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Der Bescheid der Beklagten vom 07.12.2020 und der Widerspruchsbescheid vom 29.12.2020 werden aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Dieses Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Klägerin erhielt in den Jahren 1994 bis 1999 eine Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Mit Feststellungs- und Rückzahlungsbescheid vom 15.09.2003 stellte das Bundesverwaltungsamt eine Darlehensschuld in Höhe von insgesamt 14.157,86 Euro fest. Es setzte das Ende der Förderungshöchstdauer auf den letzten Tag des Monats März des Jahres 1999 und davon ausgehend den Rückzahlungsbeginn auf den 30.04.2004 fest. Es forderte die Klägerin zur Zahlung vierteljährlicher Raten in Höhe von 315,00 Euro beginnend ab dem 30.06.2004 auf. Die Klägerin stellte seit dem 06.11.2003 regelmäßig Anträge auf Freistellung von der Rückzahlungsverpflichtung nach dem BAföG und wurde lückenlos – zuletzt durch Bescheid vom 30.09.2013 – bis einschließlich 30.09.2015 von der Rückzahlungsverpflichtung freigestellt. Durch Bescheid vom 17.10.2019 setzte das Bundesverwaltungsamt anlässlich des 26. Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes die Ratenhöhe ab dem 01.04.2020 auf monatlich 130,00 Euro fest. Laut beigefügtem Tilgungsplan bestand zu diesem Zeitpunkt eine Darlehensrestschuld von 8.487,86 Euro. Dem Bescheid war ein gesondertes Hinweisblatt beigelegt, das unter anderem über die Auswirkungen eines Widerspruchs gegen den Änderungsbescheid, die Möglichkeit eines Nachlasses bei vorzeitiger Rückzahlung des Darlehens sowie die Folgen von bereits gewährten Freistellungen bzw. Stundungen sowie von bestehenden Zahlungsrückständen informierte. Das Hinweisblatt enthielt unter der Überschrift „Allgemeine Informationen zur Darlehensrückzahlung“ außerdem den Hinweis, dass weitere Informationen zur Darlehensrückzahlung und zur Ratenerhöhung im Internet unter www.bafoeg.bund.de zu finden seien. Einen gesonderten Hinweis auf die Möglichkeit des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG für Darlehensnehmende, denen Förderung mit Darlehen nach § 17 in einer vor dem 01.09.2019 geltenden Fassung geleistet wurde, durch Erklärung gegenüber dem Bundesverwaltungsamt die Anwendung des § 18 Abs. 12 und § 18a BAföG in der neuen Fassung zu verlangen, enthielt das Hinweisblatt nicht. Unter dem 20.06.2020 beantragte die Klägerin wiederum eine Freistellung von der Rückzahlungsverpflichtung. Daraufhin stellte das Bundesverwaltungsamt sie durch Bescheid vom 24.06.2020 vom 01.04.2020 bis einschließlich 31.03.2021 von der Rückzahlungsverpflichtung frei. Mit Schreiben vom 02.12.2020 beantragte die Klägerin dann beim Bundesverwaltungsamt den Erlass ihrer noch ausstehenden „Bafög-Restschuld nach dem Kooperationserlass.“ In einem Bescheid vom 07.12.2020 nahm das Bundesverwaltungsamt Bezug auf das Schreiben der Klägerin vom 02.12.2020, mit dem sie erklärt habe, „dass für sie die Erlassregelungen des § 18 Abs. 12 BAföG gelten sollen“ und wies diesen „Antrag“ der Klägerin als verfristet zurück. Zur Begründung führte das Bundesverwaltungsamt aus: Das Wahlrecht nach § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG habe nur ab dem 01.09.2019 und nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten gegenüber dem Bundesverwaltungsamt ausgeübt werden können. Die Antragsfrist sei mit Ablauf des 02.03.2020 abgelaufen. Der am 03.12.2020 beim Bundeverwaltungsamt eingegangene Antrag der Klägerin sei daher nicht fristgerecht gestellt worden. Die Klägerin erhob daraufhin am 22.12.2020 Widerspruch gegen den Bescheid vom 07.12.2020 und führte im Wesentlichen aus, dass sie ihr Wahlrecht nicht früher ausgeübt habe, da ihr die Möglichkeit dazu und der Zeitraum vom 01.09.2019 bis 02.03.2020 nicht bekannt gewesen seien. Die Klägerin habe vom Bundesverwaltungsamt keinen Hinweis auf die Wahlmöglichkeit erhalten, auch nicht mit dem Änderungsbescheid vom 17.10.2019. Nach § 14 SGB I sei die Beklagte jedoch verpflichtet gewesen, sie über ihre Rechte und Pflichten zu beraten. Die Klägerin sei daher so zu stellen, als habe sie ihr Wahlrecht rechtzeitig ausgeübt. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.12.2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Als Begründung führte sie ergänzend aus, § 14 SGB I sichere zwar einen Anspruch auf Beratung, setze jedoch eine Frage oder das Verlangen einer Beratung voraus. Gemäß Art. 82 GG würden Gesetze im Bundesgesetzblatt verkündet. Es bestehe keine Pflicht, jedem Bürger persönlich eine Gesetzesänderung mitzuteilen.
3Am 27.01.2021 hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Begehren, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.12.2020 zu verpflichten, ihr die restliche Darlehensschuld nach § 18 Abs. 12 BAföG zu erlassen.
4Die Klägerin ist der Auffassung, mit dem Antrag auf Kooperationserlass habe sie durch ihre Erklärung vom 02.12.2020 das Wahlrecht im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG ausgeübt. Sie erfülle alle sonstigen Voraussetzungen des Kooperationserlasses, auch die Beklagte stelle bei der Ablehnung des Antrages allein auf die verspätete Ausübung des Wahlrechts ab. Die Beklagte habe nur unzureichend über die Gesetzesänderung informiert. Insbesondere habe die offizielle Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung keinen Hinweis auf die Wahlmöglichkeit für Altschuldner enthalten, sondern vielmehr nur Neuschuldner angesprochen. Auch auf der Internetseite des Bundesverwaltungsamtes sei über die Möglichkeit des Wahlrechts nur unzureichend informiert worden. Im Übrigen habe das Bundesverwaltungsamt gegenüber der Klägerin im Rahmen der Abwicklung des Darlehens gemäß § 14 SGB I und jedenfalls im Zusammenhang mit dem Änderungsbescheid vom 17.10.2019 die Pflicht gehabt, auf das Wahlrecht hinzuweisen. Eine Möglichkeit, sich auf eigene Initiative telefonisch über die Neuerungen des 26. Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu informieren, habe es im Zeitraum von November 2019 bis März 2020 ihres Wissens nach nicht gegeben, da das Bundesverwaltungsamt die telefonische Beratung in diesem Zeitraum allgemein eingestellt habe. Die Frist des § 66a Abs. 7 BAföG sei im Übrigen unverhältnismäßig.
5Die Klägerin beantragt zuletzt,
6den Bescheid der Beklagten vom 07.12.2020 sowie den Widerspruchsbescheid vom 29.12.2020 aufzuheben und
7festzustellen, dass sie durch ihre Erklärung vom 02.12.2020 gegenüber dem Bundesverwaltungsamt wirksam verlangt hat, dass für die Rückzahlung des gesamten Darlehens § 18 Abs. 12 und § 18a BAföG in der am 01.09.2019 anzuwendenden Fassung anzuwenden sind.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie erwidert, das Bundesverwaltungsamt habe keine gesonderte Pflicht gehabt, auf die Möglichkeit der Wahlrechtsausübung hinzuweisen. Über die Gesetzesänderung sei im Übrigen in den öffentlichen Medien, auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Bundesverwaltungsamtes umfassend informiert worden. Auch habe es kurz vor Fristablauf dort noch einmal einen gesonderten Hinweis auf die Wahlmöglichkeit gegeben. § 14 SGB I sei im Übrigen nicht anwendbar, denn das Bundesverwaltungsamt sei kein Leistungsträger im Sinne der Vorschrift, was sich aus § 18 SGB I ergebe. Leistungsträger seien nur die Ämter für Ausbildungsförderung. Das Bundesverwaltungsamt treffe daher keine spezifische Aufklärungs- oder Beratungspflicht. Im Übrigen sei es den Darlehensnehmenden zumutbar, sich selbst zu informieren – ähnlich wie z. B. über Rückzahlungstermine.
11Entscheidungsgründe
12Die zulässige Klage hat insoweit Erfolg, als die Klägerin die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 07.12.2020 und des Widerspruchsbescheides vom 29.12.2020 begehrt, nicht aber hinsichtlich des Feststellungsbegehrens.
13Soweit die Klägerin die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 07.12.2020 und des Widerspruchsbescheides vom 29.12.2020 begehrt, ist die Klage begründet. Die Bescheide sind mangels Befugnis der Beklagten zum Erlass eines entsprechenden Verwaltungsaktes rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
14Als besondere Ausprägung des Gesetzesvorbehalts ist für den Erlass eines Verwaltungsaktes nicht nur eine inhaltliche Ermächtigung, sondern auch die Befugnis der Verwaltung erforderlich, sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben gerade des Mittels des Verwaltungsakts zu bedienen.
15Vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.06.2019 – 7 B 18/18, juris, Rn. 7; BVerwG, Urt. v. 07.12.2011 – 6 C 39/10, juris, Rn. 12 ff.
16Denn in der Verwendung der Rechtsform des Verwaltungsaktes kann wegen dessen von der Frage der Rechtswidrigkeit unabhängigen Rechtswirksamkeit eine Belastung liegen, und sei es nur die Last, fristgerecht einen Rechtsbehelf einzulegen, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern. Für den Erlass von Verwaltungsakten – und zwar auch von feststellenden Verwaltungsakten – bedarf es daher einer gesetzlichen Grundlage.
17VGH BW, Urt. v. 09.11.2015 – 11 S 714/15, juris, Rn. 31.
18Dabei muss die Verwaltungsaktbefugnis nicht ausdrücklich in der materiellen Ermächtigungsgrundlage erwähnt sein. Da die Handlungsform des Verwaltungsakts allseits bekannt ist, reicht es vielmehr aus, wenn sich die Verwaltungsaktbefugnis im Wege der Auslegung ermitteln lässt.
19Vgl. u. a. BVerwG, Urt. v. 07.12.2011 – 6 C 39/10, juris, Rn. 14; BVerwG, Urt. v. 20.08.2014 – 6 C 15.13, juris, Rn. 23; BVerwG, Urt. v. 12.04.2017 – 2 C 16/16, juris, Rn. 15; OVG NRW, Beschl. v. 13.02.2020 – 4 A 1474/17, juris, Rn. 7.
20Eine Befugnis für den Erlass des Bescheides vom 07.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.12.2020 ergibt sich vorliegend weder ausdrücklich aus § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG, noch lässt sich dieser Vorschrift oder dem Bundesausbildungsförderungsgesetz insgesamt eine entsprechende Befugnis durch Auslegung entnehmen. Dem Wortlaut des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG, nach dem „Darlehensnehmende […] gegenüber dem Bundesverwaltungsamt verlangen [können], dass für die Rückzahlung des gesamten Darlehens § 18 Absatz 12 und § 18a in der am 01.09.2019 anzuwendenden Fassung anzuwenden sind“, ist nicht zu entnehmen, dass das Bundesverwaltungsamt im Falle einer nicht wirksamen Ausübung dieses Verlangens auf eine andere Art reagieren können sollte, als durch Anwendung des alten Rechts. Von der Verwendung des Terminus „Antrag“ – auf den das Bundesverwaltungsamt unzweifelhaft mit einem (ablehnenden) Verwaltungsakt hätte reagieren können – hat der Gesetzgeber abgesehen, anders als beispielsweise in § 66a Abs. 5 BAföG in der Fassung vom 26.06.1985, demgemäß auf „Auszubildende, die vor dem 1. August 1983 Darlehen erhalten haben, […] auf besonderen Antrag § 18 Abs. 3 Satz 2 in der am 31. Juli 1983 geltenden Fassung anzuwenden“ war. Der Begriff des „Antrages“ findet sich vorliegend jedoch weder im Wortlaut des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG, noch in der Gesetzesbegründung, die im Zusammenhang mit § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG durchweg von einem „Wahlrecht“ der Altschuldner bzw. von einer „Wahlmöglichkeit“ spricht,
21vgl. BT-Drucks. 19/8749, S. 38, 45,
22und auch sonst keinerlei Anhaltspunkte dafür enthält, dass das Bundesverwaltungsamt nach dem Willen des Gesetzgebers durch gesonderten Verwaltungsakt über die Wirksamkeit einer Erklärung i. S. des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG entscheiden möge.
23Gegen die Annahme einer Befugnis des Bundesverwaltungsamtes, ein unwirksames Verlangen im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG durch Verwaltungsakt bescheiden zu können, sprechen darüber hinaus systematische Erwägungen. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber es an anderer Stelle im Gesetz, z. B. in § 18 Abs. 9 Satz 1 BAföG und insbesondere – in engem Zusammenhang mit § 66a Abs. 7 BAföG – in § 18 Abs. 12 Satz 2 BAföG für erforderlich gehalten hat, dem Bundesverwaltungsamt ganz explizit und präzise die Befugnis zum Erlass (feststellender) Verwaltungsakte einzuräumen, kann der Schluss gezogen werden, dass dort, wo eine entsprechende ausdrückliche Regelung einer Verwaltungsaktbefugnis – wie im Rahmen des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG – ebenso nahe gelegen hätte, aber unterblieben ist, eine solche Befugnis nicht besteht. Vor dem Hintergrund dieser bewussten Entscheidung des Gesetzgebers für eine ausdrückliche Verwaltungsaktbefugnis an anderer Stelle des Gesetzes kommt vorliegend auch die Begründung einer Verwaltungsaktbefugnis im Wege der Gesamtanalogie zu denjenigen Vorschriften des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, die das Bundesverwaltungsamt ausdrücklich oder implizit zum Erlass von Verwaltungsakten ermächtigen – insbesondere zu § 18 Abs. 12 Satz 1 und 2 BAföG – nicht in Betracht.
24Vgl. zur Annahme einer Verwaltungsaktbefugnis im Wege der Gesamtanalogie VGH BW, Urt. v. 16.01.2020 – 6 S 1006/19, juris, Rn. 28; VGH BW, Beschl. v. 26.06.2018 – 9 S 2445/15, juris, Rn. 15; VGH BW, Urt. v. 09.11.2015 – 11 S 714/15, juris, Rn. 33 ff.
25Für eine solche Analogie besteht im Übrigen weder materiell-rechtlich noch verwaltungspraktisch ein zwingendes Bedürfnis. In den Fällen, in denen nach Erklärung eines Verlangens im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG keine Klärung der Rechtslage durch Verwaltungsakt nach § 18 Abs. 12 Satz 1 oder 2 BAföG bzw. § 27 SGB X herbeigeführt werden kann, besteht die Möglichkeit der formlosen Information des Betroffenen über das auf seinen Fall anwendbare Rechtsregime – beispielsweise im Zusammenhang mit einem aufgrund der Anwendbarkeit des § 18a BAföG n. F. ggf. erforderlich gewordenen neuen Tilgungsplans. In diesem Falle bliebe einem Darlehensnehmenden bei abweichender Rechtsauffassung die Möglichkeit einer Feststellungsklage. Auch soweit aus Sicht des Bundesverwaltungsamtes eine Klärung der Lage durch Verwaltungsakt in manchen Konstellationen ggf. sinnvoll oder geboten erscheint, steht der verfassungsrechtliche Vorbehalt des Gesetzes einer Herleitung von Eingriffsermächtigungen aus lediglich verwaltungspraktischen Motiven entgegen. Er dient gerade dazu, die gesetzlich verliehenen Befugnisse der Exekutive von der Gesamtheit der Handlungen abzugrenzen, die praktisch oder technisch möglich und aus Verwaltungssicht wünschenswert wären. Seine machtbeschränkende Funktion liefe leer, wenn sich das Maß des Erlaubten ohne Ansehen der gesetzlich verliehenen Befugnisse danach richten würde, was aus Sicht der Exekutive „sinnvoll und geboten“ ist.
26VG Hannover, Urt. v. 02.03.2012 – 3 A 74/09, juris, Rn. 86 f.
27Nichts anderes folgt auch aus dem Umstand, dass im Rahmen eines Bescheides über einen Antrag eines Altschuldners auf Kooperationserlass im Sinne des § 18 Abs. 12 Satz 1 BAföG eine implizite Entscheidung über die Vorfrage der Anwendbarkeit des § 18 Abs. 12 BAföG und damit der (Un-)Wirksamkeit der Wahlrechtsausübung zu treffen ist. Denn aus der Befugnis des Bundesverwaltungsamtes, über den Antrag auf Kooperationserlass eines Altschuldners durch Verwaltungsakt zu entscheiden und inzident die Vorfrage der Anwendbarkeit des § 18 Abs. 12 BAföG zu klären, lässt sich nicht dessen Befugnis ableiten, in jedem Fall – und ggf. auch ohne eine Entscheidung über den Erlass – isoliert über diese Frage durch Verwaltungsakt entscheiden zu können, zumal die Wirksamkeit der Erklärung nach § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG n. F. nicht lediglich eine Vorfrage für die Erlassgewährung ist, sondern darüber hinausgehende Rechtsfolgen hat.
28Die Klage ist hingegen insoweit unbegründet, als die Klägerin die Feststellung begehrt, dass sie durch ihre Erklärung vom 02.12.2020 gegenüber dem Bundesverwaltungsamt wirksam verlangt hat, dass für die Rückzahlung des gesamten Darlehens § 18 Abs. 12 und § 18a BAföG in der am 01.09.2019 anzuwendenden Fassung anzuwenden sind.
29Die Klägerin hat durch diese Erklärung nicht wirksam gegenüber dem Bundesverwaltungsamt verlangt, dass für die Rückzahlung des gesamten Darlehens § 18 Abs. 12 und § 18a BAföG in der am 01.09.2019 anzuwendenden Fassung anzuwenden sind.
30Gemäß § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG in der ab dem 15.07.2019 anzuwendenden Fassung können Darlehensnehmende – wie die Klägerin –, denen Förderung mit Darlehen nach § 17 BAföG in einer vor dem 01.09.2019 geltenden Fassung geleistet wurde, binnen einer Frist von sechs Monaten nach diesem Datum jeweils durch schriftliche oder elektronische Erklärung gegenüber dem Bundesverwaltungsamt verlangen, dass für die Rückzahlung des gesamten Darlehens § 18 Abs. 12 und § 18a in der am 01.09.2019 anzuwendenden Fassung anzuwenden sind.
31Die Klägerin hat mit ihrer Erklärung vom 02.12.2020 ein solches Verlangen geäußert.
32Der Antrag der Klägerin vom 02.12.2020 auf „Erlass [der] noch ausstehenden Bafög-Restschuld nach dem Kooperationserlass“ beinhaltet zwar keine ausdrückliche Erklärung eines solchen Verlangens im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG, sondern explizit nur den Antrag auf Erlass im Sinne des § 18 Abs. 12 Satz 1 BAföG n. F. Diese Erklärung ist jedoch dahingehend auszulegen, dass die Klägerin mit ihr zugleich ein Verlangen im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG konkludent erklärt hat. Nach den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB, die im öffentlichen Recht entsprechend anzuwenden sind,
33vgl. nur BVerwG, Urt. v. 15.09.2010 – 8 C 21/09, juris, Rn. 36,
34ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Es kommt darauf an, wie die Erklärung aus der Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtung zu verstehen ist. Maßgebend ist der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er sich dem Empfänger nach dem Wortlaut der Erklärung und den sonstigen Umständen darstellt, die der Empfänger bei Zugang der Erklärung erkennen kann. Dieser hat in den Blick zu nehmen, welchen Zweck der Erklärende verfolgt.
35Vgl. statt aller BVerwG, Urt. v. 21.02.2019 – 2 C 50.16, juris, Rn. 16 f. m. w. N.
36Mit anderen Worten: Bei Abgabe einer empfangsbedürften Willenserklärung gegenüber der Behörde ist zugunsten des Bürgers davon auszugehen, dass er diejenige Erklärung abgeben will, die seinen Belangen entspricht und abgegeben werden muss, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu erreichen.
37Kellerhoff/Fellenberg, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 25 VwVfG Rn. 40.
38Die Annahme einer konkludenten Ausübung des Wahlrechts durch die Erklärung der Klägerin vom 02.12.2020 ist – für die Beklagte als Erklärungsempfängerin auch erkennbar – interessengerecht. Hierfür spricht zunächst, dass für den vordergründig begehrten Kooperationserlass kein Antrag der Klägerin erforderlich ist, da dieser bei Anwendbarkeit des § 18 Abs. 12 BAföG und beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 18 Abs. 12 Satz 1 BAföG von Amts wegen zu erfolgen hat.
39Rauschenberg, in: Rothe/Blanke, BAföG, 5. Aufl., Losebl. (Stand: 07/2019), § 18 Rn. 29; Pesch, in: Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 18 Rn. 42.
40Im Gegensatz dazu ist aber für Altschuldner die wirksame Ausübung des Wahlrechts im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG notwendige Voraussetzung, um einen Kooperationserlass nach § 18 Abs. 12 Satz 1 BAföG n. F. überhaupt erreichen zu können. Insofern wäre ein Antrag auf Kooperationserlass für Altschuldner ohne gleichzeitige Ausübung des Wahlrechts nicht zielführend. Zwar folgt aus einer wirksamen Ausübung des Wahlrechts nicht nur die Anwendung des § 18 Abs. 12 BAföG n. F., sondern auch die – je nach Konstellation ggf. nachteilige – Anwendung des § 18a BAföG n. F. Das hindert jedoch nicht die Auslegung des Erlassantrages auch als konkludente Wahlrechtsausübung. Denn wer die Möglichkeit eines Kooperationserlasses (und ggf. eines Härtefallerlasses) nutzen will, muss sich nach dem Willen des Gesetzgebers bewusst sein, dass er im Gegenzug dafür zwingend die Anwendung des § 18a BAföG in Kauf zu nehmen hat.
41BT-Drucks. 19/8749, S. 3.
42Die Erklärung der Klägerin im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG entfaltet jedoch keine Wirkung. Sie ist bei der Beklagten nicht binnen sechs Monaten nach dem 01.09.2019 und damit nicht fristgerecht eingegangen.
43Die in § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG geregelte Frist war seitens der Klägerin auch einzuhalten. Sie ist verfassungsgemäß und insbesondere unter Gleichheitsaspekten nicht zu beanstanden, weil der Gesetzgeber nicht gezwungen gewesen wäre, Altschuldnern die Wahl der für sie ggf. vorteilhaften neuen Rechtslage überhaupt zu ermöglichen. Dass politische oder rechtliche Auffassungen sich ändern und so im Zeitablauf zu unterschiedlicher Behandlung von Gesetzesadressaten führen, ist mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht zu beanstanden. Für den Gesetzgeber, für den sonst jedes Inkrafttreten eines Gesetzes zum Gleichheitsproblem würde, folgt dies aus der legislativen Gestaltungsfreiheit und dem Demokratieprinzip.
44Vgl. u. a. Kischel, in: BeckOK GG, 48. Edition, Stand 15.08.2021, Art. 3 Rn. 102.
45Der Klägerin war auch nicht Wiedereinsetzung in die Frist des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu gewähren. War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm nach dieser Vorschrift auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Frist des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG einzuhalten. Verschulden an der Fristversäumnis liegt vor, wenn der Betroffene hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den Umständen zumutbar ist.
46OVG NRW, Urt. v. 29.09.2004 – 13 A 4479/02, juris, Rn. 18 (zu § 32 Abs. 1 VwVfG).
47Die Unkenntnis einer bereits im Gesetz selbst genau bestimmten Frist ist grundsätzlich nicht unverschuldet. Das folgt aus dem Grundsatz der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen. Nach dem Grundsatz der formellen Publizität von Gesetzen, der seinen Niederschlag in Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG gefunden hat, genügt für die Bekanntmachung von Gesetzen, die sich an einen unbestimmten Kreis von Personen richten, die Verkündung im Bundesgesetzblatt. Mit der Verkündung gelten die Gesetze grundsätzlich allen Normadressaten als bekannt – ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie von ihnen tatsächlich Kenntnis erlangt haben. Hiermit ist es nicht vereinbar, wegen der Unkenntnis von einem gesetzlich eingeräumten und befristeten Recht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zuzulassen. Denn dadurch wäre die Wirkung der Frist nicht mehr von der Bekanntgabe des Gesetzes und dem Fristablauf abhängig, sondern auch davon wesentlich beeinflusst, ob und wann der jeweilige Normadressat von der gesetzlichen Regelung Kenntnis erlangt hat. Dieses würde die Anwendung gesetzlich ggf. genau bestimmter Fristen einer weitgehenden Unsicherheit aussetzen.
48Vgl. u. a. BSG, Urt. v. 09.02.1993 – 12 RK 28/92, juris, Rn. 20 f. Vgl. auch BSG, Urt. v. 21.06.1990 – 12 RK 27/88, juris, Rn. 15 ff.; BVerwG, Beschl. v. 07.10.2009 – 9 B 83/09, juris, Rn. 3.
49Vorliegend wird das Verschulden der Klägerin auch nicht durch ein Mitverschulden der Beklagten relativiert. Das Kriterium der Zumutbarkeit räumt zwar grundsätzlich die Möglichkeit ein, den vom Gesetz nicht geregelten Fall eines Verschuldens auch der Behörde zu berücksichtigen.
50OVG NRW, Urt. v. 29.09.2004 – 13 A 4479/02, juris, Rn. 20 ff.; in diesem Sinne wohl auch BayVGH, Urt. v. 24.10.2005 – 3 B 02.3061, juris, Rn. 98; OVG Niedersachsen, Beschl. v. 09.01.2014 – 4 ME 8/14, juris, Rn. 2; VGH BW, Beschl. v. 23.04.2008 – 13 S 783/08, juris, Rn. 7. Vgl. auch BSG, Urt. v. 02.02.2006 – B 10 EG 9/05 R, juris, Rn. 21.
51Wie und unter welchen Umständen eine behördliche Mitschuld geeignet ist, ein eigenes Verschulden des Betroffenen zu relativieren, hängt dabei von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, und ist von Fall zu Fall in wertender Betrachtung festzustellen.
52OVG NRW, Urt. v. 29.09.2004 – 13 A 4479/02, juris, Rn. 27.
53Ein Mitverschulden der Beklagten an der Versäumung der Frist des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG durch die Klägerin ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Die Beklagte hat insbesondere nicht eine Pflicht zur Beratung der Klägerin verletzt.
54Aus § 13 SGB I ergibt sich eine solche Beratungspflicht nicht. Gegen die Annahme einer individuellen Beratungspflicht gegenüber dem Einzelnen spricht bereits der Wortlaut des § 13 SGB I. Denn diese Vorschrift verpflichtet die Verwaltung zur Aufklärung nur der „Bevölkerung", d. h. einer unbestimmten Vielzahl von Personen, die als solche nicht Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Damit unterscheidet sie sich auch nach ihrem Sinn und Zweck maßgeblich von der folgenden Vorschrift in § 14 SGB I, wonach „jeder", d. h. jeder einzelne Bürger, ausdrücklich einen Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten hat.
55BSG, Urt. v. 21.06.1990 – 12 RK 27/88, juris, Rn. 19 f.
56Die Beklagte hat auch nicht gegen eine Beratungspflicht aus § 14 SGB I verstoßen. Diese Norm findet – entgegen der Ansicht der Beklagten – auf das Rechtsverhältnis der Beteiligten betreffend die Rückzahlung des Darlehens nach dem BAföG jedenfalls analoge Anwendung.
57Nach § 14 Satz 2 SGB I sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind, zuständig für die Beratung.
58Es kann im Ergebnis dahinstehen, ob das Bundesverwaltungsamt Leistungsträgerin im Sinne von §§ 14, 12 Satz 1, § 18 Abs. 2 SGB I ist – wofür jedoch manches spricht. Leistungsträger sind nach der Legaldefinition in § 12 Satz 1 SGB I die in den §§ 18 bis 29 SGB I genannten Körperschaften, Anstalten und Behörden. Das Bundesverwaltungsamt ist zwar in diesen Vorschriften nicht ausdrücklich genannt, insbesondere auch nicht in § 18 SGB I. Das schließt seine Sozialleistungsträgereigenschaft jedoch nicht aus. Denn zum einen sind die in § 18 SGB I einzig ausdrücklich genannten Ämter für Ausbildungsförderung gemäß § 18 Abs. 2 SGB I nur „nach Maßgabe der §§ 39, 40, 40a und 45 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes“ für Leistungen der Ausbildungsförderung zuständig. § 39 Abs. 2 Satz 1 BAföG wiederum überträgt die Verwaltung und Einziehung der nach § 18 Abs. 1 BAföG geleisteten Darlehen auf das Bundesverwaltungsamt – so dass dieses im Rahmen des § 18 Abs. 2 SGB I zumindest indirekt in Bezug genommen ist. Im Übrigen ist die Aufzählung der Sozialleistungen und der hierfür zuständigen Sozialleistungsträger in den §§ 18 bis 29 SGB I ohnehin nicht abschließend.
59BT-Drucks. 7/868, S. 26 f. zu §§ 18-29; LSG BW, Urt. v. 26.06.2009 – L 8 AL 4416/06, juris, Rn. 45 f.; Niedermeyer, in: BeckOK SozR, 62. Edition, Stand 01.09.2021, § 12 SGB I Rn. 5.
60Nimmt man vor diesem Hintergrund den gesamten Wortlaut des § 12 Satz 1 SGB I in den Blick, so sind Leistungsträger alle Körperschaften, Anstalten und Behörden, die für die Sozialleistungen zuständig sind.
61Vgl. Öndül, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, Stand: 15.03.2018, § 12 Rn. 11.
62Es spricht manches dafür, dass hierunter nicht nur die Zuständigkeit für die Gewährung der Sozialleistung zu verstehen ist,
63so allerdings in einer das Bundesverwaltungsamt betreffenden Entscheidung VGH BW, Urt. v. 11.03.1997 – 7 S 2237/96, juris Rn. 32,
64sondern, solange die Sozialleistung andauert, auch die Zuständigkeit für deren weitere Bearbeitung, d. h. im Falle einer darlehensweisen Gewährung auch die Zuständigkeit für die Verwaltung und Einziehung des Darlehens. Nach § 11 Satz 1 SGB I sind Gegenstand der sozialen Rechte die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen (Sozialleistungen). Die Definition des Begriffs „Sozialleistungen" umfasst dabei alle derartigen Vorteile, die dem Einzelnen nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs zur Verwirklichung sozialer Rechte zugutekommen sollen.
65BT-Drucks. VI/3764, S. 20.
66Wird eine Sozialleistung als Darlehen gewährt, besteht die Sozialleistung also in der Überlassung von Geld auf Zeit, so ist die Verwaltung und Einziehung des Darlehens begriffsnotwendiger Bestandteil des Sozialleistungsverhältnisses. Auch insofern steht die das Darlehen gewährende Behörde dem Betroffenen als Sozialleistungsträgerin gegenüber. Dies wird für einheitlich von einem Sozialleistungsträger gewährte und an diesen zurückzuzahlende Darlehen etwa nach § 37 SGB XII, § 22 Abs. 6 Satz 3, § 24 Abs. 1, § 42a SGB II – soweit ersichtlich – auch nicht in Zweifel gezogen.
67So sprechen etwa Bittner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, Stand: 01.04.2021, § 42a Rn. 89; Merten, in: BeckOK Sozialrecht, § 42a SGB II Rn. 6 auch in Bezug auf die Rückzahlung vom „Leistungsträger“.
68Nichts anderes dürfte gelten, wenn für die Verwaltung und Einziehung eines als Sozialleistung gewährten Darlehens eine andere Behörde zuständig ist als die das Darlehen bewilligende Behörde. Dem Bundesverwaltungsamt kommt im Rahmen seiner Zuständigkeit nach § 39 Abs. 2 Satz 1 BAföG – anders als der Bundeskasse – auch nicht die bloße Aufgabe einer Kasse oder Mahnstelle zu. Vielmehr gestaltet es – etwa durch die Gewährung von Freistellungen, Stundungen, Nachlässen etc. – das Soziallleistungsverhältnis „Darlehen“ in substanziellem Ausmaß.
69In diesem Verhältnis bestehen Rechte und Pflichten der Darlehensnehmenden nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz als besonderem Teil des Sozialgesetzbuchs, die gegenüber dem Bundesverwaltungsamt geltend zu machen bzw. diesem gegenüber zu erfüllen sind. Ein Verständnis, nach dem im Bereich der Ausbildungsförderung nur die Ämter für Ausbildungsförderung Sozialleistungsträger wären, hätte zur Folge, dass § 14 Satz 1 SGB I insofern einen Beratungsanspruch begründen würde, der mangels zuständigen Anspruchsgegners i. S. des § 14 Satz 2 SGB I ins Leere laufen würde.
70Selbst wenn das Bundesverwaltungsamt aber kein Sozialleistungsträger im Sinne der §§ 14, 12 Satz 1, § 18 Abs. 2 SGB I sein sollte, so ist § 14 SGB I im Verhältnis der Beklagten zur Klägerin jedenfalls aufgrund der infolge der Nichtanwendbarkeit des § 25 VwVfG (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG, § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB X i. V. mit § 68 Nr. 1 SGB I) bestehenden planwidrigen Regelungslücke vorliegend zumindest insoweit analog anzuwenden, als es um eine Beratung im Rahmen der nach § 39 Abs. 2 Satz 1 BAföG auf das Bundesverwaltungsamt übertragenen Zuständigkeiten geht. Die für die Annahme einer Analogie erforderliche vergleichbare Interessenlage ergibt sich daraus, dass die Zuständigkeit für Sozialleistungsverhältnisse nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz aufgrund des § 39 Abs. 2 Satz 1 BAföG „künstlich“ auf unterschiedliche Verwaltungsträger – die Ämter für Ausbildungsförderung in der Bewilligungs- und Auszahlungsphase einerseits und das Bundesverwaltungsamt in der Rückzahlungsphase andererseits – aufgespalten wird. Im Rahmen der Rückzahlungsphase, für die das Bundesverwaltungsamt zuständig ist, kann aber ebenso ein Beratungsbedürfnis seitens der Darlehensnehmenden bestehen, wie in der Phase der Leistungsgewährung. Würde – wie bei anderen als Darlehen gewährten Sozialleistungen (etwa nach dem Sozialgesetzbuch II oder XII) – auch die Darlehensrückzahlungsphase von den Ämtern für Ausbildungsförderung verwaltet, so wäre in dieser Phase § 14 SGB I (ohne Weiteres) anwendbar. Mit der Übertragung der Zuständigkeit der Darlehensverwaltung auf das Bundesverwaltungsamt hat der Gesetzgeber dafür Sorge tragen wollen, dass eine einheitliche Einziehung aller nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz geleisteten Darlehen – insbesondere im Fall der Gewährung durch verschiedene Ämter für Ausbildungsförderung – gewährleistet ist.
71Ramsauer, in: Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 39 Rn. 11.
72Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber die Darlehensnehmenden damit hinsichtlich ihrer Beratungsrechte aus dem Sozialleistungsverhältnis gegenüber anderen Leistungsempfängern schlechter stellen wollte.
73Eine daher zumindest aus § 14 SGB I analog resultierende Beratungspflicht hat die Beklagte jedoch vorliegend nicht verletzt. Eine Beratung im Sinne der Vorschrift meint dabei die individuelle, d. h. für den Einzelnen bestimmte und auf den Einzelfall bezogene Information seitens der Verwaltung. Im Regelfall ist eine solche Beratung nur aufgrund einer Initiative des Ratsuchenden zu erteilen,
74BSG, Urt. v. 02.04.2014 – B 4 AS 29/13 R, juris, Rn. 29 m. w. N.; BSG, Urt. v. 04.09.2013 – B 12 AL 2/12 R, juris, Rn. 21; Hase, in: BeckOK Sozialrecht, 62. Edition, Stand 01.09.2021, § 14 SGB I Rn. 6 m. w. N.,
75die vorliegend im fraglichen Zeitraum seitens der Klägerin nicht ergriffen worden ist. Die Klägerin hatte im Zeitraum vom 26.09.2013 bis 23.06.2020 kein Beratungs- oder Auskunftsbegehren an das Bundesverwaltungsamt gerichtet.
76Ausnahmsweise sind die Behörden jedoch dem Einzelnen gegenüber bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auch ohne entsprechenden Antrag zum Hinweis auf solche Gestaltungsmöglichkeiten verpflichtet, die klar zutage liegen und deren Wahrnehmung offenbar so zweckmäßig ist, dass jeder verständige Betroffene sie mutmaßlich nutzen würde (sog. Spontanberatung).
77BSG, Urt. v. 02.04.2014 – B 4 AS 29/13 R, juris, Rn. 29 m. w. N.; BSG, Urt. v. 04.09.2013 – B 12 AL 2/12 R, juris, Rn. 21. Vgl. auch OVG NRW, Beschl. v. 17.01.2011 – 12 E 970/10, juris, Rn. 34 ff.
78Ein solcher Fall der Spontanberatungspflicht ist vorliegend jedoch nicht gegeben.
79Zunächst resultiert ein solcher Anlass zur Spontanberatung über die Wahlmöglichkeit des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG gegenüber der Klägerin nicht aus dem 26. Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes als solchem. Eine Rechtsänderung ist – selbst wenn es sich um eine bedeutsame und folgenschwere Rechtsänderung handelt – grundsätzlich schon deshalb kein Anlass zur Spontanberatung durch die nach § 14 SGB I (analog) verpflichteten Behörden, weil diese im Regelfall davon ausgehen können und müssen, dass den Bürgern mit der Verkündung eines Gesetzes dessen Inhalt als bekannt gilt.
80BSG, Urteil vom 10.12.2003 – B 9 VJ 2/02 R, juris, Rn. 31.
81Eine Ausnahme von diesem Grundsatz mag allenfalls dort in Betracht kommen, wo aufgrund von Besonderheiten der Fallgestaltung Gründe des sozialen Schutzes der Betroffenen eine Beratungspflicht ohne entsprechende Eigeninitiative des Betroffenen verlangen.
82So das BSG, Urteil vom 10.12.2003 – B 9 VJ 2/02 R, juris, Rn. 31.
83Gegen die Annahme eines solches Ausnahmefalles spricht vorliegend jedoch maßgeblich, dass es sich bei dem durch die Ausübung des Wahlrechts letzten Endes erstrebten Vorteil des Kooperations- bzw. Härtefallerlasses nicht um eine Sozialleistung im Sinne des § 11 Satz 1 SGB I handelt, da es beim Erlass um den Verzicht der Beklagten auf eine Forderung geht und damit nicht um eine Dienst-, Sach- oder Geldleistung im Sinne des § 11 Satz 1 SGB I. Im Übrigen kommt der begehrte Erlass der BAföG-Darlehensschuld erst in der Phase der Rückzahlung von Sozialleistungen zum Tragen, d. h. in einer Phase, in der die mit der Gewährung der Sozialleistung „BAföG-Darlehen“ bezweckte Verwirklichung sozialer Rechte im Sinne der §§ 2, 3 SGB I bereits in der Vergangenheit liegt. Der begehrte Erlass selbst dagegen dient bei Altschuldnern gerade nicht der Verwirklichung sozialer Rechte im Sinne der §§ 2, 3 SGB I. Lediglich bei den Personen, die nach Inkrafttreten des § 18 Abs. 12 BAföG eine Ausbildung unter Inanspruchnahme von Ausbildungsförderung erwägen, mag die Einführung dieser Norm in sozialpolitischer Hinsicht der Verwirklichung des sozialen Rechts der Ausbildungsförderung i. S. von § 3 Abs. 1 SGB I insoweit dienen, als ihnen Verschuldensängste genommen werden sollen.
84BT-Drucks. 19/8749, S. 38.
85Auch die Änderung der Mindestrückzahlungsrate durch Bescheid vom 17.10.2019 bot für die Beklagte für sich genommen keinen Anlass zu einer Spontanberatung über die Wahlmöglichkeit des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG und die Erlassregelungen des § 18 Abs. 12 BAföG n. F., da diese gesetzlichen Neuerungen mit der Änderung der Mindestrückzahlungsrate in § 18 Abs. 3 Satz 1 BAföG in keinerlei inhaltlichem Zusammenhang stehen. Die Änderung der Mindestrückzahlungsrate einerseits und die Einführung der Erlassmöglichkeiten des § 18 Abs. 12 BAföG sowie die Wahlmöglichkeit für Altschuldner andererseits erfolgten vielmehr nur zufällig im selben Änderungsgesetz.
86Auch der aufgrund des Erlasses des Änderungsbescheides vom 17.10.2019 faktisch in der maßgeblichen Zeit entstandene Kontakt der Beklagten zur Klägerin bot keinen hinreichenden Anlass zur Spontanberatung, zumal die Änderung der Mindestrückzahlungsrate aufgrund des Massencharakters der Verfahren automatisiert und insbesondere ohne individuelle Sachbearbeitung im einzelnen Fall erfolgt ist.
87Vgl. zur Auswirkungen von Massenverfahren auf die Fürsorgepflichten im Rahmen des § 25 VwVfG auch Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, § 25 Rn. 12 unter Bezugnahme auf OVG Hamburg, Beschl. v. 23.01.2012 – 3 Bs 224/11, juris, Rn. 22.
88Im Übrigen ist auch nicht insoweit von einer Pflichtverletzung der Beklagten gegenüber der Klägerin auszugehen, als die mit dem Änderungsbescheid erteilten Hinweise in Bezug auf das Vorhandensein eines Wahlrechts irreführend oder sonst fehlerhaft gewesen wären. Zwar müssen Auskünfte, die Behörden erteilen, dem Stand der Erkenntnismöglichkeit entsprechend sachgerecht, d. h. vollständig, richtig und unmissverständlich sein, so dass der Empfänger der Auskunft entsprechend disponieren kann. Diese Pflicht besteht gegenüber jedem Dritten, in dessen Interesse oder auf dessen Antrag die Auskunft erteilt wird.
89Vgl. u. a. BGH, Urt. v. 06.02.1997 – III ZR 241/95, juris, Rn. 9; BayVGH, Beschl. v. 05.12.2019 – 11 Cs 19.2070, juris, Rn. 16 zu Art. 25 BayVwVfG.
90Für die Frage, ob die Auskunft den zu stellenden Anforderungen genügt, kommt es entscheidend darauf an, wie sie vom Empfänger aufgefasst wird und werden kann und welche Vorstellungen zu erwecken sie geeignet ist.
91BGH, Urt. v. 06.02.1997 – III ZR 241/95, juris, Rn. 9.
92Das Bundesverwaltungsamt hat durch den Inhalt des Hinweisblattes, welches dem Bescheid vom 17.09.2019 beigefügt war, nicht den Eindruck erweckt, anlässlich dieses Bescheides über alle Regelungen des 26. Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes informieren zu wollen. Vielmehr stehen die dortigen Hinweise sämtlich im Zusammenhang mit der ratenweisen Rückzahlung, welche auch Gegenstand der Regelung des Bescheides ist. Insbesondere aus dem Hinweis auf „weitere Informationen zur Darlehensrückzahlung und zur Ratenhöhe […] unter www.bafoeg.bund.de“ ergibt sich deutlich, dass die vorangestellte Liste an Hinweisen keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Bezug auf das Änderungsgesetz hat.
93Die Klägerin hat auch keinen Anspruch darauf, durch die Beklagte im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt zu werden, als habe sie das Verlangen innerhalb der Frist des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG erklärt.
94Dabei kann zunächst dahinstehen, ob der nicht fristgebundene sozialrechtliche Herstellungsanspruch vorliegend neben der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Sinne des § 27 SGB X überhaupt Anwendung findet.
95Insoweit bejahend u. a. BSG, Urt. v. 02.02.2006 – B 10 EG 9/05 R, juris, Rn. 20 f. m. w. N.; BSG, Urt. v. 04.09.2013 – B 12 AL 2/12 R, juris, Rn. 17; BSG, Urt. v. 10.12.2013 – B 13 R 91/11 R, juris, Rn. 28. Eine Anwendbarkeit des Herstellungsanspruchs bei Versäumen einer gesetzlichen Frist vereinend BVerwG, Urt. v. 18.04.1997 – 8 C 38/95, juris, Rn. 9 f.; OVG NRW, Urt. v. 14.12.2009 – 12 A 3324/08, juris, Rn. 60 ff.; Schleswig-Holsteinisches VG, Urt. v. 30.03.2005 – 15 A 242/04, juris, Rn. 34.
96Denn das von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat zur Voraussetzung, dass der Anspruchsgegner – hier die Beklagte – eine Pflicht gegenüber dem Anspruchsteller – hier der Klägerin – verletzt hat, was aus den oben genannten Gründen nicht der Fall ist.
97Soweit die Klägerin ihr Begehren gerichtet auf Verpflichtung der Beklagten zum Erlass der Darlehensschuld durch den geänderten Antrag fallen gelassen hat, trägt sie gemäß § 155 Abs. 2 VwGO die Kosten des Verfahrens, das insoweit deklaratorisch einzustellen gewesen wäre (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Im Übrigen folgt die Kostenentscheidung aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Aufhebung des Bescheides vom 07.12.2020 und des Widerspruchsbescheides vom 29.12.2020 fällt gegenüber der Abweisung der Feststellungsklage nicht ins Gewicht.
98Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 i. V. mit § 709 Satz 2 ZPO.
99Die Berufung wird nach § 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung insbesondere mit Blick auf die Frage des Bestehens von Aufklärungspflichten des Bundesverwaltungsamtes gegenüber Altschuldnern in Bezug auf die Wahlmöglichkeit des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG und mit Blick auf die Frage des Bestehens einer Befugnis der Beklagten, über die Unwirksamkeit des Verlangens eines Altschuldners im Sinne des § 66a Abs. 7 Satz 1 BAföG durch gesonderten Verwaltungsakt zu entscheiden. Diese Rechtsfragen sind in der Rechtsprechung noch nicht geklärt. An ihrer Klärung besteht angesichts einer Vielzahl vergleichbarer anhängiger Verfahren ein über den Einzelfall hinausgehendes allgemeines Interesse.
100Rechtsmittelbelehrung
101Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
102Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
103Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.
104Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.