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Der Antragsgegnerin wird bis zur Entscheidung des Gerichts in dem Eilverfahren 13 L 105/21 aufgegeben, es zu unterlassen, die Antragstellerin als „Verdachtsfall“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen sowie die Einordnung, Beobachtung, Behandlung, Prüfung und/oder Führung der Antragstellerin als „Verdachtsfall“ erneut öffentlich oder nicht öffentlich bekanntzugeben.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
2Der erneute Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung (sog. Hängebeschluss) der Antragstellerin, nämlich
3a)
4die Antragstellerin als „Verdachtsfall“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen;
5b)
6die Einordnung, Beobachtung, Behandlung, Prüfung und/oder Führung der Antragstellerin als „Verdachtsfall“ öffentlich oder nicht öffentlich bekanntzugeben
7hat Erfolg.
8Eine für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens geltende Zwischenregelung, wie sie die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erneut beantragt, trifft das Gericht in begründeten Einzelfällen, um sicherzustellen, dass es zu einem späteren Zeitpunkt noch effektiven Rechtsschutz entsprechend den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisten kann. Eine solche Zwischenregelung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn ohne sie bereits vor der gerichtlichen Eilentscheidung in unumkehrbarer Weise vollendete Tatsachen zu Lasten des Rechtsschutzsuchenden geschaffen würden. So kann ein Antragsteller mit Blick auf die Effektivität des Rechtsschutzes darauf angewiesen sein, die Verwirklichung eines Abwehr- oder Unterlassungsanspruchs sichern zu lassen, wenn die Vornahme der in Streit stehenden Handlung bis zur abschließenden Entscheidung auch nur im Eilverfahren dazu führen würde, dass er weitreichenden Nachteilen ausgesetzt wäre, die durch eine spätere stattgebende Entscheidung nicht mehr ausgeglichen werden könnten. Allerdings ist es nicht Aufgabe des Verfahrens auf Erlass einer Zwischenregelung, die Prüfung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz vorwegzunehmen. Es ist nicht das „Eilverfahren im Eilverfahren“. Ob eine Zwischenregelung vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist, ist im Wege einer Abwägung der Interessen der Verfahrensbeteiligten zu ermitteln. In diese Abwägung einzustellen sind einerseits die Folgen, die einträten, wenn die Zwischenregelung nicht ergehen würde und der Eilantrag später Erfolg hätte, die begehrte einstweilige Verfügung also erlassen würde, und andererseits diejenigen Nachteile, die entstünden, wenn eine Zwischenregelung verfügt, der Eilantrag aber abgelehnt würde,
9vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 18. Februar 2021 ‑ 5 B 163/21 ‑; 19. Juli 2016 - 7 B 715/16 -, juris, Rn. 2, und vom 10. Dezember 2014 - 1 B 1251/14 -, juris, Rn. 12; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 296.
10Nach dieser Maßgabe ist eine Zwischenentscheidung zugunsten der Antragstellerin nunmehr erforderlich.
11Zunächst hat der Antrag zu b) insoweit Erfolg, als er auch die erneute öffentliche oder nicht öffentliche Bekanntgabe der Einordnung, Beobachtung, Behandlung, Prüfung und/oder Führung der Antragstellerin als „Verdachtsfall“ betrifft. Insofern geht die Folgenabwägung zu Lasten der Antragsgegnerin aus, weil in unvertretbarer, gegen Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßender Weise in die Chancengleichheit politischer Parteien eingegriffen wird, nachdem alles dafür spricht, dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesamt) nicht an die gegebene Stillhaltezusage,
12„dass es bis zur Entscheidung der erkennenden Kammer über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht öffentlich bekanntgeben wird, ob oder dass es die Antragstellerin als Verdachtsfall und/oder als gesicherte rechtsextremistische Bestrebung einstuft, beobachtet, prüft oder führt“,
13gehalten bzw. nicht hinreichend Sorge getragen hat, dass keine verfahrensrelevanten Informationen nach außen dringen. Den Inhalt der Stillhaltezusage hat das OVG NRW im Beschluss vom 18. Februar 2021 im Verfahren 5 B 163/21 ausdrücklich dahingehend verstanden, dass
14„das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nur eine öffentliche Bekanntgabe etwa im Wege einer Pressemitteilung oder sonstiger offizieller Verlautbarungen unterlassen wird, sondern auch jegliche in ihrer Wirkung gleichkommende Maßnahmen der Information der Öffentlichkeit insgesamt oder einzelner Presseorgane.“
15Aufgrund der - auch gerichtsbekannten - Berichterstattung in allen Medien vom 3. März 2021, wie sie die Antragstellerin in ihrem erneuten Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung vom 4. März 2021 im Einzelnen dargelegt hat, steht für das Gericht fest, dass in dem Bundesamt zurechenbarer Weise der Umstand der Einstufung der Antragstellerin als Verdachtsfall in die Entscheidungskompetenz des beschließenden Gerichts und die aufgezeigten Vorgaben des OVG NRW missachtender Weise „durchgestochen“ worden ist. In gleicher Weise gilt dies für die 262-seitige Antragserwiderung der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 1. März 2021, die ebenfalls an die Presse durchgestochen wurde und „WDR, NDR und SZ“ vorliegt;
16vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/afd-verdachtsfall-101.html: WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) liegt nun die juristische Entgegnung der BfV-Anwälte vor, die inzwischen den Prozessbeteiligten zugestellt worden ist. Die Anwälte begründen in einem 262 Seiten umfassenden Schriftsatz, dass "hinreichend verdichtete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen", dass die AfD "gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt" und welche dazu geführt haben, dass die AfD Ende Februar den Papieren zufolge als Gesamtpartei zum Verdachtsfall hochgestuft worden ist.
17Diesem, in enger Abstimmung mit dem Bundesamt verfassten Schriftsatz lässt sich im Einzelnen entnehmen, was aus der Sicht des Amtes für die Einstufung der Antragstellerin als Verdachtsfall maßgeblich ist. Das beschließende Gericht hat ebenso wie das OVG NRW im ersten Durchlauf die Notwendigkeit einer Zwischenentscheidung auch deswegen verneint, weil das Bundesamt bzw. ihre Prozessbevollmächtigten die im Einzelnen in diesem Beschluss aufgeführten Stillhaltezusagen abgegeben haben, um eine dem Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie dem Respekt vor dem Gericht entsprechende Entscheidung der Kammer zu ermöglichen; diese Vertrauensgrundlage, auf der die vorhergehenden Entscheidungen beruhten, ist nunmehr zerstört. Insofern besteht angesichts des Gangs der Ereignisse - Bekanntwerden der Einstufung der Antragstellerin als Verdachtsfall am 3. März 2021, Durchstechen der Antragserwiderung am 4. März 2021 - auch eine konkrete Wiederholungsgefahr.
18Für die Zwischenregelung besteht auch ein Bedürfnis, obwohl die Information über die Einstufung der Antragstellerin als Verdachtsfall auf Bundesebene nunmehr in der Welt ist. Denn mit jeder erneuten öffentlichen oder nicht öffentlichen Verlautbarung vertieft sich der gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstoßende Eingriff in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG, was im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl im Hinblick auf das Offenhalten der Entscheidung des Gerichts nicht hinzunehmen ist.
19Der Antrag hat auch insofern Erfolg, als die Antragstellerin mit dem Antrag zu a) begehrt, der Antragsgegnerin eine Einordnung, Beobachtung, Behandlung Prüfung und/oder Führung der Antragstellerin als „Verdachtsfall“ bis zur Entscheidung des beschließenden Gerichts im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu untersagen. Insoweit geht die im Rahmen des Verfahrens gebotene doppelte Folgenabwägung nunmehr zu Lasten der Antragsgegnerin aus.
20Zum einen kann angesichts des vorstehend dargelegten Verhaltens des Bundesamtes und seiner Prozessbevollmächtigten, welches die dem beschließenden Gericht gegebenen Stillhaltezusagen teilweise nicht eingehalten hat, nicht mehr davon ausgegangen werden, dass wenigstens insoweit die Einhaltung der im Schriftsatz vom 27. Januar 2021 gegebenen Zusagen,
21„1. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird nach einer etwaigen Einstufung der Antragstellerin bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Eilverfahrens bei Abgeordneten (Bundes-, Landes- und Europaebene) und entsprechenden Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern, zu denen bislang keine Personenakten angelegt worden sind, keine Personenakten aufgrund der Zugehörigkeit zur Antragstellerin neu anlegen und keine neuen Speicherungen in NADIS vornehmen.
222. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird nach einer etwaigen Verdachtsfalleinstufung der Antragstellerin bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Eilverfahrens zu Abgeordneten (Bundes-, Landes- und Europaebene) bzw. entsprechenden Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern personenbezogen keine nachrichtendienstlichen Mittel auf Grund der Zugehörigkeit zur Antragstellerin anwenden.“
23sichergestellt ist.
24Zum anderen ist auch der im Beschluss des OVG NRW vom 18. Februar 2021 im Verfahren 5 B 163/21 betreffend den erstmaligen Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer Zwischenentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung durch das Verhalten des Bundesamtes die Grundlage entzogen worden. Durch das Bekanntwerden der Einstufung der Antragstellerin als „Verdachtsfall“ durch bundesweite Medienberichterstattung ist bereits derart in die durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Chancengleichheit politischer Parteien eingegriffen worden, dass eine weitere Beeinträchtigung derselben dadurch, dass Mitglieder der Antragstellerin mit nicht gänzlich unerheblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssen, allein aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit nachrichtendienstlich überwacht zu werden oder von solchen Maßnahmen jedenfalls mittelbar betroffen zu sein - insbesondere im Hinblick auf die am 14. März 2021 anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz -, nicht hinnehmbar ist.
25Der hieraus drohende Nachteil für die Antragstellerin ist schwerwiegender als die möglichen Folgen für den Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung für den Fall, dass eine Beobachtung auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln zunächst unterbleiben müsste, der Erlass der einstweiligen Verfügung aber später abgelehnt würde.
26Nach dem faktischen Bruch der Stillhaltezusage ist ebenfalls nicht mehr auszugehen, dass die eigentlich internen, Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und die Chancengleichheit der Parteien nicht unmittelbar berührenden Vorgänge des Einstufens, Prüfens, Führens intern bleiben; deswegen hat der Antrag auch insoweit Erfolg.
27Eine Androhung von Ordnungsmitteln ist allein dem Verfahren der Hauptsache - hier dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - vorbehalten.
28Eine Kostenentscheidung ist nicht erforderlich. Die durch das Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten gehören zu den Kosten des Verfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO. Es liegt insofern kein gegenüber jenem Verfahren selbständiges Nebenverfahren vor,
29vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Februar 2021 ‑ 5 B 163/21 ‑ und vom 5. November 2008 - 8 B 1631/08 –, juris, Rn. 19, m.w.N.
30Einer Streitwertfestsetzung bedarf es daher ebenfalls nicht.
31Rechtsmittelbelehrung
32Gegen diesen Beschluss kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen entscheidet.
33Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) erfolgen.
34Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
35In Streitigkeiten über Kosten, Gebühren und Auslagen ist die Beschwerde nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
36Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
37Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.