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Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 21.04.2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
T a t b e s t a n d
2Der am 00.00.0000 in Kobane/Syrien geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 04.07.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und meldete sich als Asylsuchender. Am 19.10.2016 erhielt der Kläger Gelegenheit zur Stellung eines formellen Asylantrags bei der Beklagten.
3Am 20.10.2016 fand die Anhörung des Klägers vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) statt. Dort trug er zur Begründung vor, er habe Syrien im September 2014 verlassen. Er habe bis zur Ausreise in Kobane in seinem eigenen Haus gelebt. Von September 2014 bis Juni 2015 habe er sich zunächst mit seiner Familie illegal in der Türkei aufgehalten. Er habe in Syrien noch keinen Wehrdienst abgeleistet. Er habe ein Jahr in Aleppo Jura studiert, aber keinen Abschluss gemacht. Wegen des Studiums sei er zunächst vom Militär zurückgestellt worden, bis zum 15.03.2014 hätte er sich aber zum Wehrdienst melden müssen. Er habe Syrien wegen des Krieges verlassen. Konkreter Anlass für die Ausreise seien die Angriffe des IS auf Kobane gewesen. Er sei auch von der kurdischen Partei zum Dienst an der Waffe aufgefordert worden. Sie seien des Öfteren persönlich gekommen, das erste Mal im Jahr 2014. Sie hätten aber akzeptiert, dass er verheiratet gewesen sei und Verantwortung getragen habe. Es seien alles gute Bekannte von ihm gewesen. Bis zu seiner Ausreise sei Kobane unter kurdischer Kontrolle gewesen. Er sei in Syrien nicht politisch aktiv gewesen und habe keine persönlichen Probleme mit syrischen Behörden gehabt. Die Anhörung dauerte 55 Minuten.
4Mit Bescheid vom 21.04.2017 wurde dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, im Übrigen wurde der Asylantrag abgelehnt. Der Bescheid wurde dem Kläger am 08.05.2017 zugestellt.
5Am 18.05.2017 hat der Kläger hiergegen Klage erhoben, mit der er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, die Lage der Menschen in Syrien habe sich seit 2015 nicht geändert. Alle Konfliktparteien begingen weiterhin Kriegsverbrechen, andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und schwere Menschenrechtsverstöße. Die Gefahr von Folter und schweren Misshandlungen gelte für jede Zivilperson und insbesondere wegen der Zugehörigkeit zu einer religiösen oder politischen Gruppe. Es gebe in Syrien nach wie vor kaum einen Fleck, wo ein Mensch nicht jederzeit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe mit dem Tod rechnen müsse. Der Kläger sei außerdem im militärfähigen Alter und erfülle damit eines der vom UNHCR genannten besonderen Risikoprofile. Er laufe Gefahr, von den syrischen Sicherheitskräften als Gegner angesehen und entsprechend behandelt zu werden, weil er sich dem Militärdienst entzogen habe.
6Ein Untätigkeitsverfahren (20 K 4199/16.A) ist durch Beschluss vom 05.10.2017 mit dem vorliegenden Verfahren verbunden worden.
7Der Kläger beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 21.04.2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges verwiesen.
13E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
14Das Gericht kann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
15Die Klage ist zulässig und begründet.
16Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ziffer 2 des Bescheides der Beklagten vom 21.04.2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
17Nach § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 -Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)-, wenn er sich 1) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2) außerhalb des Landes befindet a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative. Nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3 Nr. 3 AsylG können Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgeht, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, § 3e AsylG.
18Nach § 3a AsylG gelten als Verfolgungshandlungen solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine einmalige Verfolgungshandlung kann demnach ausreichend sein, aber auch eine Wiederholung schwerwiegender Handlungen ebenso wie eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen. Die früher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht. Als Verfolgung gelten ausschließlich Handlungen, die absichtlich, fortdauernd oder systematisch ausgeführt werden, erforderlich ist ein zielgerichteter Eingriff in ein geschütztes Rechtsgut.
19vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 – 10 C 52/07 - Juris; Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig.
20Es kommt maßgeblich auf die schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte an, zu denen in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 EMRK jedenfalls das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot von Folter und von unmenschlichen und erniedrigenden Strafen (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK) sowie das Verbot der Strafe ohne Gesetz (Art. 7 EMRK) gehören. Diese Aufzählung ist allerdings nicht abschließend. Als Schutzgüter kommen grundsätzlich alle in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Rechte in Betracht, insbesondere das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren (Art. 6 EMRK), die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK). Die Vorschrift des § 3a Abs. 2 AsylG enthält eine – ebenfalls nicht abschließende – Aufzählung unterschiedlicher Verfolgungshandlungen, zu denen auch Maßnahmen mit tendenziell eher geringer Eingriffsqualität gehören, wie etwa diskriminierende gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen oder die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung und Strafverfolgung. Diese Verfolgungshandlungen können in ihrer Gesamtwirkung das Gewicht und die Intensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufweisen. Als füchtlingsrelevante Verfolgungshandlung kommt ausdrücklich auch eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt in Betracht, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.
21Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG ist eine Verknüpfung zwischen den erlittenen oder bevorstehenden Rechtsgutverletzungen bzw. dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen einerseits und einem oder mehreren Verfolgungsgründen des § 3b AsylG andererseits erforderlich. Ob eine solche Verknüpfung vorliegt, ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit festzustellen. Die Verknüpfung ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Es kommt daher nicht auf die ohnehin kaum feststellbaren (künftigen) subjektiven Vorstellungen der jeweils für den Akteur im Sinne des § 3c AsylG handelnden Person(en) an und die Verknüpfung geht grundsätzlich auch nicht verloren, wenn mit der Verfolgungshandlung weitere, flüchtlingsrechtlich neutrale Zwecke verfolgt werden.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 – 10 C 52/07 – und Urteil vom 21.04.2009 – 10 C 11.08 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.06.2017 – A 11 S 511/17 – alle unter Juris.
23§ 3b Abs. 1 AsylG erläutert die Grundsätze, die im Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen zu beachten sind. Er orientiert sich dabei – ebenso wie Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. L 337 S. 9) - im Folgenden Qualifikationsrichtlinie - an den Verfolgungsmerkmalen der Genfer Flüchtlingskonvention. Die dort genannten Verfolgungsgründe sind ebenso wie in Art. 1 A (2) GFK abschließend.
24Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG kommt es allerdings nicht darauf an, ob der Verfolgte diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Hierzu rechnet auch der Fall, dass der Betreffende seitens des Verfolgers nur verdächtigt wird, ein solches Merkmal – etwa eine bestimmte politische Gesinnung - zu haben und die Verfolgungsmaßnahme hier ansetzt, um eine entsprechende Feststellung zu treffen. Eine etwaige weitere Differenzierung solcher Ermittlungsmaßnahmen zur Feststellung einer oppositionellen Gesinnung in Vorfeldmaßnahmen oder andere Vorstufen ist nicht geboten.
25Vgl. u.a. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.06.2013 – A 11 S 927/13 – und Urteil vom 14.06.2017 – A 11 S 511/17 – unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 GG; Hessischer VGH, Urteil vom 06.06.2017 – 3 A 3040/16.A – alle unter Juris.
26Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der aus begründeter Furcht vor Verfolgung geflohen ist. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 – 10 C 25/10 – Juris.
28Eine bereits erlittene Vorverfolgung ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht ist, Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei, so dass dem Vorverfolgten insoweit eine Beweiserleichterung zugutekommt. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung – auch nicht auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur, § 28 Abs. 2 AsylG.
29Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung entscheidend. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
30Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Allerdings reicht die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissem Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 – 9 C 118/90 – unter Bezugnahme auf: Immigration and Naturalization Service v. Cardoza-Fonseca (zur Genfer Flüchtlingskonvention), 480 U.S. 421; 107 S. Ct. 1207; 94 L. Ed. 2d 434; 55 U.S.L.W. 4313, United States Supreme Court, 9 März 1987, abrufbar unter: http://www.refworld.org/cases,USSCT,3ae6b68d10.html; BVerwG, Beschluss (EuGH-Vorlage) vom 07.02.2008 – 10 C 33/07 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.06.2017 – A 11 S 511/17 – beide Juris.
32Die Bestimmungen gemäß §§ 3 bis 3e AsylG sind – ebenso wie die entsprechenden Vorschriften der Qualifikationsrichtlinie – in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und einschlägigen anderen Vorschriften, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen. Die Auslegung muss zudem die Achtung der Grundrechte und die Befolgung der in der Charta anerkannten Grundsätze gewährleisten.
33Vgl. EuGH, Urteile vom 02.03.2010 – Abdulla u.a./Bundesrepublik Deutschland – C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08 –, vom 07.11.2013 – X u.a./Niederlande – C-199/12 bis C-201/12 – sowie vom 26.02.2015 – Shepherd/Bundesrepublik – C 472/13 – alle unter Juris.
34Bei der Auslegung und der Ermittlung des Bedeutungsgehalts der einzelnen Merkmale des Flüchtlingsbegriffs ist daher auf das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus dem Jahre 2003 (Handbuch des UNHCR) sowie vorhandene UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz zurückzugreifen.
35Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 – 2 BvR 378/05 – Juris.
36Im vorliegenden Zusammenhang mit Schutzbegehren syrischer Staatsangehöriger oder von Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien ist dabei insbesondere auf die Guidelines on International Protection No. 12 vom 02.12.2016 (Claims for refugee status related to situations of armed conflict and violence under Article 1A (2) of the 1951 Convention and/or 1967 Protocol relating to the Status of Refugees and the regional definitions, im Folgenden: Guidelines Nr. 12) hinzuweisen.
37In Verfahren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Situationen eines bewaffneten Konflikts und von Gewalt, die heute den Hauptgrund für Fluchtbewegungen darstellen, ist es auf der Grundlage der Guidelines Nr. 12 zunächst wesentlich sich zu vergegenwärtigen, dass die meisten dieser Konflikte Verfolgung aus politischen, religiösen, ethnischen, sozialen oder geschlechtsspezifischen Gründen erzeugen und die Genfer Flüchtlingskonvention unmittelbar anwendbar ist. Gerade vor dem Hintergrund der früheren deutschen Rechtsprechung im Zusammenhang mit Kriegs- bzw. Bürgerkriegssituationen, die von dem (überholten) Erfordernis der Staatlichkeit der Verfolgung geprägt war,
38vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 04.11.1997 – 9 C 34/96 –; BVerfG, Beschluss vom 10.08.2000 – 2 BvR 260 und 1353/98 – beide unter Juris,
39ist der daraus resultierende Paradigmenwechsel hervorzuheben, da Krieg/Bürgerkrieg einerseits und politische Verfolgung andererseits als Gegensatzpaar nicht nur in der öffentlichen Debatte unverändert widerhallen. Die Anwendbarkeit der Genfer Flüchtlingskonvention gilt uneingeschränkt in jedem bewaffneten Konflikt, in dem die Zivilbevölkerung durch das Ausmaß und die Verbreitung der Gewalt betroffen ist, unabhängig davon, ob es sich um Gewalt zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, einschließlich organisierter Banden, oder Gewalt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen handelt oder Gewalt zwischen zwei oder mehr Staaten, zwischen Staaten und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen oder zwischen verschiedenen nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. In einigen Situationen kann es dabei zu Überschneidungen zwischen dem Anwendungsbereich des subsidiären Schutzes nach der Qualifikationsrichtlinie und dem Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention kommen. Vorrang hat aber stets der Flüchtlingsschutz, während subsidiärer Schutz erst dann in Betracht kommt, wenn eine Person nicht die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft erfüllt.
40Vgl. Guidelines Nr. 12, Ziffern 1, 5 und 9; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.06.2013 – A 11 S 927/13 – Juris.
41Die der Genfer Flüchtlingskonvention zugrundeliegenden Standards unterscheiden sich auch nicht je nachdem, ob ihre Anwendung in Kriegs- oder Friedenszeiten in Rede steht. In Situationen eines bewaffneten Konflikts ist kein höheres Maß an Schwere und Bedeutung des befürchteten Schadens gefordert. Insbesondere ist es irrelevant, ob der Betroffene in irgendeiner Weise noch schlimmer betroffen ist, als man das gemeinhin in einem bewaffneten Konflikt „erwartet“. Bereits die Gesamtsituation kann für eine Person eine relevante Rechtsgutverletzung darstellen. Oft finden in bewaffneten Konflikten schwere Menschenrechtsverletzungen und andere schwere Verletzungen statt, die Verfolgung darstellen. Diese Verfolgung kann Genozid, ethnische Säuberung, Folter und andere Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt, Zwangsrekrutierung, auch von Kindern, willkürliche Festnahmen und Haft, Geiselnahmen und zwangsweises oder willkürliches Verschwinden einschließen, ohne dass diese Aufzählung abschließend wäre.
42Vgl. Guidelines Nr. 12, Ziffern 10 - 13.
43Ein Antragsteller kann dabei einzeln herausgegriffen und gezielt verfolgt werden. Ebenso können in einem bewaffneten Konflikt ganze Gruppen oder Bevölkerungen dem Risiko einer Verfolgung ausgesetzt sein mit der Folge, dass jedes Mitglied dieser Gruppe dem Verfolgungsrisiko unterliegt. Der Umstand, dass viele oder alle Mitglieder einer Gemeinschaft dem Risiko ausgesetzt sind, untergräbt nicht die Berechtigung jedes einzelnen individuellen Anspruchs. Die Auswirkungen eines bewaffneten Konflikts auf eine ganze Gemeinschaft oder Zivilisten im Allgemeinen verstärken eher die Wohlbegründetheit der Angst vor Verfolgung des einzelnen Individuums, als dass sie sie schwächen. Es ist in jedem Fall nicht erforderlich, dass der Einzelne ein Risiko einer Rechtsgutverletzung darlegt, das über demjenigen der anderen Personen in der vergleichbaren Situation liegt.
44Vgl. Guidelines Nr. 12, Ziffern 17 und 22.
45Bei der Feststellung einer kausalen Verbindung zwischen einer Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen der Konvention können die Absicht oder das Motiv des Verfolgungsakteurs relevante Faktoren sein, sie sind aber nicht notwendig oder gar entscheidend, da sie besonders in bewaffneten Konflikten oft schwer zu identifizieren sind. Die kausale Verknüpfung kann sich auch aus den Strategien, Taktiken, Mitteln und Methoden der Kriegsführung des Verfolgungsakteurs ergeben ebenso wie aus der Unfähigkeit oder dem fehlenden Willen eines Staates zur Schutzgewährung oder aus den Auswirkungen der Konfliktsituation. Die entscheidende Frage lautet daher: Entsprechen die Gründe für die von der Person gefürchtete missliche Lage unter Berücksichtigung der Gesamtsituation in dem Land einem Konventionsgrund? Situationen von bewaffneten Konflikten und Gewalt können beruhen auf oder auch geführt werden entlang der Grenzen zwischen Rassen, Ethnien, Religion, Politik, Geschlecht oder sozialen Gruppen und können Leute aufgrund dieser Faktoren betreffen. Was als unterschiedloses Verhalten erscheinen mag, ist in Wahrheit oft gezielt gegen eine ganze Gemeinschaft oder ein Gebiet gerichtet, dessen Einwohner tatsächliche oder vermeintliche Unterstützer einer der Seiten des Konfliktes sind. Wer als tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner angesehen wird, wird von den beteiligten Akteuren eines bewaffneten Konfliktes dabei oft weit interpretiert. Die feststellbaren Konventionsgründe können vielfältig sein, sie schließen sich nicht gegenseitig aus und überschneiden sich häufig. Es ist nicht erforderlich, dass ein Konventionsgrund der dominante oder alleinige Grund für die Verfolgungsfurcht ist.
46Vgl. Guidelines Nr. 12, Ziffern 32 ff.
47Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Das Gericht muss von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gewonnen haben.
48Im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung - gerade auch in Fällen eines bewaffneten Konflikts – ist eine aktuelle Gesamtwürdigung der zu der jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen vorzunehmen. Dabei kommt regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zu,
49vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.04.2016 – 2 BvR 273/16 – unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 – N.S./Secretary of State for the Home Department, beide Juris,
50darunter vor allem den jeweiligen Herkunftsländerberichten des UNHCR. Gerade Berichte, die eine schon zuvor dargestellte Lage in der Zeit fortschreiben, sind für die zu treffenden Feststellungen und Prognosen besonders relevant. Demgemäß können auch allgemeine Erkenntnisse zur Verfolgungssituation eines Landes in Verbindung mit einer nur begrenzten Anzahl bekannt gewordener Verfolgungsfälle im Einzelfall die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass in Wahrheit die Zahl der tatsächlichen Verfolgungsfälle erheblich über der der dokumentierten Sachverhalte liegt bzw. für den Zeitpunkt der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland liegen wird. Dagegen kann eine Flüchtlingsanerkennung nicht ausschließlich von einer nach Person und Schicksal der Opfer genau spezifizierten Auflistung von konkreten Verfolgungsfällen abhängen. Denn dies würde bedeuten, dass eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für solche Länder zu verneinen wäre, deren Repressionspraxis zwar allgemein bekannt ist, aber nicht in ihren Abläufen im Einzelnen offen zu Tage liegt, weil sie naturgemäß abgeschirmt im Geheimen stattfindet und - oftmals um der Aufrechterhaltung eines gewissen Scheines - das Licht der Öffentlichkeit scheut, weshalb auch konkrete Opfer nach Person und Zahl weitgehend unbekannt bleiben müssen.
51Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.06.2017 – A 11 S 511/17 – Juris.
52Amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes sind in Asylverfahren grundsätzlich ebenfalls selbständige und zulässige Erkenntnis- bzw. Beweismittel. Sie brauchen dabei die ihnen zugrundeliegenden Informationsquellen nicht zu enthalten, sondern sind anders als sonstige Gutachten und gutachtliche Äußerungen amtlicher Stellen auch ohne diesbezügliche Angaben verwertbar.
53Vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.03.1984 – 9 B 922/81 – und Beschluss vom 22.01.1985 – 9 C 52/83 – Juris.
54Gemessen an den vorstehenden Kriterien liegen die Voraussetzungen des § 3 AsylG hinsichtlich des Klägers vor. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Furcht des Klägers vor einer Verfolgung im Falle einer Rückkehr unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Syrien wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung, des Aufenthalts im westlichen Ausland, wegen der Entziehung vom Wehrdienst, wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und wegen der Herkunft aus Kobane begründet ist.
551.
56Das Gericht hält nach erneuter Überprüfung an seiner bisherigen Auffassung fest, dass aus Deutschland rückkehrende syrische Asylbewerber unabhängig von einer Vorverfolgung nach ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Anknüpfung an eine jedenfalls vermutete politische Gesinnung durch das syrische Regime bereits wegen einer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland zu befürchten haben.
57Vgl. VG Köln, Urteile vom 23.06.2016 – 20 K 1599/16.A –, vom 25.08.2016 – 20 K 6664/15.A - und vom 24.01.2017 – 20 K 8414/16.A – alle unter Juris.
58Es entsprach unter Berücksichtigung der verschärften politischen Situation in Syrien seit Jahren der ständigen Entscheidungspraxis der Beklagten, dass Rückkehrer im Falle einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten haben und davon auszugehen ist, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst.
59Vgl. hierzu auch: OVG NRW, Urteil vom 14.02.2012, 14 A 2708/10.A – Juris; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Syrien – Asylrelevante Informationen, Rückübernahmeabkommen, Identitätspapiere, Asyl-Like-Minded-Group und aktuelle Situation, April 2011.
60Die dafür maßgebliche Auskunftslage hat das OVG NRW in der vorgenannten Entscheidung wie folgt dargelegt:
61„Zwar war es - ... – schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - ...-, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
62Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass
63Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und
64geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden ....
65Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten
66stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet
67wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten
68auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt (Amnesty International, Deadly Detention..., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode). Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
69Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien (...)
70Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht (Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f....)
71Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zurzeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage... )
72Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde (...) realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.“
73Im achten Jahr der bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien und nach einer anhaltenden Eskalation der Gewaltspirale, die inzwischen zu hunderttausenden Toten (die Schätzungen schwanken zwischen 109.000 und 500.000), über 5 Millionen Flüchtlingen im Ausland, über 6 Millionen Binnenvertriebenen, wechselnd zwischen 500.000 bzw. 1 Million Menschen im Belagerungszustand, über 80.000 Verschwundenen sowie Millionen Verletzten und hunderttausenden Gefangenen geführt hat,
74vgl. UNHCR, Bericht von November 2017: International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic, Update V (im Folgenden: UNHCR, Bericht von November 2017); Human Rights Watch, Jahresbericht vom 18.01.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Landerinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien; Stand 05.01.2017 (im Folgenden: BFA, LIB Syrien vom 05.01.2017),
75sind zur Überzeugung der Kammer keinerlei belastbaren Anhaltspunkte ersichtlich, die eine andere Beurteilung der vorstehenden Gefährdungslage rechtfertigen könnten. Die Situation hat sich im Gegenteil weiter erheblich verschärft. Insbesondere hat sich an den Rahmenbedingungen des Konflikts und der Brutalität und Willkür, mit der das Regime gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner vorgeht, nichts geändert. Das andauernde uferlose Verfolgungsinteresse des syrischen Regimes besteht unvermindert fort, die syrischen Gefängnisse sind überfüllt. Das ganze Land ist zu einer „Folterkammer geworden, einem Ort grausamen Horrors und absoluter Ungerechtigkeit“. Die übergroße Mehrheit der Inhaftierten sind gewöhnliche Zivilisten, die in dem Verdacht einer regimefeindlichen Haltung stehen. Jeder, der unter dem Verdacht steht, regimekritisch zu sein, unterliegt dem Risiko willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlung, des Verschwindenlassens und des Todes während der Haft. Dabei sind die Gründe für den Verdacht einer regimekritischen Haltung oft extrem fadenscheinig. Unter Folter erzwungene falsche Anschuldigungen Dritter können ebenso der Grund für Festnahmen sein wie Anschuldigungen aus persönlicher Rache. Verwandtschaftliche, nachbarschaftliche oder kollegiale Beziehungen zu Personen, die in den Verdacht einer regimekritischen Haltung geraten, können ursächlich für eine Inhaftierung sein oder nur die bloße Herkunft aus einem Gebiet, das als Oppositionshochburg gilt oder galt.
76Vgl. Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, Zusammenfassung der Spitzengespräche über die Menschenrechtssituation in der Syrischen Arabischen Republik, Bericht vom 15.05.2017 – A/HRC/35/15; UNHCR, Bericht von November 2017; amnesty international, “Human Slaughterhouse – Mass hangings and extermination at Saydnaya Prison, Syria”, Index: MDE 24/5415/2017, und “It breaks the human - Torture, Disease and Death in Syria's Prisons”, Index: MDE 24/4508/2016.
77Auch die Auskunftslage konkret zu den Folgen von illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längeren Aufenthalts im westlichen Ausland hat sich im Wesentlichen nicht geändert. Dies spiegelt sich in den Erkenntnismitteln, die seit der Änderung der Entscheidungspraxis der Beklagten im März 2016 erstellt wurden, wider. Nahezu alle Auskünfte und Berichte, einschließlich der wiederholten Herkunftsländerinformationen des UNHCR,
78vgl. UNHCR, Berichte von November 2015, Februar 2017, vom 30.05.2017 und zuletzt von November 2017 (unter Bezugnahme u.a. auf den Bericht von Februar 2017); BFA, LIB Syrien vom 05.01.2017; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 21.03.2017, Syrien: Rückkehr (im Folgenden: SFH vom 21.03.2017 – Rückkehr); Immigration and Refugee Board of Canada, Bericht vom 19.01.2016, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion, www.refworld.org/docid/56d7fc034.html (im Folgenden: IBC, Bericht vom 19.01.2016),
79bestätigen ausdrücklich, dass Rückkehrer im Falle einer Abschiebung nach Syrien unverändert eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte in Anknüpfung an eine jedenfalls vermutete oppositionelle Haltung zu erwarten haben und davon auszugehen ist, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form von menschenrechtswidriger Behandlung auslöst.
80Das Regime ist ohne Einschränkungen weiterhin in der Lage, umfangreiche Sicherheitskontrollen sowohl am Internationalen Flughafen in Damaskus als auch an den Landgrenzen, soweit diese unter Kontrolle des Regimes stehen, durchzuführen, und dies geschieht auch. Diese Sicherheitskontrollen umfassen Abgleiche mit den Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden und allen Sicherheitsdiensten bis hin zur Überprüfung der Telekommunikation auf Mobilgeräten von Rückkehrern auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen einer regimekritischen Haltung. Überprüft wird auch, ob die Rückkehrer Syrien illegal verlassen haben. Dabei haben die einzelnen Grenzbeamten einen Freibrief, alles mit jedem, der ihnen aus welchem Grund auch immer verdächtig erscheint, zu tun. Sie können die Person sofort festnehmen, was zum Verschwinden der Person und Folter führen kann. Es gibt mehrere Berichte über Personen, die bei der Einreise festgenommen wurden und dann verschwanden. Auf diese Weise wurden routinemäßig auch Personen, die tatsächlich nichts mit der Revolution zu tun haben oder keine bekannte politische (abweichende) Überzeugung hatten, festgenommen und inhaftiert. Bei den Einreisekontrollen werden auch die Familienangehörigen von Rückkehrern einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen, bei negativem Ausgang dieser Sicherheitsüberprüfung kann dies zur Festnahme der Rückkehrer führen. Dabei ist es für die betroffenen Rückkehrer kaum festzustellen und daher auch nicht vorherzusehen, ob sie selbst oder ein Familienmitglied auf einer „wanted list“ stehen. Festnahmen von Rückkehrern bei den Einreisekontrollen erfolgen auch wegen der Herkunft aus bestimmten Gebieten wie z.B. Daraa oder Homs, weshalb sie unter dem Generalverdacht einer regimekritischen Haltung stehen, oder in Anknüpfung an eine bestimmte Volkszugehörigkeit wie z.B. Palästinenser oder Kurden, oder auch schlicht in Anknüpfung an die Religionszugehörigkeit Sunnit. Abgelehnte Asylbewerber haben in jedem Fall mit Festnahme und Verhaftung zu rechnen unter dem Vorwurf der Verbreitung von Falschinformationen im Ausland und werden als regimekritisch bzw. oppositionell eingestuft. Sie werden dabei ebenfalls der Folter unterworfen werden, um Informationen über andere Asylbewerber oder Oppositionelle zu erlangen. Zwar sei nichts zwingend oder genau vorhersehbar, der jahrelange Konflikt habe aber wahrscheinlich den Argwohn der Beamten gesteigert.
81Vgl. SFH vom 21.03.2017 - Rückkehr; IBC, Bericht vom 19.01.2016.
82Das erkennende Gericht hat keinen Anlass an der Aussagekraft dieser Berichte zu zweifeln. Sie stützen sich auf eine umfangreiche Quellenanalyse aktueller Berichte von UNHCR, amnesty international, den Länderinformationen für Syrien des Home Office UK, dem Lagebericht des US State Departement und eigenen Recherchen bzw. der Einholung sachverständiger Expertisen durch das Immigration and Refugee Board. Der Inhalt dieser Berichte steht zudem in völliger Übereinstimmung mit der bis vor kurzem auch von der Beklagten zugrunde gelegten Erkenntnislage, die etwa in den u.a. zitierten Länderinformationen des Home Office UK vom August 2016 prägnant wie folgt formuliert ist:
83„3.1.1 Caselaw has established that it is likely that a failed asylum seeker or forced returnee would, in general, on return to Syria face a real risk of arrest and detention and of serious mistreatment during that detention as a result of imputed political opinion. It noted that the position might be otherwise for someone perceived as a supporter of the Assad regime.
843.1.2 However, since this caselaw was promulgated in 2012, the situation is now such that actual or perceived Assad supporters may have a well-founded fear of persecution, depending on where they are.”
85s. Home Office, Country Information and Guidance, Syria: the Syrian Civil War, Version 3.0; August 2016.
86Soweit bezüglich des vorstehenden Auszugs gelegentlich eingewandt wird, die zugrundeliegende Entscheidung datiere bereits aus dem Jahr 2012,
87vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.02.2017 – 14 A 2316/16.A – Juris,
88so ist das in der Tat zutreffend und ergibt sich aus dem Zitat selbst. Entscheidend ist jedoch, dass sich die darauf basierenden Länderinformationen und die entsprechende Entscheidungspraxis bis August 2016 und - soweit ersichtlich - bis heute nicht geändert haben. In einer neueren Entscheidung legt auch der EGMR ausdrücklich die vorgenannten Länderinformationen des Home Office einschließlich der zuvor zitierten Passage seinen Erwägungen zugrunde,
89vgl. EGMR, Urteil vom 14.02.2017 – Nr. 52722/15 - S.K vs. Russland -,
90und bejaht das Risiko einer Verletzung der Rechte des Antragstellers gemäß Art. 2 und 3 EMRK bereits bei Ankunft in Damaskus.
91Auch der Danish Immigration Service kommt in seinem Bericht vom August 2017 nach umfangreichen Recherchen im Rahmen einer 10-tägigen Reise nach Beirut und Amman zu dem Ergebnis, dass Syrern, die das Land illegal verlassen haben, im Falle einer Rückkehr Verhaftung und ernsthafte Strafen drohen. Dies wurde so von nahezu allen Quellen berichtet, namentlich dem UNHCR, Human Rights Watch, dem Vertreter der Heinrich Böll Stiftung und einem in Damaskus ansässigen Rechtsanwalt, wobei es nach Human Rights Watch Berichte über Festnahmen und anschließendem Verschwindenlassen von Personen nach ihrer Rückkehr an Kontrollpunkten des Regimes gegeben hat. Bereits die illegale Ausreise wird dabei als ein Umstand angesehen, der den Verdacht der Behörden erregt. Nur eine befragte Quelle gab an, keiner würde nur wegen illegalen Verlassens des Landes bestraft werden, sofern er sich vor der Einreise nach Syrien offizielle Dokumente bei einer syrischen Botschaft besorgt. Sollte er allerdings solche offiziellen Dokumente nicht haben, riskiere er eine Verhaftung im Falle einer Rückkehr.
92Vgl. Danish Refugee Council/Danish Immigration Service, Bericht von August 2017: Syria – Recruitment Practices in Government-controlled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria (im Folgenden: DRC/DIS, Bericht von August 2017).
93Die letztgenannte Quelle wird anonymisiert als „internationale Organisation“ bezeichnet und das Ansinnen an Syrer, bei den jeweiligen syrischen Botschaften vorstellig zu werden, ist doch zumindest befremdlich. Da in der Bundesrepublik zu Recht wohl niemand auf die Idee kommen würde, Syrer zu einem Besuch der hiesigen Botschaft zu drängen, ist aber letztlich auch nach dieser Quelle eine Verhaftung wahrscheinlich. Das Bild der durchgeführten Befragungen ist demnach im Ergebnis eindeutig.
94Es gibt zudem auch aus der jüngeren Zeit durchaus belastbare Referenzfälle von zwangsweisen Rückführungen, wenngleich nicht aus Deutschland, sondern vorwiegend aus den Nachbarländern Syriens, die mit der Verhaftung und/oder dem Verschwinden der Rückkehrer endeten. Besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang der Fall eines freiwilligen Rückkehrers aus Australien, der bei seiner Ankunft in Damaskus als Dissident festgenommen wurde, weil er aus einer Oppositionshochburg stammte. Als der Sicherheitsdienst die Rückkehrhilfe-Gelder der australischen Behörden bei ihm fand, wurde er beschuldigt, Geldgeber der Revolution zu sein. Er wurde 20 Tage inhaftiert und gefoltert.
95Vgl. SFH, Auskunft vom 21.03.2017; IBC, Bericht vom 19.01.2016.
96Der vorstehende Fall belegt beispielhaft das überragende Interesse des syrischen Regimes an einer Herausfilterung potentieller Regimegegner und zugleich die unkalkulierbaren Risiken für den Einzelnen, als solcher in Verdacht zu geraten.
97Die verschiedenen Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes aus der Zeit nach der Änderung der Entscheidungspraxis der Beklagten zur Behandlung von Rückkehrern rechtfertigen keine andere Bewertung. Überwiegend teilt das Auswärtige Amt darin mit, über keine Erkenntnisse zu verfügen. Soweit dennoch Angaben gemacht werden, wird darauf hingewiesen, dass diese auf nur eingeschränkt verfügbaren Erkenntnissen beruhen, die im Einzelnen nicht konkretisiert werden, und für die die Botschaft selbst keinerlei Gewähr hinsichtlich der „Vollständigkeit, Korrektheit bzw. die über einen längeren Zeitraum gegebene Verlässlichkeit“ übernimmt. Trotz fehlender oder nur eingeschränkt verfügbarer Erkenntnisse sind der Botschaft aber dennoch Fälle bekannt, „bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden sind“, was lediglich „überwiegend“ in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Erkenntnisse darüber, dass Rückkehrer allein aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind, liegen dem Auswärtigen Amt scheinbar nicht vor. Verfolgungsmaßnahmen können Rückkehrer aber offenbar schon ausgesetzt sein, wenn das Regime davon ausgeht, dass sich die Person oppositionell betätigt hat, wozu auch rein humanitäres Engagement in (vormaligen) Oppositionsgebieten zählen kann. Berichte über Befragungen des syrischen Regimes nach einer Rückkehr aus dem Ausland gibt es, Angaben zum Inhalt der Befragungen können nicht gemacht werden. Erkenntnisse in dem Sinne, dass unabhängig von bestimmten Verdachtsmomenten jeder Rückkehrer deshalb gefährdet ist, weil er als mögliche Informationsquelle zur Exilszene in Frage kommt, liegen wiederum nicht vor.
98Vgl. Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an das Bundesamt laut Stellungnahme des Bundesamtes 16.09.2016 an das Verwaltungsgericht des Saarlands (VG Saarland 3 K 368/16); Auskünfte vom 07.11.2016 an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht, vom 02.01.2017 an das VG Wiesbaden sowie vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf.
99Diese Auskünfte des Auswärtigen Amtes widersprechen der weiter oben dargelegten Erkenntnislage weder ausdrücklich noch sinngemäß. Sie setzen sich vielmehr damit überhaupt nicht auseinander und es bleibt insbesondere völlig unklar, welche Erkenntnisse bzw. welche Art von Erkenntnissen genau fehlen und worauf das Fehlen dieser Erkenntnisse beruht. Auch auf ausdrückliche Nachfrage des VGH Baden-Württemberg vom 06.12.2016 zu den Gründen und dem Aussagegehalt der mitgeteilten fehlenden Kenntnisse bzw. Erkenntnisse hat sich das Auswärtige Amt nicht in der Lage gesehen, dies näher zu präzisieren.
100Vgl. AA, Auskunft vom 23.02.2017 an den VGH Baden-Württemberg.
101Insgesamt ist die Aussagekraft der vorstehenden Auskünfte des Auswärtigen Amtes zur Überzeugung des Gerichts daher – wenn überhaupt – extrem eingeschränkt. Sie sind insbesondere nicht geeignet, eine Abkehr von der früheren einhelligen Bewertung der Gefährdung für Rückkehrer nachvollziehbar zu rechtfertigen, zumal auch das Auswärtige Amt ausdrücklich darauf hinweist, dass die syrischen Sicherheitsdienste de facto im rechtsfreien Raum agieren und im Allgemeinen Folter in größerem Maßstab anwenden.
102Das Europäische Zentrum für kurdische Studien geht ebenfalls davon aus, dass ein Rückkehrer aktuell Gefahr läuft, ohne Gerichtsverfahren – oder nach einem Gerichtsverfahren, das sämtliche rechtsstaatlichen Standards verletzt – auf unbestimmte Zeit inhaftiert und gefoltert zu werden, sofern er aus welchen Gründen auch immer in den Verdacht gerät, ein Regimegegner zu sein. Ebenso führt es aus, dass die Regierung die Flucht aus Syrien in den meisten Fällen als „illegale Ausreise“ bewertet,
103vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien (EZKS), Gutachten vom 02.01.2017 an den Hessischen VGH und Gutachten 29.03.2017 an das VG Gelsenkirchen.
104Soweit das EZKS dennoch meint, dass das syrische Regime nicht jede Flucht aus Syrien, selbst wenn sie mit der Stellung eines Asylantrages verbunden ist, automatisch als Akt der Gegnerschaft zum Regime verstehe, und auch eine Befragung zur deutschen Exilszene für unwahrscheinlich hält, steht diese Festlegung nach Auffassung des Gerichts mit den anderweitigen oben wiedergegebenen Ausführungen des EZKS nicht in Einklang.
105Zutreffend ist, dass konkrete Zahlen hinsichtlich Befragungen und Festnahmen von Rückkehrern an offiziellen Grenzübertrittstellen und genaue Berichte über den Inhalt der Befragungen derzeit kaum vorliegen. Dies hat seinen maßgeblichen Grund darin, dass seit 2011 so gut wie keine Rückführungen mehr aus den europäischen und anderen westlichen Ländern erfolgt sind. Es wäre aber ein unzulässiger Zirkelschluss, wenn man zunächst aufgrund einer allseits angenommenen Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr (s.o. beispielhaft OVG NRW vom 14.02.2012) syrische Staatsangehörige diesem Risiko generell nicht mehr aussetzt, um dann aus dem zwangsläufigen - und erwünschten - Rückgang von gut dokumentierten Referenzfällen den Schluss auf einen Wegfall derselben Verfolgungsgefahr zu ziehen.
106Vgl. hierzu schon: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 – Juris.
107In einer solchen Situation bedarf es zur Überzeugung des Gerichts zur Darlegung einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht der erneuten Dokumentation spezifischer Referenzfälle, sondern es müsste umgekehrt eine klare Änderung der Auskunftslage dahingehend geben, dass nunmehr aufgrund konkret feststellbarer Veränderungen eine Verfolgungsgefahr nicht mehr besteht. Das ist aber gerade nicht der Fall. Nicht einmal das Auswärtige Amt behauptet, dass Rückkehrer gegenwärtig nicht mehr mit Befragungen, zeitweiligen Inhaftierungen und in deren Zusammenhang mit Anwendung von Folter und weiteren Menschenrechtsverletzungen zu rechnen haben. Es weist im Gegenteil ausdrücklich darauf hin, dass es (weiterhin) Berichte über Befragungen des syrischen Regimes nach einer Rückkehr aus dem Ausland gibt und bekannt sei, dass die syrischen Sicherheitsdienste de facto im rechtsfreien Raum agieren und im Allgemeinen Folter in größerem Maßstab anwenden.
108Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf.
109Soweit die hier geforderte manifeste Veränderung der Verhältnisse teilweise darin gesehen wird, dass den vorhandenen Auskünften eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen zu entnehmen sei und ein stärkeres und rücksichtsloseres Vorgehen gegenüber wirklichen und vermeintlichen Regimegegnern festzustellen sei, je mehr das Regime in Bedrängnis gerate und destabilisiert werde,
110vgl. Baden-Württemberg, Urteil vom 09.08.2017 – A 11 S 710/17 –,
111ist dies allerdings paradox. Es kann nur gemutmaßt werden, dass wohl infolge dieser endemischen Zunahme von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen nunmehr die erforderliche Gerichtetheit verneint werden soll. Dies wäre aber verfehlt. Denn es ist irrelevant, ob der Betroffene in irgendeiner Weise noch schlimmer betroffen ist, als man das gemeinhin in einem bewaffneten Konflikt mit überbordender Gewaltanwendung auf allen Seiten „erwartet“, und es ist nicht erforderlich, dass der Einzelne ein Risiko einer Rechtsgutverletzung darlegt, das über demjenigen der anderen Personen in der vergleichbaren Situation liegt.
112Vgl. Guidelines Nr. 12, Ziffern 10 – 13, 17 und 22.
113Auch das virulente Interesse des syrischen Regimes und der syrischen Geheimdienste an der deutschen Exilszene ist unverändert und wird durch die umfassenden bundesweiten Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Flüchtlingsumfeld belegt. Im Vergleich zu 2015 ist 2016 die Zahl der Hinweise auf Aufklärungsbemühungen syrischer Dienste im Flüchtlingsumfeld sogar deutlich gestiegen. Sollte es dem syrischen Regime gelingen, seine Machtposition weiter zu festigen, ist in Deutschland als Hauptaufnahmeland syrischer Flüchtlinge mit einem weiteren Anstieg nachrichtendienstlicher Aufklärungsaktivitäten syrischer Dienste zu rechnen.
114Vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2016 (S. 278 f) und 2015 (S. 263 f); Max Wolf im Berlin Journal vom 17.01.2016, Shabihas: Assads Folterer kommen als Flüchtlinge getarnt nach Deutschland (https://www.berlinjournal.biz/shabihas-assads-folterer-kommen-als-fluechtlinge-getarnt-nach-deutschland/); Andrea Backhaus in Zeit Online vom 09.12.2015, Gefürchtete Gespenster (http://www.zeit.de/politik/2015-12/assad-schergen-deutschland).
115Die Annahme, dass der syrische Staat einerseits erhebliche Ressourcen in geheimdienstliche Aufklärungsarbeit im Ausland investiert, andererseits aber die naheliegende Gelegenheit der Befragung von Rückkehrern über die Exil- bzw. Flüchtlingsszene in Deutschland ungenutzt verstreichen lässt, ist fernliegend. Die geheimdienstliche Überwachung der syrischen Exilopposition war auch für das OVG NRW in der oben zitierten Entscheidung aus dem Jahr 2012 ein wichtiges Kriterium für die seinerzeitige Einschätzung, dass allen Rückkehrern eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene droht. Wenn nunmehr dargelegt wird, dass das Interesse des syrischen Staates an der Aufklärung für jedermann erkennbarer Exilaktivitäten nicht mehr unterstellt werden könne, weil die Frage, ob der Bürgerkrieg (auch) von außen gesteuert wird, inzwischen geklärt sei,
116vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.02.2017 – 14 A 2316/16.A – Juris,
117so greift dies zu kurz. Denn es kann - ohne sich in den Bereich der Spekulationen zu begeben – unterstellt werden, dass das Aufklärungs- und Informationsinteresse des syrischen Regimes sich nicht isoliert auf diese eine Fragestellung bezogen hat oder aktuell bezieht. Wenn weiter ausgeführt wird, dass sich „das Interesse nunmehr auf die Aufklärung interner Willensbildungsvorgänge und Aktivitäten konzentrieren dürfte, die nicht Gegenstand von Kenntnissen jedwedes Asylbewerbers sind und daher die Gegnerausforschung im Ausland auch nach wie vor das Hauptbetätigungsfeld syrischer Nachrichtendienstoperationen im Bundesgebiet“ sei, so erschließt sich nicht, warum das Ziel der dokumentierten und unstreitigen Präsenz der verschiedenen syrischen Geheimdienste an den offiziellen Ausreise- und Einreisestellen,
118vgl. u.a. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12.10.2016 an das Verwaltungsgericht Trier,
119insbesondere etwa am Flughafen Damaskus, nicht die Gegnerausforschung sein sollte.
120Soweit in vielen Berichten darauf hingewiesen wird, dass im August 2015 mehrere tausend Personen über die syrisch-jordanische Grenze zurückgekehrt seien und Hunderttausende Flüchtlinge jedes Jahr von der Türkei, dem Irak, Jordanien oder dem Libanon aus vorübergehend nach Syrien einreisen,
121vgl. UNHCR, Bericht von November 2017; AA, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH vom 21.03.2017: Syrien – Rückkehr; Deutsche Orient-Stiftung (im Folgenden: DOS), Auskunft vom 01.02.2017 an den VGH Baden-Württemberg; IRB, Bericht vom 19.01.2016,
122ändert dies schon deshalb grundsätzlich nichts an der hier vorgenommenen Verfolgungsprognose, da auch schon früher die Verfolgungsgefahr immer nur für den Fall der Ausreise, Asylantragstellung und des Verbleibs im westlichen Ausland geprüft und bejaht wurde. Das schließt nach Auffassung des Gerichts eine generelle Verfolgungsgefahr für Rückkehrer auch aus den Anrainerstaaten zwar keineswegs aus, worauf die zahlreichen in diesem Zusammenhang genannten Festnahmen mit anschließendem Verschwinden hinweisen,
123vgl. SFH, Bericht vom 21.03.2017: Syrien – Rückkehr,
124dies war aber niemals der Focus der bis 2016 geltenden einheitlichen deutschen Rechtsprechung und der damit übereinstimmenden Entscheidungspraxis der Beklagten. Zudem gibt es in den vorstehenden Berichten keinerlei konkrete Angaben dazu, ob und in welchem Umfang diese Wiedereinreisen über offizielle Grenzkontrollstellen erfolgten und ob das syrische Regime im Zeitpunkt der Grenzübertritte in den jeweiligen Bereichen überhaupt die territoriale Kontrolle hatte. Ebenso wenig liegen exakte Erkenntnisse dazu vor, ob und in welchem Umfang diese Wiedereinreisen freiwillig oder unfreiwillig erfolgten.
125Vgl. etwa: HRW, Bericht vom Oktober 2017, „I have no idea why they send us back” – Jordanian Deportations and Expulsions of Syrian Refugees; UNHCR, Bericht von November 2017.
126Sofern Einreisen freiwillig erfolgten, sind die Gründe offenbar vielfältig und reichen von der Suche nach Angehörigen bis hin zu schlechter werdenden Existenzbedingungen in den angrenzenden Ländern.
127Vgl. UNHCR, Bericht von November 2017; SHF, Bericht vom 21.03.2017: Syrien – Rückkehr.
128Belastbare Rückschlüsse auf die hier zu entscheidenden Fragen können daraus jedenfalls nicht gezogen werden.
129Der vorzitierte Bericht über Deportationen von Jordanien aus vermittelt im Übrigen einen Eindruck davon, wie umfangreich auch die Geheimdienste der Nachbarstaaten Syriens syrische Flüchtlinge ausforschen, u.a. durch Telekommunikationsüberwachung, und daran anknüpfend Massendeportationen vornehmen, zum Teil nur aufgrund von Telefonaten mit Familienangehörigen in Regionen unter IS-Kontrolle.
130Weitere Hinweise in von der hier vertretenen Auffassung abweichenden Gerichtsurteilen etwa auf die zu konstatierende Massenflucht und derzeit ca. 5 Millionen syrische Geflüchtete im Ausland, auf eine neue Passpraxis Syriens, die im Jahr 2015 zur Ausstellung von mehr als 800.000 Pässen geführt habe, oder gar auf medienwirksame Äußerungen von Assad in ausländischen Fernsehsendern überzeugen das Gericht unverändert nicht,
131vgl. hierzu Urteile der Kammer vom 24.01.2017 – 20 K 8414/16.A – und vom 24.04.2017 – 20 K 7836/16.A -.
132Hinsichtlich der geänderten Passpraxis der syrischen Regierung steht inzwischen fest, dass diese vor allem der Beschaffung von Fremddevisen diente und der Eindämmung der Praxis oppositioneller Gruppen, eigene syrische Reisedokumente auszustellen, daneben vielleicht auch noch als positives Signal bei den internationalen Verhandlungen über die politische Zukunft des Landes. Die mit der Änderung der Passpraxis eingeführten Erleichterungen für die Beantragung von Pässen oder Verlängerungen im Ausland sind aber ohnehin seit April 2017 wieder abgeschafft worden.
133Vgl. Hessischer VGH, Urteil vom 06.06.2017 – 3 A 747/17.A –; IBC, Bericht vom 11.09.2017 – Syria: Requirements and procedures to obtain, renew, and replace passports and national identity cards, including in Canada and in neighbouring countries; information and details contained in each document, including physical characteristics; DOS, Auskunft vom 01.02.2017 an den Hessischen VGH.
134Es verbietet sich nach Auffassung des Gerichts auch grundsätzlich, medienwirksame Äußerungen von Verfolgungsakteuren als Beleg für einen Wegfall der Verfolgungsgefahr heranzuziehen, jedenfalls wenn diese – wie im Falle des syrischen Regimes - nicht mit konkret feststellbaren Veränderungen der Rechtslage oder der Verfolgungspraxis verbunden sind. Es ist dennoch erneut auf die vollständige Aussage in dem fraglichen Interview des syrischen Staatschefs mit einem tschechischen Fernsehsender hinzuweisen. Denn neben der Äußerung, dass es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer und Patrioten“ handele, hat Assad eben auch darauf hingewiesen, dass es „natürlich eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe.
135vgl. Stellungnahme des Bundesamtes vom 16.09.2016 an das Verwaltungsgericht des Saarlands (VG Saarland 3 K 368/16).
136Es liegt auf der Hand, dass das syrische Regime eine unkontrollierte Rückwanderung von Terroristen nicht dulden wird und die Befragungspraxis bei Rückkehrern in der Vorstellung des Regimes gerade auch der Herausfilterung dieser Personen gilt. Im Übrigen ist es aus Sicht des Gerichts weder zielführend noch erforderlich, anderweitige öffentliche Aussagen hochrangiger Mitglieder des Regimes bzw. entsprechende Zeitungsberichte zur Grundlage der zu treffenden Verfolgungsprognose zu machen. Feststellen lässt sich aber allgemein, dass der Ton Assads und seiner Militärs seit 2017 immer unversöhnlicher und racheorientierter wird,
137vgl. Carsten Wieland, Syrien – Die aktuelle Situation, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Innerstaatliche Konflikte, 20. 10. 2017, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54705/syrien.
138Was schließlich das weit verbreitete Argument der Massenflucht anbelangt und die daran anknüpfenden Erwägungen über eine bestehende oder nicht bestehende „Realitätsblindheit“ des syrischen Regimes, so beteiligt sich das Gericht an derartigen Bewertungen nicht. Zu konstatieren ist lediglich, dass sich die gegenwärtige Realität in der Bundesrepublik einerseits und in Syrien andererseits offenkundig fundamental voneinander unterscheidet. Maßstab für die in Asylverfahren zugrunde zu legende Realität in Syrien kann jedenfalls nur die Situation sein, wie sie sich aus den hierzu zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln, allen voran den Herkunftsländerinformationen des UNHCR, ergibt. Diese Erkenntnismittel sind zwar auch einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Es können aber nicht eigene Plausibilitätsüberlegungen gänzlich an die Stelle übereinstimmender Erkenntnisse aus den vorhandenen Herkunftsländerberichten und weiteren fachkundigen Auskunftsquellen gesetzt werden. Bei der zu treffenden Prognoseentscheidung hinsichtlich der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Rückkehrverfolgung bei Einreise ist zudem nach § 77 Abs. 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. in dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung fällt, abzustellen. Es ist daher zu fragen, ob in diesem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt in dem zu entscheidenden Einzelfall im Falle einer hypothetischen Rückkehr über einen offiziellen Grenzkontrollpunkt mit flüchtlingsrelevanten Maßnahmen zu rechnen ist. Auf Überlegungen, ob in ferner, nicht absehbarer Zukunft mit einer massenweisen gleichzeitigen Rückkehr der in Deutschland und im weiteren westlichen Ausland befindlichen Syrer zu rechnen ist, kommt es daher ebenso wenig an wie auf den Umstand, dass Syrern gegenwärtig mindestens subsidiärer Schutz gewährt wird und eine Abschiebung daher – wohl noch auf lange Sicht - nicht in Betracht kommt. Ein solches Vorgehen stünde mit § 77 Abs. 1 AsylG nicht in Einklang und würde den grundsätzlichen Vorrang des Flüchtlingsschutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention untergraben.
139Die nach der obigen Auswertung aller verfügbaren Auskunftsquellen jedem Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Behandlung durch das syrische Regime knüpft jedenfalls auch an eine vermeintliche politische Überzeugung bzw. den Verdacht einer regimefeindlichen Überzeugung und damit an mindestens eines der Merkmale der Genfer Flüchtlingskonvention an.
140Vgl. UNHCR, Berichte von November 2015, Februar 2017 und erneut von November 2017; BFA, LIB Syrien vom 05.01.2017; SFH vom 21.03.2017 - Rückkehr; IBC, Bericht vom 19.01.2016; DRC/DIS, Bericht von August 2017.
141In diese Bewertung sind – wie oben ausgeführt - die Aktivitäten der syrischen Geheimdienste auf deutschem Boden im Umfeld syrischer Flüchtlinge einzustellen und die Präsenz aller syrischen Geheimdienste an den offiziellen Einreisestellen, die hier wie dort der Gegnerausforschung dient. Es lässt sich auch nicht ansatzweise erahnen, welchem anderen Erkenntnisinteresse - außer demjenigen an den tatsächlichen oder vermuteten politischen Überzeugungen des Betroffenen selbst und seines weiteren Familien- und Bekanntenkreises sowie an politischen Strukturen und Netzwerken im Flüchtlingsumfeld und der Exilszene im weitesten Sinne – die syrischen Geheimdienste bei den Befragungen (einschließlich der Überprüfung der Telekommunikation auf Mobilgeräten), Inhaftierungen und Anwendung von Folter bei Einreise sonst noch folgen könnten. Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fernliegt. Fernliegend ist zur Überzeugung des Gerichts auch die Annahme, durch die umfangreichen Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Ausland bestünde im Falle einer späteren Einreise des Einzelnen keine Abschöpfungsinteresse mehr. Dies gilt schon mit Blick auf die auf syrischem Boden angewandten „besonderen Befragungsmethoden“.
142Vgl. so noch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 – und Urteil vom 02.05.2017 – A 11 S 562/17 – beide unter Juris.
143In die Bewertung ist zusätzlich einzustellen, dass die Beklagte im Rahmen der Anhörungen gemäß § 25 AsylG Hinweise auf Völkerstraftaten sammelt. Allen Asylbewerbern aus Syrien werden folgende Fragen gestellt: „Waren Sie selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von begangenem Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder andere Misshandlungen) von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung; Hinrichtungen bzw. Massengräbern oder Einsätzen von Chemiewaffen? Wann, wo und wie wurden diese Taten begangen und gibt es Personen, die das bestätigen können? Können Sie Täter benennen, wo sind diese aufhältig und woher kennen Sie die Namen?“ Derartige Fragen sind keineswegs Standard für alle Asylsuchenden, vielmehr werden grundsätzlich nur syrische und irakische Staatsangehörige entsprechend befragt. Auf der Grundlage dieser Befragungen wurden im Jahr 2014 bereits 231 Hinweise an die Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) weitergeleitet, im Jahr 2015 waren es 1.560 Hinweise, gefolgt von 799 Hinweisen im Jahr 2016 und für die Zeit von Januar bis April 2017 schon 153 Hinweise. Ziel dieser Weiterleitung ist es in Absprache mit dem Bundeskriminalamt, eine größtmögliche Breite der Erkenntnisgewinnung zu erlangen. Im Rahmen des Strukturverfahrens Syrien werden auch Beweise für mögliche Straftaten des syrischen Staatspräsidenten oder ihm nahestehender Personen erhoben mit Blick auf ein eventuelles zukünftiges Verfahren vor dem Internationalen Strafgericht oder eine Strafverfolgung in Deutschland.
144Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/12533 – 30.05.2017.
145Bislang werden im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt im Vergleich zu der Gesamtzahl der Flüchtlinge einerseits und dem Ausmaß der begangenen Völkerstrafverbrechen andererseits nur relativ wenige Hinweise durch Flüchtlinge gegeben. Dies beruht zum Teil auf unzureichender Information der Flüchtlinge, zum Teil auf Angst vor Repressalien gegenüber Familienangehörigen in Syrien und zum Teil auf Misstrauen gegenüber Polizei- und Verwaltungsbeamten. Mit Blick auf die hohe Anzahl syrischer Flüchtlinge gerade in Schweden und Deutschland sind beide Länder deshalb nachdrücklich aufgefordert worden, deutlich mehr Anstrengungen zur Aufklärung und Anklage von in Syrien begangenen Völkerstrafverbrechen zu unternehmen.
146Vgl. Human Rights Watch, Bericht von Oktober 2017 – „These are the Crimes we are fleeing” – Justice for Syria in Swedish and German Courts.
147Syrische Asylbewerber in Deutschland werden demnach während des Asylverfahrens regelmäßig direkt aufgefordert, ihr Wissen über Völkerstrafverbrechen – auch und gerade des syrischen Regimes - und die Täter zu offenbaren. Es kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, dass dieser öffentlich bekannte Umstand auch den syrischen Geheimdiensten geläufig und daher geeignet ist, das Misstrauen gegen Asylbewerber vor allem in Deutschland und Schweden zu steigern.
148Der vorgenannte Aspekt ist im Zusammenhang mit Art. 285 ff des syrischen Strafgesetzbuches zu sehen. Diese stellen zwar nicht ausdrücklich die Stellung eines Asylantrags im – westlichen – Ausland als solche unter Strafe, aber sie greifen in anderer Weise auf asylrechtlich bedeutsame Merkmale oder Eigenschaften des Asylsuchenden zu. Die Verbreitung von staatsgefährdenden Falschinformationen wird mit einer Mindeststrafe von 6 Monaten geahndet (Art. 287) und zu Kriegszeiten das Aufstellen von Behauptungen, die das Nationalgefühl schwächen oder rassistische oder sektiererische Gefühle fördern, oder das wissentliche Verbreiten falscher oder übertriebener Nachrichten, die zur Schwächung des Nationalgefühls führen (Art. 285 und 286), mit einer Mindestfreiheitsstrafe nicht unter 3 Monaten.
149Vgl. World Organisation Against Torture, Summary report on the compliance of the trial of Muhannad Al-Hasani before the Second Criminal Court in Damascus with international standards of fair trial, June 2010, abrufbar unter: http://www.refworld.org/docid/4ca050912.html; AA, Ad-hoc Ergänzungsbericht zum Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 07.04.2010; EZKS, Gutachten vom 25.10.2009 an Rechtsanwalt Walliczek/Minden; s. auch SFH vom 21.03.2017 - Rückkehr; IBC, Bericht vom 19.01.2016.
150In die Erwägungen ist ebenfalls einzubeziehen, dass auch die illegale Ausreise ohne gültigen Pass, über eine nicht autorisierte Ausreisestelle oder entgegen weitreichender spezieller Genehmigungsanforderungen (u.a. für alle Männer im wehrfähigen Alter) verboten ist und auf der Grundlage von Gesetz Nr. 18 aus dem Jahr 2014 je nach den Umständen des Einzelfalls mit Freiheits- und/oder Geldstrafe geahndet werden kann.
151Vgl. UNHCR, Bericht von Februar 2017.
152Jegliche Gefahr der Inhaftierung und menschenrechtswidrigen Behandlung von Rückkehrern kann daher weder in tatsächlicher Hinsicht noch rechtlicher Hinsicht,
153vgl. hierzu u.a.: VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 19.06.2013 – A 11 S 927/13 und vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 – beide unter Juris,
154losgelöst von diesem dem Regime zur Verfügung stehenden vollständigen Instrumentarium der klassischen Republikfluchttatbestände betrachtet und gewertet werden.
155Ob derartige Republikfluchttatbestände kriminellen oder politischen Charakter haben, richtet sich nach gefestigter Rechtsprechung maßgeblich nach dem Zweck und Maß der Strafe. Bei der Ermittlung des Strafzwecks ist die Eigenart des Staates in Betracht zu ziehen, von dem die Bestrafung ausgeht. Insbesondere in totalitären Staaten, bei denen die Herrschaft alle Lebensbereiche durchdringt und sich der Einzelne, der eine von der herrschenden Schicht abweichende Gesinnung hat, sich seiner persönlichen Freiheit oder körperlichen Unversehrtheit eigentlich niemals sicher sein kann, ist regelmäßig von einem politischen Charakter der Verfolgung auszugehen. Auch eine besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen indiziert regelmäßig den politischen Charakter der Verfolgung.
156Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.10.1971 – I C 30/68 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 31.08.1992 – A 16 S 1055/92 –; Bayerischer VGH, Urteil vom 07.12.2000 – 23 B 99.33127 – alle unter Juris.
157Im Falle Syriens liegt nach den vorgenannten Kriterien zur Überzeugung des Gerichts offen zu Tage, dass sowohl aufgrund der Intensität der dem Einzelnen drohenden Verfolgungshandlungen im Falle einer Rückkehr, die mit der Anwendung von Folter schon im Falle einer Befragung beginnen, als auch aufgrund des totalitären Charakters des Regimes, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, von einem politischen Charakter einer Bestrafung auszugehen ist. Nur diese Bewertung fügt sich auch in das alles beherrschende Handlungsmuster des Regimes ein, das vollständig von einem Freund-Feind-Schema bestimmt wird.
158Vgl. u.a. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.05.2017 – A 11 S 562/17 – Juris; s. auch Gerlach, Was in Syrien geschieht – Essay vom 19.02.2016.
159Soweit der UNHCR darauf hinweist, dass nicht klar sei, ob das Gesetz Nr. 18 von 2014 tatsächlich angewandt wird, und ob Personen, die aus dem Ausland zurückkehren, gemäß diesem Gesetz einer Strafverfolgung ausgesetzt waren, gilt das oben Gesagte. Es kann nicht deshalb von einer fehlenden Verfolgungsgefahr bzw. zu geringen Verfolgungsdichte ausgegangen werden, weil syrische Staatsangehörige diesem Risiko bewusst nicht mehr aussetzt werden. Wenn belegte Referenzfälle fehlen, kommt vielmehr der allgemeinen politischen Lage und dem totalitären Charakter eines Regimes entscheidendes Gewicht zu.
160Das Gericht hat nach alldem keinen Zweifel, dass die Furcht des Klägers vor flüchtlingsrelevanten Übergriffen durch das syrische Regime bereits wegen einer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland im Falle einer Rückkehr nach Syrien begründet ist.
161Der überwiegend gegenläufigen obergerichtlichen Rechtsprechung zu dieser Frage,
162vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.02.2017 – 14 A 2316/16. A –; Sächsisches OVG, Urteil vom 07.02.2018 – 5 A 1245/17.A –; OVG Bremen, Urteil vom 24.01.2018 – 2 LB 194/17 –; OVG Hamburg, Urteil vom 11.01.2018 – 1 Bf 81/17.A –; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.11.2017 – OVG 3 B 12.17–; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.08.2017 – A 11 S 710/17 –; OVG Lüneburg, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17 –; OVG Saarlouis, Urteil vom 02.02.2017 – 2 A 515/16 –; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –; Bayerischer VGH, Urteil vom 12.12.2016 – 21 B 16.30371 –; Schleswig Holsteinisches OVG, Urteil vom 23.11.2016 – 12 A 222/16 – alle unter Juris,
163vermag sich das Gericht aus den vorstehenden Gründen unverändert nicht anzuschließen, zumal diese zwar im Ergebnis einheitlich ist, sich in den maßgeblichen Begründungssträngen aber zum Teil erheblich unterscheidet. Die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verfolgungshandlung bei Rückkehr – Befragung mit der konkreten Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung – wird nur durch das OVG Münster und das OVG Hamburg ausdrücklich verneint, im Übrigen teils bejaht, regelmäßig aber offen gelassen. Die oben zitierte Entscheidung des EGMR vom 14.02.2017 wird dabei außer Acht gelassen. Überwiegend wird – auch hier wieder mit sehr unterschiedlichen Argumenten - darauf abgestellt, dass jedenfalls eine Verknüpfung einer etwa zu erwartenden Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund fehle. Dieses Vorgehen ist schon aus Rechtsgründen problematisch, weil die Schwere einer drohenden Verfolgungshandlung auch Aussagekraft hinsichtlich einer bestehenden objektiven Gerichtetheit haben kann.
164Soweit schließlich in der von der hier vertretenen Auffassung abweichenden obergerichtlichen Rechtsprechung Befürchtungen eines gewissermaßen „automatischen Asyls“ durchscheinen, ist darauf hinzuweisen, dass „die Anerkennung als politische Verfolgung und damit als Asylgrund auch nicht durch die zu erwartenden Auswirkungen auf die Zahl der Asylberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst werden (kann)“.
165Vgl. so schon: BVerwG, Urteil vom 26.10.1971 – I C 30/68 – Juris.
166Nichts anderes gilt im Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und der darauf inhaltlich beruhenden Definition der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 3 AsylG. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist gerade vor dem historischen Hintergrund der bis dahin weltweit größten Flüchtlingskatastrophe entstanden.
1672.
168Der Kläger hat des Weiteren einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil er im wehrfähigen Alter ist und sich durch seine illegale Ausreise und dem Verbleib im Ausland der Einziehung zum Wehr- bzw. Reservedienst entzogen hat.
169In Syrien besteht Militärdienstpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer zwischen 18 und 42 Jahren und unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund wie auch für Palästinenser mit gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien gilt. Männer in diesem Alter dürfen das Land nur mit einer offiziellen Genehmigung des Militärs verlassen. Seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot. Gegenwärtig wird das Wehrdienstalter in der Praxis bis auf 50 oder sogar 52 Jahre ausgedehnt. Ausnahmeregelungen gibt es zwar formal in eng begrenzten Ausnahmefällen, etwa für Einzelkinder oder Studierende. In der Praxis finden Ausnahmeregelungen aufgrund des gestiegenen Personalbedarfs der syrischen Armee allerdings kaum noch Anwendung und wenn doch, in nicht vorhersehbarer willkürlicher Weise. Auch Freistellungen aus medizinischen Gründen werden zum Teil aufgehoben. Es gibt Berichte, dass Personen trotz Befreiung oder eines Aufschubs rekrutiert worden sind. Es wird erwartet, dass alle syrischen Männer im Alter von 18 Jahren sich selbständig beim Rekrutierungsbüro melden oder sie werden von der lokalen Polizei vorgeladen. Einberufungsrunden (für Rekruten und Reservisten) werden auch öffentlich über Fernsehen, Radio oder die Presse bekanntgemacht. Entlassungen aus dem Militärdienst aufgrund Zeitablaufs finden seit 2011 nur noch selten statt. Viele Wehrpflichtige sind über Jahre in der Armee tätig und könnten sich dem Militärdienst nur durch Desertion entziehen.
170Vgl. AA, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, Bericht vom 18.01.2018, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienst, Desertion, Bericht vom 23.03.2017, Syrien: Mobilisierung in die Syrische Armee, Bericht vom 28.03.2015, und Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, Bericht vom 30.07.2014; BFA, LIB Syrien, Stand 05.01.2017 und Fact Finding Mission Report Syrien, Stand August 2017; DRC/DIS, Bericht von August 2017.
171Nach der vorgenannten einhelligen Auskunftslage besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten. Anstelle des Wehrdienstes kann aber ein Einsatz bei paramilitärischen Verteidigungsmilizen geleistet werden. Bereits gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Militärdienstes als Reservisten jederzeit abrufbar sein. Ein Höchstalter für die Aktivierung von Reservisten gibt es nicht. Je nach Ausbildung und bisheriger Tätigkeit für die Armee können sogar Männer mit 60 Jahren erneut zum Dienst verpflichtet werden. Seit 2014 werden Reservisten in großem Stil und mit zunehmend aggressiven Methoden wie örtlichen Generalmobilmachungen, Etablierung neuer Checkpoints oder Razzien eingezogen. Besonderer Qualifikationen bedarf es für die Einziehung zur Reserve nicht mehr. Auf der anderen Seite werden auch Jugendliche inzwischen rekrutiert.
172Die Verweigerung des Militärdienstes stellt in Syrien einen Straftatbestand nach dem syrischen Militärstrafgesetz dar. Die Strafandrohungen sind unterschiedlich und schwanken zwischen ein bis sechs Monaten Freiheitsstrafe in Friedenszeiten (Wehrdienstverweigerung) und bis zu 5 Jahren in Kriegszeiten. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen und sich so der Wehrpflicht entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Bei Personen, die sich der Wehrpflicht durch Aufenthalt im Ausland entzogen haben, kann eine Bestrafung dadurch erfolgen, dass die Dienstzeit bei Wiedereinreise nach Syrien verdoppelt wird. Auch die „illegale“ Ausreise von nicht gemusterten bzw. nicht einberufenen Soldaten fällt unter die Strafvorschriften. Desertion wird mit fünf Jahren Haft bzw. fünf bis zehn Jahren Haft bestraft, wenn der Deserteur das Land verlässt. Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes wird mit 15 Jahren Haft bestraft. Desertion im Angesicht des Feindes wird mit lebenslanger Haft oder – bei Überlaufen zum Feind - mit der Todesstrafe geahndet. Für Personen, die sich nicht im achtzehnten Jahr im Rekrutierungsbüro melden oder die während ihres Auslandsaufenthaltes zum Wehrdienst einberufen wurden, besteht eine Fahndungsliste,
173vgl. AA, Auskunft vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf sowie Lagebericht vom 27.09.2010 und Auskunft vom 01.02.2011; SFH, Syrien, s.o.; EZKS, Gutachten vom 29.03.2017 an das VG Gelsenkirchen; BFA, s.o.,
174so dass eine Identifizierung und Verhaftung sogleich bei Wiedereinreise schon aus diesem Grunde wahrscheinlich ist.
175Es besteht kein Zweifel, dass die vorstehenden Strafandrohungen auch tatsächlich durchgesetzt werden und es wird allgemein davon ausgegangen, dass über diese „gesetzmäßige“ Bestrafung hinaus extralegale Strafen, insbesondere die Anwendung von Folter bis hin zur Exekution, in weitem Umfang drohen. Jedenfalls mit Blick auf die drohende unverhältnismäßige Bestrafung besteht weitgehender Konsens, dass syrischen Asylbewerbern, die sich dem Wehr- oder Reservedienst durch Ausreise entzogen haben, eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
176Vgl. so auch OVG NRW, Urteil vom 04.05.2017 – 14 A 2023/16.A –.
177Das Gericht ist darüber hinaus auch unabhängig von der Schwere der drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung der Überzeugung, dass Wehrdienstentziehern und Deserteuren aus Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG droht, weil ihr Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.
178Zur Auslegung der entsprechenden Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie hat der EuGH ausgeführt, dass die Vorschrift keinen restriktiven Charakter in Bezug auf den erfassten Personenkreis hat und grundsätzlich für alle Militärangehörigen gilt einschließlich des logistischen und des Unterstützungspersonals. Es ist nicht erforderlich, dass der Antragsteller persönlich Verbrechen oder Handlungen, die unter die Ausschlussklauseln fallen, begehen müsste, auch eine nur indirekte Beteiligung kann ausreichend sein. Es muss aber hinreichend plausibel sein, dass sich die Personen bei der Ausübung ihrer Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an der Vorbereitung oder Durchführung solcher Handlungen beteiligen müssen. Erfasst werden nicht nur Fälle, in denen feststeht, dass die Einheit, der der Antragsteller angehört, bereits Kriegsverbrechen begangen hat oder dass Handlungen dieser Einheit bereits vom Internationalen Strafgerichtshof geahndet wurden, sondern auch solche Fälle, in denen solche Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden. Die vorzunehmende Prüfung kann sich dabei nur auf ein Bündel von Indizien stützen einschließlich aller relevanten Umstände in dem Herkunftsland sowie der individuellen Lage des Antragstellers. Die Verweigerung des Militärdienstes muss schließlich das einzige Mittel sein, um der Beteiligung an den behaupteten Verbrechen zu entgehen.
179Vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.2015 – Shepherd/Bundesrepublik – C-472/13 -.
180Die Auslegung des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG hat im Übrigen – ebenso wie die entsprechende Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie – unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention zu erfolgen. Es ist daher auf das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus dem Jahre 2003 (Handbuch des UNHCR) sowie vorhandene UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz zurückzugreifen, hier die Guidelines on International Protection Nr. 10 vom 12.11.2014 (Claims to Refugee Status related to Military Service within the context of Article 1A (2) of the 1951 Convention and/or 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, im Folgenden: Guidelines Nr. 10).
181Gemessen an diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG in Bezug auf syrische Männer im wehr- bzw. reservepflichtigen Alter vor. Denn es steht einerseits fest, dass (u.a.) die syrische Armee und die mit ihr kämpfenden bewaffneten Milizen, wie z.B. die National Defence Forces bzw. das 2016 neu gegründete „Fifth Corps“, bei der Kriegsführung in dem gegenwärtigen bewaffneten Konflikt überall in Syrien in großem Umfang und in schwerwiegender Weise humanitäres Völkerrecht verletzen und auch Kriegsverbrechen begehen. Diese reichen von willkürlichen und direkten Angriffen auf Zivilisten, über Belagerungen und Verwehrung des Zugangs von humanitärer Hilfe, Angriffen auf medizinische Einrichtungen bis hin zum willkürlichen Einsatz von Waffen, darunter Fassbomben, Brandwaffen, Streumunition und chemische Waffen.
182Vgl. u.a. UNHCR, Bericht von November 2017 und Februar 2017; UN Human Rights Council, Berichte der Unabhängigen Untersuchungskommission zur Syrisch Arabischen Republik vom 08.08.2017, A/HRC/36/55 ( http://www.refworld.org/docid/59b24fe14.html) und vom 02.02.2017, A/HRC/34/64, (http://www.refworld.org/docid/58b827094.html); amnesty international, Jahresbericht 2017/2018 – Syrien – vom 22.02.2018, “We leave or we die – Forced displacement under Syria’s reconciliation’ agreements”, Index: MDE 24/7309/2017, Bericht von November 2017 und „I won’t forget this carnage“ – Civilians trapped in battle for Raqqa – Syria“, Index: MDE 24/6945/2017, Bericht von August 2017; Human Rights Watch, Jahresbericht vom 18.01.2018.
183Bereits angesichts des Umfangs der dokumentierten Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht bis hin zur Begehung von Kriegsverbrechen einerseits und der personellen Unterbesetzung der syrischen Armee drängt sich auf, dass sich der Einzelne während des Militärdienstes der zwangsläufigen Mitwirkung an der Vorbereitung und Durchführung schwerer Menschenrechtsverbrechen und Kriegsverbrechen nicht entziehen kann. Insbesondere kann es jederzeit zum Einsatz gegen Protestierende und Zivilisten kommen.
184Vgl. Österreichisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14.11.2016 – W221 2136725-1, abrufbar unter: www.ris.bka.gv.at.
185Soweit in einer Situation wie der in Syrien die Wahrscheinlichkeit einer hinreichend unmittelbaren Beteiligung an den in § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG genannten Handlungen mit dem Argument verneint wird, dass „der Kläger als ungedienter Wehrpflichtiger überhaupt keiner Einheit zugeteilt sei, sondern seine militärische Ausbildung erst durchlaufen müsse“,
186vgl. OVG NRW, Urteil vom 04.05.2017 – 14 A 2023/16.A –,
187so entspricht dies schon nicht der bekannten Auskunftslage (s.o.). Denn danach ist es häufig so, dass Rekruten gänzlich ohne oder nur mit kurzer Ausbildung direkt an die Front geschickt werden. Im Übrigen bürdet dieser Ansatz den Betroffenen, vielfach gerade noch ungediente Wehrpflichtige, eine unmöglich zu erfüllende Darlegungslast auf und definiert sie so gleichsam aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift heraus. Ganz offen geschieht dies, wenn unter Bezugnahme auf ein Deutsches Wörterbuch aus den 50-iger Jahren Wehrdienstentziehung durch Flucht dem Begriff der Wehrdienstverweigerung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG in nicht mehr nachvollziehbarer Weise völlig entzogen wird.
188Die demnach einem Wehrflüchtigen drohenden Verfolgungshandlungen im Sinne des
189§ 3a Abs. 1 Nr. 1 und 5 AsylG knüpfen auch an eine tatsächliche oder vermeintliche politische Gesinnung als Verfolgungsgrund gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an und dienen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht,
190vgl. zum rechtlichen Maßstab u.a.: BVerwG, Beschluss vom 24.04.2017 – 1 B 22/17 –.
191Wehrdienstentziehung und Desertion werden übereinstimmend nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln vom syrischen Regime als politischer Akt gegen die syrische Regierung aufgefasst und führen während Befragungen, Haft und auch während des Militärdienstes selbst zu härterer Bestrafung und Behandlung,
192vgl. SFH, Bericht vom 18.01.2018; UNHCR, Bericht von November 2017 sowie vorher schon Berichte vom 30.05.2017 und von Februar 2017; BFA, LIB Syrien, Stand 05.01.2017 und Fact Finding Mission Report Syrien, Stand August 2017; DRC/DIS, Bericht von August 2017.
193Die erforderliche Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund ergibt sich zudem aus den obigen Ausführungen unter 1), auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird. Anhaltspunkte für eine abweichende Einordnung sind auch hier in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft und dessen Vorgehen vollständig von einem Freund-Feind-Schema bestimmt ist, nicht ersichtlich.
194Vgl. ebenso: Sächsisches OVG, Urteil vom 07.02.2018 – 5 A 1245/17.A –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.06.2017 – A 11 S 511/17 – ; Hessischer VGH, Urteil vom 06.06.2017 – 3 A 747/17.A –; Bayerischer VGH, Urteil vom 12.12.2016 – 21 B 16.30372 –; Österreichisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14.11.2016 – W221 2136725-1 –; a.A.: OVG NRW, Urteil vom 04.05.2017 – 14 A 2023/16.A –; OVG Hamburg, Urteil vom 11.01.2018 – 1 Bf 81/17 –; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.11.2017 – OVG 3 B 12.17 –; OVG Lüneburg, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17 –; OVG Saarland, Urteile vom 02.02.2017 – 2 A 515/16 – und vom 17.10.2017 – 2 A 365/17 –; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –; OVG Schleswig, Urteil vom 23.11.2016 – 3 LB 17/16 –.
195Das Gericht ist zudem der Überzeugung, dass die vielfache Weigerung der Teilnahme an diesem Krieg nicht lediglich durch Angst motiviert und kein bloßer Akt der kollektiven Feigheit ist, auf den das Regime zur Aufrechterhaltung seiner militärischen Schlagkraft in legitimer Weise mit der Durchsetzung seines Militärstrafrechts reagiert. Syrische Wehrdienstentzieher bzw. Deserteure mögen auch – sicher zu Recht – Angst vor einem Kriegseinsatz haben. Unabhängig davon aber ist Wehrdienstentziehung und Desertion unter den in Syrien herrschenden Bedingungen, in denen in vielfältiger Weise mit völkerrechtswidrigen Mitteln gekämpft wird, auch ein politischer Akt. Der Einzelne entzieht damit dem Regime bewusst die geforderte Unterstützung und verweigert ihm die erwartete bedingungslose Loyalität. Dies geschieht unter Inkaufnahme hoher Risiken für im Land verbleibende Angehörige und vor allem hoher persönlicher Risiken, da weder sicher vorhersehbar ist, ob man das Land überhaupt sicher verlassen kann, ob man sicher einen Zufluchtsort erreichen kann und ob und wie lange man Zuflucht in einem sicheren Aufnahmeland finden wird. Ein solches Verhalten ist damit objektiv Ausdruck einer politischen Überzeugung, ohne dass es darauf ankommt, ob hierfür weitergehende ideologische oder religiöse Überzeugungen maßgeblich sind und ob dies – etwa neben einer berechtigten Angst - das einzige Motiv des Handelns ist. Die aus diesem Akt der Verweigerung resultierenden Verfolgungshandlungen haben schon aus diesem Grund politischen Charakter.
196Soweit demgegenüber durch einen Vergleich mit dem deutschen, gar dem alten deutschen Wehrstrafrecht die Anknüpfung an eine tatsächliche oder vermeintliche politische Überzeugung verneint wird, führt dies in die Irre, da der totalitäre Charakter des Regimes und die von diesem eingesetzten Mittel der Kriegsführung damit völlig ausgeblendet werden. Ein derartiger Vergleich lenkt den Blick unwillkürlich auf die jahrzehntelange Auseinandersetzung in der Bundesrepublik über die Rehabilitation von Deserteuren der Wehrmacht, deren Gegner über Jahrzehnte meinten, eine Anerkennung der Urteile der NS-Militärjustiz als Unrecht hätte Auswirkungen auf die militärische Ordnung der Bundesrepublik, nicht erkennen wollend, dass die Bundeswehr als Instrument eines demokratischen Rechtsstaats nichts mit der Wehrmacht gemein hatte.
197Vgl. zu der Diskussion: Wolfram Wette, Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert – Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980 – 2002), Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2004, S. 505 ff; s. zur „Geschichtsvergessenheit“ des obigen Arguments auch: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.06.2017 – A 11 S 511/17 –.
198Mit dem Verweis auf diese Diskussion soll – um Missverständnissen vorzubeugen – keineswegs eine Gleichsetzung des NS-Unrechtsstaates mit dem syrischen Regime erfolgen und es soll auch nicht der historischen Forschung zu dem Syrien-Konflikt oder dessen völkerstrafrechtlicher Aufarbeitung vor internationalen oder nationalen Gerichten vorgegriffen werden. Schon jetzt steht aber fest, dass die syrische Armee in weitem Umfang Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht bis hin zu Kriegsverbrechen begeht, was in Asylverfahren betreffend Wehrdienstentziehung und Desertion aus eben dieser Armee Berücksichtigung finden muss. Dies ergibt sich auch Art. 9 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie und dem darauf fußenden § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Dieses Grundverständnis spiegelt sich zudem in dem Grundgedanken des internationalen und nationalen Flüchtlingsrechts wider, dass niemand gezwungen werden darf, an Verbrechen mitzuwirken, durch die er die Ausschlussklauseln erfüllen würde.
199Vgl. Guidelines Nr. 10, Zf. 26 – 30
200Die Entziehung vom Wehr- bzw. Reservedienst begründet nach allem sowohl für sich genommen als auch in Verbindung mit der illegalen Ausreise, Asylantragstellung und dem Verbleib im westlichen Ausland als weiteres gefahrerhöhendes Element,
201vgl. hierzu auch: AA, Auskunft an das Bundesamt laut Stellungnahme des Bundesamtes 16.09.2016 an das Verwaltungsgericht des Saarlands (VG Saarland 3 K 368/16); DOS, Auskunft vom 01.02.2017 an VGH Baden-Württemberg; EZKS, Auskunft an das VG Gelsenkirchen vom 29.03.2017,
202die Flüchtlingseigenschaft.
2033.
204Der Kläger hat schließlich einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und der Herkunft aus Kobane im Norden Syriens, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt hat.
205Kobane liegt im Gouvernement Aleppo an der türkischen Grenze und war lange Zeit Angriffen durch den sog. Islamischen Staat ausgesetzt. Bis Mitte September 2014 hatte der IS in einer Blitzoffensive sechzig kurdische Dörfer innerhalb der Enklave um Kobane erobert und die Stadt eingekesselt. Am 28.09.2014 begannen die IS-Milizen mit einem Großangriff auf das Stadtgebiet. Bis zum 1. Oktober hatten sie bis zu 300 Dörfer im Rahmen der Offensive unter ihre Kontrolle gebracht. Bei einem militärischen Erfolg wurden ein Massaker an den Kurden in Kobane und ethnische Säuberungen befürchtet. Zehntausende Kurden flohen vor dem IS, überwiegend über die türkische Grenze. Die sog. Schlacht um Kobane dauerte bis Februar 2015, als die Stadt durch das Eingreifen kurdischer Truppen mit Luftunterstützung durch die von den USA geführte Allianz als befreit galt. Im Juni 2015 griff der IS Kobane erneut an. Die Kämpfer des IS tarnten sich dabei mit Uniformen der syrischen „Rebellen“ und der kurdischen Truppen. Der Angriff konnte innerhalb von drei Tagen abgewehrt werden.
206Vgl. Wikipedia: Schlacht um Kobane; Faz.net vom 21.09.2014: „Ziel des IS ist ein Genozid an den Kurden“; Spiegel online vom 07.10.2014, „Was die IS-Miliz so gefährlich macht“, vom 11.10.2014 „Syrische Grenzstadt: IS verstärkt Belagerung von Kobane“, vom 02.02.2015 – So regiert der „Islamische Staat“ und vom 25.06.2015 „IS dringt erneut in kurdische Stadt Kobane ein“; Stefan Rosiny, „Des Kalifen neue Kleider“: Der Islamische Staat in Irak und Syrien, GIGA Focus, Nr. 6, 2014.
207a)
208Die Ethnie und Herkunft des Klägers aus Kobane stellen zunächst im Rahmen der allgemeinen Rückkehrgefährdung und der Gefährdung wegen Wehrdienstentziehung (s.o. unter Ziffern 2 und 3) weitere erheblich gefahrerhöhende Momente dar. Der Loyalität von Kurden dem Regime gegenüber wird traditionell misstraut ebenso wie Personen, die aus Gebieten stammen, die – u.U. auch nur vorübergehend – unter der Kontrolle der bewaffneten Opposition waren. Es liegt daher auf der Hand, dass das syrische Regime an dem Kläger auch vor diesem Hintergrund ein erhebliches Informationsinteresse hat und er infolge der ihm zugeschriebenen Regimegegnerschaft einer nochmals erhöhten Gefährdung unterliegt.
209Vgl. UNHCR, Berichte von November 2017 und von Februar 2017; IBC, Bericht vom 19.01.2016.
210b)
211Es ist hier aber auch – im Übrigen in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsauffassung und Bewertung der Lage in Syrien durch die Beklagte – von einer Vorverfolgung des Klägers in Anknüpfung an seine kurdische Volkszugehörigkeit auszugehen, da der Kläger nach seinen Angaben im September 2014 wegen der Angriffe des IS auf Kobane geflohen ist. Es ist daher der herabgestufte Maßstab des Art. 4 Abs. 4 EU-Qualifikations-RL anzuwenden. Eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen müsste also im Falle einer Rückkehr ausgeschlossen sein. Davon kann jedoch keine Rede sein.
212Für das Eingreifen der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ist erforderlich, dass frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung eine Verknüpfung mit dem nunmehr geltend gemachten Verfolgungsgrund aufweisen. Die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungswiederholung aus tatsächlichen Gründen naheliegt. Es ist deshalb im Einzelfall jeweils zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie erstreckt. Nicht erforderlich ist dabei, dass die frühere und die zukünftig erwartete Verfolgung von demselben Verfolgungsakteur ausgehen, ausreichend ist vielmehr, dass sie auf demselben Verfolgungsgrund beruht.
213Vgl. BVerwG, Urteile vom 24.02.2011 – 10 C 3/10 – und vom 27.04.2010 – 10 C 4/09 -; Dörig in EU Immigration an Asylum Law, Hailbronner/Thym, Part D III Art. 4, Rdnr. 32 f.
214Hier kann schon eine erneute Verfolgung des Klägers durch den sog. Islamischen Staat nicht ausgeschlossen werden.
215Seit dem letzten Angriff des sog. IS auf Kobane im Juni 2015 stand das Gebiet zwar unter kurdischer Kontrolle und weitere Attacken auf die Region durch diese Gruppierung sind – soweit bekannt - nicht erfolgt. Der Islamische Staat selbst ist nach der Befreiung von Mossul im Irak und von Raqqa in Syrien im Oktober 2017 empfindlich getroffen und sein Territorium ist seit der größten Ausdehnung im Frühjahr 2015 um 87 % geschrumpft. Dennoch ist die Gruppe nicht besiegt. Es wird davon ausgegangen, dass der harte Kern des IS einschließlich Abu Bakr al-Bagdadi noch lebt und sich 2.000 bis 4.000 IS-Kämpfer in das Euphrat-Tal zurückgezogen haben. Von anderen fehlt jede Spur, ein Teil soll sich über die Grenze vor allem in die Türkei zurückgezogen haben oder durch die Linien der syrischen Armee in Regierungsgebiet eingesickert sein. Restgebiete werden noch vom IS kontrolliert. Der IS hat zudem die Stämme systematisch unterwandert und seine ideologische Anziehungskraft nicht eingebüßt. Vermutlich wird er nun wieder - wie schon zuvor - verstärkt einen regionalen Guerilla-Krieg führen und im Verborgenen überleben.
216Vgl. Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 18.10.2017 – „Was vom Islamischen Staat übrig bleibt“ – und Bericht vom 17.02.2018 – „Zurück in den Untergrund“.
217Auf der anderen Seite ist der Fortbestand der kurdischen De Facto-Selbstverwaltung im Norden Syriens eine Frage der Zeit, nachdem die Türkei am 20.01.2018 die „Operation Olivenzweig“ begonnen hat mit dem erklärten Ziel, die kurdischen Milizen im Norden Syriens zu zerschlagen. In einer Fernsehrede kündigte Erdogan an, nach Afrin u.a. auch die Städte Manbidsch, Kobane und Kamishli „von Terroristen zu säubern“.
218Vgl. spiegel online, Bericht vom 11.03.2018 – „Türkische Truppen stehen kurz vor Afrin“ -; tagesschau.de vom 26.08.2016 – „Das Ziel sind die Kurden“ -.
219Die weiteren politischen Folgen dieser Militäroperation sind ungewiss, insbesondere wer zukünftig die territoriale Kontrolle in den kurdischen Gebieten ausüben wird. Generell sind die Frontverläufe in Syrien ohnehin einem ständigen Wechsel unterworfen ebenso wie die Sicherheitslage in einzelnen Regionen infolge der Vielzahl und Komplexität der Konflikte.
220Vgl. UNHCR, Bericht von November 2017.
221Gerade im Norden Syriens ist nun durch die militärische Intervention der Türkei wieder alles offen. Der Kampf gegen den IS, an dem die YPG maßgeblich beteiligt war, wird dadurch aber in erheblichem Maße geschwächt, und ein Vorstoßen dieser Gruppe in ein entstehendes Machtvakuum ist denkbar, jedenfalls nicht ausgeschlossen. An der Seite der türkischen Armee kämpfen zudem islamistische Milizen, die offenbar ein ähnliches Gebaren an den Tag legen wie der IS.
222Vgl. Frankfurter Rundschau online vom 20.03.2018 – „Erdogans fataler Sieg“ -; spiegel online vom 19.03.2018 – „ Kurden beklagen Vertreibung Hunderttausender aus Afrin“.
223Auch eine erneute Verfolgung des Klägers in Anknüpfung an seine kurdische Volkszugehörigkeit durch die türkische Armee kann nicht ausgeschlossen werden.
224Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.