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Soweit die Klägerin zu 2) die sie betreffende Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Mai 2018 (Gesch.-Z.: 000000-000) verpflichtet, die Kläger zu 1) und 3) als Asylberechtigte anzuerkennen und ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1) und 3) trägt die Beklagte. Die Klägerin zu 2) trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteilst vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Kläger zu 1) und 3) vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand
2Die Kläger besitzen die türkische Staatsangehörigkeit. Sie reisten am 28. Dezember 2017 mit dem Flugzeug in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. Januar 2018 einen Asylantrag. Die Anhörung des Klägers zu 1) durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fand am 18. Januar 2018 in Bonn statt.
3Der Kläger zu 1) trug im Rahmen seiner Anhörung im Wesentlichen vor: Von 1996 bis 2011 sei er Lehrer an einer Gülen-Schule in Kasachstan gewesen. Danach, bis etwa 13 Monate vor seiner Ausreise 2016, habe er in Katastrophengebieten in Afrika und Asien als internationaler Koordinator für die Hilfsorganisation Kimse yok mu gearbeitet. Er sei mit einer kasachischen Staatsangehörigen verheiratet und habe mit dieser ein gemeinsames Kind. In Kasachstan lebe eine Tochter aus erster Ehe und gehe dort zur Schule. Die letzten 13 Monate vor seiner Ausreise habe er sich in Kasachstan aufgehalten. Dort habe er inoffiziell gearbeitet und monatlich etwa 2.000,- US-Dollar verdient. Im Zuge staatlicher Ermittlungen im Jahre 2016 gegen Führungsmitglieder der Hilfsorganisation Kimse yok mu habe es eine Liste mit Namen gegeben, auf welcher auch sein Name gestanden habe. Von Anwälten verhafteter Freunde und Kollegen sei die Ausreise empfohlen worden. Daraufhin habe er die Türkei am 11. Juli 2016 verlassen. Er sei sechs Monate später wieder zurückgekehrt, weil seine Akte auf die Seite gelegt worden sei. Während seines letzten Aufenthalts in Kasachstan habe er über andere Gülen-Mitglieder erfahren, dass türkische Staatsangehörige in Kasachstan entführt und unrechtmäßig an die Türkei überstellt worden seien. Von Kasachstan aus sei er dann Ende Dezember 2017 nach Deutschland gereist. Bei einer Rückkehr in die Türkei befürchte er, verhaftet und gefoltert zu werden.
4Mit Bescheid vom 3. Mai 2018 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger ab (Ziffer 2). Es erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffern 1 und 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziffer 4) und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5). Es befristete schließlich das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Der Kläger zu 1) sei kein Flüchtling im Rechtssinne. Er habe keine gegen ihn persönlich gerichteten Verfolgungshandlungen eines staatlichen Verfolgungsakteurs mit dem Ziel seiner Verfolgung vorgetragen. Auch habe der Kläger zu 1) zu keinem Zeitpunkt Schwierigkeiten wegen seiner türkischen Staatsangehörigkeit bei seinen zahlreichen weltweiten Grenzübertritten gehabt. Er sei daher unverfolgt ausgereist, so dass auch bei einer Rückkehr nicht mit Verfolgung zu rechnen sei.
5Die Kläger haben am 7. Mai 2018 Klage erhoben.
6Zur Begründung wiederholen und vertiefen die Kläger im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Darüber hinaus legen sie verschiedene Unterlagen vor, u.a. eine Anklageschrift der „Oberstaatsanwaltschaft Ankara“ aus dem Jahr 2018.
7Die Kläger beantragen,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Mai 2018 (Gesch.-Z.: 0000000-000) zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sowie
9hilfsweise ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie
10weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung nimmt sie im Wesentlichen Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
14Die Klägerin zu 2) hat die sie betreffende Klage am 19. August 2019 zurückgenommen. Die Kläger zu 1) und 3) haben durch ihren Prozessbevollmächtigten am 6. Januar 2021 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Das Bundesamt hat mit Allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Mit weiterem Schreiben vom 23. Dezember 2020 hat das Bundesamt die Allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 ersatzlos aufgehoben.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe
17Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO). Dass das Bundesamt die Allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017, mit der es „für alle Streitsachen nach dem AsylG“ sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt hat, am 23. Dezember 2020 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 ersatzlos aufgehoben hat, ändert daran nichts. Das Einverständnis nach § 101 Abs. 2 VwGO ist als Prozesshandlung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar.
18Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 101 Rn. 6; Dolderer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 101 Rn. 25; Ortloff/Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO (Stand: Juli 2020), § 101 Rn. 12; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 101 Rn. 7.
19Dies gilt grundsätzlich ab dem Zeitpunkt, in dem die Erklärung bei Gericht eingegangen ist. Ob zu diesem Zeitpunkt auch bereits die Verzichtserklärungen aller weiteren Verfahrensbeteiligten eingegangen sind, ist unerheblich.
20Vgl. Ortloff/Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO (Stand: Juli 2020), § 101 Rn. 10; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 101 Rn. 7; a.A. Dolderer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 101 Rn. 27.
21Nichts anderes gilt im Grundsatz auch für die hier in Rede stehende Allgemeine Prozesserklärung des Bundesamts vom 27. Juni 2017. Da diese bereits im Vorhinein für eine unbestimmte Zahl von gerichtlichen Verfahren abgegeben worden ist, ist die darin enthaltene Verzichtserklärung in dem Zeitpunkt wirksam geworden, in dem die vorliegende Klage anhängig geworden ist, mithin am 15. August 2018. Zu diesem Zeitpunkt war der Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch das Bundesamt wirksam und damit unwiderruflich erklärt worden. Durch die ersatzlose Aufhebung der Allgemeinen Prozesserklärung zum 1. Januar 2021 ist die Geltung Verzichtserklärung auch nicht entfallen. Denn diese entfällt im Falle einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht automatisch. Vielmehr führte dies zunächst nur dazu, dass die Beteiligten berechtigt wären, den vorher erklärten Verzicht ausnahmsweise zu widerrufen.
22Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 101 Rn. 8; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 101 Rn. 7; Dolderer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 101 Rn. 28; Ortloff/Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO (Stand: Juli 2020), § 101 Rn. 12.
23Mit der ersatzlosen Aufhebung der Allgemeinen Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 hat das Bundesamt die Verzichtserklärung indes weder ausdrücklich noch konkludent widerrufen. Mit der Aufhebung der Allgemeinen Prozesserklärung bringt das Bundesamt zunächst nur zum Ausdruck, dass Prozesshandlungen bzw. -erklärungen ab dem 1. Januar 2021 wieder in jedem einzelnen gerichtlichen Verfahren gesondert vorgenommen bzw. abgegeben werden (oder eben nicht). Da auch der Widerruf der Verzichtserklärung eine Prozesshandlung darstellt, hätte diese im vorliegenden Verfahren gesondert vorgenommen werden müssen. Dies ist nicht geschehen. Ungeachtet dessen stellt die Aufhebung der Allgemeinen Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 offensichtlich keine wesentliche Änderung der Prozesslage dar, die zu einer Berechtigung des Widerrufs hätte führen können.
24Soweit die Klägerin zu 2) die sie betreffende Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren in Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
25Im Übrigen, das heißt hinsichtlich der Kläger zu 1) und 3), ist die Klage ist mit ihrem Hauptantrag begründet.
26Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamtes vom 3. Mai 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger zu 1) und 3) in seinen Rechten. Ihnen steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
27Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
28Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungs-gründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
29Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
30Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22.
32Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungs-weise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
33Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32.
34Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90 –, juris, Rn. 2; OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.
36Gemessen an diesen Grundsätzen konnte der Einzelrichter die Überzeugung gewinnen, dass sich der Kläger zu 1) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Landes befindet. Das Bundesamt ist im Ergebnis zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger zu 1 kein Flüchtling im Sinne des AsylG sei, weil er keine gegen ihn persönlich gerichteten Verfolgungshandlungen vorgetragen habe.
37Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit bzw. Zurechnung zur sog. Gülen-Bewegung.
38Die vom islamischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs- und Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte, um die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Staatsanwälte und Richter, die der Gülen-Bewegung zugerechnet wurden, Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („Fethullahistische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“)
39Vgl. dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24. August 2020, Seite 4 (im Folgenden: Lagebericht AA).
40Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes dauert die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung an. In der Regel reicht das Vorliegen eines der vorliegenden Indizien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten:
41- Nutzung der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock;
42- Geldeinlage bei der Bank Aysa nach dem 25.12.2013;
43- Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;
44- Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen;
45- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;
46- Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inkl. abhängige Beschäftigte);
47- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.
48Eine Verurteilung setzt nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus.
49Vgl. Lagebericht AA, Seite 9.
50Unter Berücksichtigung dieser Sachlage ist in Bezug auf den Kläger zu 1) festzustellen, dass er mehrere der vorstehenden Kriterien erfüllt und damit nicht nur eine Strafverfolgung, sondern sogar eine Verurteilung wegen der Zurechnung zur Gülen-Bewegung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Der Kläger war viele Jahre als Lehrer an einer Bildungseinrichtung der Gülen-Bewegung tätig. Später arbeitete er in herausgehobener Stellung bei Hilfsorganisation „Kimse yok mu“, die ebenfalls der Gülen-Bewegung zuzurechnen ist.
51Dass der Kläger vor der Ausreise aus der Türkei bzw. Kasachstan persönlich nicht bedroht wurde und dass er keine exponierte Stellung innerhalb der Gülen-Bewegung gehabt hat, führt zu keiner anderen Bewertung. Der Kläger muss vor dem Hintergrund der dargestellten Situation nicht erst abwarten, bis er persönlich bedroht wird. Auch ohne konkrete Bedrohungshandlungen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger Opfer von Verfolgungsmaßnahmen seitens des türkischen Staates wird. Davon abgesehen hat der Kläger zu 1) Verfolgungsmaßnahmen durch Vorlage entsprechender Unterlagen im gerichtlichen Verfahren glaubhaft gemacht. Denn er konnte eine Anklageschrift der „Oberstaatsanwaltschaft Ankara“ aus dem Jahr 2018 vorlegen, aus der sich ergibt, dass er (u.a.) wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ angeklagt wird. Ausweislich der Anklageschrift ist damit dessen Verbindung zur Gülen-Bewegung („FETÖ“) gemeint. Hinzu kommt, dass sein Bruder, der ebenfalls in einer Gülen-Einrichtung gearbeitet hat, bereits verhaftet worden ist. Schließlich droht entgegen der Auffassung des Bundesamts nicht nur Personen mit exponierter Stellung innerhalb der Gülen-Bewegung Verfolgung, sondern die Maßnahmen richten sich auch gegen jene, denen eine nicht näher definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird.
52Vgl. Lagebericht AA, Seite 5.
53Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend auch für die – noch minderjährige – Klägerin zu 3). Die Klägerin zu 3) ist vier Jahre alt und daher derzeit nicht strafmündig. Allerdings werden Kinder in diesem Alter gemeinsam mit der Mutter inhaftiert
54(vgl. Lagebericht AA 2020, S. 23),
55so dass auch der Klägerin zu 3) ungeachtet ihres jungen Alters konkrete Verfolgungshandlungen in Form einer Inhaftierung drohen.
56Aus denselben Gründen ist auch Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamtes vom 3. Mai 2018 rechtswidrig und verletzt die Kläger zu 1) und 3) in ihren Rechten. Ihnen steht der geltend gemachte Anspruch, sie als Asylberechtigten anzuerkennen, zu, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Gründe, die die Flüchtlingseigenschaft der Kläger zu 1) und 3) begründen, führen auch zu der Feststellung, dass die Kläger zu 1) und 3) politisch verfolgt sind im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG.
57Da den Klägern ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegen-über § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
58Die Kostenentscheidung folgt hinsichtlich der Klägerin zu 2) aus § 155 Abs. 2 VwGO. Im Übrigen beruht sie auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
59Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
60Rechtsmittelbelehrung
61Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
621. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
67Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
68Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
69Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.