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Der Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 21.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2012 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin war Inhaberin der Zulassung für das Arzneimittel „G. Kapseln“, das den Wirkstoff „Kava-Kava-Wurzelstock-Trockenextrakt“ in Gestalt eines ethanolischen Auszugs enthält.
3Über die Eigenschaften des Wirkstoffs „Piperis methystici rhizoma“ („Kava-Kava-Wurzelstock“, auch: „Rauschpfeffer“) verhält sich die Monographie der Kommission E vom 01.06.1990, die der Kava-Pyrone enthaltenen Droge die Anwendungsgebiete „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“ zuschreibt. Gegenanzeigen bestehen hiernach für Schwangerschaft, Stillzeit und endogene Depressionen; eine Wirkungsverstärkung von zentral wirksamen Substanzen wie Alkohol, Barbituraten und Psychopharmaka wird für möglich erachtet. Die Anwendungsdauer soll hiernach ohne ärztlichen Rat drei Monate nicht überschreiten. Die Wirkungen des Stoffes werden als anxiolytisch und im Tierexperiment sedierend, antikonvulsiv, spasmolytisch und zentral muskelrelaxierend beschrieben.
4Die Anwendungsgebiete des Arzneimittels der Klägerin entsprachen den Vorgaben dieser Monographie.
5Unter „Gegenanzeigen“ der Fachinformation Kava-Kava-haltiger Arzneimittel hieß es:
6„/.../ ist nicht anzuwenden bei vorbestehender Leberschädigung, erheblichem Alkoholkonsum, bekannter Allergie auf Kava-Kava oder einen der sonstigen Bestandteile, während der Schwangerschaft und in der Stillzeit sowie bei depressiven Erkrankungen.
7Zur Anwendung dieses Arzneimittels bei Kindern liegen keine ausreichenden Untersuchungen zur Wirksamkeit vor. Es soll deshalb und wegen unerwünschter Nebenwirkungen bei Kindern unter 12 Jahren nicht angewendet werden.“,
8unter „Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung“ bzw. „Wechselwirkungen“:
9„In der Gebrauchsinformation wird der Patient auf folgendes hingewiesen:
10Ungewöhnliche Müdigkeit, Schwäche, Appetitverlust, Gelbfärbung des Augapfels und später auch der Haut, brauner Urin, entfärbter (weißlicher) Stuhl können auf eine beginnende Leberschädigung hinweisen. Patienten, /.../ einnehmen, sollten beim Auftreten solcher Anzeichen /.../ absetzen und sofort einen Arzt aufsuchen.
11...
12Eine Verstärkung hepatotoxischer Wirkungen anderer Arzneimittel durch zeitnahe Einnahme von /.../ kann nicht ausgeschlossen werden.
13In der Gebrauchsinformation wird der Patient darauf hingewiesen, dass der Genuss alkoholhaltiger Getränke während der Behandlung mit /.../ vermieden werden sollte.“
14Im Jahre 2001 leitete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgrund von Berichten über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen in Gestalt lebertoxischer Effekte bei acetonischen Kava-Auszügen insbesondere aus der Schweiz ein Stufenplanverfahren nach § 63 des Arzneimittelgesetzes (AMG) ein. Nach Anhörung der betroffenen pharmazeutischen Unternehmen widerrief das BfArM mit Bescheid vom 14.06.2002 erstmals die Zulassungen Kava-Kava- und Kavain-haltiger Arzneimittel bis zu einer homöopathischen Verdünnung von D4. Auf den Widerspruch der Unternehmen hielt das BfArM an der Widerrufsentscheidung nicht fest, sondern ordnete mit Bescheid vom 12.05.2005 ein befristetes Ruhen der betroffenen Zulassungen an und verlängerte dieses in der Folgezeit einmalig.
15Nachdem zwischen den beteiligten Unternehmen, ihren Verbänden und dem BfArM über die Art vorzulegenden wissenschaftlichen Erkenntnismaterials keine Einigung erzielt werden konnte, widerrief die Behörde mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 21.12.2007 die Zulassungen Kava-Kava- und Kavain-haltiger Arzneimittel in dem im Bescheid vom 14.06.2002 beschriebenen Umfang erneut. Es bestehe weiterhin der Widerrufsgrund des § 30 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG, da der begründete Verdacht schädlicher Wirkungen auch unter Berücksichtigung der von den betroffenen Unternehmen und ihren Verbänden vorgelegten Unterlagen fortbestehe. Das Ruhen der Zulassungen sei angeordnet worden, um den betroffenen Unternehmen die Gelegenheit zu geben, neue ethisch vertretbare und aussagekräftige Wirksamkeitsstudien mit monographie-konformen Tagesdosen und Indikationen durchzuführen und möglicherweise Wirksamkeitsbelege zu erzielen, die valide, statistisch signifikant und der Effekthöhe nach ausreichend seien. Diese Ergebnisse sollten die Wirksamkeit in dem beanspruchten Anwendungsgebiet in einem Maße belegen, das die bekannten hepatotoxischen Risiken vertretbar erscheinen ließen. Solche Studien seien doppelblind anzulegen sowie mit einer Plazebo- und einer geeigneten Verum-Kontrolle zu versehen. Zur Vorbereitung dieser Studien seien jedoch toxikologische Untersuchungen erforderlich. Diese seien durch den Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) unter dem 02.05.2005 zwar eingereicht worden. Allerdings seien sie nicht zur Risikoabschätzung hinreichend.
16Das BfArM bezog sich in diesem Zusammenhang in erster Linie auf die In-vitro-Studien von Gebhardt und Schmidt („Cytotoxicity of kava extracts and kavalactones in primary rat hepatocytes and human HepG2 cells“) und Gebhardt („Vergleich der Cytotoxizität verschiedener Kava-Extrakte bei menschlichen Hepatomzellen, Bericht zur Cytotoxizitätsuntersuchung für das IKEC <International Kava Executive Council>“) sowie die Tierstudien an Ratten von DiSilvestro et al. („Kava feeding in rats does not cause liver injury nor enhance galactosamine-induced hepatitis“, 2007) und Sorrentino et al. (“Safety of ethanolic kava extract: Results of a study of chronic toxicity in rats”, 2006). Aus den von Gebhardt publizierten Studien könne zwar ein gewisser Toxizitätsvergleich der untersuchten Kava-Extrakte bzw. Kavalactone aufgestellt werden. Eine direkte Risikoabschätzung bzw. ein Unbedenklichkeitsnachweis für Kava-Extrakte allgemein für die Anwendung am Menschen könne daraus nicht abgeleitet werden. Die In-vivo-Studien seien methodischen Bedenken ausgesetzt. So sei z.B. die tägliche Futteraufnahme der Tiere nicht aufgezeichnet und es seien pharmakokinetische Parameter einzelner Kava-Inhaltsstoffe nicht erhoben worden. Ein wesentliches Problem der In-Vivo-Untersuchungen bestehe in unzureichenden oder fehlenden Daten zur Pharmakokinetik bzw. Toxikokinetik der potentiell toxischen Inhaltsstoffe. Nur durch entsprechende Expositionsdaten (Cmax; AUC) ließen sich Sicherheitsabstände berechnen. Hier zeige sich das Problem von Wirkstoffgemischen, deren potentiell toxische Inhaltsstoffe unbekannt seien. Ferner ging das BfArM auf die nachgereichten Publikationen von Brown et al., 2007 und Lechtenberg et al. ein und gelangte zu dem Schluss, dass weder die Mechanismen der klinisch aufgetretenen hepatotoxischen Effekte noch das klinisch relevante Toxin bekannt seien. Ein angemessenes Sicherheitsmanagement im Rahmen klinischer Prüfungen sei daher nicht möglich. Das Fehlen einer eindeutigen Hepatotoxizität in den vorliegenden Untersuchungen stehe im Widerspruch zu den klinischen Befunden. Der Schlussfolgerung, dass die in Deutschland klinisch verwendeten Kava-Kava-Extrakte keine Hepatotoxizität auswiesen, könne aufgrund der Datenlage nicht gefolgt werden. In den vorgelegten Bewertungen werde empfohlen, weitere vergleichende Untersuchungen in definierten sensitiven Testsystemen vorzunehmen, um die toxischen Inhaltsstoffe und deren Wirkung zu identifizieren und die postulierte Sicherheit der bis 2002 vermarkteten Kava-Kava-haltigen Arzneimittel im direkten Vergleich experimentell zu belegen. Entsprechende Ankündigungen seitens der pharmazeutischen Industrie seien nicht umgesetzt worden, weshalb das bisherige Ruhen der Zulassungen in ihren Widerruf umzuwandeln sei.
17Das BfArM fasste in diesem Zusammenhang die vorliegenden Erkenntnisse zum Risiko der Einnahme Kava-Kava-haltiger Produkte zusammen und verwies auf den Bericht der Welt-Gesundheits-Organisation – WHO – (Coulter et al., „Assessment oft the risk of hepatotoxcity with kava products“, 2007). Diese weise 93 Fallberichte über Leberschädigungen aus, von denen 7 tödlich geendet seien; in 14 Fällen sei eine Lebertransplantation erforderlich gewesen. Die WHO-Expertengruppe habe die Kausalität von Kava-Kava in diesen Fällen in 8 Fällen als wahrscheinlich, in 53 als möglich und in 28 als nicht bewertbar erachtet. Außerdem führte die Behörde einen Bericht der britischen Gesundheitsbehörde MHRA an, der 2006 überprüft und bestätigt worden sei. Dieser weist nach Ländern gegliedert die bei der MHRA eingegangenen Spontanmeldungen aus (110 Nebenwirkungsverdachtsfälle weltweit), wobei bis zum Verkehrsverbot die überwiegende Anzahl von Meldungen aus Deutschland kam. Wegen der diesbezüglich im Bescheid aus dem Internet-Auftritt der MHRA in englischer Sprache wiedergegebenen Einzelheiten wird auf die Seiten 10-15 des angefochtenen Bescheides Bezug genommen.
18Den hiernach bestehenden Risiken stehe der Umstand gegenüber, dass neuere Untersuchungen zu Beleg der Wirksamkeit Kava-Kava- sowie Kavalacton-haltiger Arzneimittel nicht vorgelegt worden seien. Die vorgelegte Zusammenfassung von Corrigan, „A Review oft the Efficacy & Safety of Kava-Kava (piper methysticum)“ bringe keine neuen Erkenntnisse. Bei Arzneimitteln, für die es – jedenfalls bei der vorgeschlagenen Dosierung – keine ausreichenden Wirksamkeitsbelege gebe, sei ein nicht zu eliminierendes Risiko nicht hinnehmbar, wenn es um schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) gehe. Risikominimierende Maßnahmen wie die Unterstellung unter die Verschreibungspflicht, die Begrenzung der Dosierung und Leberfunktionstests, seien nicht geeignet, eine abweichende Bewertung zu rechtfertigen, zumal bei der Behandlung von Angststörungen mit Benzodiazepinen, Buspiron und einigen Serotoninwiederaufnahmehemmern wie Paroxetin und Citalopram therapeutische Alternativen zur Verfügung stünden. Für Benzodiazepine mit der zugelassenen Indikation Anxiolyse, lägen dem BfArM nur 65 Spontanmeldungen in Bezug auf das Organsystem Leber/Galle vor. In fast allen diesen Fällen seien die UAW nicht bedrohlich gewesen; in drei Fällen sei es zu einer schweren hepatotoxischen Reaktion gekommen. Zweifellos bestehe bei Benzodiazepinen ein gewisses Abhängigkeitspotential, dem durch die Verschreibungspflicht begegnet werde. Zwar werde immer wieder versucht, diese zu unterlaufen. Dies rechtfertige jedoch nicht, das mit Kava-Kava-Produkten verbundene Risiko hinzunehmen.
19In einer zusammenfassenden Bewertung führte das BfArM aus, dass bei monographie-konformer Dosierung bis 120 mg Tagesdosis Kavapyrone das Risiko von Leberschädigungen zwar geringer, aber immer noch deutlich vorhanden sei. Bei Dosierungen oberhalb 120 mg bestehe zwar ein gewisser Anhalt für die Wirksamkeit; das Risiko für Leberschäden sei dann aber zu groß.
20Die Klägerin erhob gegen den Bescheid neben anderen betroffenen pharmazeutischen Unternehmen Widerspruch. In einer Stellungnahme des BAH zum Widerruf der Zulassungen, die sich die Klägerin zu eigen machte, führte der Verband aus, die Annahme schädlicher Wirkungen Kava-Kava- und Kavain-haltiger Arzneimittel sei unzutreffend. Das BfArM werte die neu vorgelegten toxikologischen Untersuchungen in nicht nachvollziehbarer Weise. Die Kommission E habe in ihrer Sitzung vom 27.02.2002 ein klares Votum zur weiteren Verkehrsfähigkeit mit Unterstellung unter die Verschreibungspflicht, Durchführung einer Fallkontrollstudie und der Aufnahme von Risikoangaben in Gebrauchs- und Fachinformation abgegeben. Auch berücksichtige der Bescheid nicht, dass § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG in seiner seit dem 06.09.2005 geltenden Fassung keinen „begründeten Verdacht schädlicher Wirkungen“, sondern ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis voraussetze.
21Kava-Kava erfülle die Voraussetzungen eines „well-established use“, da es seit Jahrzehnten in der Europäischen Union medizinisch verwendet werde, Wirkungen und Nebenwirkungen ausweislich der Monographien von Kommission E und ESCOP, der Risikoangaben in Packungsbeilage und Fachinformation sowie der Unterstellung unter die Verschreibungspflicht seit Januar 2002 bekannt und aus dem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial ersichtlich seien. Neue klinische Studien könnten folglich nicht verlangt werden. Zudem könne eine klinische Studie keine Erkenntnisse über seltene Nebenwirkungen liefern. Anlass zu Kritik an den eingereichten toxikologischen Studien bestehe nicht. Die Stellungnahme setzt sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit den einzelnen toxikologischen Studien auseinander. Zu berücksichtigen sei, dass andere therapeutische Ansätze, wie z.B. Benzodiazepine, aufgrund ihrer Risiken keine therapeutische Alternative darstellten. Auch beziehe sich der Bescheid des BfArM auf die Position der britischen Medicines Expert Working Group, die wegen der gänzlich anderen Indikation in Großbritannien (Blasenerkrankungen) nicht übertragbar sei. Die Bewertung der vorliegenden Fallmeldungen sei nicht sachgerecht. Ihre Inzidenzrate werde vom BfArM nach wie vor nicht berücksichtigt.
22In der Folgezeit führten Gespräche und Schriftwechsel zwischen den Betroffenen und dem BfArM zu keinem Ergebnis. Eine Bescheidung des Widerspruchs der Klägerin erfolgte zunächst nicht.
23Die Klägerin hat daraufhin am 20.12.2011 die vorliegende Klage als Untätigkeitsklage erhoben und gleichzeitig einstweiligen Rechtsschutz in Gestalt eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage begehrt (7 L 1939/11). Diesen Antrag hat die Klägerin am 24.05.2012 zurückgenommen.
24Zur Begründung der Klage verweist sie auf ihr Vorbringen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Dort hat sie im Wesentlichen ausgeführt:
25Der Widerruf der Zulassungen sei rechtswidrig. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis für Kava-Kava-haltige Arzneimittel, die auf einem ethanolischen Extrakt des Kava-Kava-Wurzelstocks basierten, rechtfertige den Widerruf der Zulassungen nicht.
26Die Wirksamkeit des Arzneimittels sei bei einer Dosierung vom 240 mg, berechnet nach der HPLC-Methode auf 6 Kavapyrone, belegt. Die von der Kommission E angegebenen 120 mg seien mittels Dünnschichtchromatographie (DC) ermittelt worden. In einem Treffen im BfArM am 27.10.2008 sei ausdrücklich bestätigt worden, dass bei dieser Dosierung die Wirksamkeit nicht in Frage gestellt werde. Der Einwand des BfArM, die Mittel seien nicht wirksam, beruhe darauf, dass die betroffenen Unternehmen auf entsprechende Forderung des BfArM die Dosierung halbiert hätten, um sich numerisch an die Monographie anzupassen. Das sei inzwischen durch entsprechende Änderungsanzeigen korrigiert worden. Das BfArM habe dem nicht widersprochen.
27Die vorliegenden Fälle unerwünschter Ereignisse in Zusammenhang mit Kava-Kava seien vom BfArM unrichtig und teilweise anders als von anderen Institutionen bewertet worden. Auf der Grundlage der Auswertung durch Teschke et al. ergäben sich lediglich drei Fälle, in denen überhaupt von einer Auslösung durch Kava auszugehen sei. In zwei dieser Fälle habe es sich um acetonische Extrakte gehandelt. Der verbleibende Fall stehe im Zusammenhang mit einer Allergie. Auch sei die größere Anzahl von UAW-Meldungen in den Jahren 2001 und 2002 durch die negative Informationspolitik des BfArM bedingt.
28Im Gegensatz zum BfArM habe die schweizerische Behörde nicht auf der Vorlage präklinischer Studien bestanden, sondern nur eine Anwendungsbeobachtung gefordert, die jedoch wegen des deutschen Kava-Kava-Verbots abgebrochen worden sei. In den USA würden Kava-Kava-Produkte nach wie vor als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht.
29Bei der Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses seien die bestehenden therapeutischen Alternativen in den Blick zu nehmen. Diese seien vorliegend vor allem Benzodiazepine und Antidepressiva. Die hierzu vorliegenden Nebenwirkungsmeldungen belegten eindrucksvoll, dass die Risiken der Alternativpräparate ungleich höher seien als die der betroffenen Kava-Produkte. Der Bescheid sei schon deshalb aufzuheben, weil das angestrebte Ziel der Verminderung von Therapierisiken nicht erreicht werden könne. Anstelle des geringeren Risikos von Kava-Produkten, lasse das BfArM zu, Arzneimittel einzusetzen, deren Anwendung für die Patienten mit weit größeren Risiken verbunden sei.
30Noch 2001 habe das BfArM Neuzulassungen für Kava-haltige Arzneimittel erteilt.
31Mit Bescheid vom 15.02.2012 wies das BfArM den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die Behörde wiederholte und vertiefte die vorherigen Ausführungen zum Risiko der Anwendung Kava-Kava-haltiger Arzneimittel. Es lägen insgesamt 48 Fälle lebertoxischer Reaktionen vor, die in Deutschland aufgetreten seien. 26 der 48 Fälle seien ausreichend gut dokumentiert. Unter den 26 Fällen seien 7 so schwer, dass eine Lebertransplantation habe vorgenommen werden müssen. 2 dieser Patienten seien verstorben. Ferner sei eine Patientin ohne Lebertransplantation verstorben. In 2 Fällen sei die lebertoxische Reaktion nach Absetzen des Kava-Kava-Produkts zurückgegangen und bei Reexposition erneut aufgetreten. Bei weiteren 12 Fällen sei aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs und dem Fehlen lebertoxischer Begleitmedikation ein Kausalzusammenhang wahrscheinlich. In einzelnen Fällen sei eine Beteiligung eines anderen Arzneimittels (z.B. eines Estrogens) als möglich anzusehen, ohne dass dies die Annahme gerechtfertigt hätte, dass Kava-Kava nicht an der hepatotoxischen Reaktion beteiligt gewesen sei. Bei zwölf spontan gemeldeten Fällen und einem publizierten Fall sei aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs von einem wahrscheinlichen Kausalnexus zur Kava-Kava-Behandlung auszugehen. Aus den dargestellten Fällen gehe hervor, dass Kava-Kava eindeutig das Potential zu schwerer Lebertoxizität habe. Der Effekt weise ein durchaus charakteristisches Muster auf mit einem zeitlichen Gipfel bei 3-4 Monaten nach Medikationsbeginn und einer wahrscheinlich höheren Toxizität bei höheren Dosen.
32Zur toxikologischen Bewertung von Kava-Extrakten fehlten weiterhin nach heutigen Standards durchgeführte Tierstudien. Zureichende Pläne hierfür habe die Klägerseite nicht vorgelegt.
33Die Wirksamkeit der ethanolischen Kava-Auszüge als Anxiolytikum sei demgegenüber unverändert als nicht belegt anzusehen.
34Eine weitere befristete Ruhensanordnung komme nicht als minderschwere Maßnahme in Betracht, weil nicht erkennbar sei, dass weitere Untersuchungen zur Aufklärung der Risiken und zum Beleg der Wirksamkeit eingeleitet oder geplant seien.
35Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20.10.2012 wurden u.a. die Anwendungsgebiete und Anwendungsrisiken von Benzodiazepinen als Therapiealternativen erörtert; ebenso die Anforderungen an mögliche Toxizitätsuntersuchungen der streitbefangenen ethanolischen Kava-Kava-Extrakte. Mit Beschluss vom gleichen Tage gab die Kammer den Beteiligten folgendes auf:
36„...
371.
38Der Beklagten wird aufgegeben, eine Zusammenstellung derjenigen in Deutschland verkehrsfähigen Benzodiazepin-haltigen Arzneimittel vorzulegen, deren Anwendungsgebiet ganz oder teilweise der Indikation „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“ entspricht. Sprachlich abweichende Indikationsformulierungen sind unbeachtlich, solange das Anwendungsgebiet sachlich vergleichbar bleibt. Der aktuelle Zulassungsstatus dieser Arzneimittel ist anzugeben.
392.
40Der Beklagten wird aufgegeben, eine überschlägige Zusammenstellung der für die unter 1. genannten Arzneimittel vorliegenden Wirksamkeitsbelege hinsichtlich der Indikation „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“ (oder vergleichbar) vorzulegen.
413.
42Der Beklagten wird weiter aufgegeben, eine vollständige Zusammenstellung der Erkenntnisse über unerwünschte Wirkungen der unter 1. genannten Arzneimittel aus den vergangenen 10 Jahren vorzulegen (Nebenwirkungsprofil). Die Erkenntnisse sollten sich dabei nicht auf das Leber-Galle-System beschränken, sondern auch andere unerwünschte Arzneimittelwirkungen umfassen.
434.
44Der Klägerin wird aufgegeben darzulegen, ob und unter welchen Voraussetzungen toxikologische Untersuchungen in vivo mit dem Wirkstoff ihres Arzneimittels an einer weiteren Tierart, die nicht Nagetier ist, durchgeführt werden können. Es sind nähere Angaben zu den Modalitäten solcher Untersuchungen und zu ihrer voraussichtlichen Dauer zu machen.
455.
46Beiden Beteiligten wird zur Erfüllung der Auflagen eine Frist bis zum 28.02.2013 gesetzt.“
47Die Beklagte erwiderte auf den Beschluss mit Schriftsatz vom 25.02.2013. In einer Vorbemerkung führte sie aus, es sei reine Spekulation und durch nichts belegt, dass Patienten nach dem Verbot von Kava-Kava auf Benzodiazepine übergegangen seien. Deren Verwendung sei durch die Hinweise an die Ärzte zum bestimmungsgemäßen Gebrauch von Bezodiazepin-haltigen Präparaten (Empfehlungen des Sachverständigen-ausschusses der Bundesregierung für den Arzt zur sachgerechten Anwendung von benzodiazepinhaltigen Arzneimitteln) limitiert. Auch weise die Fachinformation auf den überwiegenden Einsatz dieser Arzneistoffe bei schweren Angstzuständen, Schlafstörungen sowie zur Behandlung von Muskelverspannungen und Epilepsien sowie die zeitliche Begrenzung einer Behandlung hin. Zur symptomatischen Behandlung von Angstzuständen (Leitsymptomatik: Angst, innere Unruhe, Spannungszustände) stehe der Wirkstoff Buspiron zur Verfügung, ein Serotonin ohne erhöhtes Abhängigkeitspotential, aber mit verzögertem Wirkungseintritt. Daneben verwies das BfArM auf unterschiedliche Psychopharmaka, ferner auf andere pflanzliche Präparate wie Baldrian, Hopfen, Melisse, Passionsblume oder Johanniskraut. Ebenso spekulativ sei die von Klägerseite vertretene Annahme unterschiedlicher Risiken verschiedener Kava-Kultivare, da sich die Nebenwirkungsmeldungen gleichmäßig auf die verschiedenen Kultivare und Extrakte verteilten. Diese belegten das Risiko eindeutig. In einem Fall sei es sogar zu einer „positiven Rechallenge“ gekommen, also einem Wiederauftreten der Nebenwirkung nach erneuter Gabe, was eine gesicherte Kausalität begründe.
48In Anlage 1 zum Schriftsatz legte das BfArM eine Zusammenstellung der in Deutschland verkehrsfähigen Benzodiazepin-haltigen Arzneimittel mit dem Anwendungsgebiet “Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“, in einer Anlage 2 eine Zusammenstellung der Wirksamkeitsbelege hierzu vor. Die Originalstudien zur Wirksamkeit als Anxiolytika wurden hiernach in den frühen 60er-Jahren durchgeführt, deren Ergebnisse später bestätigt worden seien. Daten zu einer Langzeitbehandlung lägen nicht vor. In aktuellen Therapieempfehlungen werde der Evidenzgrad mit A (vollständige Evidenz mittels kontrollierter Studien), der Grad der Empfehlung aufgrund des Abhängigkeitspotentials und möglicher Toleranzentwicklung und Wiederauftreten der Symptomatik nach Absetzen (mäßiges Nutzen-Risiko-Verhältnis) jedoch nur mit 2 auf einer Skala von 1-5 angegeben. Es lasse sich insgesamt feststellen, dass die anxiolytische Wirkung von Benzodiazepinen durch Studiendaten gut belegt sei, ihr Einsatz jedoch aufgrund des Abhängigkeitspotentials einer sorgfältigen Diagnostik und Indikationsstellung bedürfe. Die Behandlungsdauer sei in der Regel auf 8-12 Wochen begrenzt. Auch stehe eine Reihe medikamentöser Alternativen zur Verfügung.
49In Anlage 2 zum Schriftsatz legte das BfArM ein Nebenwirkungsprofil Benzodiazepin-haltiger Präparate vor und merkte an: Es handele sich sowohl um Spontanmeldungen als auch um Berichte aus systematischen Untersuchungen unterschiedlicher Herkunft. Ein Kausalzusammenhang sei im Einzelfall nicht sicher belegt. Auch ließen Spontanberichte keine Häufigkeitsangaben zu.
50In einer Anlage 3 übersandte das BfArM die Veröffentlichung mehrerer vom National Toxicology Program (NTP) der USA durchgeführter Studien mit einem handelsüblichen Kava-Kava Extrakt. Diese hätten in Studien das angenommene Leber-Risiko in Ratten- und Mäuseversuchen bestätigt (Toxizität und Karzinogenität).
51Die Klägerin wandte sich in ihrer Gegenäußerung zum Auflagenbeschluss gegen das Erfordernis weiterer tierexperimenteller Toxizitätsstudien und führte aus: Das bisherige Datenmaterial habe ein hepatotoxisches Potential von Kava nicht belegen können. Nebenwirkungen seien insoweit in der Vergangenheit in erster Linie bei acetonischen Kava-Extrakten und minderwertigen Sorten aufgetreten (Teschke et al., 2005 ff.). Bei Zugrundelegung des zutreffenden Bewertungsschemas (sog. RUCAM-Schema der WHO) wären zahlreiche Meldungen nicht auf Kava-Kava zurückzuführen. Der einzelne Fall einer Rechallenge hätte in diesem Licht unter dem Gesichtspunkt einer Allergie bewertet werden müssen.
52Ein zusätzlicher Bedarf an Versuchstieren (nach dem Vorschlag der Klägerseite Beagle-Hunde, nach dem der Beklagten Mini-Schweine) sei vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen. Zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse über das Risiko am Menschen sei vielmehr eine Beobachtung von Patienten im Rahmen der laufenden Behandlung geeignet (sog. Post Authorisation Safety Study, „PASS“). Entsprechendes sei vom BfArM auch im Fall von Pellargonium („Umckaloabo“) akzeptiert worden. Die bestehende toxikologische Datenlage reiche völlig aus. Es lägen allein in Deutschland Erfahrungswerte über einen Zeitraum von 100 Jahren vor. Die Klägerin verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf folgende – teils neuere – Studien, die ein hepatotoxisches Risiko des ethanolischen Extrakts, insbesondere bei einer Anwendungsdauer bis zu vier Wochen, nicht hätten belegen können:
531) EU-Studie, April 2012: „Technical Assistance to the Integration of the Multilateral Trading System and Support to the Integrated Framework, Ref: 9 ACP RPR 140-039/11; Establishment of health and safety standards for the production and export of kava-based products, Final Report
542) Ernst 2007
553) Studie 2012 des US- “National Toxicology Program (NTP)” – Betrifft nach Angaben der Klägerseite einen Kava-Extrakt mit überkritischem CO2 als Auszugsmittel. Sie sei daher mit ethanolischem Extrakt nicht vergleichbar.
564) Singh & Devkota, 2003 – Nach Angaben der Klägerin mit einem wässrigen Kava-Extrakt, der mit ethanolischen Extrakten vergleichbar sei.
575) DiSilvestro et al., 2007 (vgl. oben) – Kava hat nach Angabe der Klägerin bei Leber-vorgeschädigten Ratten sogar protektive Effekte. Eingesetzt wurde ein ethanolischer Extrakt. Die Studie soll mit dem BfArM und dem BMG abgesprochen gewesen sein.
586) Sorrentino et al., 2006
597) Sarris et al., 2013: 6-wöchige Doppelblindstudie mit einem wässrigen Kava-Trockenextrakt (240 mg Kavalactone/Tag; Nobelkava; keine Lebertoxizität festgestellt).
608) Teschke et al., 2008 ff.
61Die NTP-Studie habe zu keinerlei Konsequenzen der US-Gesundheitsbehörden geführt. In den USA sei Kava nach wie vor unbeanstandet als Nahrungsergänzungsmittel verkehrsfähig. Kanzerogene Effekte seien bei Mäusen festgestellt worden; dieses Spezies-spezifische Phänomen trete in dieser Form auch bei Benzodiazepinen auf und erfordere eine Langzeitgabe sehr hoher Dosen. Zudem hätten andere Studien (Whittaker et al. 2008) gezeigt, dass Kava nicht mutagen sei. Die Beklagte lasse bei der Auswertung der Nebenwirkungsmeldungen konsequent die erforderliche Differenzierung der Arzneimittel nach Art der Droge und Extraktionsmittel vermissen. Dies stehe in krassem Widerspruch zu der Praxis des BfArM im Rahmen der Zulassung. Ausweislich einer vorgelegten Auswertung der Nebenwirkungsmeldungen ergäben sich dramatische Unterschiede im Vergleich von ethanolischen Noble-Kava-Präparaten und acetonischen Non-Noble-Kava-Präparaten (Häufigkeit der Fälle pro Patientenjahr: 1:43.212 gegenüber 1:32).
62Für die Durchführung einer toxikologischen Studie hat die Klägerin vorsorglich ein Studien-Design bei Testung an Beagle-Hunden vorgeschlagen. Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf S. 7/8 des Schriftsatzes vom 08.03.2013 (Bl. 61/62 d.A.) Bezug genommen. Die Studiendauer müsse sich an der zugelassenen Anwendungsdauer des Präparats orientieren. Hierbei stellt die Klägerseite ihre Auffassung in den Vordergrund, dass Kava-Kava sich aufgrund eines schnellen Wirkungseintritts vor allem für die Kurzzeitbehandlung eigne. Dies verringere das Risiko hepatotoxischer Effekte.
63Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten seien Benzodiazepine bei der Nutzen-Risiko-Abwägung von Kava-Kava durchaus in den Blick zu nehmen. Die Beklagte stelle selbst Benzodiazepine als risikoärmere Alternative zu Kava dar. Dem widersprächen nicht die Empfehlungen des Sachverständigenausschusses der Bundesregierung für den Arzt zur sachgerechten Anwendung von benzodiazepinhaltigen Arzneimitteln, nach denen diese überwiegend zur vorübergehenden Behandlung schwerer Angstzustände, Schlafstörungen sowie Muskelverspannungen und Epilepsien eingesetzt würden und die übliche Anwendungsdauer auf 2 Monate begrenzt sei. Angesichts des teilweise identischen Anwendungsgebietes von Kava-Kava und mit Blick auf die Verschreibungszahlen 1998 und 1999 lasse sich feststellen, dass bei etwa jeder 10. Verordnung die Wahl auf Kava-Kava als risikoärmere Alternative zu Benzodiazepinen gefallen sei. Die von der Beklagten aufgrund des Auflagenbeschlusses vorgelegten Daten belegten ein erhebliches Nebenwirkungspotential von Benzodiazepinen, die in ihrer Schwere einer Hepatotoxizität entsprächen oder über diese hinausgingen, wie die Gefahr einer missbräuchlichen Überdosierung und Selbsttötungen unter Zuhilfenahme von Benzodiazepinen. Auch das von der Beklagten angeführte Buspiron weise ein größeres Abhängigkeitspotental als Kava-Kava auf und sei nebenwirkungsbehaftet. Vergleichbares gelte für Antidepressiva, auch in Bezug auf Leberschädigungen. Johanniskraut zeige Wechselwirkungen zu anderen Arzneimitteln, führe zu Lichtempfindlichkeit und müsse über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, um überhaupt eine Wirkung zu zeitigen.
64Auch bestehe eine Asymmetrie in der Risikobewertung des BfArM bei Phytopharmaka. Die Klägerin verweist in diesem Zusammenhang auf das Vorgehen nach Bekanntwerden von Verdachtsfällen der Leberschädigung durch Pelargoniumwurzel („Umckaloabo“). Das BfArM habe dort in einer sog. „Black Box Warning“ auf das Risiko von Leberschäden und Hepatitis hingewiesen und als weitere Maßnahme die Durchführung einer PASS-Studie verlangt. Der Widerruf der Zulassung sei jedoch nicht verfügt worden. In der jüngsten Zeit seien sogar Neuzulassungen und Registrierungen Pelargonium-haltiger Arzneimittel erteilt worden. Es stelle sich die Frage, warum bei einem freiverkäuflichen Arzneimittel dieses Risiko in Kauf genommen werde, bei Kava-Kava jedoch trotz von den Unternehmen angebotenen Transaminasen-Kontrollen, der Verschreibungspflicht und des hochwertigen Anwendungsgebiets die Zulassungen widerrufen würden.
65Zudem nimmt die Klägerin Bezug auf eine Stellungnahme zur Risikobewertung Kava-haltiger Produkte von M. Schmidt vom 06.02.2012, 24.10.2012 und vom 04.05.2014. Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und im vorliegenden Verfahren übersandte Exemplare Bezug genommen.
66Die Klägerin beantragt,
67den Bescheid des BfArM vom 21.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2012 aufzuheben.
68Die Beklagte beantragt,
69die Klage abzuweisen.
70Sie verweist weiterhin auf das Risiko schwerwiegender hepatotoxischer Reaktionen. Aus den bekannten Fällen gehe hervor, dass Kava-Kava eindeutig das Potential zu schwerer Lebertoxizität habe und dieser Effekt ein durchaus charakteristisches Muster aufweise mit einem zeitlichen Gipfel bei 3-4 Monaten nach Medikationsbeginn und einer insgesamt wahrscheinlich höheren Toxizität bei höheren Dosen.
71Die britische Gesundheitsbehörde MHRA übersehe in einem 2006 veröffentlichten Report insgesamt 110 Nebenwirkungsverdachtsfälle weltweit. Diese beschränkten sich nicht auf acetonische Extrakte, sondern hätten in der Mehrzahl der Fälle ethanolische Extrakte betroffen.
72Die Risiken seien auch durch einen Bericht der WHO aus dem Jahre 2007 zu hepatotoxischen Risiken im Zusammenhang mit der Einnahme Kava-Kava-haltiger Produkte bestätigt worden. Er umfasse 93 Fallberichte. In 7 Fällen zeigten sie einen tödlichen Verlauf; in 14 Fällen sei eine Lebertransplantation erforderlich gewesen.
73Die seitens der Unternehmen vorgelegten toxikologischen Untersuchungen seien nicht geeignet, die Risikofreiheit des Wirkstoffs zu belegen. Insbesondere geeignete Tierstudien stünden aus. Die von der Klägerin dargelegte 14-tägige Anwendungsdauer des Produkts entspreche nicht den Angaben in Fach- und Gebrauchsinformation. Eine Kurzzeitanwendung sei angesichts des Krankheitsbildes auch wenig realistisch. Die einschlägigen Guidelines forderten eine Studiendauer bei Nicht-Nagern von 9 Monaten. Die bereits vorliegenden toxikologischen Untersuchungen seien zu einer Bewertung des Risikos des hier fraglichen Extrakts nicht geeignet.
74Auch die Wirksamkeit sei nicht hinreichend belegt. Insbesondere sei die Darstellung, die Monographie der Kommission E beruhe auf einer DCP-Messung, nicht belegt. Die Unterlagen, die der Monographie zugrunde gelegen hätten, beruhten zu einem wesentlichen Anteil auf Erkenntnissen zu acetonischen Extrakten. Für ethanolische Extrakte reichten sie nicht aus. Auch die Kommission E habe die vorliegenden Unterlagen an sich als nicht ausreichend betrachtet: „Bei der Gesamtbewertung aller Unterlagen kommt die Arbeitsgruppe zu dem Schluss, dass trotz der Mängel der vorliegenden Studien die in dem vorliegenden Entwurf genannten Indikationen vertretbar und aufgrund der vorliegenden pharmakologischen Untersuchungen und Erfahrungsberichte plausibel sind.“ In diesem Zusammenhang seien insbesondere die Studien von Kinzler und Warnecke als positiv bewertet worden. Diese seien mit einem acetonischen Extrakt durchgeführt worden.
75Der Klägerin sei zwar darin zuzustimmen, dass in der Phytotherapie der arzneilich wirksame Bestandteil durch das Extraktionsmittel und das DEV eindeutig gekennzeichnet sei und eine Änderung des Extraktionsmittels bzw. des DEV auch zu einem anderen Wirkstoff führe. Nur die Berücksichtigung ethanolischer Extrakte reduziere aber auch das zugunsten der Klägerin vorgelegte Studienmaterial immens, da dann alle Ergebnisse zu wässrigen, acetonischen oder CO2-Extrakten nicht berücksichtigungsfähig seien.
76Die Beklagte sieht sich durch die NTP-Studie in ihrer Risikobewertung bestätigt. Dass die US-amerikanische Behörde hieraus keinen Handlungsbedarf abgeleitet habe, sei ohne Belang. Die von der Klägerin herangezogenen neueren Studien seien nicht hinreichend aussagekräftig. Insbesondere sei in der Studie Sarris et al. die Behandlungsdauer mit 6 Wochen und einer Nachbeobachtungszeit von 1 Woche sehr kurz gewählt, da aus den Fallberichten zu Kava-Kava bekannt sei, dass die Symptome im Bereich von 6-16 Wochen nach Einnahmebeginn aufträten. Auch sei nach dem Ergebnis der Studie nicht auszuschließen, dass festgestellten erhöhten Leberwerte auf die Behandlung mit Kavalacton zurückzuführen gewesen seien.
77Die Möglichkeit der Anordnung von Post Authorization Safety Studies (PASS) sei erst durch das 2. AMG-Änderungsgesetz vom 19.10.2012 geschaffen worden.
78Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der verhandelten Parallelverfahren einschließlich der Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nebst Anlagen und der übersandten Verwaltungsvorgänge des BfArM Bezug genommen.
79E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
80Die Klage ist begründet.
81Der Widerrufsbescheid des BfArM vom 21.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
82Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz i.V.m. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG ist eine arzneimittelrechtliche Zulassung zu widerrufen, wenn sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Präparats nachträglich als ungünstig erweist. Mit dieser, seit dem 14. AMG-Änderungsgesetz vom 29.08.2005 (BGBl. I, S. 2570) bestehenden Formulierung ist inhaltlich derselbe Versagungsgrund wie in § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG a.F. angesprochen. Hiernach war die Zulassung zu versagen, resp. zu widerrufen, wenn „bei dem Arzneimittel der begründete Verdacht besteht, dass es bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen“. Diese Begrifflichkeit lebt in der Definition bedenklicher Arzneimittel in § 5 Abs. 2 AMG bis heute fort. Eine Veränderung des materiellen Prüfungsmaßstabes hat sich durch die gesetzliche Änderung nicht ergeben. Sie diente lediglich der Anpassung an die Vorgaben des Art. 26 Abs. 1 lit. a der RL 2001/83/EG. Erforderlich war und ist somit eine Abwägung des – belegten – therapeutischen Nutzens eines Produkts mit seinen – ebenfalls belegten – Risiken.
83Vgl. amtl. Begründung zum 14. AMG-Änderungsgesetz („Keine inhaltliche Abweichung“); Fuhrmann, in: Fuhrmann u.a. (Hrsg.) in: Handbuch des Arzneimittelrechts, 2. Auflage 2014 , § 10, Rn. 181; Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, Losebl. Stand: April 2013, § 25 Erl. 71.
84Gemäß § 4 Abs. 28 AMG umfasst diese Abwägung eine Bewertung der positiven therapeutischen Wirkungen eines Arzneimittels im Verhältnis zu seinen Risiken in Zusammenhang mit Qualität, Sicherheit oder Wirksamkeit für die Gesundheit der Patienten oder die öffentliche Gesundheit (§ 4 Abs. 27 lit. a AMG).
85Mit dem Begriff der positiven therapeutischen Wirkungen eines Arzneimittels ist zuvörderst auf seine Wirksamkeit in einem bestimmten Anwendungsgebiet verwiesen. Nur diese Wirksamkeit rechtfertigt es, ggf. Risiken bei seiner Anwendung in Kauf zu nehmen. Ist das Arzneimittel – wie vorliegend – zugelassen und geht es um den Widerruf dieser Zulassung, ist jedoch zu beachten, dass § 30 Abs. 1 Satz 1 AMG den Versagungsgrund fehlender oder unzureichend begründeter therapeutischer Wirksamkeit (§ 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AMG) – ebenso wie im Fall der Entscheidung über die Verlängerung einer Zulassung § 31 Abs. 3 Satz 1 AMG –,
86hierzu: Urteil der Kammer vom 23.10.2012 - 7 K 211/11 -; OVG NRW, Urteil vom 29.01.2014 - 13 A 2730/12 – (Berufungsentscheidung zum Urteil der Kammer),
87nicht in Bezug nimmt. Dieser gesetzgeberischen Beschränkung der absoluten Aufhebungsgründe widerspräche es, in jedem Fall einer aktuell nicht zureichend belegten Wirksamkeit auch das Nutzen-Risiko-Verhältnis als ungünstig mit der Folge anzusehen, dass die Zulassung stets dann zu widerrufen wäre, wenn sich nachträglich abweichende Erkenntnisse in dieser Hinsicht ergäben oder auch nur vorliegende Erkenntnisse abweichend gewertet würden. Dem entspricht es, dass nach § 30 Abs. 1 Satz 2 AMG im Fall unzureichender Wirksamkeit die Zulassung (nur) zurückzunehmen oder zu widerrufen ist, wenn sich herausstellt, dass dem Arzneimittel die therapeutische Wirksamkeit fehlt. Dies wiederum ist gemäß Satz 3 der Norm nur dann der Fall, wenn feststeht, dass sich mit dem Arzneimittel keine therapeutischen Ergebnisse erzielen lassen. Bloße Zweifel an der Wirksamkeit oder eine unzureichende Wirksamkeitsbegründung reichen damit regelmäßig für sich genommen nicht aus, die Aufhebung der Zulassung zu rechtfertigen. Dies erschließt sich auch aus der Ausnahmebestimmung des § 30 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG, die im Fall des § 28 Abs. 3 AMG – also der Zulassung ohne vollständige analytische, pharmakologisch-toxikologische oder klinische Prüfung wegen des großen therapeutischen Werts eines Produkts – die nachträgliche Aufhebung der Zulassung ermöglicht, wenn in der Folgezeit dessen therapeutische Wirksamkeit nicht zureichend begründet wurde. Hiermit ist zugleich ausgesagt, dass in allen übrigen Fällen neben einer unzureichenden Wirksamkeitsbegründung weitere Tatsachen hinzutreten müssen, um eine Aufhebung als schärfsten Eingriff in die Rechtsposition des Zulassungsinhabers zu rechtfertigen. Denn dieser ist grundsätzlich nicht gehalten, während der Geltungsdauer einer Zulassung die Wirksamkeit seines Arzneimittels fortlaufend neu zu belegen,
88vgl. zum Ganzen: Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht-Kommentar, Losebl., Stand: April 2013, § 30 AMG Erl. 11, Krüger, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG-Kommentar, 2012, § 30 Rn. 12-15; Lietz, in Fuhrmann u.a., Hdb. Arzneimittelrecht, 2. Auflage 2014, § 9 Rn. 17-26.
89Allerdings bleibt die aktuelle Bewertung der Wirksamkeit eines Arzneimittels ein maßgeblicher Abwägungsbelang bei der Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Dessen Prüfung ist mit Blick auf die Arzneimittelsicherheit nur dahingehend zu modifizieren, dass eine zweifelhafte Wirksamkeit nicht automatisch zu einem Überwiegen der Risiken führt. Erst wenn nach einem weiteren Prüfungsschritt der Verdacht schädlicher Wirkungen (Risiko) besteht, ist festzustellen, ob die Risiken gegenüber dem – mit konkreten Anhaltspunkten angezweifelten – therapeutischen Nutzen überwiegen,
90OVG NRW, Urteil vom 29.01.2014 - 13 A 2730/12 -; Beschluss vom 23.07.2013 - 13 A 3021/11 -; BVerwG, Urteil vom 26.04.2007 - 3 C 36.06 -, NVwZ-RR 2007, 774; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19.04.2012 - C-221/10 - „Artegodan“, EuZW 2012, 545-548.
91Demgegenüber ist mit dem Begriff des Risikos die Abschätzung jener Nebenwirkungen eines Arzneimittels angesprochen, die bei seinem bestimmungsgemäßen Gebrauch im Sinne einer schädlichen und unbeabsichtigten Reaktion auftreten können. Aus § 5 Abs. 2 AMG ergibt sich, dass nur solche Risikogesichtspunkte berücksichtigungsfähig sind, die sich im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Arzneimittels ergeben haben. Fälle der Überdosierung und des Abusus bleiben folglich außer Betracht.
92Das Risiko umfasst damit in erster Linie – aber nicht ausschließlich – pharmakologisch-toxikologische Wirkungen. Schwerwiegend und damit bei der erforderlichen Abwägung von besonderer Bedeutung sind Nebenwirkungen, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich machen, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung, Invalidität, kongenitalen Anomalien oder Geburtsfehlern führen. Unerwartet sind solche Nebenwirkungen, deren Art, Ausmaß oder Ergebnis von der Fachinformation des Arzneimittels abweichen (§ 4 Abs. 13 AMG). Ein Risiko im Sinne des Arzneimittelgesetzes erfordert ebenso wie der Begriff des bedenklichen Arzneimittels nicht die sichere Erwartung schädlicher Nebenwirklungen, sondern nur den begründeten Verdacht, es könne vermehrt zu solchen Nebenwirkungen kommen. Ein solcher Verdacht besteht schon dann, wenn ernstzunehmende Erkenntnisse einen solchen Schluss nahelegen,
93vgl. BVerwG, Urteil vom 19.11.2009 - 3 C 10.09 -, PharmR 2010, 192 unter Hinweis auf Urteil vom 26.04.2007 – 3 C 36.06 -, Buchholz 418.32 AMG Nr. 46 Rn 27; Kügel, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG-Kommentar, 2012, § 25 Rn. 82.
94Im Interesse der Arzneimittelsicherheit dürfen die Anforderungen an den Grad des Verdachts einer Nebenwirkung nicht überspannt werden. Das menschliche Leben und die menschliche Gesundheit als potentiell betroffene Rechtsgüter gebieten einen niedrigeren Maßstab an die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens als dies bei anderen Rechtsgütern der Fall wäre. Deshalb ist es nicht stets erforderlich, dass es zu dem fraglichen Präparat verlässliche Daten zur Schädlichkeit gibt. Auch bedarf es keines positiven Nachweises einer Kausalbeziehung zwischen der Einnahme des Arzneimittel und aufgetretenen Nebenwirkungen; dies gilt namentlich bei schweren Gesundheitsgefahren.
95Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.09.2009 - 13 A 1428/08 -, PharmR 2010, 84-86; Beschluss vom 10.09.2009 - 13 A 803/07 -; BVerwG, Urteil vom 26.04.2007 - 3 C 36.06 -, PharmR 2007, 423; OVG Berlin, Urteil vom 16.09.1999 - 5 B 34.97 -; Rehmann, AMG-Kommentar, 4. Auflage 2014, § 5 Rn. 2.
96Das arzneimittelrechtliche Risiko fordert allerdings den begründeten Verdacht. Hypothesen oder nicht verifizierbare Vermutungen, insbesondere zur Kausalität einer Arzneimittelgabe für eine Nebenwirkung, sind folglich nicht geeignet, ein Risiko zu belegen.
97Erst in einem dritten Schritt sind festgestellter Nutzen und festgestellte Risiken des Arzneimittels abzuwägen. Da eine Arzneimitteltherapie in aller Regel mit arzneimitteltypischen Risiken verbunden ist, Nebenwirkungen also arzneimitteltypisch sind, handelt es sich dabei um eine Vertretbarkeitsentscheidung, die zu bewerten versucht, ob das Präparat mehr nutzt als schadet und ein möglicher Schaden angesichts des therapeutischen Nutzens hinzunehmen ist. Nutzen und Risiko eines Arzneimittels stehen dabei nicht isoliert für sich, sondern sind eingebettet in den Kontext etwaiger Behandlungsalternativen. Ebenso wie die Ersetzbarkeit durch risikoärmere Alternativen zulasten des Arzneimittels zu berücksichtigen ist,
98vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.09.2009 - 13 A 1428/08 -, PharmR 2010, 84-86,
99muss der Umstand, dass andere zugelassene Präparate innerhalb des gleichen Anwendungsgebiets mit vergleichbaren oder höheren Risiken verbunden sind, im Rahmen einer relativen Unbedenklichkeitsprüfung,
100vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2009 - 13 A 803/07 -, A&R 1009, 237-239 und VG Köln Urteil vom 26.01.2007 - 18 K 9981/03 -, Fuhrmann u.a. (Hrsg.), Hdb. Arzneimittelrecht, 2. Auflage 2014, § 10 Rn. 227; Rehmann, AMG-Kommentar, 4. Auflage 2014, § 5 Rn. 2 jeweils m.w.N.,
101zu dessen Gunsten gewertet werden.
102Maßgeblich für die Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Fall der Anfechtung eines Widerrufsbescheides im Arzneimittelrecht ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung; dies, obwohl es sich prozessual um eine Anfechtungsklage handelt. Denn die Frage nach dem für die Rechtmäßigkeitsbeurteilung entscheidenden Zeitpunkt bestimmt sich nicht prozessual, sondern nach dem streitentscheidenden materiellen Recht.
103Vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2007 - 4 C 9.07 -, BVerwGE 130, 113-122; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 3. Auflage 2010, § 113, Rn. 91 ff. m.w.N.
104Dieses gebietet die Berücksichtigung auch solcher Umstände, die erst nach Erlass des Bescheides eingetreten oder bekannt geworden sind. Es wäre mit dem übergeordneten Ziel des Gesundheitsschutzes unvereinbar, den Bescheid nur deshalb gerichtlich aufzuheben, weil die ihn rechtfertigenden Gründe sich erst nach seinem Erlass herausgestellt haben.
105Die Bewertung der Frage, ob das Nutzen-Risiko-Verhältnis ungünstig ist, unterliegt der vollständigen gerichtlichen Überprüfung. Der Behörde steht insoweit kein eigener Beurteilungsspielraum zu. Es handelt sich vielmehr um die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs mit wertenden Elementen. Allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe dafür, wann ein Nutzen-Risiko-Verhältnis ungünstig ist, existieren nicht. Dies kann nur anhand der Umstände des Einzelfalls im Wege einer Gefahrprognose entschieden werden,
106Kügel, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG-Kommentar, 2012, § 25 Rn. 56. Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, Loseblatt, Stand: April 2013, § 25 Erl. 71,
107wobei sich die Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Eingriffsnorm am öffentlichen Interesse der Arzneimittelsicherheit einerseits und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie dem Übermaßverbot andererseits zu orientieren hat,
108vgl. Lietz, in: Fuhrmann u.a. (Hrsg.), Hdb. Arzneimittelrecht, 2. Auflage 2014, § 9 Rn. 17a m.w.N.
109Im Verwaltungsprozess ist für die Voraussetzungen des Versagungsgrundes nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG die Behörde darlegungs- und materiell beweispflichtig.
110OVG NRW, Urteil vom 29.01.2014 - 13 A 2730/12 -; vgl. auch Lietz, in: Fuhrmann u.a. (Hrsg.) Hdb. Arzneimittelrecht, 2. Auflage 2014, § 9 Rn. 17 ff.
111Sie muss nachvollziehbar festgestellte Risiken des Arzneimittels darlegen. Dies schließt auch Angaben zur Kausalität der Arzneimittelgabe für eingetretene Nebenwirkungen ein. Obgleich ein Kausalitätsnachweis im Einzelfall nicht gefordert werden kann, ermöglichen erst solche Angaben eine zuverlässige Gewichtung der Risikoannahme. Gelingt dies nicht, ist ein Widerruf der Zulassung als rechtswidrig aufzuheben.
112Nach alldem erweist sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis Kava-Kava-haltiger Arzneimittel der hier streitgegenständlichen Art nicht als ungünstig. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der hierauf bezogenen Zulassungen liegen nicht vor:
113Den Wirksamkeitsbeleg der Produkte leitet die Klägerin im Wesentlichen aus den Aussagen der Monographie „Piperis methystici rhizoma“ („Kava-Kava-Wurzelstock“) der Kommission E vom 01.06.1990 her, die der Droge die Anwendungsgebiete „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“ zuschreibt und von der Monographieaussage der „European Scientific Cooperative on Phytotherapy (ESCOP)“ gestützt wird. Dem entsprechen auch verschiedene klinische Studien, wenngleich diese hinsichtlich der Aussagekraft von den Beteiligten unterschiedlich bewertet werden. Obgleich die Angabe der Monographie nicht auf einer aktuellen Erfordernissen genügenden klinischen Erprobung des Wirkstoffs beruhte, sondern im Rahmen der Aufbereitungstätigkeit der Fachkommissionen im Nachzulassungsverfahren nach § 105 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 7 AMG erfolgte, war sie in der Folgezeit Grundlage für eine Vielzahl von Zulassungen und Nachzulassungen von Kava-Kava-haltigen Präparaten, wobei eine sachliche Unterscheidung zwischen ethanolischen und anderen Auszügen nicht erfolgte. Diese Wirksamkeitsaussage ist seitens des BfArM im gerichtlichen Verfahren nicht substantiiert angegriffen worden. Vielmehr konstatiert die Behörde eine „gewisse“ Wirksamkeit in höherer Dosierung, die aber wiederum mit einem höheren Risiko verbunden sei. Die nach 2001 erhobene Forderung nach einer klinischen Wirksamkeitsstudie und vorbereitender toxikologischer präklinischer Untersuchungen ist demgegenüber als das Bemühen zu werten, Daten für die weitere Nutzen-Risiko-Abwägung zu generieren. Ob eine solche Untersuchung im Rahmen des § 30 AMG gefordert werden kann, mag dahinstehen. Jedenfalls ist dem Vorbringen des BfArM nicht die generelle Aussage zu entnehmen, Kava-Kava sei unwirksam. Auch hat sich die Kommission E noch 2002 in Kenntnis der bekannten Risikoaspekte für die weitere Verkehrsfähigkeit der Produkte unter dem Vorbehalt bestimmter Sicherheitsmaßnahmen ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund kann den vom Widerruf betroffenen Arzneimitteln nicht jede Wirksamkeit von vornherein abgesprochen werden. Dies gilt auch ungeachtet der Dosierung. Denn eine Dosierung oberhalb von 120 mg Kavalactonen/Tag ist von der Kommission E nicht vorgegeben. Die Frage, ob erst mit den 2011 initiierten Änderungsanzeigen eine wirksame Dosierung (formal) erreicht wurde, kann folglich ebenso auf sich beruhen wie die Frage nach der rechtlichen Wirksamkeit dieser Änderungsanzeigen, die sich auf gemäß § 30 Abs. 3 Satz 4 AMG vollziehbar widerrufene Zulassungen bezogen. Ob die Wirksamkeit Kava-Kava-haltiger Arzneimittel damit in einer den Anforderungen des § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3 AMG genügenden Weise begründbar ist, ist durchaus zweifelhaft. Aufgrund des abweichenden Prüfungsmaßstabes des § 30 Abs. 1 AMG kommt es auf diese Frage jedoch nicht maßgeblich an.
114Dem durch die Zulassungsbescheide belegten Nutzen der Präparate in den Anwendungsgebieten „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“, den die Beklagte nicht substantiiert in Frage gestellt hat, stehen Anwendungsrisiken in Gestalt hepatotoxischer Ereignisse gegenüber.
115Das BfArM verweist hier in erster Linie auf die Bericht der Welt-Gesundheits-Organisation – WHO – (Coulter et al., „Assessment oft the risk of hepatotoxicity with kava products“, 2007) und einen Bericht der britischen Gesundheitsbehörde MHRA, der 2006 überprüft und bestätigt worden sei. Die WHO weise 93 Fallberichte über Leberschädigungen aus, von denen 7 tödlich geendet seien; in 14 Fällen sei eine Lebertransplantation erforderlich gewesen. Die WHO-Expertengruppe habe die Kausalität von Kava-Kava in diesen Fällen in 8 Fällen als wahrscheinlich, in 53 als möglich und in 28 als nicht bewertbar erachtet. Die MHRA überblicke insgesamt 110 Nebenwirkungsverdachtsfälle weltweit, wobei bis zum Verkehrsverbot die überwiegende Anzahl von Meldungen aus Deutschland gekommen sei. Für Deutschland verweist das BfArM auf 48 Fälle lebertoxischer Reaktionen.
116Für eine quantitative Gewichtung der Meldungen ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass angesichts der weiten Verbreitung Kava-Kava-haltiger Arzneimittel – die Klägerin verweist in der Stellungnahme M.Schmidt vom 06.02.2012 allein für Deutschland unwidersprochen in den zehn Jahren vor dem Verbot auf 250 Mio. Tagesdosen – eine Anzahl von weltweit 110 Meldungen oder 48 Meldungen in Deutschland, zudem meist in zeitlichem Zusammenhang mit der im Stufenplanverfahren erfolgten Sensibilisierung der Anwenderkreise – nicht ungewöhnlich hoch erscheint. Sie halten sich damit im Bereich von als „selten“ oder „sehr selten“ auszuweisenden Nebenwirken. Es tritt der Umstand hinzu, dass die Klägerin nachvollziehbar dargelegt hat, dass in die Berichte der WHO wie der MHRA auch Meldungen aus Deutschland eingeflossen sind, eine doppelte Berücksichtigung ein und desselben gemeldeten Ereignisses also nicht nur denkbar ist, sondern nahe liegt. Die bloße Quantität der Meldungen hat demnach nur geringe Aussagekraft.
117Inhaltlich ist das zu den hepatotoxischen Nebenwirkungen vorliegende Fallmaterial ebensowenig konsistent. Soweit es das aus Großbritannien ausgewertete Fallmaterial betrifft, bezieht sich dieses auf die Anwendung von Kava-Kava in einem anderen Anwendungsgebiet, nämlich Blasenerkrankungen. Zwar trifft es zu, dass es für die Bewertung der Toxizität eines Stoffes regelmäßig nicht auf das Anwendungsbiet, sondern nur auf die Tatsache seiner Anwendung ankommen kann. Mit dem Anwendungsgebiet verknüpft sind aber Fragen der Dosierung und der Anwendungsdauer. Nähere Angaben hierzu fehlen. Es spricht einiges für die Annahme der Klägerin, dass die Produkte bei der Behandlung von Blasenerkrankungen über einen signifikant längeren Zeitraum angewendet werden, als dies im Anwendungsbiet „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“, das auf eine kurzzeitige Anwendung („Zustände“) zielt, der Fall ist. Eine potentiell längere Exposition mit dem Wirkstoff kann deshalb ebensowenig bei einer wertenden Betrachtung außer Betracht bleiben, wie der Umstand, dass die Bewertung der Kausalität der Kava-Kava-Gabe für lebertoxische Ereignisse von den hiermit befassten Instanzen (BfArM/MHRA/EMA) durchaus unterschiedlich eingestuft wurden. Auf die Übersicht von M. Schmidt (S. 9/10 der Stellungnahme vom 06.02.2012) kann insoweit Bezug genommen werden.
118Es wurde bereits angesprochen, dass in Zusammenhang mit der Risikobewertung kein gesicherter Kausalitätsbeweis gefordert werden kann. Erforderlich sind allerdings ernsthafte Erkenntnisse, die den Schluss nahelegen, dass das Präparat unvertretbare Nebenwirkungen hat,
119OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2009 - 13 A 803/07 -.
120Die WHO-Studie weist ausdrücklich auf den bekannten Umstand hin, dass Leberschäden auf zahlreichen Ursachen beruhen können. Hierbei kommt neben der allgemeinen Lebensführung insbesondere auch die Komedikation in Betracht:
121„It should be noted that individual cases as those available do not prove cause and effect. Even where other known causes of liver damage (such as alcohol abuse and viral infections) were ruled out, it is possible that the use of kava by these individuals was a coincidence, rather than the cause of the problem. In addition, in several cases, drugs with potential hepatotoxicity such as: fluoxetine, paroxetine, acetylsalicylic acid, oral contraceptives, celecoxib, omeprazole and others may have been potential confounders.”
122Diese Mulitkausalität von Leberschädigungen erschwert die Zuordnung zu einer bestimmten Medikamentengabe erheblich. M. Schmidt hat sich in seiner Stellungnahme vom 06.02.2012 (dort Seiten 11-13) detailliert mit den einzelnen Fallberichten auseinandergesetzt. Auf die geäußerten Zweifel am Kausalzusammenhang ist die Beklagte nicht im Einzelnen eingegangen, sondern hat unter Wiederholung des Vorbringens im Verwaltungsverfahren Kava-Kava weiterhin ein erhebliches hepatotoxisches Potential zugeschrieben und auf einen Fall (oder zwei Fälle) verwiesen, bei dem die Nebenwirkung bei Absetzen von Kava abgeklungen, bei Reexposition jedoch erneut aufgetreten sei („Rechallenge“). Unwidersprochen und durchaus nachvollziehbar weist die Klägerseite darauf hin, dass es auch in solchen Fällen einer Dokumentation der Komedikation bedarf, um eine tragfähige Wahrscheinlichkeitsaussage zu treffen. In der vorliegenden Gestalt lässt das Material nur die Aussage einer möglichen Verknüpfung von Nebenwirkung und Kava-Gabe zu.
123Zudem hebt das BfArM selbst hervor, dass diese Verknüpfung nicht nur dosisabhängig sei, sondern insbesondere ein charakteristisches Muster mit einem zeitlichen Gipfel bei 3-4 Monaten nach Medikationsbeginn aufweise. Hiermit stellt sich die Frage der Verwertbarkeit der vorliegenden Erkenntnisse zu Lasten der streitbefangenen Arzneimittel, die niedrigdosiert und auf eine Kurzzeitbehandlung angelegt sind und für die eine Begrenzung der Anwendungsdauer von den Zulassungsinhabern zumindest angeboten wurde.
124Von den 48 Fallmeldungen aus Deutschland bewertet die Behörde selbst lediglich 26 als ausreichend gut dokumentiert, wobei 2 hiervon nicht Spontanmeldungen seien, sondern aus der Literatur stammten. Auch mit diesen Fällen hat sich die Klägerseite in der erwähnten Stellungnahme detailliert auseinandergesetzt. Dass sich aus diesem Fallmaterial mit einer sehr begrenzten Kausalitätsaussage das charakteristische Muster eines Potentials zu schwerer Lebertoxizität ergibt, wie die Beklagte meint, ist aus der Sicht der Kammer zumindest fraglich. Dies gilt umso mehr, als bisher weder die potentiell toxischen Einzelstoffe noch der Mechanismus einer lebertoxischen Wirkung bekannt sind.
125Angesichts dessen bedarf es keiner abschließenden Beurteilung der Frage, ob mit der Auffassung der Klägerin und den Darlegungen des Hepatologen Prof. Teschke der Auswertung der Fallberichte die CIOMS-Bewertungskriterien zugrunde zu legen sind, die zu einer kritischeren Einschätzung der Kausalitätsfrage führen.
126Allerdings können mit diesen Feststellungen weder der Stoff als solcher noch die streitbefangenen Arzneimittel allgemein entlastet werden. Das Risiko, also die Möglichkeit einer Schadensverursachung durch Kava-Kava, nicht aber eine sichere Kausalität, ist mit den angesprochenen Quellen nachvollziehbar dargelegt. Dieses Risiko ist auch nicht für ethanolische Extrakte ausgeschlossen. Wenngleich die Einleitung des Stufenplanverfahrens auf Schweizer Meldungen zu acetonischen Extrakten beruhte, umfassen sie ethanolische wie acetonische Extrakte gleichermaßen. Eine Aussage dahingehend, dass ethanolische Extrakte generell risikofrei oder zumindest risikoarm seien, ist daher nicht mit hinreichender Sicherheit möglich. In diesem Zusammenhang bleibt zwar die auch vom BfArM anerkannte Tatsache zu berücksichtigen, dass im Fall pflanzlicher Arzneimittel die Wahl des Auszugsmittels den Wirkstoff bestimmt,
127zuletzt: OVG NRW, Beschluss vom 26.11.2010 - 13 A 2807/09 -.
128Risikoaussagen zu einem Extrakt können damit nicht ohne nähere Begründung auf einen anderen Extrakt übertragen werden. Dies gilt namentlich dann, wenn – wie regelmäßig – die genaue Zusammensetzung des Extrakts und – wie hier – die potentiell toxischen Stoffe unbekannt sind. Dies schwächt auch die Aussagekraft der in den USA durchgeführten sog. NTP-Studie an Ratten und Mäusen mit einem Kava-Extrakt mit überkritischem CO2 als Auszugsmittel. Solange aber auch für ethanolische Extrakte Nebenwirkungsmeldungen vorliegen, kann die Klägerseite daraus allein für sich nichts herleiten. Vergleichbares gilt für den Hinweis auf die Verwendung unterschiedlicher Kava-Kultivare bzw. verschiedener Bestandteile der Pflanze.
129In einem dritten Schritt der Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen stehen sich damit ein nicht nach aktuellen Anforderungen belegter Nutzen Kava-Kava-haltiger Arzneimittel auf der einen Seite und mögliche Risiken ihrer Anwendung gegenüber. § 30 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz i.V.m. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG gebietet eine einzelfallbezogene Abwägung, die dem therapeutischen Nutzen eines Produkts seine nachvollziehbar belegten Risiken gegenüberstellt. Was überwiegt, kann nur anhand der Schwere der Indikation, belegter Heilungserfolge, der Schwere etwaiger Nebenwirkungen etc. bewertet werden. Insgesamt müssen die Nachteile der Nichtanwendung diejenigen der Anwendung überwiegen, wobei – hier von besonderer Bedeutung – nicht nur der Wirksamkeitsgrad, sondern auch etwaige Behandlungsalternativen in den Blick zu nehmen sind,
130vgl. OVG NRW, Urteil vom 29.01.2014 - 13 A 2730/12 -, Beschluss vom 23.07.2013 - 13 A 3021/11 -; Beschluss vom 10.09.2009 - 13 A 803/07 -; BVerwG, Urteil vom 26.04.2007 - 3 C 36.06 -, NVwZ-RR 2007, 774.
131Das monographierte Anwendungsgebiet „Nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände“ verweist nicht ausdrücklich auf die Behandlung von Angststörungen, bei denen Symptome der Angst in Gestalt einer anhaltenden Angstreaktion, mangelnder Kontrolle der Angst, evtl. körperlichen Reaktionen einschließlich katastrophisierender Fehlinterpretationen und Beeinträchtigung in wichtigen Funktionen des Berufs-, Alltags- und Familienlebens im Vordergrund stehen,
132Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 263. Auflage 2012 „Angststörung“,
133soll aber gleichwohl auch diesen Patienten zugutekommen, obwohl die Klägerin die Anwendung von Kava-Kava in diesem Bereich auf die Kurzzeitbehandlung fokussiert sehen will. Damit zielt die Indikation jedenfalls zum Teil auf das auch für Benzodiazepine zugelassene Anwendungsgebiet. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass Benzodiazepine nach den Empfehlungen des Sachverständigenausschusses der Bundesregierung für den Arzt zur sachgerechten Anwendung von benzodiazepinhaltigen Arzneimitteln „zur vorübergehenden Behandlung schwerer Angstzustände, Schlafstörungen sowie zur Behandlung von Muskelverspannungen und Epilepsien eigesetzt werden“ und neben einer sorgfältigen Indikationsstellung regelmäßig auf eine zeitlich begrenzte (< 2 Monate) andauernde Therapie ausgerichtet sind. Ungeachtet des Umstandes, dass hierdurch ein zugelassenes Anwendungsgebiet nicht eingeschränkt werden kann (z.B.: „Symptomatische Behandlung von Angst-. Spannungs- und Erregungszuständen sowie dadurch bedingter Schlafstörungen“), ergibt sich auch hieraus eine Überschneidung mit dem Anwendungsgebiet Kava-Kava-haltiger Arzneimittel. Obwohl es sich bei Benzodiazepinen um zugelassene und verschreibungspflichtige Arzneimittel handelt, gehen von diesen Wirkstoffen erhebliche Gefahren aus. Benzodiazepine wirken angstlösend und schlaffördernd. Jedoch besteht schon bei therapeutischen Dosierungen ein sehr hohes Abhängigkeitspotential. Benzodiazepine gelten weltweit als die Medikamente mit der höchsten Missbrauchsrate. Sie wirken atemdepressiv und verstärken bei Daueranwendung eine depressive Grunderkrankung. Alle Wirkungen werden durch die gleichzeitige Einnahme von Alkohol oder anderen Betäubungsmitteln oder Suchtstoffen erheblich verstärkt. In diesem Fall besteht auch die Gefahr einer tödlichen Vergiftung. Schon nach einer kurzen Einnahmedauer (8 Wochen) können bei einem Absetzen schwere Entzugserscheinungen entstehen (Wahrnehmungsstörungen, Psychosen, Krampfanfälle).
134Vgl. zu den Wirkungen von Benzodiazepinen: BGH, Urteil vom 02.11.2010 – 1 StR 581/09 – Rn. 32; Wikipedia „Benzodiazepine“, Abruf vom 05.05.2014; Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. „Medikamente, Beruhigungs- und Schlafmittel: Benzodiazepine, www.dhs.de, Stockinger, in: „Der Spiegel“ 17/2009, „Das ist Beihilfe zur Sucht“, www.spiegel.de.
135Die verbreitete missbräuchliche Verwendung dieser Arzneimittel kann offensichtlich auch durch die Verschreibungspflicht nicht ausgeräumt werden. Hierbei könnte auch eine Rolle spielen, dass die Überwachung dieser Betäubungsmittel in Form der ärztlichen Verschreibung abgeschwächt ist, da die strengen Vorschriften des § 13 BtMG und der Betäubungsmittelverschreibungs-VO für die Ausstellung von Betäubungsmittelrezepten auf die vom BtMG ausgenommenen Zubereitungen nicht anwendbar sind.
136Vgl. Urteil der Kammer vom 13.05.2014 - 7 K 3454/12 -.
137Die Angabe, Benzodiazepine besäßen ein „gewisses Abhängigkeitspotential“ verharmlost dieses Risiko unangemessen.
138Ausweislich des vom BfArM aufgrund des Auflagenbeschlusses der Kammer vorgelegten Nebenwirkungsprofils seit 2002 ergeben sich für Benzodiazepine insgesamt 4.478 UAW-Meldungen, die sich über eine Vielzahl von unerwünschten Wirkungen erstrecken und – soweit schwer – bei Suizidversuchen und Suchtmissbrauch deutliche Spitzen aufweisen, vereinzelt aber auch Leberschädigungen zeigen. Das BfArM räumt ein, dass diesen dokumentierten Arzneimittelrisiken keine nach neuesten Erfordernissen gestaltete klinische Erprobung der Präparate gegenübersteht, da sie sich zumeist bereits seit Jahrzehnten auf dem Markt befinden. Die klinischen Studien zur Wirksamkeit datieren hiernach überwiegend aus den frühen 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts.
139Vor diesem Hintergrund kann nicht von einer risikoärmeren Alternative zu Kava-Kava-haltigen Arzneimittelns ausgegangen werden. In abgeschwächter Form gilt dies auch für das vom BfArM angeführte „Buspiron“, das einen langsameren Wirkungseintritt als Benzodiazepine aufweist und die im Schriftsatz vom 23.02.2013 angesprochenen Antidepressiva. So werden beispielsweise für den Serotoninwiederaufnahmehemmer „Paroxetin“ als Nebenwirkungen Appetitstörungen, Störungen des Magen-Darm-Traktes, Schlafstörungen, Verwirrtheit, Halluzinationen, sexuelle Dysfunktion, Schwitzen, Parästhesie, Restless-Legs-Syndrom, eine signifikante Erhöhung suizidalen Verhaltens bei Patienten mit Depressionen angegeben. Nach dem Absetzen können erhebliche Absetzerscheinungen auftreten (u.a. Schwindel, Sehstörungen, Angst),
140vgl. „Paroxetin“ in Wikipedia (Stand: 03.06.2014); Packungsbeilage „Paroxetin 1A Pharma, 10 mg Filmtabletten”.
141Medikamentöse Behandlungsalternativen aus dem Bereich der Phytopharmazie sind nur in allgemeiner Form vorgetragen, resp. selbst Gegenstand von Stufenplanverfahren, wie z.B. Johanniskraut.
142Auch sind im Rahmen einer am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Übermaßverbot orientierten Nutzen-Risiko-Abwägung andere regulatorische Maßnahmen zur Risikominimierung zu berücksichtigen, die eine weitere Verkehrsfähigkeit der Produkte ohne unvertretbare Gefahren für die öffentliche Gesundheit gewährleisten. Zutreffend hat die Klägerseite auf die bestehende Verschreibungspflicht, Gegenanzeigen und Anwendungsbeschränkungen, eine ausdrückliche Beschränkung der Anwendungsdauer sowie eine begleitende regelmäßige Erhebung der Leberwerte hingewiesen. Neben diesen, bis zum Verkehrsverbot größtenteils bereits umgesetzte Maßnahmen, tritt nunmehr die gemäß § 28 Abs. 3b Satz 1 Nr. 2 AMG auch nach Erteilung der Zulassung bestehende Möglichkeit der Bundesoberbehörde hinzu, im Wege der Auflage anzuordnen, Unbedenklichkeitsprüfungen durchzuführen, wenn dies im Interesse der Arzneimittelsicherheit erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen des § 28 Abs. 3b Satz 2 AMG ist hierbei auch die Empfehlung einer gemeinsamen Unbedenklichkeitsprüfung an die Zulassungsinhaber auszusprechen. Die Auflagenbefugnis zielt damit auf eine nichtinterventionelle Prüfung der Arzneimittel (§ 4 Abs. 23 Satz 3 AMG) während ihrer praktischen Anwendung unter den Voraussetzungen der §§ 63f Abs. 2-4, 63g AMG. Dem steht nicht entgegen, dass diese Befugnis erst durch das Zweite AMG-Änderungsgesetz vom 19.10.2012 (BGBl. I, S. 2192) im Zuge der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben zum Pharmakovigilanzsystem in das Arzneimittelgesetz eingefügt wurde, sie im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung noch nicht bestand. Denn auch diesbezüglich ist auf die Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen. Angesichts des Umstandes, dass bislang die Anhaltspunkte für ein hepatotoxisches Risiko der streitbefangenen Produkte nicht mit der genügenden Sicherheit verifiziert werden konnten, wäre eine solche nachgelagerte Erprobung bei fortbestehender Marktfähigkeit unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten naheliegend und das gegenüber dem Widerruf mildere Mittel. Hierüber zu entscheiden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten. Mit einem solchen Vorgehen könnte auch dem Bedenken der Klägerin mit Blick auf Pelargonium-haltige Arzneimittel Rechnung getragen werden, bei denen dieser Weg beschritten wurde, obgleich auch dort Meldungen zu teils schweren Leberschädigungen (medikamentös bedingte Hepatitis, Hepatitis mit schwerer entzündlicher Aktivität) vorlagen und die Kausalität der Medikamentengabe als möglich erachtet wurde.
143Demgegenüber ist im Gegensatz zu dem hilfsweisen Antrag der Beklagten in der mündlichen Verhandlung der Frage des Nutzen-Risiko-Verhältnisses nicht im Wege der gerichtlichen Beweisaufnahme nachzugehen, da es nicht um die Ermittlung von Tatsachen, sondern um deren Wertung geht, die nach den dargelegten Grundsätzen dem Gericht obliegt. Die Ermittlung des Tatsachenstoffs im Verfahren auf Widerruf der arzneimittelrechtlichen Zulassung obliegt hingegen der hierzu fachlich qualifizierten Bundesoberbehörde (§ 24 VwVfG). Ihr diente das Stufenplanverfahren.
144Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO
145Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
146Die Berufung war gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da die Rechtssache in Bezug auf die Voraussetzungen des Widerrufs einer arzneimittelrechtlichen Zulassung wegen eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses grundsätzliche Bedeutung hat.