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Die Anzeige einer neuen Anschrift gemäß § 10 Abs. 1 AsylG wahrt die Anforderung der Unverzüglichkeit regelmäßig nur dann, wenn sie innerhalb einer Woche erfolgt ist.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Der am in /Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er beantragte am 31. Mai 2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der Antragstellung wurden ihm schriftliche Hinweise über seine Mitwirkungspflichten im Asylverfahren in deutscher Sprache und eine Übersetzung in die türkische Sprache gegen Empfangsbekenntnis ausgehändigt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Seiten 13 bis 21 der Beiakte Heft 1 verwiesen.
3Der Kläger war, nachdem er verschiedene Erstaufnahmeeinrichtungen durchlaufen hatte, aufgrund einer asylrechtlichen Aufenthaltsverpflichtungen zunächst in der Zentralen Unterbringungseinrichtung Soest (nachfolgend: ZUE) wohnhaft.
4Am 15. Juni 2022 wurde der Kläger durch das Bundesamt persönlich zu seinem Asylbegehren und zum beabsichtigten Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung, Seiten 65 bis 75 der Beiakte Heft 1, verwiesen.
5Mit Bescheid vom 26. September 2022, dem Kläger gegen Empfangsbekenntnis zugestellt am 12. Oktober 2022, wies die Bezirksregierung Arnsberg den Kläger der Stadt Selm zu. Seine Weiterleitung dorthin und sein Einzug unter der neuen Anschrift in Selm erfolgte am Tag der Zustellung. Wegen der Einzelheiten wird auf die Blätter 15 und 70 bis 73 der Gerichtsakte verwiesen.
6Mit Bescheid vom 14. Oktober 2022 lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Gewährung subsidiären Schutzes ab (Ziffern 1 bis 3 des Bescheides). Das Bundesamt stellte zudem fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheides) und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung in die Türkei auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen (Ziffer 5 des Bescheides). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheides).
7Unter dem 18. Oktober 2022 übersandte das Bundesamt der ZUE Soest seinen Bescheid vom 14. Oktober 2022 mit der Bitte um Aushändigung an den Kläger gemäß § 10 Abs. 4 des Asylgesetzes (AsylG). Das Schreiben ging am 21. Oktober 2022 bei der ZUE ein und uns wurde von dieser nach Ablauf von drei Tagen mit dem Bemerken an das Bundesamt zurückgesandt, der Kläger sei inzwischen verteilt und in Selm wohnhaft. Wegen der Einzelheiten wird auf die Seiten 144 bis 146 der Beiakte Heft 1 verwiesen.
8Anlässlich einer Vorsprache beim Landrat des Kreises Unna als der zuständigen Ausländerbehörde am 19. Dezember 2022 wurde dem Kläger eine Abschrift des Bescheides des Bundesamtes vom 14. Oktober 2022 ausgehändigt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Blätter 8 bis 11 und 16 der Gerichtsakte verwiesen.
9Der Kläger hat am 27. Dezember 2022 Klage erhoben und beantragt, ihm hinsichtlich der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung trägt er vor: Er habe erst am Tag der Vorsprache bei der Ausländerbehörde Kenntnis von dem angefochtenen Ablehnungsbescheid erhalten. Das Bundesamt habe seine neue Anschrift in Selm bereits gekannt, als es die Zustellung des Bescheides an ihn über die ZUE veranlasst habe. Das Bundesamt sei nämlich in dem Verteiler des Zuweisungsbescheids der Bezirksregierung Arnsberg aufgeführt. Ihn treffe jedenfalls kein Verschulden an einer möglichen Versäumung der Klagefrist, weil ihm bei der Aushändigung des Zuweisungsbescheides durch einen Bediensteten der Bezirksregierung gesagt worden sei, er müsse nichts weiter veranlassen, da das Bundesamt unmittelbar von der Bezirksregierung über seine neue Anschrift informiert werde.
10Der Kläger legt eine eidesstattliche Versicherung vom 27. Dezember 2022 sowie den Ausdruck einer elektronischen Nachricht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf Blätter 6 und 79 der Gerichtsakte verwiesen.
11Der Kläger beantragt,
12die Beklagte unter Aufhebung von Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. Oktober 2022 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen,
13hilfsweise,
14subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG festzustellen,
15weiter hilfsweise,
16festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
17Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
18die Klage abzuweisen.
19Zur Begründung trägt sie vor: Das Bundesamt habe zum Zeitpunkt der Vornahme der Zustellung des angefochtenen Bescheides keine Kenntnis vom Umzug des Klägers gehabt. Ausweislich des vorgelegten Verwaltungsvorgangs sei dem Bundesamt die Zuweisungsentscheidung nicht zugegangen. Der Kläger trage das Risiko etwaiger Verzögerungen und Fehler bei der Übermittlung der Anzeige eines Umzugs. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht erfüllt, da der Kläger dem Bundesamt die Änderung seiner Anschrift nicht angezeigt habe.
20Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes (Beiakte Heft 1) Bezug genommen.
21Entscheidungsgründe:
22Die statthafte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist unzulässig.
23Der Kläger hat die Frist von zwei Wochen gemäß § 74 Abs. 1 1. Halbsatz AsylG zur Erhebung der Klage gegen den - mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung (§ 58 Abs. 1 VwGO) versehenen - Bescheid des Bundesamtes vom 14. Oktober 2022 versäumt (dazu 1.). Ihm ist auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren (dazu 2.)
241.
25Die Klagefrist ist durch die vom Bundesamt durch Übersendung an die Aufnahmeeinrichtung veranlasste Zustellung nach § 10 Abs. 4 Satz 1 des Asylgestzes in der zum Zeitpunkt der Zustellung geltenden Fassung vom 20. Oktober 2015 (AsylG a. F.) wirksam in Lauf gesetzt worden. Nach dieser Bestimmung hat die Aufnahmeeinrichtung Zustellungen an die Ausländer, die nach Maßgabe des Absatzes 2 Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der Anschrift der Aufnahmeeinrichtung gegen sich gelten lassen müssen, vorzunehmen. Nach § 10 Abs. 2 AsylG a. F. muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann (Satz 1). Das Gleiche gilt, wenn die letzte bekannte Anschrift, unter der der der Ausländer wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist, durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist (Satz 2).
26Die Zustellungsfiktionen des § 10 Abs. 2 AsylG a. F. sind mit höherrangigem Recht vereinbar. Dadurch werden besondere Vorsorge- und Mitwirkungsobliegenheiten, bei deren Verletzung der Ausländer mit für ihn nachteiligen rechtlichen Konsequenzen rechnen muss, begründet. Nach § 10 Abs. 1 AsylG a. F. hat der Ausländer während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er diesen Stellen jeden Wechsel seiner Anschrift unverzüglich anzuzeigen. Verletzt er diese - ihm in seinem eigenen Interesse an einer zügigen Bearbeitung seines Asylantrags auferlegte - Obliegenheit, muss er damit rechnen und über die Regelungen in § 10 Abs. 2 AsylG a. F. hinnehmen, dass ihn Mitteilungen im Asylverfahren nicht erreichen, ohne dass er sich hierauf berufen kann. Diese Regelungen dienen der Vermeidung von Verzögerungen im Asylverfahren und der Behebung von Zustellungsschwierigkeiten bei unbekanntem Aufenthalt des Ausländers. Die Obliegenheit gemäß § 10 Abs. 1 AsylG a. F. besteht auch dann, wenn die dem Bundesamt zuletzt bekannte Anschrift nicht vom Ausländer, sondern von einer öffentlichen Stelle mitgeteilt worden ist und der Ausländer danach erneut umzieht. Bei anderen Behörden, etwa im Ausländerzentralregister gespeicherte Informationen zum Ausländer sind dem Bundesamt nicht als eigenes Wissen zuzurechnen. Es besteht auch keine Pflicht des Bundesamtes, vor der Zustellung oder formlosen Übermittlung von Schreiben eine Auskunft beim Ausländerzentralregister einzuholen.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. August 2020 - 1C 28/19 -, juris, Rn. 10, 11 und 16 ff; OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2021 -19 A 2878/20.A -, juris, Rn. 14.
28Die Zustellungsfiktionen nach § 10 Abs. 2 AsylG a. F. setzen gemäß § 10 Abs. 7 AsylG a. F. voraus, dass der Ausländer über sie schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis in qualifizierter Weise belehrt worden ist.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. August 2020 - 1C 28/19 -, juris, Rn. 19, m. w. N.
30Nach diesen Grundsätzen muss der Kläger die Zustellung des Bescheides vom 14. Oktober 2022 gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG a. F. gegen sich gelten lassen.
31Er hatte im Zeitpunkt des erfolglosen Zustellungsversuchs im Oktober 2022 für sein Asylverfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt. Im Verlauf des Asylverfahrens hatte er beim Bundesamt zwar durch Vorlage seiner Aufenthaltsgestattung seine damalige Anschrift, die ZUE Soest, in Übereinstimmung mit seinen tatsächlichen Aufenthaltsverhältnissen angegeben (Blätter 84, 85 der Beiakte Heft 1). Er hat es aber versäumt, dem Bundesamt seine am 12. Oktober 2022 erfolgte Weiterleitung nach Selm mitzuteilen. Der Kläger ist bei der Antragstellung vom Bundesamt auf die in § 10 Abs. 1 AsylG a. f. normierte Obliegenheit zur Angabe jeder Anschriftenänderung und die in § 10 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AsylG a. F. geregelten Zustellungsfiktionen schriftlich und gegen Empfangsbestätigung hingewiesen worden. Die Belehrung entspricht auch inhaltlich den oben dargelegten Anforderungen. Die dem Antragsteller vom Bundesamt ausgehändigte „Wichtige Mitteilung - Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten, - Allgemeine Verfahrenshinweise“ (Seiten 13 bis 21 der Beiakte Heft 1) trägt den Besonderheiten des Adressatenkreises Rechnung. Sie ist dem Kläger in deutscher und türkischer Sprache übergeben worden und führt ihm durch verständliche Erläuterung mit der gebotenen Deutlichkeit vor Augen, welche Obliegenheiten ihn im Einzelnen treffen und welche Folgen deren Nichtbeachtung haben können. Die Frage, ob die in den bezeichneten „Wichtigen Mitteilungen“ enthaltene Passage:
32„Wohnen Sie in einer Aufnahmeeinrichtung, müssen Sie sich erkundigen, wann und wo die behördliche Post verteilt wird. Dies geschieht an einem Werktag zu bestimmten Urzeiten. Sie erhalten dort Ihre Post von einem Mitarbeiter der Aufnahmeeinrichtung. Holen Sie die Post dort zu diesem Zeitpunkt nicht ab, bleibt sie drei Tage lang für Sie liegen. Danach wird die Post an die Behörde zurückgesandt. Die Behörde wird dann so verfahren, als ob Sie den Brief erhalten hätten.“
33in Fällen, in denen das zuzustellende Schriftstück tatsächlich nicht nach Ablauf von drei Tagen an die Behörde zurückgesandt, sondern dem Ausländer zu einem späteren Zeitpunkt in der Aufnahmeeinrichtung ausgehändigt worden ist, geeignet ist, bei dem Ausländer einen Irrtum über den Lauf von Rechtsmittelfristen hervorzurufen,
34vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2023 – 19 A 1974/22.A -, juris,
35bedarf vorliegend keiner Entscheidung; denn der Bescheid vom 14. Oktober 2022 ist von der Aufnahmeeinrichtung, wo er ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 21. Oktober 2022 einging, an das Bundesamt zurückgeschickt und nicht etwa in der Aufnahmeeinrichtung dem Kläger ausgehändigt worden.
36Das Bundesamt hat vor Veranlassung der Zustellung auch nicht auf andere Weise Kenntnis vom Umzug des Klägers nach Selm erlangt. Der Umstand, dass das Bundesamt im Verteiler des Zuweisungsbescheides aufgeführt ist, lässt nicht den Schluss darauf zu, dass dieser Bescheid dem Bundesamt tatsächlich zugegangen ist. Die Feststellung des Zugangs lässt sich auch nicht anhand des beigezogenen Verwaltungsvorgangs treffen. Der Kläger trägt nach allgemeinen Regeln die Beweislast für den Zugang.
37Der angefochtene Bescheid galt mithin gemäß § 10 Abs. 4 Satz 4 2. Halbsatz AsylG a. F. am dritten Tag nach der Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung, also am 23. Oktober 2022, als bewirkt. Die Klagefrist endete gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 1 ZPO und § 188 Abs. 2 BGB mit dem Ablauf des 7. November 2022. Die am 27. Dezember 2022 erhobene Klage ist somit verspätet.
382.
39Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist demjenigen auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Die Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 1. Halbsatz AsylG ist eine gesetzliche Frist im Sinne dieser Bestimmung, die der Kläger nach dem oben Gesagten versäumt hat. Der Kläger war aber nicht ohne sein Verschulden an deren Einhaltung verhindert.
40Verschulden liegt vor, wenn der Betroffene hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dies gilt auch hinsichtlich der Kenntnis vom Wegfall des Hindernisses und der Erkenntnis, dass die Frist versäumt wurde sowie hinsichtlich möglicher, angesichts der konkreten Umstände des Falles zu erwartender und zumutbarer Bemühungen, die bestehenden Hindernisse zu überwinden oder zu beseitigen. Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht dürfen angesichts der Bedeutung der Wiedereinsetzung für den verfassungsrechtlichen gewährleisteten Rechtsschutz der Betroffenen nicht überspannt werden. Im Gegensatz zum Verschuldensbegriff des Bürgerlichen Rechts ist auf die Verhältnisse der Betroffenen abzustellen. Es kommt darauf an, ob dem Betroffenen nach den gesamten Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat und nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, damit das Hindernis baldmöglichst wegfällt. Voraussetzung für die Wiedereinsetzung ist, dass zwischen dem unverschuldeten Hindernis und der Fristversäumung ein Kausalzusammenhang besteht.
41Vgl. W. R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 29. Aufl., 2023, § 60 Rn. 8, 9.
42Der Kläger muss sich unter Berücksichtigung dieser Grundsätze vorwerfen lassen, dass nach den Gesamtumständen das in Rede stehende Hindernis an der Einhaltung der Klagefrist, nämlich seine Unkenntnis von dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes, nicht eingetreten wäre, wenn er die ihn gemäß § 10 Abs. 1 AsylG a. F. treffende Obliegenheit, jeden Wechsel seiner Anschrift dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen, erfüllt hätte.
43Unverzüglich bedeutet nach allgemeinem Rechtsverständnis ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB). Dieser unbestimmte Rechtsbegriff ist bei Anwendung von § 10 Abs. 1 AsylG a. F. im Hinblick auf dessen oben dargelegte Beschleunigungsfunktion und den Regelungszusammenhang der Bestimmung dahin zu verstehen, dass die Adressänderung gegenüber der jeweilig bestimmten Behörde regelmäßig innerhalb einer Woche erfolgen muss, wobei der Zugang bei der Behörde maßgeblich ist. Dafür spricht vor allem, dass vom Betroffenen eine einfache tatsächliche Handlung gefordert ist, die - anders als z. B. die Frage der Stellung eines Antrags auf Familienasyl nach § 26 AsylG -,
44vgl. zum Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit in derartigen Fällen: BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 – 9 C 35/96 -, juris, Rn. 10,
45im Regelfall keine Auseinandersetzung mit der Rechtslage oder Überlegungen im Hinblick auf etwaig eintretende Rechtsfolgen erforderlich macht.
46Vgl. VG Berlin, Urteil vom 12. März 2021 – 5 K 457/17.A -, juris, Rn. 29, m. w. N.
47Seiner Obliegenheit zur Mitteilung ist der Kläger, der darüber nach dem oben Gesagten zutreffend belehrt worden ist, nicht innerhalb einer Woche nachgekommen. Das Versäumnis ist auch ursächlich für die Versäumung der Frist geworden. Bei rechtzeitiger Mitteilung seiner Weiterleitung nach Selm an das Bundesamt wäre dieses spätestens am 19. Oktober 2022, also noch vor der durch Empfangsbekenntnis belegten und für die Zustellungsfiktion gemäß § 10 Abs. 4 2. Halbsatz AsylG a. F. maßgeblichen Übergabe des Bescheides an die Aufnahmeeinrichtung von der Änderung seiner Anschrift in Kenntnis gesetzt worden.
48Der Kläger durfte auch nicht ohne Verschulden auf den von ihm geltend gemachten und eidesstattlich versicherten Umstand vertrauen, ein Bediensteter der Bezirksregierung Arnsberg habe ihm erklärt, er könne von einer Mitteilung seiner Weiterleitung an das Bundesamt absehen, weil das Bundesamt durch die Bezirksregierung informiert werde. Er befand sich – seine Angaben als richtig unterstellt - diesbezüglich in einem Rechtsirrtum über die ihn nach § 10 Abs. 1 AsylG a. F. treffenden Obliegenheiten. Rechtsunkenntnis kann die Fristversäumnis grundsätzlich nicht entschuldigen. Der Betroffene muss sich in geeigneter, zuverlässiger Weise informieren. Soweit er eine ordnungsgemäße Rechtsbelehrung aufgrund anderslautender falscher Auskünfte nicht befolgt, ist ein darauf beruhendes Fristversäumnis in der Regel schuldhaft. Anderes kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa bei Fehlverhalten der Stelle, gegenüber der die Frist einzuhalten ist.
49Vgl. W. R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 29. Aufl., 2023, § 60 Rn. 12.
50Davon ausgehend durfte der Kläger der ihm von einem Bediensteten der Bezirksregierung mündlich erteilten Auskunft kein größeres Gewicht beimessen als der schriftlichen Belehrung in den vorerwähnten „Wichtigen Mitteilungen“ des Bundesamtes. Am Ende dieser Mitteilungen wird - durch Fettdruck besonders hervorgehoben - ausdrücklich bekräftigt, dass jeder Wohnungswechsel den genannten Stellen, also unter anderem dem Bundesamt, auch dann mitzuteilen ist, wenn der neue Wohnort durch eine staatliche Stelle zugewiesen worden ist. Dem hätte der Kläger entnehmen müssen, dass er sich auf einen Informationsaustausch zwischen den Behörden nicht verlassen darf.
51Die Kostenentscheidung beruht auf den § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
52Rechtsmittelbelehrung:
53Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen und die Zulassungsgründe im Sinne des § 78 Abs. 3 Asylgesetz darlegen.
54Der Antrag ist durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten zu stellen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.