche dient (siehe oben), sodass die Vorstellungen der Klägerin primär an ethnischen Vorstellungen anknüpfen und das kulturelle Element allenfalls untergeordnete Bedeutung hat.
307Des Weiteren greift der Einwand der Klägerinnen nicht, die Klägerin zu 2. verbinde mit ihrem Volksverständnis keine politische Forderung oder ein Handlungskonzept, sodass jedenfalls keine Bestrebung im Sinne des Gesetzes vorliege.
308Es kann dahinstehen, ob hinsichtlich der Klägerin zu 2. ein planvolles Vorgehen zu erkennen ist, das kontinuierlich auf die Verwirklichung eines der freiheitlich demokratischen Grundordnung widersprechenden politischen Konzepts hinarbeitet. Denn ein solches Vorgehen ist im Rahmen der hier streitgegenständlichen Verdachtsfalleinstufung nicht erforderlich. Das von den Klägerinnen in den Raum gestellte Kriterium muss vielmehr erst im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 2 GG vorliegen,
309vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 ‑, BVerfGE 144, 20 Rn. 575 f. zum Tatbestandsmerkmal des „Darauf Ausgehens“.
310Die Kriterien des Art. 21 Abs. 2 GG sind vorliegend aber - wie bereits ausgeführt - nicht einzuhalten, da es sich nicht um ein Parteiverbotsverfahren in diesem Sinne handelt.
311Denn - wie oben bereits dargelegt - erfordert der Begriff der „Bestrebung“ - in Abgrenzung insbesondere zur bloßen Meinungsäußerung - ein aktives, aber nicht notwendigerweise kämpferisch aggressives Vorgehen zur Realisierung eines bestimmten Ziels. Es bedarf Aktivitäten, die über eine bloße Missbilligung oder Kritik an einem Verfassungsgrundsatz hinausgehen,
312BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 -, BVerfGE 113, 63 (81 f.); BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 59; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 42; VG Düsseldorf, Urteil vom 28. Mai 2013 - 22 K 2532/11 -, juris Rn. 74 ff.
313Die Klägerin zu 2. äußert ihre Kritik gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung und ihr Verständnis von der Volkszugehörigkeit nach den obigen Feststellungen massiv und mit martialischer Rhetorik in der Öffentlichkeit. Dies auch im Kontext von Wahlen, wo sie um Unterstützung für ihre politische Agenda wirbt. Die Klägerin zu 2. belässt es nicht bei der reinen Kritik. Sie hat die Migrationspolitik zu einem ihrer zentralen Anliegen gemacht und formuliert dort auch Ziele, deren Umsetzung sie anstrebt.
314Davon abgesehen liegt es bei Meinungsäußerungen, die von oder innerhalb einer politischen Partei abgegeben werden, ohnehin zumindest nahe, dass sie mit der Intention einer entsprechenden Änderung der realen Verhältnisse abgegeben werden; denn politische Parteien sind gerade auf Änderung der politischen Verhältnisse ausgerichtet,
315BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275, Rn. 61; VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2016 - VG 1 K 255.13 -, juris Rn. 29; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 ‑ VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933 Rn. 26.
316Charakteristisches Ziel von Parteien ist die Einflussnahme auf die politische Willensbildung gem. § 2 Abs. 1 PartG. Das Aktivitätselement ist in der politischen Partei generell angelegt. Deshalb kann von der Vermutung ausgegangen werden, dass Meinungsäußerungen mit der Intention einer entsprechenden Änderung der realen Verhältnisse abgegeben werden. Kritik an einem Verfassungsgrundsatz beispielsweise, die von einem hohen Parteifunktionär geäußert wird, bringt regelmäßig zugleich den Willen zum Ausdruck, eine entsprechende Änderung der Verfassung durch politische Aktivität herbeizuführen, den Willen nämlich, nach Erringung der Macht die Verfassung entsprechend zu ändern,
317so auch Murswiek, NVwZ 2006, 121 (128).
318Dies gilt naturgemäß ebenso für die einer Partei zugehörigen Teilorganisationen. Zweck der Klägerin zu 2. ist ausweislich § 7 ihrer Bundessatzung die Förderung von politischer Bildung, Teilhabe und Willensbildung. Sie unterstützt die Klägerin zu 1. in Bund und Ländern bei ihrer politischen Tätigkeit,
319JA, Bundessatzung, Stand: Februar 2019, abrufbar unter https://netzseite.jungealternative.online/wp-content/uploads/2019/08/Junge-Alternative-Bundessatzung-und-Statuten.pdf [abgerufen am 20. Januar 2022].
320Die Klägerin zu 1. selbst wurde gemäß der Präambel in ihrer Bundessatzung „in ernster Sorge vor politischen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in Deutschland und in der Europäischen Union“ und gerade als Alternative zu den bislang im Bundestag vertretenen Parteien und der damit verbundenen Politik gegründet,
321AfD, Bundessatzung, Stand: 1. Juli 2021, abrufbar unter https://www.afd.de/satzung/ [abgerufen am 20. Januar 2022].
322Sie ist folglich von ihrem Gründungszweck gerade auf die Veränderung der Politik und damit denklogisch auch der gesetzlichen Regelungen ausgerichtet. Dass also Verlautbarungen im Bundesprogramm der Klägerin zu 2. und wiederholt und häufig getätigte Äußerungen hochrangiger Funktionäre und Landesverbände - zumal mit der oben zitierten Emotion und Rhetorik - nicht mit der Veränderung der bisherigen Politik und der gesetzlichen Regelungen im Falle einer Mehrheitsbeteiligung verbunden sein sollen, ist vor diesem Hintergrund fernliegend.
323Die Anhaltspunkte entfallen auch nicht dadurch, dass die Klägerin zu 2. von ihrem Volksverständnis abgerückt oder gegen die oben genannten Tätigkeiten und Äußerungen (konsequent) eingeschritten wäre.
324Auf einer Pressekonferenz der Klägerin zu 2. am 25. Juni 2019 setzte sich diese mit dem Gutachten I und der Einstufung durch das Bundesamt auseinander. Dort äußerte der bayerische Landesvorsitzende und Vorsitzende der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz der Klägerin zu 2. u. A.:
325„Das ist zum einen, dass das Verständnis des Verfassers [des Gutachtens] wohl dahin geht, dass ein ethnisch-kulturell vorwiegend geprägter Volksbegriff, den die Junge Alternative durchaus auch anspricht, pauschal als verfassungsfeindlich eingestuft wird. [...] Aber gleichzeitig die Unterstellung aufzuwerfen, dass man das eine als erhaltenswert erachtet und deshalb das Staatsvolk in dem Sinne, man trennt ja zwischen ethnischen Volk und Staatsvolk und Bevölkerung und so weiter, also, dass man alle anderen irgendwie ganz unangemessen in die Menschenwürde eingreifend benachteiligten wolle, muss eindeutig zurückgewiesen werden. Und es ist ganz klar, wenn man dieses Gutachten liest, diese Fehlbewertung folgt aus der Schlussfolgerung, dass „Volk“ und „Staatsvolk“ von den Verfassern mehr oder weniger gleichgesetzt wird und auch anscheinend gar nicht anders verstanden werden kann“ (Bl. 212 GA).
326Der damalige stellvertretende Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2. erklärte dort:
327„Der Deutschlandplan wurde entsprechend modifiziert, um inhaltlichen Missverständnissen vorzubeugen, die wir, mein Kollege Herr Kachelmann hat es schon erwähnt, auch wenn wir das Gutachten kritisch sehen, einzelne Punkte im Gutachten aufgezeigt haben, dass Missverständnisse vorkommen könnten“.
328„Sie sehen also: Wir als Junge Alternative haben uns mit den Vorwürfen des Bundesamts für Verfassungsschutz auseinandergesetzt, diese sehr ernst genommen und unsere Strukturen auch nochmals kritisch überprüft. Diese Überprüfung und die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, sind auch noch nicht für beendet erklärt. Das ist ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess, in dem wir uns befinden und der auch fortlaufend weitergeführt wird. Bedeutet, dass sowohl die anhaltende Optimierung unserer Satzung als auch die fortwährende Dynamik unserem Grundsatzprogramm immer weiter fortgeführt werden, optimiert werden und auch, gerade was die Satzung antrifft, Einzelverfahren beschleunigt werden“ (Bl. 214 GA).
329Aus den Äußerungen ergibt sich, dass die Unterscheidung zwischen einem „ethnischen Volk“ und einem Staatsvolk als Gesamtheit aller Staatsbürger aufrechterhalten wird. Auch wenn dort davon die Rede ist, dass man sich mit den Vorwürfen des Bundesamtes auseinandergesetzt habe, so kommt doch zum Ausdruck, dass man die Vorwürfe lediglich zurückweist und von „Unterstellungen“ spricht. Aus der Erklärung der Klägerin zu 2. als Reaktion auf den „erzwungenen“ Rücktritt ihres damaligen Vorsitzenden Neumann folgt ebenfalls, dass die Klägerin zu 2. offenbar die von ihrer „AG Verfassungsschutz“ erhobenen Vorwürfe nicht ernst nimmt („linksradikale und aus dem Umfeld der Antifa kommende Autoren“, „Antifaquellen“). Die (alleinige) Zurückweisung der Zuschreibung, dass das Volksverständnis gegen die Menschenwürde verstößt, reicht aber für eine abweichende Beurteilung selbstredend nicht aus. Auch die „Modifikation“ des Deutschlandplans lässt die Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung nicht entfallen. Denn der Deutschlandplan weist auch in seiner aktuellen Form Anhaltspunkte für das oben genannte Volksverständnis auf, wie oben dargelegt.
330Die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin zu 1. vom 18. Januar 2021, die zunächst vom Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2. und im Rahmen des Bundeskongresses am 17./18. April 2021 von den neu gewählten Vorstandsmitgliedern der Klägerin zu 2. unterzeichnet worden ist, ändert an der Beurteilung der Klägerin zu 2. ebenfalls nichts Wesentliches.
331Es kann dahinstehen, ob die Erklärung allein aus (prozess-)taktischen Gründen abgegeben worden ist. Denn eine wirkliche Abkehr von dem oben genannten Volksverständnis ergibt sich daraus nicht. Zwar wird dort das „deutsche Staatsvolk“ als Summe aller Personen bezeichnet, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand habe. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk sei von der ethnisch-kulturellen Identität rechtlich unabhängig. In Ziffer 2 der Erklärung wird sodann aber eine Unterscheidung zum „Deutschen Volk“ gemacht, welches langfristig erhalten werden solle. Damit suggeriert die Klägerin zu 2., dass das „deutsche Staatsvolk“ ein rechtliches Gebilde, wohingegen das „deutsche Volk“ ein dem rechtlichen Konstrukt vorausliegendes tatsächliches und ethnisch-kulturell bestimmtes Gebilde ist. Auch die übrigen Formulierungen verstärken dieses Verständnis. Das von der Klägerin zu 2. formulierte politische Ziel, „dem deutschen Staatsvolk auch eine deutsche kulturelle Identität über den Wandel der Zeit erhalten“, läuft darauf hinaus, die Einbürgerungsvoraussetzungen so zu gestalten, dass das „Staatsvolk“ dem „deutschen Volk“ möglichst entspricht und es nicht zu viele Abweichungen gibt.
332Es kann aber auch die weitere Auslegung der Erklärung dahinstehen. Denn jedenfalls für die Klägerin zu 2., um deren Einstufung es vorliegend geht, lässt sich daraus kein Beleg für die Ablehnung völkischer und rassistischer Einstellungen ableiten.
333Ein Personenzusammenschluss kann einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht dadurch entgehen, dass er sich in seinen offiziellen Dokumenten formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und dort auf das Propagieren verfassungsfeindlicher Ziele verzichtet, wenn seine Mitglieder eben doch die Ablehnung eines Elements der freiheitlich demokratischen Grundordnung zum Bestimmungsgrund ihres politischen Handelns machen,
334vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1952 - 1 BvB 1/51 -, BVerfGE 2, 1 = juris Rn. 52; BVerwG, Urteil vom 12. März 1986 - 1 D 103.84 -, BVerwGE 83, 158 = juris Rn. 35; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2011 ‑ OVG 1 B 111.10 -, juris Rn. 48.
335Für eine ernsthafte und glaubwürdige Abwendung von früheren verfassungsfeindlichen Bestrebungen genügt auch ein zeitweiliges oder situationsbedingtes Unterlassen einschlägiger Betätigungen nicht. Es bedarf vielmehr grundsätzlich eines von innerer Akzeptanz mitgetragenen kollektiven oder individuellen Lernprozesses, der sich auf die inneren Gründe für die Handlung bezieht und aufgrund dessen angenommen werden kann, dass mit hinreichender Gewissheit zukünftig die Verfolgung oder Unterstützung solcher Bestrebungen auszuschließen ist,
336Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Urteil vom 11. Juli 2002 - 13 S 1111/01, juris, Rn. 55; OVG Hamburg, Beschluss vom 7. April 2006 - 3 Bf 442/03, juris, Rn. 16; VG Gießen, Urteil vom 3. Mai 2004 - 10 E 2961/03, juris, Rn. 38.
337Dies setzt in der Regel voraus, dass eingeräumt oder zumindest nicht bestritten wird, dass zuvor zumindest Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorgelegen haben; werden die früheren Anhaltspunkte abgestritten, verharmlost, bagatellisiert oder entschuldigt, so spricht dies gegen eine glaubhafte Distanzierung,
338VG Gießen, Urteil vom 3. Mai 2004 - 10 E 2961/03, juris, Rn. 38.
339Nach diesen Maßstäben sind die abgegebenen Erklärungen nicht geeignet, die Anhaltspunkte auszuräumen. Denn die Klägerin zu 2. hat zu keinem Zeitpunkt eingeräumt, dass Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorgelegen haben. Alle im verwaltungsgerichtlichen Verfahren genannten Äußerungen wurden lediglich relativiert bzw. es wurde vorgetragen, dass diese unzutreffend ausgelegt worden seien. Auch die Erklärungen enthalten keine ausdrückliche Abkehr, sondern werden von der Klägerin zu 2. nur als „Klarstellungen“ bezeichnet. Die Klägerinnen haben durch ihren Prozessbevollmächtigten die erhobenen Vorwürfe im Kern entschieden und kategorisch zurückgewiesen und als völlig unhaltbar dargestellt. Allein aus diesem Grund kann eine während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens abgegebene Erklärung die Klägerinnen nicht entlasten.
340Hinzu kommt, dass die oben aufgeführten, bis zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Erklärung abgegebenen Verlautbarungen der Vertreter der Klägerin zu 2., sich nach der Unterzeichnung im Jahr 2021 nahezu nahtlos fortgesetzt haben, insbesondere durch Äußerungen des neuen Bundesvorstands und die Reaktion auf den Austritt des damaligen Co-Vorsitzenden Marvin Neumann; dies wurde im Einzelnen oben dargelegt. Eine Abkehr von bisherigen Auffassungen ist daher - unabhängig von der unterzeichneten Erklärung - nicht zu erkennen. Jedenfalls verbleiben aufgrund der Äußerungen weiterhin hinreichende Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung.
341Neben dem verfassungsfeindlichen Volksverständnis der Klägerin zu 2. ist in den Äußerungen der Funktionäre und Landesverbände der Klägerin zu 2. auch eine massive ausländerfeindliche Agitation festzustellen, die im Ergebnis Ausdruck eine Missachtung der Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt.
342Dies gilt insbesondere für solche Äußerungen über Asylbewerber und Migranten, die vielfach durch pauschale Verdächtigungen und Herabwürdigungen geprägt sind. Werden Einwanderer beziehungsweise Menschen fremder ethnischer Zugehörigkeit pauschal als minderwertig, als Schmarotzer oder als kriminell bezeichnet oder in anderer Weise verächtlich gemacht, so liegt darin eine Missachtung ihrer Menschenwürde,
343vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 707 ff.
344Die vom Bundesamt vorgelegten Belege enthalten Bekundungen, die im Hinblick auf die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot, den Verdacht einer verfassungswidrigen Bestrebung begründen.
345Es finden sich Zitate der Klägerin zu 2., in denen Flüchtlinge als „Invasoren“, „Angreifer“ oder „Besatzer“ bezeichnet werden:
346„Die Invasion geht munter weiter!“ (Landesverband Sachsen-Anhalt, Gutachten I, S. 270, Belegsammlung I, Bl. 3955)
347„Früher hat man Männer, die ins Land kommen um zu morden, Angreifer oder Besatzer genannt. Heute sind sie ‚Flüchtlinge‘ und man glaubt ihnen alle Angaben.“ (Bundesverband, Gutachten I, S. 272 f., Belegsammlung I, Bl. 3971)
348Flüchtlinge werden als „unzivilisierte, triebmotivierte Invasoren“ bezeichnet (Freiburg/Breisgau-Hochschwarzwald, Gutachten I, S. 270, Belegsammlung Bl. 3954).
349Darüber hinaus lassen sich zahlreiche weitere Verunglimpfungen von Flüchtlingen feststellen. Exemplarisch:
350Am 11. August 2016 veröffentlichte der damalige Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2. Frohnmaier ein Interview, das er dem Magazin „Blaue Narzisse“ gegeben hatte. Dort äußert er:
351„Unsere Generation wird am meisten darunter leiden, dass Merkel dieses Land gerade mit dem Lumpenproletariat Afrikas und des Orients überschwemmt. Deshalb wird auch die Frage der Rückführung dieser Menschen eine existentielle für unsere Heimat werden“. (Gutachten I, S. 271, Belegsammlung I Bl. 3956)
352Der Berliner Verband kommentierte am 5. Mai 2019 ein Video mit dem Titel „Lehrer nach Spuck-Attacke gefeuert“ mit den Worten:
353„Dieses Video müsst ihr sehen! So sieht Multi-Kulti aus: respektlos, primitiv, tyrannisch. Wehrt euch gegen diese Entwicklung: AfD!“ (Bl. 14 BA 1)
354Die Klägerin zu 2. verbindet ihre ausländerfeindliche Agitation mit der Forderung nach Abschiebungen und „Remigration“. In einem Facebook-Eintrag vom 8. November 2017 forderte die Klägerin zu 2., die gesetzlichen Voraussetzungen für „Massenabschiebungen“ zu schaffen. Es müssten dringend „alle Mittel zur Remigration ergriffen“ werden (Gutachten I, S. 268, Belegsammlung I Bl. 4244).
355Die Forderung nach „Massenabschiebung“ in Verbindung mit der Forderung zur Ergreifung „aller Mittel zur Remigration“ deutet auf ein mit dem Rechtsstaat in Konflikt stehendes, da nicht den Einzelfall berücksichtigendes Vorgehen hin. Dies deckt sich auch mit der Forderung der Klägerin zu 2., das Asylrecht in ein „rein mildtätiges Gnadenrecht“ umzuwandeln, das „vor keinem Gericht eingeklagt werden kann“. Folge soll sein, „dass wir uns in Zukunft aussuchen dürfen, wen wir als Flüchtling aufnehmen und in welchem zahlenmäßigen Umfang das geschehen soll - und auch, dass wir den Aufenthalt in Deutschland jederzeit wieder beenden können“,
356JA, Deutschlandplan, a.a.O., Seite 31.
357In einem weiteren Facebook-Eintrag vom 8. Dezember 2017 forderte die Klägerin zu 2. „Remigration statt Integration“ (Gutachten I, S. 310, Belegsammlung I Bl. 4245).
358Der Landesverband Hessen verwendet ebenfalls die Forderung nach „Remigration“ (Gutachten I, S. 310, Belegsammlung I Bl. 4252; Bl. 247 f. GA).
359Im Deutschlandplan der Klägerin fordert die Klägerin zu 2. pauschal eine „Minuszuwanderung von mindestens 200.000 Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit pro Jahr“,
360JA, Deutschlandplan, a.a.O., Seite 33,
361ohne dass erläutert wird, wie sie dies in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz umzusetzen gedenkt.
362Des Weiteren fordert die Klägerin zu 2. die Begrenzung der staatlichen Unterstützung für Flüchtlinge auf das bloße physische Existenzminimum, um eine Verfestigung des Aufenthaltsstatus zu vermeiden:
363„Alles, was darauf angelegt ist, Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland zu behalten und somit ihren Aufenthaltsstatus zu verfestigen, lehnt die Junge Alternative ab. Flüchtlinge sind nicht in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, sondern von Anfang an auf ihre Rückkehr in die Heimat vorzubereiten. Daher ist es ihnen Deutschland auch nicht schuldig, den Aufenthalt bei uns besonders „bequem“ zu gestalten.
364In Deutschland aufgenommene Flüchtlinge erhalten Nahrung, Sicherheit und Obdach. Darüber hinaus sind sie aber nicht in das deutsche Sozialsystem zu integrieren. [...]
365Eine generelle Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge lehnen wir ab. Punktuell kann es aber, auch im Sinne der Vermeidung kriminalitätsfördernder Unterbeschäftigung und Langeweile sinnvoll sein, Flüchtlinge zu unentgeltlicher gemeinnütziger Arbeit anzuhalten, soweit hierdurch keine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für deutsche Staatsbürger generiert wird“.
366JA, Deutschlandplan, a.a.O., Seite 31.
367Es ist aber bereits durch das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass die Beschränkung der staatlichen Unterstützung von Flüchtlingen auf das bloße physische Minimum gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt. Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich zwar nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum aber durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die nicht nur die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, sondern auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert,
368BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 − 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, BVerfGE 132, 134 Rn. 94.
369Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu,
370BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 − 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, BVerfGE 132, 134 Rn. 89.
371Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren,
372BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 − 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, BVerfGE 132, 134 Rn. 121.
373Ferner ist eine pauschale Verdächtigung von Ausländern als Kriminelle seitens der Klägerin zu 2. festzustellen.
374In ihrem Deutschlandplan in der Ursprungsfassung forderte die Klägerin zu 2. eine generelle Ausgangssperre ab 20 Uhr für junge männliche Flüchtlinge, „um die Sicherheit für die Bevölkerung und vor allem der Frauen in Deutschland zu erhöhen“ (Gutachten I, S. 243, Belegsammlung I, Bl. 3754).
375Diese Forderung wurde auf dem Bundeskongress der Klägerin zu 2. im Februar 2019 zwar abgeschwächt, sodass in der aktuellen Fassung des Deutschlandplans die Klägerin zu 2. sich dafür einsetzt, „das Asylrecht dahingehend zu verändern, um Kommunen die Möglichkeit zu geben, bei Bedarf eine Ausgangssperre zu verhängen“,
376JA, Deutschlandplan, Seite 31, abrufbar unter https://netzseite.jungealternative.online/wp-content/uploads/2019/08/Junge-Alternative-Deutschlandplan.pdf, ebenso Belegsammlung I, Bl. 3750 ff.
377Diese Abschwächung ändert aber nichts daran, dass mit der Forderung nach einer spezifischen asylrechtlichen Möglichkeit von Ausgangssperren eine ausländerbezogene Verdächtigung verbunden ist.
378In einem Facebook-Beitrag vom 27. November 2021 schrieb die Klägerin zu 2.:
379„Als ob es 2015 nie gegeben hätte: Ampel will mehr und noch mehr Einwanderung !!
380Wer sich den Koalitionsvertrag der Ampel näher anschaut, könnte auf den Gedanken kommen, dass es die Einwanderungswelle 2015 mit all ihren Folgen für Deutschland und seine Bürger nie gegeben hätte. Der Koalitionsvertrag nimmt nicht im Entferntesten Rücksicht auf Terror, Ausländerkriminalität, gesellschaftliche und kulturelle Aufnahmekapazitäten und die zunehmende Islamisierung.
381Stattdessen: Noch mehr Migration, noch mehr angebliche „Vielfalt“, noch mehr Einbürgerungen. Spätestens jetzt wird Deutschland zur Siedlungsregion für die Dritte Welt.
382Humanitäres Aufnahmeprogramm für Afghanistan an Anlehnung an das Programm für Syrien: 2022 wird das neue 2015.
383Einbürgerung nach drei oder fünf Jahren: Abschiebung und Asylverfahren nur lange genug aussitzen und schon ist man vollwertiger Bürger mit allen entsprechen Rechten und Vorteilen. Siedlungsregion eben.
384Gewinnung von ausländischen »Fachkräften«: Wie oft wird uns dieses Märchen noch aufgetischt? Fast zwei Drittel aller erwerbsfähigen Syrer in Deutschland lebt ganz oder teilweise von Hartz IV. Und selbst wenn nicht: Brauchen die Herkunftsländer keine Fachkräfte?“ (Bl. 909 GA).
385Die Klägerin zu 2. stellt Migration damit vordergründig in den Kontext von Terrorismus uns Ausländerkriminalität.
386Zu nennen sind darüber hinaus exemplarisch folgende Zitate:
387Im Juli 2017 äußerte der damalige Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2., Frohnmaier, in einem Facebook-Eintrag:
388„Wir haben daneben generell ein Problem mit sich zusammenrottenden Mobs aus jungen männlichen Asylbewerbern, die Straftaten begehen. Das wissen wir eigentlich seit den massenhaften sexuellen Übergriffen auf der Kölner Domplatte und haben es nun erneut in Böblingen vor Augen geführt bekommen. Ich fordere deshalb eine generelle Ausgangssperre für männliche Asylbewerber im Alter unter 50 Jahren ab 20.00 Uhr“ (Gutachten I, S. 274 f., Belegsammlung I, Bl. 3974).
389Am 7. Juli 2017 forderte die Klägerin zu 2. in einem Facebook-Eintrag eine „Verabschiedungskultur statt Vergewaltigungskultur“:
390„Unser stellvertretender JA-Bundesvorsitzender Reimond Hoffmann sagt dazu: Die Menschen, die herkommen um zu randalieren, zu belästigen, zu überfallen und Banden zu bilden, müssen konsequent in ihre Heimat gebracht werden: Verabschiedungskultur statt Vergewaltigungskultur also“ (Gutachten I, S. 272, Belegsammlung I Bl. 3969).
391Der damalige Landesvorsitzende Berlins der Klägerin zu 2. äußerte am 5. November 2016 im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung:
392„Die Kriminalitätsstatistiken bestätigen, dass die Verbrechen seit der unkontrollierten Grenzöffnung dramatisch angestiegen sind. [...] Deutschlands Straßen verkommen zum Freiluft-Bordell für eingewanderte Vergewaltiger“ (Gutachten I, S. 270 f., Belegsammlung I, Bl. 3955).
393Am 12. Januar 2018 bezeichnete die Junge Alternative Brandenburg die „Masseneinwanderung“ von Flüchtlingen in einem Facebook-Post verunglimpfend als „Import des Todes“ (Gutachten I, S. 273, Belegsammlung I, Bl. 3972).
394Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2., Mary Khan, postete am 9. Dezember 2019 mit Blick auf einen Medienbericht über eine Messerattacke auf einen Polizeibeamten:
395„Der Wahnsinn nimmt kein Ende. #Messerstichkultur“. (Bl. 11 BA 1)
396Der Berliner Landesverband der Klägerin zu 2. schrieb am 27. August 2018 auf facebook:
397„Chemnitz wird heute zur Frontstadt. Es gilt FRIEDLICH zu zeigen, dass wir uns nicht länger alles gefallen lassen. Wir erwarten von der Politik JETZT konkrete Maßnahmen, um Deutsche vor Messermigranten zu schützen.“ (Gutachten I, S. 272)
398Der Landesverband der Klägerin zu 2. aus Brandenburg bezeichnete in einem Facebook-Eintrag Migranten ironisch als „Kulturbereicherer“ und brachte sie in Zusammenhang mit Sexualstraftaten:
399„Liebe Landesregierung Niedersachen, liebe Stadtverordnetenversammlung Hannover, kümmern Sie sich um die wirklich wichtigen Dinge in unserem Lande. Kümmern Sie sich um das Geschlecht, welches tagtäglich Opfer von sexueIlem Missbrauch und Gewalt durch unsere Kulturbereicherer wird, statt sinnlos UNSER STEUERGELD für diesen Gendergaga aus dem Fenster zu werfen!“. (Bl. 12 BA 1)
400Der Landesverband Bayern der Klägerin zu 2. sprach im März 2019 von einer Explosion der Ausländerkriminalität:
401„Die dadurch ermöglichte Masseneinwanderung verursacht Milliardenkosten und lässt die Ausländerkriminalität ins schier Unendliche explodieren, sodass nicht einmal mehr die GEZ-Medien dies zu vertuschen wissen“. (Bl. 13 BA 1)
402Der Landesverband Baden-Württemberg teilte im Juli 2019 einen Beitrag des Kreisverbandes Stuttgart der Klägerin zu 1., der sich auf einen Bericht über eine Vergewaltigung einer 18-Jährigen auf Mallorca bezieht (dazu bereits oben). Mit der Aussage, Massenvergewaltigungen gehörten nicht zur deutschen Kultur, wird suggeriert, sie gehörten zur Kultur der Herkunftsländer der Tatverdächtigen:
403„Es ist eine abscheuliche Tat, völlig unabhängig von der Herkunft der Täter.
404Was wollen die Mainstreammedien den Bürgern hier verkaufen? Warum werden nicht Ross und Reiter genannt?
405Apropos; Kater die in einem Pferdestall zur Welt kommen, sind Kater und keine Pferde.
406Vor 2015 waren Gruppenvergewaltigungen in Deutschland unbekannt. Massenvergewaltigungen sind und waren nie Bestandteil deutscher Kultur.
407Bei den Tätern handelt es sich um die Deutschen? Serhat K. (23), Azad K. (22), Yakub D (21) und Baran D (19). Den deutschen Pass gibt es bereits zu einem Schleuderpreis von 255 € zu kaufen. Die Moral aus der Geschichte könnte sein, der deutsche Pass sollte verdient und nicht verschenkt werden. Aber das ist bei dieser Regierung und ihren Marionetten nicht zu erwarten. Sie setzen Lügen wie Stein auf Stein, um ihre Täuschungen aufrechtzuerhalten, dass die unkontrollierte Zuwanderung durch die illegale Grenzöffnung Deutschland nützt“ (Bl. 8 f. BA 1).
408Zu dem auch in diesem Beitrag verwendeten Tiervergleich und weiteren Tiervergleichen, siehe schon oben.
409Die Klägerin zu 2. vertreibt zudem über ihren offiziellen Internetversand einen Aufkleber mit der Aufschrift „Black Knives Matter“
410https://www.patria-laden.de/produkt/aufkleber-black-knives-matter/ [abgerufen am 25. Januar 2022]
411Damit bezieht sich die Klägerin zu 2. erkennbar auf die „Black Lives Matter“ Bewegung, die in den Vereinigten Staaten entstanden ist und sich gegen Gewalt gegen Schwarze bzw. People of Color einsetzt,
412https://de.wikipedia.org/wiki/Black_Lives_Matter [abgerufen am 25. Januar 2022].
413Sie verhöhnt damit nicht nur den Ansatz dieser Bewegung, sondern verkehrt ihre Zielrichtung ins Gegenteil, indem in rassistischer Weise dunkelhäutige Menschen als Messerstecher dargestellt werden.
414Inwiefern es die Klägerin zu 2. entlasten soll, dass es im Internet-Versandhandel T-Shirts mit demselben Aufdruck geben soll, erschließt sich nicht.
415Mit den genannten Äußerungen werden Ausländer bzw. Migranten nachhaltig und generalisierend mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Mit Begriffen wie der „Messerstichkultur“, „Vergewaltigungskultur“ oder Aussagen wie „Massenvergewaltigungen gehören nicht zur deutschen Kultur“, wird eine Verbindung zwischen ausländischer Herkunft und Kriminalität aufgezeigt, die geeignet ist, Ausländer insgesamt herabzusetzen. Die Klägerin zu 2. trifft pauschalisierende Aussagen und bringt zum Ausdruck, dass etwa ausschließlich Migranten Vergewaltigungen begehen. Die Wortwahl, Diktion und Inhalt sind erkennbar darauf ausgerichtet, Migranten ihre Menschenwürde abzusprechen,
416so auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 37.
417Im Rahmen der ausländerfeindlichen Agitation der Klägerin zu 2. stechen ferner muslimfeindliche Äußerungen hervor, in denen die grundsätzliche Ablehnung des Islam kundgetan, nicht zwischen Islam und Islamismus differenziert und der Islam vorwiegend mit Terrorismus assoziiert wird.
418Anlässlich eines terroristischen Anschlags in London veröffentliche die Berliner Gruppierung der Klägerin zu 2. am 4. Juni 2017 eine Grafik mit der Aufschrift:
419„Europa blutet. Stoppt den Islam!“ (Gutachten I, S. 281, Belegsammlung I Bl. 4060),
420die auch vom saarländischen Landesverband der Klägerin zu 2. geteilt wurde (Gutachten I, S. 281, Belegsammlung I Bl. 4061).
421Der Landesverband Baden-Württemberg äußerte am 16. August 2017 bei Facebook:
422„Diesmal hat es Barcelona getroffen. Die Religion des Friedens hat wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt, welches bei genauerem Hinsehen plötzlich gar nicht mehr so friedfertig zu sein scheint. Zumindest scheint sich bezüglich der Schlagzeile ‚Fahrzeug rast in Menschenmenge und tötet unschuldige Europäer' dieser Tage ein islamisches Monopol gebildet zu haben, das sich außerhalb jedweder Konkurrenz etabliert zu haben scheint. [...] Wieder einmal Menschen, die hier vorgaben ihre neue Heimat gefunden zu haben, nur um sich am jeweiligen Volk mit solch einer Bluttat zu revanchieren.“ (Gutachten I, S. 281, Belegsammlung I Bl. 4062)
423Auch hier wird offenbar Isam mit Islamismus und islamistischem Terror gleichgesetzt.
424Am 4. Februar 2018 forderte der Berliner Verband der Klägerin zu 2. einen „Kampf gegen den Islam“, der pauschal als Gefahr für die freie Gesellschaft dargestellt wird:
425„Wer unsere freie Gesellschaft ablehnt, darf nicht erwarten, Teil von ihr zu werden. Der Islam gibt eine vermeintliche Legitimationsgrundlage für Schwulenhass. Deswegen ist der Kampf für Freiheit ein Kampf gegen den Islam'.
426Defend Freedom - Islam Go Home“. (Gutachten I, S. 279, Belegsammlung I Bl. 4033)
427Eine Gleichsetzung des Islam mit Islamismus folgt auch den folgenden beispielhaften Zitaten:
428„Der Islam gehört zu? Na gut, dann gehören Kinderehe, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Christenfeindlichkeit, Züchtigung, Kopftuch, Hidjab, Burka, Steinigung, Scharia, Homophobie auch dazu“. (Verband Essen, Gutachten I, S. 282 f.; Belegsammlung I Bl. 4064)
429„Islamisierung Europas findet statt! In Belgien wünschen sich die Islam-Partei und ihr Vorsitzender einen rein islamischen Staat' [...] Dieser Fall in Belgien ist ein weiteres Mal ein Zeichen dafür, dass der Islam weder liberal, noch demokratisch oder friedlich ist. [... ] Der Islam ist eine gewaltbereite politische Ideologie, der sich alle Demokraten entschieden in den Weg stellen müssen. Darum sagen wir als Junge Alternative Brandenburg auch ganz klar: Der Islam gehört weder zu Deutschland noch zum freiheitlichen Europa!“ (Landesverband Brandenburg, Gutachten I, S. 280 f., Belegsammlung I Bl. 4059)
430In der Äußerung des damaligen stellvertretenden Landesvorsitzenden des Landesverbandes Baden-Württemberg der Klägerin zu 2. wird suggeriert, dass man in Deutschland als Muslim nicht gesetzestreu leben könne:
431„Lebt in Deutschland wie Deutsche! Jede Minderheit, gleichgültig, woher sie kommt, muss, wenn sie in Deutschland leben, dort arbeiten und essen will, Deutsch sprechen und das deutsche Gesetz respektieren.
432Wenn Sie das Gesetz der Scharia bevorzugen und das Leben von Muslimen führen wollen, raten wir Ihnen, dorthin zu gehen, wo es Staatsgesetz ist. [...]
433Die deutsche Lebensart und Tradition ist nicht vereinbar mit dem Kulturmangel oder dem primitiven Wissen des Gesetzes der Scharia und der Muslime“. (Bl. 18 BA 1)
434Der damalige Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2. Frohnmaier bezeichnete am 15. Juli 2016 bei Facebook einwandernde Muslime pauschal als „Sicherheitsrisiko“:
435„Nach Europa kommende Muslime sind spätestens jetzt ein potentielles Sicherheitsrisiko. Für die nächsten Jahre darf es deshalb keinen einzigen ausländischen Muslim geben, der nach Europa kommt. Die zunehmende Islamisierung und Terrorisierung des Abendlandes muss beendet werden“. (Gutachten I, S. 280, Belegsammlung I Bl. 4057)
436Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Klägerin zu 2. schrieb am 27. Juli 2021 auf Twitter:
437„Wenn die Medien die AfD nicht so verzerrt darstellen würden, und wenn die AfD selbst ihre Islamkritik differenzierter, rechter - d.h. traditionalistischer - und weniger plakativ und pauschalisierend vortragen würde, gäbe es in bestimmten Milieus mehr Wähler, oder zumindest Akzeptanz.
438Das heißt konkret: Fokus auf Einwanderungspolitik mit dem Hinweis, daß es kulturelle Inkompatibilitäten mit dem Islam gibt, er auch nicht zu Deutschland gehört und wir Herr im Hause mit Mindesthomogenität bleiben müssen. Aber: kein plumpes Islambashing!“ (Fortschreibung Materialsammlung, Bl. 105)
439Damit räumt dieser hochrangige Funktionär für die Klägerin zu 2. selbst ein, dass die „Islamkritik“ zu undifferenziert, plakativ und pauschalisierend vorgetragen und „Islambashing“ betrieben wird. Auch er sieht aber „kulturelle Inkompatibilitäten mit dem Islam“ und fordert eine „Mindesthomogenität“.
440Es liegen in diesem Kontext auch tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Einschränkung der Religionsfreiheit der Muslime vor.
441Art. 4 GG garantiert als Menschenrecht in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Der einer Religionsgemeinschaft zukommende Grundrechtsschutz umfasst das Recht zu eigener weltanschaulicher oder religiöser Betätigung, zur Verkündigung des Glaubens und zur Pflege und Förderung des Bekenntnisses. Hierzu gehören nicht nur kultische Handlungen einschließlich der Beachtung und Ausübung religiöser Gebote und Gebräuche wie Gottesdienst, Gebete und Prozessionen, sondern auch die religiöse Erziehung, Feiern und andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens sowie allgemein die Pflege und Förderung des jeweiligen Bekenntnisses,
442BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2006 - 2 BvR 1908/03 -, juris Rn. 20.
443Neben den oben genannten Anhaltspunkten für eine Gleichsetzung des Islam mit Islamismus und der Herabwürdigung von Muslimen finden sich in der von der Beklagten vorgelegten Belegsammlung auch Vorschläge, die Rechte von Muslimen in Deutschland zu beschneiden.
444Indem sich die Klägerin zu 2. gleichermaßen undifferenziert gegen Menschen muslimischen Glaubens und jeglichen Moscheebau positioniert, verstößt sie gegen die grundgesetzlich geschützte Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG),
445so auch VG Berlin Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 37; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 732 ff.
446Exemplarisch seien hier folgende Äußerungen genannt:
447„Wir sorgen dafür das keine Ruhe einkehrt in der heimlich Moscheen genehmigt werden können. [...]
448Wir kommen wieder - Keine Moschee an der Ostsee“. (Mecklenburg-Vorpommern, Gutachten I, S. 278, Belegsammlung I Bl. 4032)
449„Die Islamisierung geht weiter. Keine Moscheen in unserer Stadt!“ (Bremen, Gutachten I, S. 278, Belegsammlung I Bl. 4031)
450„Heute in Rostock gegen den geplanten Moscheebau auf der Straße!
451#afd #hro #jungealternative“ (Mecklenburg-Vorpommern, Bl. 23 BA 1)
452„Genehmigung dann nach der Landtagswahl 2019? Nicht mit uns! Der Islam gehört NICHT zu Deutschland! #AfD“. (Sachsen, Bl. 24 BA 1)
453„Keine weitere Moschee in Dresden!
454Das #Schweinefleischverbot in Leipzig und eine Ankündigung zum #Moscheebau samt Minarett in Dresden sind Beleg für die zunehmende Islamisierung des christlichen Abendlandes. Nicht mit uns!“ (Sachsen, Bl. 25 BA 1)
455„Erinnerung: Am kommenden Montag geht die #AfD in #Rostock erneut gegen den geplanten Moscheebau und die damit verbundene Islamisierung unserer Heimat auf die Straße!“ (Mecklenburg-Vorpommern, Bl. 26 BA 1)
456Auch finden sich in diesem Kontext Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Ausprägungen des Menschenwürdegrundsatzes des Art. 1 Abs. 1 GG.
457Dies ergibt sich insbesondere aus dem Grundsatzprogramm der Klägerin zu 2. Dort plädiert die Klägerin zu 2. dafür, das Asylrecht in ein „rein mildtätiges Gnadenrecht unserer Nation“ auszugestalten, das „vor keinem Gericht eingeklagt werden kann“. Folge soll sein, „dass wir uns in Zukunft aussuchen dürfen, wen wir als Flüchtling aufnehmen und in welchem zahlenmäßigen Umfang das geschehen soll - und auch, dass wir den Aufenthalt in Deutschland jederzeit wieder beenden können“. Die Klägerin führt dazu weiter aus, dass sie es in diesem Zusammenhang begrüße, „dass in Zukunft bei der Auswahl von Flüchtlingen uns kulturell nahestehende Minderheiten bevorzugt aufgenommen werden. Hingegen sollte die Aufnahme arabischer bzw. muslimischer Flüchtlinge primär durch stabile Staaten mit vergleichbarer Kultur erfolgen.“,
458JA, Deutschlandplan, abrufbar unter https://netzseite.jungealternative.online/wp-content/uploads/2019/08/Junge-Alternative-Deutschlandplan.pdf, Seite 31 [abgerufen am 24. Januar 2022].
459Die Klägerin zu 2. beabsichtigt folglich, die Zuerkennung eines Asylstatus von der Religionszugehörigkeit abhängig zu machen. Damit wird der Wesenskern des Asylrechts, politisch - auch aufgrund ihrer Religion - Verfolgten Zuflucht zu gewähren, konterkariert. Auch folgt daraus eine Diskriminierung der Asylsuchenden muslimischen Glaubens. Dies verstößt erkennbar gegen das Diskriminierungsverbot als Ausprägung des Menschenwürdegrundsatzes des Art. 1 Abs. 1 GG.
460Die Rechtfertigung der Klägerinnen, das Grundrecht auf Asyl sei nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst und könne daher auch vollständig aufgehoben werden, ändert vorliegend nichts an der Beurteilung der konkreten Ausgestaltung. Die Ausgestaltung nach den Vorstellungen der Klägerin zu 2. dergestalt, dass das Asylrecht und damit der Schutz vor politischer Verfolgung allein aufgrund der Glaubenszugehörigkeit des Verfolgten ausgeschlossen sein soll, verstößt gegen Art. 1 Abs. 1 (und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 4 Abs. 1) GG.
461Wie oben ausgeführt, steht die Forderung der Klägerin zu 2. nach „Massenabschiebungen“, die ohne Prüfung des Einzelfalls auskommen, und der Umwandlung des Asylrechts in ein „rein mildtätiges Gnadenrecht“, das nicht einklagbar ist und jederzeit beendet werden kann, gegen das Rechtstaatsprinzip. Denn es widerspricht den Grundsätzen des Rechtsstaats, ein Rechtsregime zu etablieren, das durch unbestimmte Begriffe gekennzeichnet ist und gegen das kein Rechtsschutz möglich ist. Zudem soll der Aufenthaltsstatus „jederzeit“ - offenbar ohne an Bedingungen geknüpft zu sein und damit rein willkürlich - beendet werden können.
462Es kann aber dahinstehen, ob weitere Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip vorliegen, da bereits hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung aus dem Volksverständnis und darüber hinaus der ausländerfeindlichen Agitation der Klägerin zu 2. folgen.
463Zusammenfassend lässt sich im Wege der würdigenden Gesamtschau feststellen, dass sich Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen aus dem Grundsatzprogramm der Klägerin zu 2., den Äußerungen ihres Bundesvorstands, aus zahlreichen Landesverbänden und von einigen Funktionären über den dokumentierten Zeitraum im Jahr 2017 bis heute entnehmen lassen. Besonders ins Gewicht fällt hier, dass sich Anhaltspunkte bereits aus dem Programm der Klägerin zu 2. ergeben. Es handelt sich bei den genannten Zitaten um Äußerungen von obersten Funktionären, insbesondere von mehreren Vorsitzenden des Bundesvorstands, weiteren Bundesvorstandsmitgliedern, Äußerungen des Bundesvorstands insgesamt, Passagen aus dem auf dem Bundeskongress der Klägerin zu 2. mehrheitlich beschlossenen Grundsatzprogramm und darüber hinaus zahlreiche Äußerungen von Landesverbänden der Klägerin zu 2. und Funktionäre auf Landesebene. Diese Äußerungen sind daher von hinreichendem Gewicht und liegen in ausreichender Zahl vor.
464Es finden sich viele Äußerungen, die die Menschenwürdegarantie verletzen. Das in den Äußerungen zutage geförderte Volksverständnis widerspricht dem im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Verständnisses und ist geeignet, Zugehörige einer anderen Ethnie auszugrenzen und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Es tritt das Ziel zutage, Migranten - insbesondere Muslime - auszugrenzen und verächtlich zu machen. Dies mündet in der Forderung nach der Abschaffung des Asylrechts und Etablierung eines „rein mildtätigen Gnadenrechts“, das Menschen muslimischen Glaubens nicht erfassen soll.
465Es handelt sich bei der Vielzahl der Äußerungen, die sich durch alle Ebenen der Klägerin zu 2. ziehen, erkennbar nicht (mehr) um Geschmacklosigkeiten oder bloße Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses, die sich von der Parteilinie abheben würden. Insbesondere aus der Programmschrift der Klägerin zu 2. und dem Grundtenor der zitierten Aussagen lässt sich ableiten, dass das Volksverständnis und die ausländerfeindliche Agitation Ausdruck eines generellen Bestrebens der Klägerin zu 2. sind.
466Die tatsächlichen Anhaltspunkte entfallen auch nicht durch ein Tätigwerden oder Einschreiten der Klägerin zu 2.
467Die Anhaltspunkte entfallen insbesondere nicht dadurch, dass die Klägerin zu 2. den niedersächsischen Landesverband als Reaktion auf die Einstufung als Verdachtsfall durch das Landesamt für Verfassungsschutz aufgelöst hat. Zwar ist für die Betrachtung durchaus relevant, dass die Klägerin zu 2. in Reaktion auf die Einstufung des Landesamtes für Verfassungsschutz den gesamten Landesverband Niedersachsen aufgelöst hat. Diese Maßnahme ist aber nur auf einen einzelnen Landesverband bezogen und singulär geblieben. Es ist - ganz abgesehen davon, dass der Bundesvorstand der Klägerin zu 2. selbst Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung beiträgt und er daher gegen sich selbst vorgehen müsste - insbesondere kein konsequentes Vorgehen gegen verfassungsfeindliche Äußerungen zu erkennen. So ist keine angemessene Reaktion auf die Einstufung des Bremer Landesverbandes durch das dortige Landesamt für Verfassungsschutz erfolgt. Die Klägerinnen haben dazu keine weiteren Maßnahmen vorgetragen.
468Überdies ist das reagierende Verhalten der Klägerin zu 2. inkonsequent: Im November 2018 erklärte auch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg den baden-württembergischen Landesverband der Klägerin zu 2. zum Beobachtungsobjekt. Auch dort blieb eine Reaktion der Klägerin zu 2. aus. Am 16. November 2018 erklärten vielmehr 44 Mitglieder des Landesverbandes ihren Austritt aus der Klägerin zu 2. In der Austrittserklärung, die unter anderem von dem damaligen Vorsitzenden, dem Ersten stellvertretenden Vorsitzenden und dem Schatzmeister des Landesverbandes unterzeichnet wurde, heißt es:
469„Lange haben wir versucht, unsere Jugendorganisation auf jenem richtigen Weg zu halten, den sie mehrere Jahre lang erfolgreich beschritten hat. Bis zuletzt haben wir in Baden-Württemberg alles daran gesetzt, die Mehrheit der vernünftigen Kräfte, irrelevant aus welchem der sogenannten Flügel, zu bündeln und uns gegen die immer stärker wachsende politische Verantwortungslosigkeit zahlreicher Mitglieder zur Wehr zu setzen. Leider sind diese Versuche einem Radikalisierungsprozess zum Opfer gefallen, der insbesondere in den letzten Monaten noch einmal erheblich an Fahrt aufgenommen hat.
470So wurden etwa in mehreren Bezirksverbänden regelrechte Parallelstrukturen mit engen Verbindungen zu der vom Verfassungsschutz beobachteten Identitären Bewegung (IB) aufgebaut, obwohl die JA seit geraumer Zeit einen Unvereinbarkeitsbeschluss zu dieser Organisation getroffen hat. [...]
471Die nun eingeleitete Beobachtung der JA Baden-Württemberg durch das Landesamt für Verfassungsschutz und insbesondere die darauf erfolgten, unverhohlen hämischen Reaktionen einiger Mitglieder - auch innerhalb des Landesvorstandes selbst - bestätigen uns leider die seit der letzten Landesvorstandswahl im Sommer gewonnene Erkenntnis, dass es etwa 50 Prozent der aktiven Mitgliedschaft schon lange nicht mehr um freiheitlich-patriotische Jugendpolitik geht, sondern um die Verfestigung einer in keiner Weise konstruktiven totalen Ablehnung dessen, was sie nebulös als „System“ bezeichnen, wir hingegen als freiheitlich-demokratische Grundordnung und das Ergebnis freier und gleicher Wahlen kennen und zu schätzen wissen. Durchgesetzt wird dieser Kurs in zunehmend sektenartigen Strukturen, welchen sich Neumitglieder in den entsprechenden Gliederungsebenen unterzuordnen haben, sofern sie nicht ausgegrenzt werden wollen. Die Folge dieses Gebarens war regelmäßig die blitzartige Radikalisierung insbesondere sehr junger Neumitglieder, welche diesem Sog nur selten wieder entkommen sind.
472Die vorgenannten Entwicklungen waren schon länger völlig untragbar, können aber nach unserem Dafürhalten inzwischen nicht mehr aus der Organisation selbst heraus umgekehrt werden. Aus genau diesem Grund sehen wir - Gründungsmitglieder ebenso wie später Hinzugekommene, Veteranen der ersten Stunde, ebenso wie kürzlich noch hochmotivierte Neumitglieder - nur noch eine Möglichkeit als letzte, logische Konsequenz, um den Gründungsgedanken der JA vor dem dauerhaften Missbrauch durch tatsächliche Extremisten zu retten: Indem wir unsere Ämter niederlegen, aus der JA austreten und uns über kurz oder lang dem Aufbau einer neuen, der AfD verbundenen Jugendorganisation widmen, welche die in der Vergangenheit gemachten Fehler sicher nicht wiederholen wird.
473Mit diesem Schritt möchten wir ein Zeichen gegen die destruktiven Kräfte setzen, welche der AfD über die JA aktiv und sehenden Auges schweren Schaden zufügen“.
474vgl. Anlage B31, S. 33 BA 1.
475Daraus folgt, dass in dem Landesverband die eher gemäßigten Mitglieder ausgetreten sind. Ein Einschreiten gegen die anderen Funktionäre und Mitglieder und die von den 44 ausgetretenen Mitgliedern benannten Entwicklungen ist von der Klägerin zu 2. weder vorgetragen noch sonst erkennbar.
476Die Klägerin zu 2. kann auch nichts Entlastendes aus dem von ihr erstellten „Mäßigungs-Katalog“ ableiten. Ausweislich eines - von den Klägerinnen inhaltlich nicht bestrittenen - Medienberichts hat die Klägerin zu 2. innerhalb ihres Verbandes Ende 2018 einen „Mäßigungs-Katalog“ erarbeitet, der unter anderem das Unterlassen des Absingens aller drei Strophen des Deutschlandliedes, einen schnelleren Ausschluss auffälliger Mitglieder, die Verlängerung der Probezeit für Neuzugänge auf ein halbes Jahr, die Abschaffung von WhatsApp- sowie Facebook-Gruppen auf Kreisebene und die Überwachung von WhatsApp- und Facebook-Gruppen auf Landesebene durch zwei Verantwortliche enthielt. Dieser Katalog zeigt zwar das Bewusstsein bei der Klägerin zu 2., dass es innerhalb des Verbandes zu problematischen Äußerungen und Handlungen gekommen ist. Der Katalog beinhaltet aber keine Abkehr von inhaltlichen Positionen. Jedenfalls muss nach dem oben Gesagten festgestellt werden, dass der Mäßigungs-Katalog auch entweder unbeachtet geblieben ist oder aber jedenfalls nicht verhindert hat, dass die oben aufgeführten Verlautbarungen und Äußerungen getätigt worden sind. Insbesondere ein schneller und konsequenter Ausschluss von auffälligen Mitgliedern ist nicht zu verzeichnen.
477Die von der Beklagten vorgelegten Belege sind auch verwertbar. Dass die im Juni 2021 übersandten Verwaltungsvorgänge nicht verwertbar seien, da die Beklagte nicht dargelegt habe, welche Unterlagen im Einzelnen für die Beurteilung relevant seien, ist fernliegend. Eine solche Pflicht des Bundesamtes existiert nicht. Selbst wenn eine solche Pflicht existieren würde, folgte daraus nicht die Unverwertbarkeit der vorgelegten Verwaltungsvorgänge.
478Auch ergibt sich kein Verwertungsverbot aus einer unzulässigen Datenerhebung. Wegen des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG liegt vielmehr gerade eine rechtmäßige Datenerhebung und ‑sammlung vor.
479Es handelt sich bei den Gutachten I - III um Behördengutachten, bei dessen Erstellung sich das Bundesamt der Hilfe eines externen Rechtsanwalts bedienen kann. Darüber hinaus würdigt das Gericht die in den Gutachten zitierten Belegstellen eigenständig, da es um eine rechtliche Beurteilung und Einordnung geht. Bei der gesetzlichen Voraussetzung für einen Eingriff, mithin das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für einen Verdacht, handelt es sich ebenso wie bei einer Polizeigefahr um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der für einen Beurteilungsspielraum der anordnenden Behörde keinen Raum lässt, sondern in vollem Umfang verwaltungsgerichtlicher Nachprüfung unterliegt,
480BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1990 - 1 C 12.88 ‑, BVerwGE 87, 23 = juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 27. Oktober 1982 - 20 A 348/81 ‑, DVBl. 1983, 1017 ff.; VG Berlin, Urteil vom 25. September 2012 - VG 1 K 225.11 -, juris Rn. 43.
481Das Gericht hat die vom Bundesamt aufgeführten Anhaltspunkte also eigenständig zu beurteilen, sodass die in den Gutachten genannten Schlussfolgerungen für das Gericht ohnehin nicht bindend sind.
482Es kann auch dahinstehen, ob die neu vorgelegten Anhaltspunkte vom Bundesamt unter Verstoß gegen die Stillhaltezusage im Verfahren 13 L 105/21 erhoben worden sind. Denn es handelt sich um die Nennung offen zugänglicher Zitate von Mitgliedern der Klägerinnen, die ohnehin jede am Verwaltungsprozess beteiligte Partei vortragen und das Gericht auch selbst in den Prozess einführen kann. Ein Verwertungsverbot folgt daraus jedenfalls nicht. Die Auswertung offener Quellen ist auch in der Prüffallphase, in die die Klägerin zu 1. nach der Mitteilung, die Einstufung der Partei als Verdachtsfall sei aufgehoben worden (vgl. 13 L 105/21, GA 678), zurückgefallen ist, weiterhin zulässig.
483Auch begegnet die Entscheidung des Bundesamtes für eine entsprechende Einstufung und Beobachtung der Klägerin zu 2. keinen Bedenken. Es kann dahinstehen, ob - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - die Verfassungsschutzbehörden zur Beobachtung entsprechender Bestrebungen und Tätigkeiten nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sind, und ihnen daher kein Entschließungsermessen zusteht,
484so Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 131 m.w.N.; Warg, a.a.O., S. 543; a. A. VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03 ‑, juris Rn. 188.
485Denn Ermessensfehler sind hier jedenfalls nicht ersichtlich, § 114 Satz 1 VwGO. Die Maßnahmen sind insbesondere verhältnismäßig. Zwar bedeuten sie einen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen der Klägerinnen. Bei einer Beobachtung handelt es sich - auch wenn sie wie hier bislang allein aus offenen, allgemein zugänglichen Quellen wie Druckerzeugnissen, Programmen und Äußerungen in sozialen Medien erfolgt - um einen sich mit der Dauer der Maßnahme verstärkenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Sie kann, wenn sie - wie hier - bekannt wird, zu seiner Stigmatisierung in der Öffentlichkeit führen. Darüber hinaus steht hier auch eine zumindest mittelbare Beeinträchtigung des Grundrechts der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und weiter des Rechts auf Chancengleichheit im Wettbewerb von politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) im Raum,
486vgl. nur VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 ‑, BeckRS 2017, 119732 Rn. 25 (Identitäre Bewegung).
487Die Beobachtung der Klägerin zu 2. durch das Bundesamt ist geeignet, den auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Verdacht der verfassungsfeindlichen Bestrebungen weiter abzuklären. Die Beobachtung im Wege der Auswertung offener Quellen ist auch erforderlich, da sie das mildeste Mittel im Rahmen der Beobachtung darstellt. Die Beobachtung der Klägerin zu 2. in dem bislang praktizierten Umfang steht auch nicht erkennbar außer Verhältnis zum beabsichtigten Erfolg. Eine Ausweitung der Beobachtung der Klägerin zu 2. mit nachrichtendienstlichen Mitteln in der Zukunft muss dann die weiteren Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 BVerfSchG erfüllen.
488Auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) wirkt sich die Informationsbeschaffung aus offenen Quellen nur relativ geringfügig aus, da diese keine Informationen enthalten, die dem persönlichen Lebensbereich der jeweils Betroffenen zuzuordnen wären, sondern ausschließlich dessen Wirken in der Öffentlichkeit betreffen und häufig von diesem selbst oder mit dessen Einverständnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Im Verhältnis zum Schutzzweck der Beobachtung erscheint der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung daher nicht unangemessen oder unzumutbar,
489vgl. VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 ‑, BeckRS 2017, 119732 Rn. 47; BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 ‑ 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 102 ff.
490Gleiches gilt hinsichtlich etwaiger faktischer Auswirkungen der Beobachtung auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) der Klägerin zu 2. Hinsichtlich des Rechts auf Gleichbehandlung von Parteien (Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) ist schließlich festzustellen, dass durch die Beobachtung als solche weder die Werbung für Parteiziele unmittelbar berührt oder gar untersagt wird, noch sind - anders als im Fall der Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Beobachtung - Auswirkungen auf das Wählerverhalten zu befürchten.
491vgl. erneut VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861, BeckRS 2017, 119732 Rn. 47.
492Der Eingriff ist jedenfalls durch den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt. Das Grundgesetz hat sich für eine streitbare Demokratie entschieden. Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder gar zerstören dürfen (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 GG),
493vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013 - 2 BvR 2436/10, 2 BvE 6/08 -, BVerfGE 134, 141 Rn. 112; Urteil vom 17. August 1956 - 1 BvB 2/51 -, BVerfGE 5, 85 = juris, Rn. 496; OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 5 B 163/21 -, juris Rn 22.
494Der Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung wiegt dabei schwerer als der Eingriff in die Rechte der Klägerinnen, zumal die Klägerin zu 2. mit ihren zahlreichen Äußerungen und politischen Positionierungen den Anlass für die Verdachtseinstufung und Beobachtung gesetzt hat.
495Der Einstufung als Verdachtsfall und der Prüfung und Beobachtung der Klägerin zu 2. steht ebenso nicht entgegen, dass seit der Einstufung am 15. Januar 2019 mehr als drei Jahre vergangen sind, ohne dass eine Hochstufung als erwiesen extremistische Bestrebung erfolgt ist. Eine zeitliche Obergrenze sieht das Bundesverfassungsschutzgesetz nicht vor. Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt auch nicht - anders als die Klägerinnen meinen - eine maximale Zeitgrenze von zwei Jahren. Dieser Grundsatz findet seine Ausprägung auch nicht im niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz. In § 6 Abs. 3 Satz 1 NVerfSchG heißt es zwar, dass spätestens zwei Jahre nach der Bestimmung zum Beobachtungsobjekt oder einer Verlängerung von der Verfassungsschutzbehörde zu prüfen ist, ob die Voraussetzung des Absatzes 1 Satz 2 weiterhin erfüllt ist. Zum einen ist dort aber schon von einer Verlängerung ausdrücklich die Rede. Nach Satz 2 sind die Gründe zu dokumentieren, sollten weiterhin tatsächliche Anhaltspunkte festgestellt worden sein. Nur falls dies zu dieser Zeit nicht mehr der Fall ist, ist die Beobachtung nach Satz 3 einzustellen.
496Eine absolute zeitliche Obergrenze widerspräche auch dem Schutzzweck der verfassungsschutzbehördlichen Beobachtung. Vielmehr ist es nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG Aufgabe des Verfassungsschutzes, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten, solange es für diese tatsächliche Anhaltspunkte gibt; eine zeitliche Einschränkung wird nicht gemacht. Insbesondere wäre es mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG nicht zu vereinbaren, wenn eine Beobachtung eingestellt werden müsste, wenn das Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen festgestellt worden ist und diese Anhaltspunkte weiter bestehen. Denn gerade in diesem Fall bedarf die weitere Entwicklung der Bestrebungen der Beobachtung. Die Beklagte steht nicht vor der Alternative, den verfassungsfeindlichen Personenzusammenschluss zu verbieten oder die Beobachtung einzustellen,
497vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1975 ‑ 2 BvL 13/73 ‑, BVerfGE 39, 334 (360); BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1075 ‑ 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 (291 f.); BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 (130 f. - Beobachtungszeitraum von über vier Jahren unbedenklich); VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03 -, juris Rn. 165 f.
498Anderes gilt allerdings, wenn sich im Rahmen einer „Dauerbeobachtung“ herausstellen würde, dass die verfassungsfeindlichen Bestrebungen (oder der entsprechende Verdacht) durch Entwicklungen in dem Personenzusammenschluss überholt sind, aus sonstigen Gründen obsolet sind oder wenn sich nach umfassender Aufklärung durch eine mehrjährige Beobachtung der Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen nicht bestätigt hat und die für eine Beobachtung maßgeblichen tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sind. Denn in diesen Fällen hat sich ein „Anfangsverdacht“ bezogen auf den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bestätigt,
499vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 (138); OVG NRW, Urteil vom 12. Februar 2008 - 5 A 130/05 -, juris Rn. 351; VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03 -, juris Rn. 171 f.
500Vorliegend zeigen aber die oben genannten Zitate und Erklärungen, die selbst nach der streitgegenständlichen Einstufung der Klägerin zu 2. abgegeben worden sind, dass der Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebung weder durch Entwicklungen bei der Klägerin zu 2. überholt ist, noch die maßgeblichen tatsächlichen Zustände unverändert geblieben sind. Es lassen sich vielmehr zahlreiche der Klägerin zu 2. zurechenbare Äußerungen und Handlungen seit dem 15. Januar 2019 finden, die ebenfalls Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen darstellen, sodass nicht nur die festgestellten Anhaltspunkte weiterhin bestehen, sondern auch weitere Anhaltspunkte hinzugekommen sind.
501Die Einstufung zum Verdachtsfall ist auch unter dem Gesichtspunkt verhältnismäßig, dass es im Anschluss grundsätzlich zum Einsatz verdeckter nachrichtendienstlicher Mittel kommen kann. Ein Automatismus, dass mit der Einstufung zum Verdachtsfall unmittelbar der Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln verbunden ist, existiert nicht. Dieser Einsatz ist eine Frage des Einzelfalls und unterliegt besonderen zusätzlichen gesetzlichen Voraussetzungen (§ 8 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 8a ff. BVerfSchG) und zusätzlichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen (§ 8 Abs. 2 Satz 3, § 9 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BVerfSchG). Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt solche Mittel bereits gegen die Klägerin zu 2. und ihre Mitglieder zum Einsatz bringt, bestehen nicht. Bei dem Einsatz solcher Mittel ist eine gerichtliche Prüfung nur des jeweiligen Einzelfalles, nicht aber abstrakt generell möglich. Der Einsatz solcher Mittel ist jedenfalls nicht generell aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen.
502Schließlich kann auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt werden. Der Hinweis, Politiker anderer Parteien verträten dieselben Positionen, lässt die Rechtmäßigkeit der Beobachtung der Klägerin zu 2. nicht entfallen. Der von den Klägerinnen mehrfach wiederholte Einwand, dass es sich mit dieser oder jener Einzelheit bei dieser oder jener Partei ebenso oder ähnlich verhalte wie bei ihr, liegt deshalb neben der Sache. Nicht auf die Einzelheiten als solche kommt es an, sondern auf eine Gesamtwürdigung. Erst die Fülle der Einzelheiten - der Worte und Taten der Führenden und ihrer Anhänger - eröffnet den Weg zur Erkenntnis des Wesens der Partei und des hintergründigen Sinnes ihres Programms. Dazu sind Anhaltspunkte in quantitativ und qualitativ hinreichender Anzahl erforderlich. Einzelne Anhaltspunkte reichen für eine Beobachtung nicht aus, sofern es sich allein um einzelne Entgleisungen handelt,
503vgl. dazu oben und BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1952 - 1 BvB 1/51 -, BVerfGE 2, 1 = juris Rn. 53; OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2000 ‑ 5 A 2256/94 -, juris Rn. 45.
504Allein aus dem Vortrag der Klägerin ergeben sich solche Anhaltspunkte bei anderen genannten politischen Parteien - oder deren Jugendorganisationen - in einem mit der Klägerin zu 2. vergleichbaren Ausmaß aber jedenfalls nicht.
505Auch der Hilfsantrag hat keinen Erfolg. Denn er bezeichnet nur eine prozessuale Maßgabe hinsichtlich des ohnehin für den Hauptantrag zu 1. geltenden maßgeblichen Zeitpunkts.
5062. Auch der Klageantrag zu 2. ist unbegründet. Die Klägerinnen haben auch keinen Anspruch auf Unterlassung der Bekanntgabe der Einstufung.
507Ermächtigungsgrundlage ist § 16 Abs. 1 BVerfSchG. Danach informiert das Bundesamt über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 3 Abs. 1 BVerfSchG, soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen.
508Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Denn der Unterlassungsanspruch wird im Rahmen einer Leistungsklage geltend gemacht und richtet sich in die Gegenwart,
509vgl. Polzin, Der maßgebliche Zeitpunkt im Verwaltungsprozess, JuS 2004, 211, 213 m.w.N.
510§ 16 Abs. 1 BVerfSchG ermächtigt nach seiner Neufassung damit auch - entgegen der Auffassung der Klägerinnen - schon zur Information über „Verdachtsfälle“,
511vgl. BTDrucks. 18/4654, S. 32; VG Köln, Beschluss vom 26. Februar 2019 - 13 L 202/19 -, juris Rn. 68; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 -, Rn. 21; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 -, juris Rn. 18; anders noch vor der Neuregelung BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2013 - 6 C 4.12 -, juris Rn. 12 ff. zu § 16 Abs. 2 BVerfSchG a.F.
512Die Anwendung der Vorschrift ist auch nicht durch Art. 21 Abs. 4 GG gesperrt. Denn es steht hier - wie dargelegt - kein Parteienverbot und keine dem Parteienverbot vergleichbare Maßnahme im Raum, die nach dem Maßstab des Art. 21 GG zu beurteilen wäre.
513Die verbindliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei kann gemäß Art. 21 Abs. 4 GG nur das Bundesverfassungsgericht in dem nach den Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vorgesehenen Verfahren treffen (Parteienprivileg). Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts schließt damit ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten,
514vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 16.
515An dieser Bestands- und Schutzgarantie des Grundgesetzes haben auch die Klägerinnen vollen Anteil. Die Beobachtung durch das Bundesamt und deren Bekanntgabe ist aber keine solche Maßnahme, sondern dient der Aufklärung des Verdachts, dass die Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Die Zulässigkeit einer solchen Aufklärung wird von der Verfassung vorausgesetzt. Auch ohne die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit darf die Überzeugung gewonnen und vertreten werden, eine Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele,
516BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 - BVerwGE 110, 126 (130 f.); BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 ‑ 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 21.
517Das Parteienprivileg schließt nicht aus, dass eine Partei, die nicht verboten ist, in staatlichen Publikationen als verfassungsfeindlich bezeichnet oder mit anderen negativen Werturteilen versehen wird. Gegen hieraus entstehende faktische Nachteile ist die Partei nicht per se durch Art. 21 Abs. 1 GG geschützt,
518vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 19.
519Das gilt gleichermaßen für die Information der Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten bei Vorliegen hinreichend gewichtiger Anhaltspunkte,
520vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 19.
521Dies gilt auch in Ansehung der Argumentation der Klägerinnen, die mediale Breitenwirkung der Bekanntgabe einer solchen Einstufung durch das Bundesamt in einer hoch öffentlichkeitswirksamen Pressekonferenz verlange eine Erhöhung der Anforderungen an das Tätigwerden des Verfassungsschutzes. Denn die medienwirksame Bekanntgabe einer solchen Einstufung korrespondiert nur mit der ebenfalls durch die technische Entwicklung erheblich erhöhten Breitenwirkung von Anknüpfungspunkten für eine solche Einstufung: Äußerungen, die früher nur in einem „Hinterzimmer“ einem kleinen Kreis von Beteiligten bekannt geworden sind, erlangen heute durch die Verbreitungsmöglichkeiten via Internet einen erheblichen größeren Adressatenkreis. Dem kann und muss der Verfassungsschutz mit einer ebenso medienwirksamen Veröffentlichung einer entsprechenden Einstufung begegnen. Denn die Beobachtung einer politischen Partei auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen hin zielt nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen wie ein Parteienverbot vorzubereiten. Sie bezweckt vielmehr auch und in Anbetracht der langjährigen Staatspraxis sogar vornehmlich, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken,
522vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 ‑1 C 30.97 ‑, BVerwGE 110, 126 - Leitsatz 1 sowie juris Rn. 19 und 27.
523Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage sind erfüllt. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG vor. Diese sind auch hinreichend gewichtig, siehe oben.
524Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist schließlich verhältnismäßig. Zwar greift sie in die Rechte der Klägerinnen ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
525Die Berichterstattung auf der Grundlage des § 16 Abs. 1 BVerfSchG dient einem legitimen Zweck, nämlich dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie zielt damit auf die Wahrung eines Rechtsguts von Verfassungsrang und ist eine grundsätzlich geeignete Vorkehrung zur Aufklärung der Öffentlichkeit und in diesem Rahmen zur Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen,
526vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 -, BVerfGE 113, 63 = juris Rn. 70 ff.
527Die Beobachtung einer politischen Partei auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen hin zielt ebenso wie die anderer Vereinigungen oder einzelner nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen vorzubereiten. Sie bezweckt vielmehr auch und in Anbetracht der langjährigen Staatspraxis sogar vornehmlich, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art. und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken,
528BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 = juris Rn. 27.
529Diesem Zweck entsprechend geht es vorliegend um die Bekanntgabe, dass die Klägerin zu 2. als Verdachtsfall eingestuft wird, da es - was nach den obigen Ausführungen bestätigt werden kann - hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gibt. Sie dient der Aufklärung der Öffentlichkeit zur zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen.
530Die Bekanntgabe ist auch erforderlich. Die Beklagte hat insbesondere nicht den Eindruck erweckt, es stehe fest, dass die Klägerin gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt. Sie hat stets kenntlich gemacht hat, dass es sich bei der Klägerin zu 2. (lediglich) um einen Verdachtsfall handelt. Die Erklärungen als solche sind auch von Sachlichkeit getragen. Die Bekanntgabe ist in ihrer Art. und Weise schließlich verhältnismäßig im engeren Sinne. Bei dem mit der Berichterstattung verfolgten Ziel des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, also den fundamentalen Strukturprinzipien der staatlichen Gesamtordnung, handelt es sich um ein Schutzgut von überragendem Verfassungsrang. Zu diesem steht der vorgenommene Eingriff in die Rechte der Klägerin zu 2. erkennbar nicht außer Verhältnis. Die Klägerin zu 2. ist die satzungsgemäße Jugendorganisation der Klägerin zu 1., die im Bundestag und in allen Landesparlamenten vertreten ist und zum Teil beträchtliche Stimmenergebnisse erzielt hat. Es besteht daher ein ganz erhebliches öffentliches Interesse, wenn bei der Klägerin zu 2. tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung festzustellen sind.
531Der Bekanntgabe steht auch - entgegen der Auffassung der Klägerinnen - nicht das Neutralitätsgebot der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung entgegen. Das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit als ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung verbietet zwar jede staatliche Maßnahme, die den Anspruch der Partei auf die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigt. Danach wäre es der Regierung untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn diese Maßnahme bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich daher der Schluss aufdrängte, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhte. Das ist hier indessen nicht der Fall. Vielmehr erschöpfen sich die vom Bundesamt abgegebenen Werturteile - auch soweit sie zum Zwecke, die Öffentlichkeit zu informieren, allgemein zugänglich gemacht worden sind - in sachlich gehaltenen und zwischen der Klägerin zu 1. und ihren Teilorganisationen differenzierenden Meinungsäußerungen. Als solche sind sie verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie müssen von den Klägerin zu 2., die auch ihrerseits in der Abgabe von Werturteilen nicht gerade zurückhaltend ist, als Teil der ständigen geistigen Auseinandersetzung, die für die freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend ist, hingenommen werden,
532vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 -, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 20.
533Auch insoweit bleibt der Hilfsantrag ohne Erfolg. Denn er bezeichnet nur eine prozessuale Maßgabe hinsichtlich des ohnehin für den Hauptantrag geltenden maßgeblichen Zeitpunkts.
5343. Der auf die Androhung von Ordnungsgeld gerichtete Klageantrag zu 3. ist ebenfalls unbegründet. Denn nach dem vorstehend Ausgeführten besteht kein Anspruch der Klägerinnen auf die begehrten Unterlassungsverpflichtungen, womit auch eine Bewehrung durch Androhung von Ordnungsgeld ausscheidet.
5354. Auch haben die Klägerinnen mit dem Antrag zu 4. keinen Erfolg.
536Dahinstehen kann, ob der Antrag im Hinblick auf den umfassenderen Klageantrag zu 1. eine eigene Berechtigung hat oder ob insoweit das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Denn die Klägerinnen haben jedenfalls keinen Anspruch auf Feststellung, dass die Einordnung der Klägerin zu 2. am 15. Januar 2019 rechtmäßig war.
537Maßgeblich für die Entscheidung, mithin die Sach- und Rechtslage, ist dabei der durch die Klägerinnen gewählte Zeitpunkt am 15. Januar 2019. Grundsätzlich richtet sich der maßgebliche Zeitpunkt nach dem materiellen Recht. Eine derartige Vorgabe lässt sich dem maßgeblichen Regelungsgefüge des BVerfSchG nicht entnehmen.
538Daher kommt es auf den Klägerantrag an, § 88 VwGO. Mit dem Klageantrag und seiner Begründung bestimmt der Kläger selbst den Zeitpunkt, zu dem das Bestehen oder - wie hier - Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses festgestellt werden soll,
539vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2015 ‑ 4 C 15.14 ‑, juris Rn. 6 m. w. Nachw. der Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts; Happ, in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43 Rn. 18; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 5. Aufl. § 24 Rn. 18.
540Die Einordnung der Klägerin zu 2. war auch im hier maßgeblichen Zeitpunkt am 15. Januar 2019 rechtmäßig.
541Ermächtigungsgrundlage ist hier § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 3, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG in der damals noch geltenden Fassung vom Juni 2017; für die rechtliche Prüfung ergeben sich aus den unterschiedlichen Fassungen keine Unterschiede, insbesondere ist § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG wortidentisch mit der heutigen Fassung in Satz 5 der Norm.
542Die Voraussetzungen der genannten Ermächtigungsgrundlage lagen auch schon am 15. Januar 2019 vor. Auch zu diesem Zeitpunkt bestanden bereits Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Diese ergeben sich aus den oben genannten Zitaten aus der Zeit vor dem 15. Januar 2019, insbesondere der verschiedenen damaligen Bundesvorsitzenden der Klägerin zu 2., aber auch aus den Äußerungen der Landesverbände und Funktionäre.
543Anhaltspunkte ergeben sich auch aus dem Deutschlandplan der Klägerin zu 2. Die oben genannten Zitate waren bereits in der Ursprungsfassung des Deutschlandplans zu finden.
544Darüber hinaus enthielt der Deutschlandplan der Klägerin zu 2. vielmehr im Zeitpunkt der Einstufung durch das Bundesamt sogar noch Verschärfungen, die erst auf dem Bundeskongress der Klägerin zu 2. am 16. und 17. Februar 2019 geändert worden sind.
545So enthielt der Deutschlandplan in seiner ursprünglichen Fassung noch die Forderung nach einer abendlichen Ausgangssperre ab 20 Uhr für männliche Flüchtlinge, „um die Sicherheit für die Bevölkerung und vor allem die Frauen in Deutschland zu erhöhen“. Kommunen sollte überdies die Option eingeräumt werden, strengere Ausgangssperren für Flüchtlinge eigenständig zu beschließen,
546JA, Deutschlandplan in der Ursprungsfassung, S. 24, Belegsammlung I, Bl. 3754.
547In der geänderten Fassung hieß es dann:
548„Die Junge Alternative setzt sich dafür ein, das Asylrecht dahingehend zu verändern, um Kommunen die Möglichkeit zu geben, bei Bedarf eine Ausgangssperre zu verhängen.“ (JA, Deutschlandplan, a.a.O., S. 31)
549In der ursprünglichen Fassung kam die pauschale Verdächtigung männlicher Flüchtlinge zur Begehung von Straftaten zum Nachteil von Frauen daher noch deutlicher zum Vorschein. Männliche Flüchtlinge sollten danach aufgrund ihres Geschlechts und ihres Flüchtlingsstatus diskriminiert werden.
550Des Weiteren hieß es ursprünglich zur Verschärfung der Einwanderungspolitik:
551„Für die Neuordnung der Einwanderung nach Deutschland fordern wir als Junge Alternative, dass diese nicht im Interesse der Einwanderer erfolgt, sondern im Interesse der Deutschen. Das bedeutet, dass wir für ein strenges Punktesystem plädieren, in dem Einwanderer einzig und allein danach ausgesucht werden, ob sie Deutschland nützen. Das australische Einwanderungssystem wäre hierfür ein gutes Vorbild. Zusätzlich dazu müsste aber im Rahmen eines Punktesystems die kulturelle Nähe des Einwanderers zu Deutschland besondere Berücksichtigung finden. Die Devise lautet: Qualität statt Quantität.“ (JA, Deutschlandplan in der Ursprungsfassung, S. 22, Belegsammlung I, Bl. 3752).
552Nun heißt es:
553„Für die Neuordnung der Zuwanderung nach Deutschland fordern wir als Junge Alternative ein Zuwanderungssystem nach dem Vorbild Japans. Die Devise lautet: Qualität statt Quantität.“ (JA, Deutschlandplan, a.a.O., Seite 29)
554Auch hier wurde der Wortlaut entschärft und die Begrenzung der Einwanderung allein auf solche Einwanderer, die Deutschland „nützen“, gestrichen.
555Überdies gestrichen wurde der Vorschlag der Klägerin zu 2., „die Gesamtzahl der jährlich in Deutschland aufnehmbaren Flüchtlinge auf 0,005 % der deutschen Bevölkerung zu deckeln“,
556JA, Deutschlandplan in der Ursprungsfassung, S. 23, Belegsammlung I, Bl. 3753.
557Auch strich die Klägerin zu 2. einen Satz zur Militärvergangenheit Deutschlands:
558„Traditionsbildend für unsere Bundeswehr ist die gesamte Militärvergangenheit Deutschlands“ (JA, Deutschlandplan in der Ursprungsfassung, S. 39, Belegsammlung I, Bl. 3769).
559Mit diesem Bekenntnis bezog die Klägerin zu 2. auch die Militärvergangenheit im Rahmen der beiden Weltkriege und insbesondere hinsichtlich des Agierens der Wehrmacht als für die Bundeswehr „traditionsbildend“ mit ein.
560Schließlich war die damalige Einstufung bereits verhältnismäßig. Auch insoweit gilt das oben Gesagte entsprechend.
5615. Auch der Klageantrag zu 5. ist unbegründet. Denn die Bekanntgabe über die Einstufung am 15. Januar 2019 war auch zu diesem Zeitpunkt rechtmäßig. Es gilt das oben Gesagte entsprechend.
562III. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldnerinnen zu tragen, § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO.
563Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO analog i.V.m. § 709 ZPO.
564IV. Die Berufung war zuzulassen; die Frage, ob eine Jugendorganisation einer im Deutschen Bundestag und in allen Landesparlamenten vertretenen Partei durch das Bundesamt als Verdachtsfall eingestuft und eine solche Einstufung bekannt gegeben werden kann, hat grundsätzliche Bedeutung, § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
565Rechtsmittelbelehrung
566Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
567Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.
568Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) wird hingewiesen.
569Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
570Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
571Ferner ergeht ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter der
572Beschluss
573Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
57455.000 Euro
575festgesetzt.
576Gründe
577Bei der Bemessung des Streitwerts der Klageanträge zu 1. und 2. ergibt sich die Bedeutung der Sache für die Klägerin aus der Höhe des Ordnungsgeldes aus dem Klageantrag zu 3. (jeweils 10.000 Euro), § 52 Abs. 1 GKG. Bei der Bemessung des Klageantrags zu 3. hat das Gericht die maximale Höhe des angedrohten Ordnungsgeldes (20.000 Euro) zum Maßstab genommen, § 52 Abs. 3 GKG. Für die übrigen Klageanträge ist jeweils der Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG von 5.000 Euro zugrunde zu legen.
578Rechtsmittelbelehrung
579Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
580Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
581Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) wird hingewiesen.
582Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
583Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.