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Die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen der Beklagten vom 17. Oktober 2022 (Az. 282-22 und 283-22) werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
2Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks B.-straße N01 (Gemarkung V., Flur N02, Flurstück N03) in W.. Das Grundstück ist mit einem von ihnen selbst genutzten Einfamilienhaus bebaut, das aus einem zweigeschossigen Hauptteil mit Satteldach und eingeschossigen Anbauten besteht. Rückwärtig an den Hauptteil grenzt eine Terrasse an. Das Grundstück ist 822 qm groß; rund 200 qm davon sind bebaut.
3Die Beigeladene plant die Bebauung einer südöstlich angrenzenden Fläche an der Q.-straße (Gemarkung V., Flur N02, Flurstück N04). Es handelt sich um eine teilweise baumbestandene Wiese, die bislang zu der Jugendstilvilla Q.-straße N05 gehört hat.
4Das Grundstück der Kläger und die zur Bebauung vorgesehene Fläche der Beigeladenen liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 72 „Ortskern A.“ aus dem Jahre 2013, der sich im Wesentlichen auf Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung beschränkt und hier ein allgemeines Wohngebiet festsetzt. Entlang der Q.-straße setzt der Plan im hier interessierenden Bereich eine private Grünfläche fest.
5Weitere Einzelheiten sind dem nachfolgenden Kartenausschnitt zu entnehmen:
6„Bilddarstellung wurde entfernt“
7Am 3. Mai 2022 beantragte die Beigeladene die Erteilung von Baugenehmigungen für zwei weitgehend identische Mehrfamilienhäuser mit jeweils sechs Wohneinheiten nebst Garagen, Stellplätzen und weiteren Nebenanlagen auf der fraglichen Fläche, die von Nordwesten nach Südosten hin ansteigt. Die beiden mit Satteldach (40 Grad) versehenen, rund 19 mal 11 Meter großen und 11 Meter hohen Baukörper sollen über zwei Vollgeschosse und ein ausgebautes Dachgeschoss verfügen und mit ihrer Längsseite (traufständig) an den nordwestlichen Grundstücksgrenzen aufstehen. Zwischen den Baukörpern und der nordwestlichen, tiefer liegenden Grundstücksgrenze stellen die Bauvorlagen eine gestufte Anschüttung gegenüber dem jetzigen Gelände dar, die auf der Grundstücksgrenze durch L-Steine abgefangen werden soll. Die Anschüttung bleibt auf den ersten drei Metern ab der Grenze unter der Höhe von einem Meter, überschreitet diese Höhe aber im weiteren Verlauf.
8Mit Bescheid vom 17. Oktober 2022 wurden die beantragten Baugenehmigungen (Az. 282-22 und 283-22) erteilt.
9Am 28. Oktober 2022 haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sie ausführen: Ihr Eigentum werde durch die geplante Bebauung mittelbar beeinträchtigt. Der Beigeladenen werde eine künstliche und unansehliche Anschüttung gestattet, um die Hanglage zur Q.-straße auszugleichen. Dadurch werde das Abstandsflächenrecht verletzt, da die Abstandsfläche vom Sockel der Anschüttung her zu bestimmen sei. Durch das geschaffene Gefälle werde zudem Wasser auf ihr Grundstück laufen. Wegen der zu erwartenden Verschattung werde eine natürliche Flora im Grenzbereich nicht mehr gewährleistet sein. Die Versiegelung auf dem Baugrundstück gehe weit über diejenige der Nachbargrundstücke hinaus und erhöhe das Überschwemmungsrisiko bei Starkregen. Das Vorhaben stelle einen erheblichen Eingriff in ihren Gebietserhaltungsanspruch dar. Der Charakter der Umgebung mit den beiden Jugendstilvillen an der Q.-straße und ihren Parkanlagen werde beschädigt. Die geplanten Mehrfamilienhäuser würden ihr eigenes Wohnhaus um ca. fünf Meter überragen. Es entstehe eine erdrückende Wirkung, zumal die beiden Baukörper sich auch in die Breite ausdehnten. Es gebe für eine derartige Hinterlandbebauung im Übrigen auch keine Vorbilder in der Umgebung. Insgesamt sei das Vorhaben rücksichtslos.
10Die Kläger beantragen,
11die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen vom 17. Oktober 2022 (Az. 282-22 und 283-22) aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie tritt der Klage entgegen und meint, das Gebot der Rücksichtnahme werde durch die erteilten Baugenehmigungen gewahrt. Dies werde bereits durch die deutliche Einhaltung der abstandsflächenrechtlichen Vorgaben belegt. Von einer erdrückenden Wirkung könne keine Rede sein.
15Die Beigeladene hat sich nicht zum Verfahren geäußert.
16Der Einzelrichter hat am 2. Februar 2023 einen Ortstermin durchgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll Bezug genommen.
17Die Kammer hat auf Antrag der Kläger mit Beschluss vom 21. Februar 2023 (6 L 131/23) die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen die Baugenehmigungen vom 17. Oktober 2022 angeordnet.
18Nachdem die anschließenden Einigungsgespräche der Beteiligten gescheitert sind, hat die Beigeladene im November 2023 die Genehmigung eines geänderten Vorhabens beantragt, bei dem im Grenzbereich keine Veränderung des Geländes vorgenommen wird. Die entsprechende Baugenehmigung (Az. 743-23) ist unter dem 7. März 2024 erteilt worden und Gegenstand des Klageverfahrens 6 K 1524/24.
19Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe
21Die Klage ist zulässig und begründet.
22Die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen vom 17. Oktober 2022 sind hinsichtlich nachbarschützender Vorschriften rechtswidrig und verletzen die Kläger insoweit in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
23Ein Nachbar kann nur dann erfolgreich gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung vorgehen, wenn diese gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Bauplanungs- oder Bauordnungsrechts verstößt und eine Befreiung oder Abweichung von diesen Vorschriften nicht vorliegt oder unter Berücksichtigung nachbarlicher Belange nicht hätte erteilt werden dürfen. Ob das Vorhaben objektiv, d. h. hinsichtlich derjenigen Vorschriften, die nicht nachbarschützend sind, rechtmäßig ist, ist dagegen im Nachbarverfahren unerheblich.
24Gemessen an diesem Maßstab sind die Baugenehmigungen vom 17. Oktober 2022 aufzuheben. Die Kammer hat dazu in ihrem Beschluss vom 21. Februar 2023 (6 L 131/23) betreffend den Antrag der Kläger auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ausgeführt:
25„Zwar dürfte die Genehmigung der beiden Mehrfamilienhäuser rechtlich nicht zu beanstanden sein (dazu nachfolgend 1.). Die zugleich genehmigten Geländeveränderungen im Bereich der nordwestlichen Grundstücksgrenzen allerdings dürften die Antragsteller in ihren Rechten verletzen (dazu nachfolgend 2.).
261.
27Die Genehmigung der beiden Mehrfamilienhäuser selbst durch die angefochtenen Baugenehmigungen begegnet bei summarischer Prüfung keinen Bedenken.
28a)
29Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts ist bei summarischer Prüfung nicht erkennbar.
30Insbesondere werden die Vorgaben des Abstandsflächenrechts durch das genehmigte Vorhaben eingehalten. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Bauordnung (BauO) NRW 2018 sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese Abstandsflächen müssen nach § 6 Abs. 2 S. 1 BauO NRW 2018 auf dem Grundstück selbst, dürfen also nicht auf dem Nachbargrundstück liegen. Vorliegend sind diese Anforderungen gewahrt. Die auf dem entsprechenden Plan (Bl. 39 des VV 282-22) dargestellten, im Bereich der Grenze zu dem Grundstück der Antragsteller liegenden Abstandsflächen entsprechen den gesetzlichen Vorgaben. Dabei ist gemäß § 6 Abs. 5 S. 1 BauO NRW 2018 auf der gesamten Länge der nordwestlichen Außenwände des Neubaus (19,37 m) von einem Abstandsmaß von 0,4 auszugehen, nachdem im Zuge der Bauordnungsnovelle zum 1. Januar 2019 das Regelabstandsmaß auf diesen Faktor reduziert worden ist. Die Abstandsfläche (T1-3) der Außenwand des mittig vorspringenden Eingangs- und Treppenhausbereichs des Hauses 1 hat unter Zugrundelegung dieses Abstandsmaßes und des vor Beginn der Bauarbeiten existierenden, hier rund anderthalb Meter niedrigeren Geländeniveaus eine Tiefe von (10,23 x 0,4 =) 4,092 m. Die Abstandsflächen (T1-1 und T1-5) der anschließenden, zurückspringenden Teile der Wand haben eine Tiefe von rechnerisch (7,815 x 0,4 =) 3,126 m bzw. (7,94 x 0,4 =) 3,176 m. Alle drei Abstandsflächen liegen vollständig auf dem Baugrundstück, wobei noch ein zusätzlicher Abstand von im Bereich des Vorbaus rund 2,42 m und im Bereich der zurückspringenden Wandteile rund 5,38 m bzw. rund 5,30 m besteht.
31b)
32Die Kammer kann bei summarischer Prüfung auch keinen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts feststellen.
33Die beiden zur Genehmigung gestellten Wohngebäude sind hinsichtlich der Nutzungsart in dem durch den Bebauungsplan Nr. 72 „Ortskern A.“ festgesetzten Allgemeinen Wohngebiet gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 1 Baunutzungsverordnung ohne weiteres zulässig. Weitere Vorgaben enthält der Bebauungsplan nicht, so dass gemäß § 30 Abs. 3 BauGB die Zulässigkeit hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche an § 34 oder § 35 BauGB zu messen ist.
34Der für die bauplanungsrechtliche Prüfung im – hier vorliegenden – unbeplanten Innenbereich maßgebliche § 34 Abs. 1 BauGB entfaltet indes grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung. Ob sich das Vorhaben mit Blick auf das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstückfläche in jeder Hinsichtlich in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, braucht die Kammer daher nicht zu entscheiden. Eine nachbarschützende Wirkung kommt nur dem in dem Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme zu.
35Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 19. März 2015 - 4 C 12.14 -, juris (Rn. 9).
36Das Gebot der Rücksichtnahme soll angesichts der gegenseitigen Verflechtungen der baulichen Situation benachbarter Grundstücke einen angemessenen planungsrechtlichen Ausgleich schaffen, der einerseits dem Bauherrn ermöglicht, was von seiner Interessenlage her verständlich und unabweisbar ist und andererseits dem Nachbarn erspart, was an Belästigungen und Nachteilen für ihn unzumutbar ist. Die Beachtung des Rücksichtnahmegebotes soll gewährleisten, Nutzungen, die geeignet sind, Spannungen und Störungen hervorzurufen, einander so zuzuordnen, dass Konflikte möglichst vermieden werden. Die sich daraus ergebenden Anforderungen sind im Einzelfall festzustellen, wobei die konkreten Umstände zu würdigen, insbesondere die gegenläufigen Interessen des Bauherrn und des Nachbarn in Anwendung des Maßstabes der planungsrechtlichen Zumutbarkeit gegeneinander abzuwägen sind. Dabei kann desto mehr an Rücksichtnahme verlangt werden, je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung dessen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt; umgekehrt braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, desto weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm mit dem Bauvorhaben verfolgten Interessen sind.
37Vgl. nur BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122 ff., vom 18. Mai 1995 - 4 C 20.94 -, BVerwGE 98, 235 ff., und vom 29. November 2012 - 4 C 8.11 -, BVerwGE 145, 145 ff.; Uechtritz, Das baurechtliche Rücksichtnahmegebot: Konkretisierung durch Fallgruppenbildung, DVBl. 2016, 90 ff., mit weiteren Nachweisen.
38Gemessen an diesem Maßstab hält die Kammer das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht für im bauplanungsrechtlichen Sinne rücksichtslos.
39Orientierung bei der insoweit erforderlichen Wertung bietet zunächst das Abstandsflächenrecht, das gerade den Zweck verfolgt, die Interessen von Grundstücksnachbarn im Falle einer grenzständigen oder grenznahen Bebauung zum Ausgleich zu bringen. Zwar kann durch die (landesrechtlichen) Vorgaben des § 6 BauO NRW 2018 keine verbindliche und abschließende Konkretisierung des (bundesrechtlichen) Rücksichtnahmegebots herbeigeführt werden. Die Wahrung des Abstandsflächenrechts hat aber nach ständiger Rechtsprechung eine Indizwirkung: Sind die abstandsflächenrechtlichen Vorgaben eingehalten, so ist im Regelfall auch das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, BauR 1999, 615 ff.; OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 - 2 A 130/16 -, juris (Rn. 43 ff.), und Beschluss vom 16. November 2020 - 2 B 1537/20 -, juris (Rn. 24 ff.), mit weiteren Nachweisen.
41Das Oberverwaltungsgericht hat allerdings betont, dass gerade nach der Zurücknahme der abstandsflächenrechtlichen Anforderungen im Rahmen der Novellierung der nordrhein-westfälischen Bauordnung vom Dezember 2006 stets eine Betrachtung des Einzelfalls geboten sei,
42Beschluss vom 9. Februar 2009 - 10 B 1713/08 -, BauR 2009, 775; die Indizwirkung auch für das neuere Abstandflächenrecht bekräftigend hingegen OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 - 2 A 130/N05 -, juris (Rn. 45),
43und dies dürfte umso mehr für die abermalige Reduzierung der Abstandsflächenvorgaben im Zuge der Novelle 2018 gelten. Vorliegend wären die Vorgaben jedoch – wie die Behörde zutreffend betont (Hinweis Nr. 9 in der Baugenehmigung) – selbst nach der bis Dezember 2006 geltenden Fassung des Abstandsflächenrechts deutlich gewahrt.
44Auch eine Einzelfallbetrachtung führt im Übrigen vorliegend nicht zu einem von den Wertungen des Abstandsflächenrechts abweichenden Ergebnis, obwohl das Grundstück der Antragsteller durch das Bauvorhaben der Beigeladenen zweifellos beeinträchtigt wird.
45Die Kammer kann insbesondere nicht feststellen, dass das genehmigte Gebäude eine „erdrückende Wirkung“ auf das Haus oder das Grundstück der Antragsteller hat. Rücksichtslos erweist sich ein Bauvorhaben insoweit erst dann, wenn es ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich „die Luft nimmt", wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins" entsteht oder wenn die Größe des „erdrückenden" Gebäudes aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls derart übermächtig ist, dass das „erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden" Gebäude dominierte Fläche ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird.
46Vgl. nur OVG NRW, Urteile vom 19. Juli 2010 - 7 A 3199/08 -, juris, vom 18. Oktober 2011 - 10 A 26/09 -, juris, und vom 27. Mai 2019 - 10 A 1860/17 -, juris; Beschluss vom 14. Januar 2021 - 10 B 1891/20 -, juris (Rn. 10).
47Ein solcher, die Indizwirkung des Abstandsflächenrechts ausnahmsweise in Frage stellender Zustand wird vorliegend nicht erreicht. Zwar sehen die Antragsteller sich nach der Errichtung des Neubaus einer durchaus grenznahen, beinahe zwanzig Meter langen Wand gegenüber. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die optische Massivität dieser Wand durch Versprünge abgemildert wird. So tritt die Wand im mittleren „Drittel“ um zwei Meter vor und erreicht hier eine Nähe von rund sechseinhalb Metern zur Grenze. Die beiden äußeren Drittel treten demgegenüber zurück und halten einen Grenzabstand von rund achteinhalb Metern ein. Ähnliches gilt mit Blick auf die vertikale Gestaltung. Während der Vorbau in einer Höhe von rund neun Metern mit einem Flachdach endet, erreichen die beiden äußeren Wandabschnitte bereits in einer Höhe von etwa sechseinhalb Metern die Traufe des mit 40° moderat geneigten Satteldachs. Dass die fragliche Außenwand aufgrund des zum Grundstück der Antragsteller hin abfallenden Geländes optisch etwas höher wirkt als sie tatsächlich ist, liegt auf der Hand. Die topographischen Verhältnisse bringen es in einer solchen Situation mit sich, dass sich eine Bebauung des höher gelegenen Grundstücks intensiver auf das Nachbargrundstück auswirkt. Die Gefahr einer entsprechenden Bebauung „oberhalb“ ist dem tiefer gelegenen Grundstück indes als natürlicher Lagenachteil von vornherein eigen.
48Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. November 2020 - 2 B 1537/20 -, juris (Rn. 17), mit weiteren Nachweisen.
49Dass das Grundstück der Antragsteller und die dortige Bebauung nur noch als untergeordnetes „Anhängsel“ des Baugrundstücks erscheinen, kann jedenfalls nicht angenommen werden.
50Eine über das zumutbare Maß hinausgehende Beeinträchtigung der Belichtung und Sonneneinstrahlung ist ebenfalls nicht zu erwarten. Das Gebot der Rücksichtnahme fordert nicht, dass alle Fenster eines Hauses oder alle Teile eines Gartens optimal durch Sonneneinstrahlung belichtet werden. In einem Wohngebiet muss vielmehr damit gerechnet werden, dass Nachbargrundstücke innerhalb des durch das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es durch eine Bebauung zu einer Verschattung des eigenen Grundstücks oder von Wohnräumen kommt.
51Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 - 2 A 130/16 -, juris (Rn. 57 ff.), sowie Beschlüsse vom 9. Februar 2009 - 10 B 1713/08 -, BauR 2009, 775, vom 29. August 2011 - 2 B 940/11 - und vom 16. November 2020 - 2 B 1537/20 -, juris (Rn. 26), jeweils mit weiteren Nachweisen.
52Dass das Haus und das Grundstück der Antragsteller infolge des genehmigten Neubaus von jeglicher Sonneneinstrahlung abgeschnitten werden, lässt sich angesichts der begrenzten Höhe des Neubaus nicht annehmen, auch wenn eine gewisse Verschattung zu bestimmten (Jahres-) Zeiten sicher zu erwarten ist.
53Für die Einblickmöglichkeiten aus den Fenstern des genehmigten Neubaus auf das Grundstück der Antragsteller gilt im Ergebnis dasselbe. Grund-stückseigentümer in Wohngebieten haben es grundsätzlich hinzunehmen, dass Grundstücke innerhalb des Rahmens baulich genutzt werden, den das Bauplanungsrecht und das Bauordnungsrecht vorgeben, und dass es dadurch auch zu Einsichtnahmemöglichkeiten kommt, die in bebauten Gebieten üblich sind.
54Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2018 - 7 B 918/18 -, juris.
55Im Übrigen ist zu konstatieren, dass sich in dem am nächsten an das Grundstück der Antragsteller heranreichenden Gebäudeteil, also dem mittig vorspringenden Bereich, lediglich Treppenhausflächen einschließlich des Aufzugs befinden. Die Wohnzimmerbereiche der Wohnungen nebst Balkonen befinden sich auf der von den Antragstellern abgewandten Seite. Auch unter diesem Aspekt kann der Neubau daher nicht als im planungsrechtlichen Sinne rücksichtslos betrachtet werden.
56Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots bewirkt schließlich auch nicht der Umstand, dass der bisherige Ausblick von der Terrasse und aus dem Garten der Antragsteller auf die südlich befindliche, von großzügigen begrünten Freiflächen umgebene Villa aufgrund des genehmigten Gebäudes kaum mehr bestehen wird. Dass die Situation sich insoweit für die Antragsteller verschlechtern wird, steht außer Frage. Entsprechende vorhandene Sichtbeziehungen stellen sich jedoch im Wesentlichen als faktischer Lagevorteil dar. Auf den Fortbestand eines solchen Lagevorteils hat der Grundstückseigentümer regelmäßig keinen Rechtsanspruch.
57Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1993 - 4 C 5.93 -, NVwZ 1994, 686; OVG NRW, Urteil vom 27. Mai 2019 - 10 A 1860/17 -, juris (Rn. 58); VG Gelsenkirchen, Urteile vom 28. November 2017 - 6 K 3879/16 -, juris (Rn. 27) und vom 3. März 2020 - 6 K 2798/19 -, juris (Rn. 49).
582.
59Die mit den angefochtenen Baugenehmigungen gestatteten Geländeveränderungen im Bereich der nordwestlichen Grenzen des Baugrundstücks verstoßen bei summarischer Prüfung gegen das Bauordnungsrecht, und zwar auch dann, wenn man diese Geländeveränderungen zugunsten der Bauherrin als selbständige Anschüttung und nicht als Bestandteil des Gebäudes betrachtet.
60Gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BauO NRW 2018 gelten die Vorgaben des Abstandsflächenrechts auch („entsprechend“) für Anlagen, die keine Gebäude sind, die aber höher als einen Meter über die Geländeoberfläche hinausgehen und dazu geeignet sind, von Menschen betreten zu werden. Eine solche Anlage soll vorliegend in Form der nordwestlich der genehmigten Mehrfamilienhäuser geplanten Anschüttung, auf der sich unter anderem die Zuwegungen zu den Hauseingängen, aber etwa auch die Kinderspielflächen befinden, hergestellt werden. Denn diese Anschüttung ist in nicht unwesentlichen Teilen höher als einen Meter. Dies gilt insbesondere für den Bereich vor dem geplanten „Haus 1“. Dort soll das zukünftige Gelände teilweise um bis zu rund anderthalb Meter über dem bisherigen Gelände liegen. Es gilt aber beispielsweise wohl auch für den Bereich beider Kinderspielflächen. Die Anschüttung ist auch dazu geeignet (und bestimmt), von Menschen betreten zu werden. Vor der Anschüttung ist somit eine Abstandsfläche zu bilden, die gemäß § 6 Abs. 5 S. 1 BauO NRW 2018 mindestens drei Meter tief sein und gemäß § 6 Abs. 2 S. 1 BauO NRW 2018 auf dem Baugrundstück selbst liegen muss. Vorliegend liegt die Abstandsfläche der Anschüttung hingegen vollständig auf den Nachbargrundstücken.
61Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Anschüttung zu den nordwestlichen Grundstücksgrenzen hin flacher wird und sie in einem drei Meter breiten Streifen an der Grenze selbst möglicherweise – etwas unklar ist insoweit der Geländeverlauf zwischen der westlichen Kinderspielfläche und der Grenze zum Grundstück Im Steinfeld 6 – nicht über eine Höhe von einem Meter hinausgeht. Denn eine einheitliche Anschüttung ist grundsätzlich als eine bauliche Anlage zu betrachten und kann nicht in mehrere, einer unterschiedlichen abstandsflächenrechtlichen Bewertung zugängliche Teilanlagen aufgeteilt werden. Bei einer abgeböschten Anschüttung beginnt daher nach ständiger Rechtsprechung die Abstandsfläche regelmäßig bereits am Böschungsfuß. Auch Absätze und Stufen innerhalb der Böschung ändern daran grundsätzlich nichts. Bilden die verschiedenen Beeihe der Anschüttung baulich-konstruktiv, funktional und optisch eine Einheit, so muss die Anschüttung insgesamt den gebotenen Abstand zur Grenze wahren.
62Vgl. zu alldem OVG NRW, Beschlüsse vom 10. Juni 1999 - 7 B 827/99 -, n.v., vom 22. Januar 2001 - 7 E 547/99 -, juris (Rn. 4 f.), vom 10. Februar 2010 - 7 B 1368/09 -, juris (Rn. 22), vom 17. Februar 2011 - 7 B 1803/10 -, juris (Rn. 33), und vom 7. Mai 2021 - 2 A 468/21 -, juris (Rn. 14 ff.); VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16. August 2012 - 5 L 653/12 -, juris (Rn. 12 ff.); VG Köln, Beschluss vom 13. Januar 2021 - 23 L 2028/20 -, juris (Rn. 21 ff.); BeckOK BauordnungsR NRW/Kockler, 13. Ed. 1.12.22, § 6 Rn. 24.
63Vorliegend handelt es sich um eine einheitliche Anschüttung in dem vorstehend beschriebenen Sinne. Sie tritt optisch als eine – wenn auch abgetreppte bzw. gestufte – Geländemodellierung in Erscheinung und auch funktional lassen sich die verschiedenen Bereiche der Anschüttung nicht voneinander trennen, weil alle Bereiche durch den gemeinsamen Zweck verbunden sind, die Anforderungen des hängigen Geländes in dem recht knappen Raum zwischen den Gebäuden und der Grundstücksgrenze sinnvoll zu bewältigen. Auch die in einem Abstand von drei Metern eingezogene, mit L-Steinen hergestellte Stufe ändert schließlich nichts daran, dass es sich auch baulich-konstruktiv um eine einzige Anlage handelt. Denn die Schnittzeichnungen belegen, dass die vorgenannten L-Steine ohne den davor angeschütteten niedrigeren Bereich ihre Funktion nicht erfüllen könnten. Ohne den ersten, niedrigeren Teil der Anschüttung wären die L-Steine erkennbar schon deshalb nicht in der Lage, ihre Funktion zuverlässig zu erfüllen, weil sie nicht bis auf das vorhandene Gelände hinabreichen. Der niedrigere Teil der Anschüttung stützt also den höheren Teil ab.
64Verstößt sie demnach bereits zum Nachteil der Antragsteller gegen § 6 BauO NRW 2018, so kann offen bleiben, ob die Anschüttung – namentlich die bereits unmittelbar an der Grundstücksgrenze vorgesehene, von weiteren L-Steinen gehaltene Anhebung des Geländeniveaus um nach den Schnittzeichnungen teilweise wohl mindestens 40 cm – auch gegen § 8 Abs. 5 BauO NRW 2018 (Fassung 2021) verstößt.“
65An diesen Überlegungen hält die Kammer fest. Die Beteiligten sind ihnen auch nicht im Einzelnen entgegengetreten. Ob der Abstandsflächenrechtsverstoß durch die Erteilung einer Abweichung nach § 6 Abs. 13 i.V.m. § 69 BauO NRW 2018 hätte beseitigt werden können,
66vgl. in diesem Zusammenhang Johlen, in: Gädtke u.a., Bauordnung NRW, Kommentar, 15. Aufl. 2024, § 6 Rn. 556, aber auch – zurückhaltender – BeckOK BauordnungsR NRW/Hüwelmeier, 19. Ed. 1.7.2024, § 69 Rn. 25 ff.,
67braucht die Kammer nicht zu entscheiden. Denn eine solche Abweichung ist weder (entsprechend den Vorgaben des § 69 Abs. 2 BauO NRW 2018) beantragt, noch erteilt worden. Da es sich um einen Fall des § 69 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018 handelt, hätte die Beklagte insoweit Ermessen ausüben und dabei die nachbarlichen Belange berücksichtigen müssen. Auf die Ausübung dieses Ermessens durch die Behörde hat der betroffene Nachbar, wenn die Abweichung von einer nachbarschützenden Norm wie § 6 BauO NRW 2018 in Rede steht, einen Anspruch.
68Vgl. nur BeckOK BauordnungsR NRW/Hüwelmeier, 19. Ed. 1.7.2024, § 69 Rn. 47 mit weiteren Nachweisen.
69Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beigeladenen können keine Verfahrenskosten auferlegt werden, weil sie keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Ihre eigenen Kosten sind allerdings nicht erstattungsfähig (§ 162 Abs. 3 VwGO).
70Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 709 Zivilprozessordnung.
71Rechtsmittelbelehrung
72Innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
73Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster schriftlich einzureichen.
74Der Antrag ist zu stellen und zu begründen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.