Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Der Kläger begehrt die Erteilung der Baugenehmigung für die Erweiterung und Nutzungsänderung eines Gebäudes.
3Er ist Eigentümer des Grundstücks S.-straße N01 (Gemarkung X., Flur N02, Flstk. N03) in X.. Das rund 1350 qm große Grundstück ist mit zwei Baukörpern bebaut. An der Straße steht ein Gebäude mit einem Vollgeschoss sowie einem ausgebauten Dachgeschoss nebst Spitzboden giebelständig auf. Dieses Gebäude wird von dem Sohn des Klägers und dessen Familie zu Wohnzwecken, aber auch im Rahmen der beruflichen Tätigkeit (Hausmeisterservice, Boden-/Fliesenleger und andere bauhandwerkliche Tätigkeiten [Fa. L.]) genutzt. Im hinteren Teil des Grundstücks findet sich ein L-förmiger, zweigeschossiger Baukörper mit Flachdach, der im Erdgeschoss Garagen und Lagerräume und im Obergeschoss eine Wohnung nebst Büroraum beinhaltet. Dieses Gebäude wird größtenteils durch den Kläger genutzt, und zwar im Wesentlichen zu Wohnzwecken, das Büro auch zu beruflichen Zwecken (Automatenaufsteller, Verwaltung eigener Gaststätten). Seinen früheren Gewerbebetrieb (Handel mit Fleisch-/Wurstwaren, Imbissbetrieb) hat er altersbedingt eingestellt.
4In der Umgebung finden sich nördlich der S.-straße Wohnhäuser (S.-straße N04 ,N05, N06), vor allem aber gewerblich genutzte Gebäude. Westlich an das streitgegenständliche Grundstück grenzt das Gelände der Firma N. an, auf dem eine immissionsschutzrechtlich genehmigte Fertigung von Kondensatoren stattfindet. Auf dem Grundstück S.-straße N07 befinden sich Gebäude der Stadtbetriebe X. (städtischer Bauhof), unter anderem eine Wagenhalle. Die Gebäude auf dem östlich angrenzenden Grundstück S.-straße N08 werden teilweise von der „Werkstatt im Kreis X.“ genutzt, die hier v.a. Aus- und Weiterbildung anbietet, u.a. in einer eingerichteten Schreinerwerkstatt. In den Gebäuden finden sich überdies weitere Gewerbebetriebe, u.a. ein Sanitärinstallationsbetrieb. Östlich des Gebäudes S.-straße N06 finden sich weitere Gewerbeimmobilien (v.a. Büroräume) sowie der „Servicehof“ der Stadtbetriebe X. (zentrale Annahmestelle für Abfälle etc.). Rund 150 m weiter östlich schließt sich ein großes Aluminiumwerk an. Südlich der S.-straße steht in größerem Umfang Wohnbebauung auf, aber auch ein Industrieofenbau-Betrieb (S.-straße N09). Die Bebauung südlich der S.-straße und westlich der G.-straße ist von der Kammer in ihrem Urteil vom 22. Januar 2019 (6 K 12406/17) näher beschrieben und bauplanungsrechtlich als „Gemengelage“ eingestuft worden.
5Das streitgegenständliche Grundstück des Klägers liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 9 „Z.-straße“ der Beklagten, der hier ein Gewerbegebiet festsetzt. Der Flächennutzungsplan stellt eine „gewerbliche Baufläche“ dar.
6Weitere Einzelheiten sind dem nachfolgenden Kartenausschnitt zu entnehmen:
7[Bilddarstellung wurde entfernt]
8Unter dem 16. Februar 1948 wandte sich der Vater des Klägers, ein Gemüse- und Kartoffelhändler, an die Beklagte und erklärte, er wolle auf dem streitgegenständlichen Grundstück an der S.-straße Lagerräume, eine Garage und ein Wohnhaus errichten, da die bisherigen Geschäftsräume zu klein geworden seien. Zunächst solle mit dem Bau des Wohnhauses begonnen werden, „damit für das sofort anschließend zu bauende Lager Aufsicht und Bewachung möglich“ sei. Der beantragte Bauschein für das Wohnhaus, das heutige Vorderhaus, wurde unter dem 2. August 1948 erteilt. In der Folgezeit wurden Entwässerungseinrichtungen für das Wohnhaus (1948/49), eine Grundstückseinfriedung (1950/52), die Unterkellerung der Terrasse zur Anlage eines Kühl- und eines Abstellraumes (1952) und eine Doppelgarage (1953) genehmigt.
9Ausweislich eines auf dem Geoserver NRW abrufbaren Luftbildes waren im Jahre 1954 (unter anderem) die Gebäude S.-straße N10, N11 und N06 bereits vorhanden. Im Jahre 1955 wurde auch das Wohnhaus S.-straße N05 genehmigt und errichtet.
10Im Dezember 1964 beschloss der Bau- und Hauptausschuss der Beklagten die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 9 „Z.-straße“. Vom 15. Juli bis zum 15. August 1966 und – nach Änderung des Plans – vom 15. Februar bis zum 15. April 1967 fand die Offenlegung des Entwurfs statt. Auf die Offenlegung wurde jeweils (nur) im Amtlichen Bekanntmachungsblatt des Landkreises X. hingewiesen, im Januar 1967 unter der Überschrift „Bebauungsplan Nr. 9 – Z.-straße“. Der Bebauungsplan wurde am 24. Juli 1967 durch den Rat beschlossen. Die Genehmigung des Bebauungsplans durch die Landesbaubehörde Ruhr wurde im Amtlichen Bekanntmachungsblatt des Landkreises X. vom 31. Juli 1968 öffentlich bekannt gemacht. Anschließend kam es zu Korrespondenz betreffend die Wirksamkeit des Bebauungsplans. Eine Anwaltskanzlei machte im Namen des Anwohners N. geltend, die bei der Bekanntmachung der Offenlegung gewählte Bezeichnung „Bebauungsplan Z.-straße“ sei nicht geeignet gewesen, die Offenlegung hinreichend publik zu machen. Dass auch Grundstücke an der S.-straße betroffen seien, sei anhand dieser Bezeichnung nicht erkennbar gewesen. In einem Vermerk vom 12. Februar 1969 trat das Rechtsamt der Beklagten dieser Sichtweise bei und erklärte, der Fehler führe wohl zur Nichtigkeit des Bebauungsplans.
11Im Jahre 1965 wurde die Genehmigung eines Gebäudes mit Kühl- und Gefrierräumen auf dem streitgegenständlichen Grundstück, das sich rückwärtig an die vorhandene Doppelgarage anschließen sollte, erteilt. Im Jahre 1970 folgte die Genehmigung einer „Garagenhalle“, die sich ihrerseits rückwärtig an das Kühl-/Gefriergebäude anschließen sollte. In diesem Zusammenhang bewilligte die Beklagte als Eigentümerin des östlich angrenzenden Nachbargrundstücks offenbar eine Abstandsflächenbaulast.
12Im Jahre 1977 trat die Familie des Klägers an die Beklagte heran und erklärte, die Wohnung im Vorderhaus sei inzwischen zu klein geworden. Außerdem müssten Sozialräume für die Mitarbeiter des Betriebes geschaffen werden. Man wolle daher das aus Doppelgarage, Kühl-/Gefriergebäude und Garagenhalle bestehende hintere Gebäude um ein zweites Geschoss aufstocken und dort eine Wohnung einrichten. Das Vorderhaus solle der gewerblichen Nutzung zugeführt werden. Die Beklagte erklärte mit Bauvorbescheid vom 28. September 1977, eine Baugenehmigung könne in Aussicht gestellt werden, wenn nach Fertigstellung der Aufstockung das vorhandene Wohnhaus nur noch gewerblich genutzt werde und die neu geschaffene Wohnung dem in der Baunutzungsverordnung für Betriebswohnungen benannten Personenkreis zur Verfügung gestellt werde.
13Im Dezember 1977 stellte der Kläger unter Vorlage einer Zustimmungserklärung des rückwärtigen Nachbarn einen entsprechenden Bauantrag. Der Bauschein wurde unter dem 5. April 1978 erteilt und enthält u.a. die folgenden Zusätze:
14„(001) Das vorhandene Wohnhaus darf nach Fertigstellung der Aufstockung nur gewerblich genutzt werden.
15(002) Die neue Wohnung darf nur dem in § 8 Abs. 3 Satz 1 Baunutzungsverordnung - BauNVO - vom 26.N07.1968 genannten Personenkreis zur Verfügung gestellt werden.“
16Im Jahre 1981 wurde noch die Errichtung eines Garagengebäudes in dem drei Meter breiten Streifen zwischen dem aufgestockten hinteren Gebäude und der nördlichen Grundstücksgrenze genehmigt.
17Im Mai 2010 meldete der Sohn des Klägers ein Gewerbe („Fliesen- und Plattenleger, Bodenleger, Hausmeisterservice“) mit der Betriebsstätte S.-straße N10 an. Im April 2013 wurde diese Gewerbeanmeldung um die Tätigkeiten „Holz- und Bautenschutz, Objekteinrichtungen“ erweitert. Offenbar wurde dieses Gewerbe von dem Vorderhaus aus betrieben, in dem der Sohn des Klägers nun auch mit seiner Frau und seiner Tochter wohnte.
18Mit Bescheid vom 7. Mai 2020 lehnte die Beklagte die nachträgliche Erteilung der Baugenehmigung für eine rückwärtige Erweiterung des Vorderhauses mit der Begründung ab, das Haus dürfe seit 1978 nicht mehr als Wohnhaus genutzt werden. Die Bauvorlagen stellten aber eine Wohnnutzung dar. Diese könne in dem festgesetzten Gewerbegebiet auch nicht genehmigt werden. Parallel leitete die Beklagte wohl auch ein ordnungsbehördliches Verfahren wegen der ungenehmigten Nutzung ein.
19Im Juni 2020 stellte der Kläger einen weiteren Antrag auf Erteilung der (nachträglichen) Baugenehmigung für die „Erweiterung eines Gewerbeobjekts und Nutzungsänderung in betriebsbedingtes Wohnen“. Nach den Bauvorlagen sollen im Kellergeschoss des Vorderhauses drei gewerbliche Lagerräume sowie Räume für eine sowohl gewerbliche als auch private Nutzung (Heizung/Server, Trockenkeller, Waschen) eingerichtet werden. Auch in dem durch einen rückwärtigen Anbau (2,80 m x 5,55 m) erweiterten Erdgeschoss sollen gewerbliche Räume (Büro, Besprechung, WC) sowie gemischt genutzte Räume (Essen, Kochen) eingerichtet werden. Das Obergeschoss enthält ausschließlich privat genutzte Räume (Wohnen, Schlafen, Kind, Ankleide, Bad). In dem durch eine neue, enge Wendeltreppe erschlossenen Spitzboden soll wiederum ein gewerblicher Raum untergebracht werden („Archiv – kein Aufenthaltsraum“).
20Mit Schreiben vom 21. Dezember 2020 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ablehnung des Bauantrages an. Das Grundstück liege in einem festgesetzten Gewerbegebiet. Eine Betriebswohnung sei für die ausgeübte Art von Gewerbe nicht erforderlich. Zudem seien keine Details der Betriebsabläufe dokumentiert. Dem trat der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten unter dem 19. Januar 2021 entgegen und erklärte, die Wirksamkeit des Bebauungsplans sei zweifelhaft. Jedenfalls sei durch die Ansiedlung des Betriebes seines Sohnes eine weitere Betriebsinhaberwohnung gerechtfertigt. Diese sei wegen der Art des Betriebes notwendig.
21Im November 2022 erhob der Kläger Untätigkeitsklage (6 K 4589/22), die später – nach Bescheidung seines Bauantrages – von den Beteiligten für erledigt erklärt wurde.
22Unter dem 20. Dezember 2022 hörte die Beklagte den Kläger erneut zur beabsichtigten Ablehnung an und führte zur Begründung aus, zu den bauplanungsrechtlichen Ablehnungsgründen seien bauordnungsrechtliche hinzugetreten. Der Spitzboden könne nach Lage der Dinge als Aufenthaltsraum genutzt werden. Es sei daher ein zweiter Rettungsweg erforderlich. Die Fenster seien indes zu klein, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen. Dasselbe gelte für das Dachgeschoss. Auch erfülle die Treppe vom Kellergeschoss bis in den Spitzboden nicht die Anforderungen der DIN 18065.
23Mit Bescheid vom 9. Mai 2023 lehnte die Beklagte den Bauantrag ab und bezog sich zur Begründung sowohl auf die genannten bauplanungsrechtlichen als auch auf die genannten bauordnungsrechtlichen Erwägungen.
24Am 5. Juni 2023 hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er ausführt:
25Der Bebauungsplan UN-009 „Z.-straße“ der Beklagten sei unwirksam. Die Genehmigungsverfügung der Landesbaubehörde werde auf der Planurkunde auf einen Zeitpunkt vor Ablauf der Auslegungsfrist datiert. Fraglich sei auch, ob eine ordnungsgemäße Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt worden sei und ob eine ausreichende Abwägung stattgefunden habe. Die Bekanntmachung der Offenlegung sei seinerzeit fehlerhaft gewesen, weil das betroffene Gebiet mit dem Titel „Z.-straße“ nur unvollkommen bezeichnet gewesen sei. Auch sei ein Umweltbericht nicht eingeholt worden. Der Aufstellungsbeschluss sei nicht ausreichend dokumentiert. Auch bei späteren Änderungen des Bebauungsplans seien Mängel des Ursprungsbebauungsplans zur Sprache gekommen. Im Übrigen seien in der Umgebung erhebliche Abweichungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans zu verzeichnen. So handele es sich bei den Gebäuden S.-straße N11 und N05 um Wohnhäuser, ohne dass eine betriebliche Tätigkeit auf dem jeweiligen Grundstück zu verzeichnen sei. Auch rein faktisch handele es sich wegen der Wohnhäuser nicht um ein Gewerbegebiet.
26Das Vorhaben sei jedenfalls als Betriebsinhaberwohnung zu genehmigen. Es komme – anders als bei Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonal – lediglich darauf an, dass das Wohnen des Betriebsinhabers im Gewerbegebiet objektiv sinnvoll, nicht, dass es zwingend erforderlich sei. Er habe die von seinem Sohn ausgeübten Tätigkeiten im Rahmen der Anhörung und im Klageverfahren ausführlich und zutreffend beschrieben. Sie legten ein Wohnen auf dem Betriebsgrundstück nahe. Über das Vorderhaus hinaus nutze sein Sohn auch Freiflächen auf dem Grundstück sowie einen Teil des Erdgeschosses des Hintergebäudes für seinen Betrieb.
27Bei dem Archivraum im Spitzboden handele es sich nicht um einen Aufenthaltsraum; ein Arbeitsplatz sei nicht vorgesehen. Ein zweiter Rettungsweg sei daher nicht erforderlich. Hinsichtlich der Ausführungen zu Fenstergröße und Treppenbreite sei im Übrigen festzustellen, dass das Haus einmal so genehmigt worden sei. Jedenfalls könne nach dem Ministerialerlass vom 25. November 2019 bei Bestandsgebäuden von den Mindestmaßen abgewichen werden.
28Der Kläger beantragt,
29den Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, seinen Antrag auf Erweiterung eines Gewerbeobjekts und Nutzungsänderung in betriebsbedingtes Wohnen vom 20. Juni 2020, eingegangen am 5. August 2020, ergänzt durch Hilfsantrag vom 27. Februar 2023 in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren 6 K 5489/22, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
30Die Beklagte beantragt,
31die Klage abzuweisen.
32Sie trägt vor: Der Bebauungsplan UN-009 sei wirksam. Das Aufstellungsverfahren sei ausweislich der Verfahrensvermerke auf der Planurkunde korrekt abgelaufen. Im Übrigen gelte § 214 des Baugesetzbuches. Das Gebiet habe sich auch nicht entgegen dem Bebauungsplan entwickelt. Die Altbebauung S.-straße N10, N11 und N05 sei durch den Bebauungsplan überplant worden. Nach Inkrafttreten des Bebauungsplans seien Nutzungsänderungen hinsichtlich der Gebäude S.-straße N11 und N05 nicht genehmigt worden.
33Wohnungen sollten im Gewerbegebiet im Übrigen nur ausnahmsweise zugelassen werden, so dass nicht jedes Betriebskonzept eine Ausnahme nach der Baunutzungsverordnung rechtfertige. Es sei nicht dargetan, dass für den in der Betriebsbeschreibung stichwortartig bezeichneten Betrieb eine Wohnung erforderlich sei. Die umfassendere Aufstellung in der Gewerbeanmeldung stimme nicht mit der Betriebsbeschreibung im Bauantrag überein. Auch die nunmehr behaupteten Tätigkeiten in den frühen Abendstunden bzw. der 24-Stunden-Notdienst stünden nicht mit der Betriebsbeschreibung (Betriebszeit 8 bis 17 Uhr) in Einklang. In den Bauvorlagen sei auch nicht erkennbar, dass in dem hinteren Gebäude auf dem Grundstück Fahrzeuge und Maschinen untergebracht seien, die zu dem Betrieb des Sohnes des Klägers gehören.
34Die bauordnungsrechtlichen Defizite seien nach wie vor vorhanden. Der nunmehr hilfsweise vorgeschlagene Tausch des Archivraums im Spitzboden mit einem privat genutzten Kellerraum sei in den Bauvorlagen nicht dargestellt.
35Der Berichterstatter hat am 27. Juni 2024 einen Ortstermin durchgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll Bezug genommen.
36Mit Datum vom 24. Mai 2024 ist der Fa. N. KG (Kondensatorenfabrik - S.-straße x) von der Bezirksregierung Arnsberg eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die wesentliche Änderung ihrer „Anlage zum Aufbringen von metallischen Schutzschichten auf Nickel- oder Kunststoffoberflächen“ (4. BImSchV Anh. 1 Nr. 3.9.2.2 – vereinfachtes Genehmigungsverfahren) erteilt worden. Die Genehmigung geht davon aus, dass das Grundstück sich in einem Gewerbegebiet befindet. Nach ihren Nebenbestimmungen sind an den Gebäuden S.-straße N10 und N11 Immissions-Richtwerte von 65/50 dB(A) einzuhalten. Die Genehmigung ist Gegenstand einer Anfechtungsklage des Klägers (8 K 3061/24).
37Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden und des Verfahrens 6 K 4589/22 sowie auf den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
38Entscheidungsgründe
39Die Kammer geht angesichts der Klagebegründung davon aus, dass der Kläger – über den Wortlaut seines Klageantrags hinaus – nicht nur eine Neubescheidung, sondern die Erteilung der von ihm beantragten Baugenehmigung begehrt. Hilfsweise begehrt er die Erteilung der Baugenehmigung unter Vertauschung der vorgesehenen Nutzung zweier Räume, nämlich des Spitzbodens („Archiv“) und eines Kellerraumes („Keller priv.“).
40Die so verstandene Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig, aber unbegründet; mit dem Hilfsantrag ist sie unzulässig.
41Die mit Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 2023 erfolgte Ablehnung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO); der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung oder auf Neubescheidung seines Bauantrags.
42Die Baugenehmigung ist gemäß § 74 Abs. 1 Bauordnung (BauO) NRW 2018 zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Dem zur Genehmigung gestellten Vorhaben stehen Vorschriften des Bauordnungsrechts (dazu nachfolgend unter 1.) und wohl auch solche des Bauplanungsrechts (dazu nachfolgend unter 2.) entgegen.
431.
44Dem Vorhaben stehen Vorschriften des Bauordnungsrechts entgegen.
45a)
46Die zur Genehmigung gestellte Planung verletzt die Vorgaben über die Mindestgröße von Fenstern in Rettungswegen.
47Gemäß § 33 Abs. 1 BauO NRW 2018 in der bei Eingang des Bauantrags geltenden Urfassung (BauO NRW 2018 a.F.) mussten für Nutzungseinheiten mit mindestens einem Aufenthaltsraum wie Wohnungen, Praxen, selbständige Betriebsstätten in jedem Geschoss mindestens zwei voneinander unabhängige Rettungswege ins Freie vorhanden sein. Nach dem aktuellen § 33 Abs. 1 BauO NRW 2018 müssen für Nutzungseinheiten wie Wohnungen, Praxen, selbständige Betriebsstätten in jedem Geschoss mit einem Aufenthaltsraum mindestens zwei voneinander unabhängige Rettungswege ins Freie vorhanden sein. Bei dieser Gesetzesänderung zum 1. Januar 2024 handelt es sich wohl um eine bloße Klarstellung. Bereits nach der vorherigen Fassung soll sich das Erfordernis eines zweiten Rettungsweges nämlich nur auf Geschosse mit Aufenthaltsräumen bezogen haben.
48So die Begründung des Gesetzentwurfs, LT-Drucks. 18/4593, S. 139, sowie die „Handlungsempfehlung“ des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung vom Januar 2019, S. 27.
49Letztlich kann dies aber dahinstehen. Denn sowohl das Dachgeschoss als auch der Spitzboden enthalten Aufenthaltsräume.
50Hinsichtlich des Dachgeschosses steht dies außer Zweifel. Die dortigen Räume (Wohnen, Schlafen, Kind, Ankleide) sind Aufenthaltsräume.
51Auch der Spitzboden enthält nach Lage der Dinge einen Aufenthaltsraum. Die Nutzung wird im Grundriss zwar mit „Archiv gewerbl.“ und „kein Aufenthaltsraum“ bezeichnet. Aufenthaltsräume sind indes alle Räume, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet sind (§ 2 Abs. 7 BauO NRW 2018). Letztlich kommt es also – unabhängig von den subjektiven Benutzungsabsichten und der Bezeichnung in den Bauvorlagen – vor allem auf die objektiven Gegebenheiten an.
52Vgl. Boeddinghaus u.a., Bauordnung NRW, Kommentar, Stand: September 2024, § 2 Rn. 141; Johlen, in: Gädtke u.a., Bauordnung NRW, Kommentar, 15. Aufl. 2024, § 2 Rn. 294 f.
53Entscheidend sind in erster Linie die hinreichende Zugänglichkeit des fraglichen Raumes sowie dessen ausreichende lichte Höhe und Versorgung mit Tageslicht.
54Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. August 2009 - 7 B 771/09 -, n.v.; NdsOVG, Beschluss vom 15. Oktober 2020 - 1 LA 114/19 -, juris.
55Der ausgebaute Raum im Spitzboden hat eine Grundfläche von ca. 10 x 5 m. Durch die vier Dachflächenfenster und die recht großen Dreiecksfenster in den Giebelwänden dürfte er auch ausreichend mit Tageslicht versorgt sein (vgl. § 46 Abs. 2 BauO NRW 2018). Die geplante Wendeltreppe ermöglicht zudem eine bequeme Erreichbarkeit. Der Raum verfügt nach Lage der Dinge auch über die für einen Aufenthaltsraum erforderliche lichte Höhe von 2,20 m auf mindestens der Hälfte der Grundfläche; denn Raumteile mit einer lichten Höhe von bis zu 1,50 m bleiben insoweit außer Betracht (§ 46 Abs. 1 S. 4 BauO NRW 2018 a.F. bzw. § 46 Abs. 1 S. 2 BauO NRW 2018). Über 1,50 m hoch ist ein Bereich von ca. 2,80 x 10 m; über 2,20 m hoch ist ein Bereich von ca. 1,60 x 10 m, also mehr als die Hälfte, wie sich anhand der Ansichtszeichnungen und Schnitte in den Bauvorlagen bestimmen lässt.
56Der demnach in beiden Geschossen erforderliche zweite Rettungsweg kann eine weitere notwendige Treppe oder eine mit Rettungsgeräten der Feuerwehr erreichbare Stelle der Nutzungseinheit sein (§ 33 Abs. 2 S. 2 BauO NRW 2018). Fenster, die als Rettungswege in diesem Sinne dienen, müssen allerdings im Lichten mindestens 0,90 m x 1,20 m groß sein; zudem dürfen sie nicht höher als 1,20 m über der Fußbodenoberkante angeordnet und nicht weiter als einen Meter von der Traufkante entfernt sein (§ 37 Abs. 5 S. 1 BauO NRW 2018).
57Die Fenster im Dachgeschoss erfüllen diese Anforderungen nicht. Bei allen sieben Fenstern ist die Breite der sie aufnehmenden Maueröffnung mit 1,00 m vermaßt. Das lichte Öffnungsmaß dürfte also darunter liegen. Da die Fenster auf allen Ansichtszeichnungen quadratisch dargestellt werden, gilt dies auch für ihre Höhe. Das gesetzliche Mindestmaß von 0,90 x 1,20 m wird also nicht erreicht.
58Im Spitzboden erreichen die Dachflächenfenster wohl ebenfalls nicht das Mindestöffnungsmaß. Sie verfehlen die Anforderungen aber auch deshalb, weil sie ca. 1,50 m über dem Fußboden beginnen. Zudem beträgt der horizontale Abstand von der Traufkante bis zu den Fenstern jeweils mehr als 2,00 m. Die beiden Dreiecksfenster in den Giebelwänden haben nach Lage der Dinge jeweils einen Mittelholm und zwei zu öffnende Flügel. Diese Flügel sind rechtwinklige Dreiecke mit Katheten von etwa 1,10 und 1,40 m Länge. Das geforderte Öffnungsmaß von 1,20 m x 0,90 m wird insoweit deutlich unterschritten.
59Soweit der Kläger geltend macht, die vorstehenden Defizite seien unbeachtlich, weil nach dem Runderlass des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung NRW vom 25. November 2019 (Az. 615-100/37.5) eine Unterschreitung der Mindestmaße zulässig sei, vermag die Kammer ihm nicht zu folgen.
60Dabei ist zunächst festzustellen, dass das Ministerium die gesetzlichen Vorgaben nicht im Erlasswege ändern kann. Es kann den nachgeordneten Behörden lediglich Maßgaben für die Ausfüllung von Auslegungs- und Ermessensspielräumen an die Hand geben. Ein derartiger Spielraum bestünde im vorliegenden Zusammenhang, wenn hinsichtlich der Unterschreitung der vorgeschriebenen Fenstergröße über eine Abweichung von § 37 Abs. 5 BauO NRW 2018 zu entscheiden wäre. Dies würde indes voraussetzen, dass der Kläger den nach § 69 Abs. 2 BauO NRW 2018 vorgeschriebenen Abweichungsantrag gestellt und begründet hat. Dies ist jedoch nicht geschehen. Schon das entsprechende Feld auf der ersten Seite des Bauantragsformulars ist nicht angekreuzt. Es handelt sich insoweit im Übrigen nicht um eine bloße Formalie. Denn den Bauvorlagen lässt sich schon das genaue lichte Öffnungsmaß der einzelnen Fenster nicht entnehmen. Angaben dazu, welche Fenster als Rettungsweg vorgesehen sind und welches genaue Maß sie jeweils haben, wären aber erforderlich, um den Runderlass des Ministeriums überhaupt anwenden zu können.
61Dass eine Abweichung auf der Grundlage des Ministerialerlasses sowohl für das Dachgeschoss als auch für den Spitzboden erteilt werden könnte, lässt sich derzeit im Übrigen nicht ohne Weiteres feststellen. Der Erlass ermöglicht eine Unterschreitung ausdrücklich nur bei „rechtmäßig bestehenden Gebäuden“. Ob das in Rede stehende Gebäude insgesamt noch als „rechtmäßig bestehend“ angesehen werden kann, nachdem die im Jahre 1948 erteilte Baugenehmigung jedenfalls hinsichtlich der Wohnnutzung wohl mit der Ausnutzung der Baugenehmigung für die Aufstockung des Hinterhauses im Jahre 1978 gegenstandslos geworden ist und überdies verschiedene Veränderungen an dem Baukörper vorgenommen worden sind, mag dahinstehen. Festzustellen ist jedenfalls, dass der Ministerialerlass wohl keine Fälle erfassen soll, in denen die vorhandenen „zu kleinen“ Maueröffnungen erst in jüngerer Zeit hergestellt worden sind. Dies ergibt sich aus dessen vorletztem Absatz („…Maß der Öffnung nicht verändert…“), aber auch aus Sinn und Zweck des Erlasses. Dieser soll den Eigentümern von älteren Gebäuden zugutekommen, die hinsichtlich der Fenster im Zeitpunkt ihrer Errichtung den rechtlichen Vorgaben genügt haben. Wenn die Fensteröffnungen in dem ursprünglich nur mit zwei kreisrunden Fenstern in den Giebelwänden versehenen Spitzboden erst in jüngerer Zeit hergestellt worden sind, wofür alles spricht, dürfte der Ministerialerlass auf sie keine Anwendung finden. Anders könnte es sich in Bezug auf das Dachgeschoss verhalten. Hier könnte die Größe der Fensteröffnungen dem im Jahre 1948 genehmigten Zustand entsprechen.
62Inwieweit die in dem Ministerialerlass genannten Mindestgrößen von Rettungsfenstern erfüllt sind, lässt sich mangels genauer Angaben zu den lichten Öffnungsmaßen in den Bauvorlagen letztlich nicht feststellen. Nach dem Erlass können bei rechtmäßig bestehenden Gebäuden Fensteröffnungen von mindestens 0,80 x 1,00 m grundsätzlich genehmigt werden. Bei Öffnungen von 0,60 m x 0,90 m bis 0,80 x 1,00 m ist die Eignung im Einzelfall zu prüfen, wobei es darauf ankommen soll, ob die Fenster ebenerdig liegen oder nicht, ob und wie eine Feuerwehr anleitern kann und welche lichte Gesamt-öffnungsbreite vorhanden ist. Bei Maßen von weniger als 0,60 x 0,90 m ist davon auszugehen, dass die Feuerwehr das Fenster nicht als Rettungswegfenster nutzen kann. Gemessen an diesen Vorgaben mag bei den Fenstern im Dachgeschoss eine Abweichung grundsätzlich vertretbar sein. Bei den Dreiecksfenstern im Spitzboden erscheint dies hingegen fraglich, weil ihre lichte Öffnung selbst das Mindestmaß von 0,60 x 0,90 m wohl nicht erreicht.
63b)
64Auch der von der Beklagten angeführte Verstoß der vorhandenen (notwendigen) Treppen gegen die Vorgaben der DIN 18065 liegt aus Sicht der Kammer vor.
65Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018 sind Anlagen so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand zu halten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit und natürliche Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden. Die der Wahrung der vorgenannten Belange dienenden allgemein anerkannten Regeln der Technik sind gemäß § 3 Abs. 2 S. 1 BauO NRW 2018 zu beachten. Dazu gehören gemäß § 3 Abs. 2 S. 3 BauO NRW 2018 auch die von der obersten Bauaufsichtsbehörde als Technische Baubestimmungen eingeführten Regeln. Die geltende Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (VV TB) ordnet unter A 4.2 an, dass für Treppen die Anforderungen der DIN 18065 zu beachten sind. Mit diesen Anforderungen stehen die Treppen in dem Gebäude des Klägers schon deshalb nicht in Einklang, weil es ihnen an Breite fehlt. Bei Gebäuden, die nicht reine Wohngebäude sind, beträgt die vorgegebene Mindestlaufbreite 1,00 m.
66Ob und inwieweit hinsichtlich dieser Vorgaben mit Blick auf die eingeschränkte gewerbliche Nutzung des Gebäudes und die sonstigen Umstände des Falles eine Abweichung gemäß § 69 Abs. 1 BauO NRW 2018 erteilt werden kann, braucht die Kammer nicht zu prüfen. Denn auch insoweit fehlt es an dem nach § 69 Abs. 2 BauO NRW 2018 erforderlichen schriftlichen und begründeten Abweichungsantrag.
67Ebenfalls keiner Entscheidung bedarf, ob der Vorschlag des Klägers, den Spitzboden der privaten Nutzung zuzuschlagen und das „Archiv“ des Betriebes im Gegenzug in den Keller zu verlegen, vor dem Hintergrund von Anlage A 4.2/1 Nr. 1 der VV TB, welche die Anwendung der DIN 18065 auf „Treppen in Wohngebäuden der Gebäudeklassen 1 und 2 und in Wohnungen“ ausschließt, eine Lösung des Problems bedeutet. Denn das Gericht kann nur auf der Grundlage des der Behörde vorgelegten Bauantrags entscheiden und hat die in den vorhandenen Bauvorlagen dargestellte Planung zugrunde zu legen.
682.
69Dem Vorhaben dürften, ohne dass es für die Entscheidung darauf ankommt, zudem auch Vorschriften des Bauplanungsrechts entgegenstehen.
70Offenbleiben kann dabei, ob der Bebauungsplan UN-009 „Z.-straße“ von 1967/68 wirksam oder infolge eines der von dem Kläger geltend gemachten Fehler unwirksam ist. Denn für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des zur Genehmigung gestellten Vorhabens bedeutet dies keinen Unterschied.
71a)
72Ist der Bebauungsplan wirksam, so ist das Vorhaben nach § 30 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) i.V.m. § 8 Baunutzungsverordnung (BauNVO) 1962 unzulässig.
73Der Bebauungsplan setzt hier ein Gewerbegebiet fest. Gewerbegebiete dienen gemäß § 8 Abs. 1 BauNVO vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben. Wohnnutzungen sind daher im Gewerbegebiet grundsätzlich nicht zulässig. Bereits nach der Baunutzungsverordnung 1962 konnten hier lediglich „Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter“ – ausnahmsweise – zugelassen werden (§ 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO 1962).
74Um eine solche Betriebswohnung handelt es sich vorliegend nicht. Denn eine Betriebswohnung muss dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sein. Zwar fehlt im Wortlaut des § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO 1962 der heutige Zusatz, der diese Voraussetzungen explizit anspricht. Dieser mit der Baunutzungsverordnung 1990 hinzugekommene Zusatz hat jedoch nur klarstellend die seinerzeit bereits vorhandene Rechtsprechung zu § 8 BauNVO aufgenommen; für die Genehmigung von Betriebswohnungen macht es daher keinen Unterschied, welche Fassung der Baunutzungsverordnung Anwendung findet.
75Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25. Februar 2003 - 7 B 2374/02 -, juris Rn. 12 ff., und vom 2. April 2008 - 7 B 251/08 -, juris Rn. 17; Söfker, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB,Kommentar, Stand: August 2024, § 8 BauNVO Rn. 38.
76Die gebotene funktionale Zuordnung besteht, soweit es sich um Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonal handelt, wenn diese Personen wegen der Art des Betriebes oder zur Wartung von Betriebseinrichtungen oder aus Sicherheitsgründen ständig erreichbar sein müssen und deswegen das Wohnen solcher Personen nahe dem Betrieb erforderlich ist. Für Betriebsleiter und Betriebsinhaber können wegen ihrer engen Bindungen an den Betrieb Wohnungen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück auch dann zulässig sein, wenn der Betrieb ihre ständige Einsatzbereitschaft nicht zwingend erfordert; aber auch dann muss ihr Wohnen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück mit Rücksicht auf Art und Größe des Betriebes aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll sein. Hierfür reicht es aus, dass vernünftige, auf den konkreten Betrieb bezogene Gründe vorliegen, die eine Betriebswohnung als notwendig erscheinen lassen. Wann dies der Fall ist, lässt sich nicht allgemeinverbindlich formulieren; maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles.
77So BVerwG, Urteil vom 16. März 1984 - 4 C 50.80 -, juris Rn. 17, und Beschluss vom 22. Juni 1999 - 4 C 46.99 -, juris Rn. 5 f.; OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2018 – 7 A 2497/16 -, juris Rn. 4.
78Vorliegend ist der Sohn des Klägers zwar Inhaber eines auf dem Grundstück ansässigen Betriebes. Es fehlt jedoch an der erforderlichen Beziehung der zur Genehmigung gestellten Wohnung zu diesem Betrieb. Dies gilt auch dann, wenn man mit Blick auf die von dem Kläger genannten Umstände (teurer Maschinenbestand, ständige Rufbereitschaft, Kundengespräche am Abend etc.) hinreichende Gründe für ein betriebsnahes Wohnen erkennt. Denn an der funktionalen Zuordnung fehlt es unter anderem auch, wenn auf dem Betriebsgrundstück bereits eine Wohnung vorhanden ist, die von dem Betriebsinhaber oder -leiter genutzt werden kann.
79Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 16. März 1984 - 4 C 50.80 -, juris Rn. 17; BayVGH, Beschluss vom 12. Februar 2024 - 1 CS 23.1957 -, juris Rn. 15; Stock, in König/Roeser/Stock, BauNVO, Kommentar, 5. Aufl. 2022, § 8 Rn. 45.
80So liegt der Fall hier. Auf dem Grundstück befindet sich eine Wohnung, die im Jahre 1978 als Betriebswohnung für den damaligen Betrieb des Klägers (Imbissbetriebe, Handel mit Fleisch- und Wurstwaren) genehmigt worden ist. Diese Baugenehmigung ist inzwischen gegenstandslos geworden. Denn die ausnahmsweise Zulässigkeit von Betriebswohnungen kann nur in Bezug auf den konkreten Betrieb, dem die Wohnnutzung zugeordnet werden soll, festgestellt werden. Sie knüpft sowohl an die Größe als auch an die Struktur eines bestimmten Betriebes an. Soll die Wohnnutzung einem anderen Betrieb dienen, stellt sich die Frage neu, ob die Wohnung dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet ist und ob das Wohnen in der Nähe des Betriebes erforderlich erscheint. Die Baugenehmigung für eine Betriebswohnung wird daher mit der Einstellung oder wesentlichen Änderung des Betriebes unwirksam.
81Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 2009 - 10 A 971/08 -, juris Rn. 42, und Beschluss vom 17. März 2008 - 8 A 929/08 -, juris Rn. 9 ff.; Söfker, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB,Kommentar, Stand: August 2024, § 8 BauNVO Rn. 41b, mit weiteren Nachweisen.
82Der im Jahre 1947 geborene Kläger hat im Ortstermin sowie in der mündlichen Verhandlung erklärt, er habe den oben genannten Betrieb eingestellt. Er sei allerdings noch als Automatenaufsteller in seinen Gaststätten tätig und kümmere sich um deren Verwaltung. Dafür nutze er einen Büroraum und stelle seinen PKW und einen Anhänger in der Garage unter. Damit liegen die Voraussetzungen für eine Betriebsleiterwohnung des Klägers nicht mehr vor; denn es fehlt bereits an der erforderlichen Unterordnung der Wohnnutzung; zudem gibt es auch keine funktionale Zuordnung zu dem heutigen „Betrieb“ des Klägers. Die Baugenehmigung aus dem Jahre 1978 ist also erloschen. Tatsächlich nutzt nach den Angaben im Ortstermin der Sohn des Klägers nicht nur das Vorderhaus, sondern auch die Freiflächen und einen Teil der Räume im Erdgeschoss des hinteren Gebäudes. Wird das Grundstück indes im Wesentlichen für betriebliche Zwecke des Sohnes des Klägers genutzt, so drängt es sich auf, dass (nur) dieser die vorhandene Wohnung als Betriebswohnung nutzen darf. Eine zweite Wohnung auf dem Grundstück und deren Nutzung durch den Sohn des Klägers und dessen Familie als Betriebswohnung zu genehmigen, besteht vor dem Hintergrund des Ausnahmecharakters des § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO kein Anlass.
83Unabhängig davon fehlt es, legt man die Bauvorlagen zugrunde, auch an der gebotenen Unterordnung der streitgegenständlichen Wohnung nach Grundfläche und Baumasse. Ein bestimmtes quantitatives Verhältnis der beiden Bereiche lässt sich insoweit zwar nicht benennen; maßgebend ist vielmehr eine wertende Betrachtung des Einzelfalls. Es muss sich aber eine deutliche Unterordnung feststellen lassen.
84Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 2. April 2008 - 7 B 251/08 -, juris Rn. 24.
85Der Entwurfsverfasser gibt das Verhältnis der Nutzungen in dem Gebäude – bezogen auf die Grundfläche – mit 62% Gewerbe zu 38% Wohnen an (Bl. 16 der Bauakte). Seine Ermittlung der Flächen vermag aus Sicht des Gerichts aber nicht zu überzeugen. Dass er die im Kellergeschoss gelegenen Räume „Waschen“ und „Trockenkeller“ jeweils mit 75% gewerblicher Nutzung einbezieht, ist bei einem Betrieb, in dem außer dem Betriebsinhaber und (evtl.) seiner Frau niemand beschäftigt ist, schwerlich überzeugend. Dass er die Treppenräume oberhalb des Erdgeschosses mit jeweils hälftiger Nutzung anrechnet, ist ebenfalls verfehlt, wenn das Obergeschoss als Wohnung genutzt und das „Archiv“ im Spitzboden lediglich sporadisch begangen wird. Warum die Räume „Kochen“ und „Essen“ im Erdgeschoss zur Hälfte dem Gewerbebetrieb zugerechnet werden, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar, selbst wenn gelegentlich ein Kunde bewirtet werden sollte. Ob die zu 100% gewerbliche Nutzung des mit einer (Liege-)Sofalandschaft ausgestatteten Raumes „Besprechung“ im Erdgeschoss plausibel ist, mag dahinstehen; diejenige des unmittelbar neben Küche und Essplatz der Familie gelegenen „WC“ ist es sicher nicht. Schlägt man die Flächen „Kochen“ und „Essen“ vollständig der Wohnnutzung zu und reduziert die gewerbliche Nutzung der Flächen „Waschen“, „Trockenkeller“, „Treppe EG“ und „Treppe DG“ jeweils auf 25%, so ergibt sich bereits eine etwa hälftige Nutzung der Gesamtgrundfläche. Nimmt man hinzu, dass zu den Flächen des Gewerbebetriebes teilweise niedrigere Kellerräume, vor allem aber der – flächenmäßig große, dem Volumen nach jedoch begrenzte – Spitzboden zählen, so kann ein deutliches Überwiegen des Betriebes nach Grundfläche und Baumasse nicht festgestellt werden. Dass der hilfsweise im Raum stehende Tausch von „Archiv“ (49,56 qm) und privatem Kellerraum (14,09 qm) die Bilanz noch zugunsten der Wohnnutzung verschieben würde, liegt auf der Hand.
86Ob sich ein anderes Ergebnis ergibt, wenn man die von dem Sohn des Klägers gewerblich genutzten Räume im hinteren Gebäude und die seinem Betrieb zuzuordnenden Freiflächen mit einbezieht, muss (und kann) derzeit nicht entschieden werden. Denn dies würde voraussetzen, dass die entsprechenden Flächen in den Bauvorlagen als Betriebsflächen des Sohnes des Klägers dargestellt werden.
87b)
88Bei Unwirksamkeit des Bebauungsplans dürfte das Vorhaben gegen § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO 2017 verstoßen.
89Dass das (gesamte) Grundstück S.-straße N10 innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt, steht außer Frage. Wenn ein wirksamer Bebauungsplan nicht existiert, richtet sich die Zulässigkeit des Vorhabens somit nach § 34 BauGB. Dabei ist hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung § 34 Abs. 2 BauGB heranzuziehen, wenn die maßgebliche Umgebung sich einem der in der Baunutzungsverordnung beschriebenen Gebietstypen zuordnen lässt. Dies ist vorliegend der Fall. Die maßgebliche Umgebung lässt sich nach Einschätzung des Gerichts als Gewerbegebiet einstufen.
90Die nähere Umgebung ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB genannten Kriterien gesondert abzugrenzen. Maßstabbildend ist jeweils diejenige Umgebung, auf welche die Ausführung des Vorhabens sich auswirken kann und die ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder beeinflusst.
91Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. Mai 2014 - 4 B 38.13 -, juris Rn. 7, und vom 16. Juli 2018 - 4 B 51.17 -, juris Rn. 6, jeweils mit weiteren Nachweisen.
92Dass die Bebauung auf der Nordseite der S.-straße – von der Kondensatorenfabrik im Westen bis zu der zentralen Annahmestelle der Entsorgungsbetriebe im Osten – zur prägenden Umgebung des Grundstücks des Klägers gehört, steht aus Sicht der Kammer außer Zweifel.
93In westlicher, nördlicher und östlicher Richtung ist diese Umgebung durch unbebaute Flächen abgegrenzt, die eine Zäsur zu der jeweils anschließenden, anders beschaffenen Bebauung, namentlich zu dem Wohngebiet Z.-straße/P.-straße darstellen.
94Die Bebauung südlich der S.-straße gehört nach Auffassung der Kammer nicht zur prägenden Umgebung des streitgegenständlichen Grundstücks. Ob eine Straße hinsichtlich der maßgebenden Umgebung trennende oder verbindende Wirkung hat, hängt stets von den Besonderheiten der örtlichen Situation ab. Je breiter und stärker befahren die Straße ist, desto eher bildet sie eine städtebaulich relevante Zäsur. Andererseits ist aber auch die vorhandene Bebauung von Bedeutung. So kann bei einheitlicher Bebauung beiderseits der Straße dieser auch dann noch verbindende Wirkung zukommen, wenn sie stärker befahren und/oder breit ist. Umgekehrt kann selbst eine relativ unscheinbare Straße angesichts der Funktion von § 34 BauGB als Planersatz die Zäsur zwischen zwei baulich unterschiedlich strukturierten Bereichen verdeutlichen.
95Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2000 - 4 B 50.94 -, juris Rn. 18; Kuschnerus/Bischopink/Arnold, Das zulässige Bauvorhaben, 7. Aufl. 2016, Rn. 311, mit weiteren Nachweisen.
96Gemessen an diesen Maßstäben bildet die S.-straße vorliegend eine Zäsur; die Bebauung südlich dieser Straße, die im Urteil der Kammer vom 22. Januar 2019 (6 K 12406/17) als „Gemengelage“ eingestuft worden ist, gehört also nicht zur prägenden Umgebung des Baugrundstücks. Die S.-straße ist zwar nur zweistreifig ausgebaut, hat aber eine beachtliche, ihre Nutzung für den LKW- und Schwerlastverkehr ermöglichende Breite. Diese wird optisch noch dadurch betont, dass die (offene) Bebauung auf beiden Seiten durchweg Baufluchten einhält, also nicht unmittelbar an der Straße aufsteht. Hinzukommt, dass die Bebauungsstruktur nördlich und südlich der Straße deutlich unterschiedlich beschaffen ist. Denn während sich südlich der S.-straße neben (überwiegend kleineren) Gewerbebetrieben auch eine Vielzahl von (freien) Wohnhäusern befindet, findet sich nördlich der S.-straße eine entschieden gewerblich geprägte Bebauung. Sie zeichnet sich durch eine Reihe von großen Gewerbegrundstücken mit jeweils mehreren gewerblich genutzten Gebäuden von teilweise erheblichem Umfang und großzügigen, für den LKW-Verkehr geeigneten Ein- und Ausfahrten aus.
97Die wenigen Wohnnutzungen nördlich der S.-straße nehmen sich daneben unscheinbar aus; sie gehen zwischen den großflächigen Gewerbeflächen gleichsam unter. Das Wohnhaus S.-straße N11 ist angesichts seiner begrenzten Größe und seiner Lage hinter den Gebäuden des Klägers von der Straße aus kaum wahrzunehmen. Das Wohnhaus S.-straße N05 steht auf einem Grundstück, das durch größere asphaltierte Flächen und eine Reihe von Garagen/Schuppen des ehemaligen Fuhrunternehmens noch eine gewisse gewerbliche Prägung erkennen lässt, auch wenn das Gebäude nicht als Betriebswohnhaus genehmigt worden ist. Das Gebäude S.-straße N06 lässt zwar keinerlei Gewerbebezug erkennen, tritt zwischen den sehr großflächigen gewerblichen Nutzungen auf den beiden Nachbargrundstücken aber optisch völlig in den Hintergrund.
98Das Grundstück des Klägers schließlich, auf dem jedenfalls das Vorderhaus äußerlich wie ein reines Wohnhaus anmutet, ist bei der Gebietsabgrenzung als Gewerbegrundstück zu betrachten. Ob eine Straße trennendes oder verbindendes Element und ob die Bebauung jenseits der Straße noch prägend ist für die Bebauung diesseits der Straße und umgekehrt, ist nämlich dann nicht allein nach dem optischen Eindruck zu beurteilen, wenn die Bebauung diesseits und jenseits der Straße jeweils unterschiedliche Nutzungen aufweist und der Eindruck der Gleichartigkeit nur dadurch entsteht, dass eine der gewerblichen Nutzung vorgelagerte und ihr zugeordnete Nutzung von Betriebswohnungen sich im äußeren Erscheinungsbild nicht von der allgemeinen Wohnnutzung auf der anderen Straßenseite unterscheidet. Wenn Wohngebäude auf der einen Straßenseite als Wohnungen für Betriebsinhaber und Betriebsleiter den auf den zugehörigen Grundstücksflächen befindlichen Gewerbebetrieben zugeordnet sind, während auf der anderen Straßenseite Wohnhäuser ohne Zuordnung zu gewerblichen Betrieben vorhanden sind, spricht vieles dafür, dass die prägende Wirkung der unterschiedlichen Nutzungen jeweils an der Straße endet.
99So BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1984 - 4 C 28.83 -, juris Rn. 9; Söfker/ Hellriegel, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB,Kommentar, Stand: August 2024, § 34 Rn. 36.
100So liegt der Fall hier. Da seit 1978 nur noch ein betriebsbedingtes Wohnen auf dem Grundstück des Klägers genehmigt ist und die Existenz einer gewerblichen Nutzung auf dem Grundstück aufgrund der zum Abstellen von Betriebsfahrzeugen und -maschinen genutzten Freiflächen sowie der als Garagen und Lagerräume zu identifizierenden Räume im Erdgeschoss des hinteren Hauses deutlich erkennbar ist, stellt die Bebauung auf diesem Grundstück die gewerbliche Struktur der Bebauung nördlich der S.-straße und damit auch die Zäsurwirkung dieser Straße nicht in Frage.
101Die so abgegrenzte Umgebung ist als faktisches Gewerbegebiet einzustufen. Gewerbegebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben (§ 8 Abs. 1 BauNVO). Das in Rede stehende Gebiet wird – wie bereits aufgezeigt – ganz überwiegend von gewerblichen Nutzungen in Anspruch genommen. Schon der Betrieb der N. KG geht dabei über den in einem Mischgebiet zulässigen Störungsgrad hinaus. Dafür spricht die Einstufung als immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtiges Vorhaben durch die Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen (4. BImSchV), aber auch die Einstufung in Abstandsklasse 5. Da der Betrieb dem vereinfachten Genehmigungsverfahren unterworfen ist,
102vgl. zur entsprechenden Indizwirkung Stock, in König/Roeser/Stock, BauNVO, Kommentar, 5. Aufl. 2022, § 8 Rn. 21,
103und die Bezirksregierung in ihrer Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz davon ausgeht, dass auf dem unmittelbar angrenzenden Grundstück des Klägers die Immissions-Richtwerte eines Gewerbegebietes eingehalten werden können, dürfte die Schwelle zum „erheblich belästigenden“ Betrieb nicht überschritten werden. Auch der Bauhof der Stadtbetriebe, die Schreinerei der „Werkstatt im Kreis X.“ und der Servicehof der Entsorgungsbetriebe dürften über eine Mischgebietsverträglichkeit hinausgehen, ohne den im Gewerbegebiet zulässigen Störungsgrad zu überschreiten. Ein Mischgebiet liegt im Übrigen auch deshalb nicht vor, weil es an Wohnbebauung von hinreichendem Gewicht fehlt.
104Die Nutzungen auf dem Grundstück des Klägers stehen einer Einstufung als faktisches Gewerbegebiet nicht entgegen, weil ausdrücklich nur ein betriebsbedingtes Wohnen genehmigt ist und auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Beklagte sich mit einem nicht betriebsbezogenen Wohnen auf diesem Grundstück abgefunden hat.
105Die drei verbleibenden Wohnhäuser ändern an der Einstufung als faktisches Gewerbegebiet ebenfalls nichts. Angesichts des bereits angesprochenen Dominierens großflächiger gewerblicher Nutzungen in dem fraglichen Bereich stellt sich bereits die Frage, ob die drei Wohnhäuser die Umgebung überhaupt zu prägen vermögen. Insbesondere bei dem Wohnhaus S.-straße N11 dürfte dies kaum der Fall sein. Das 1949/1951 als „Kleinwohnhaus“ aus Holz auf Widerruf genehmigte Gebäude ist aufgrund seiner begrenzten Ausmaße und seiner Lage hinter den Gebäuden des Klägers und am Rande des Bebauungszusammenhangs kaum wahrnehmbar, weshalb eine Prägung des Gebiets durch dieses Gebäude von vornherein fernliegt. Selbst wenn man indes zumindest die Wohnhäuser S.-straße N05 und N06 für hinreichend gewichtig hält, um grundsätzlich eine prägende Wirkung zu entfalten, steht dies der Einstufung als faktisches Gewerbegebiet nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung nämlich solche baulichen Anlagen als „Fremdkörper“ auszusondern, die nach ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen. Dies ist namentlich dann anzunehmen, wenn eine Anlage in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung steht. In Betracht kommen insbesondere solche baulichen Anlagen, die nach ihrer - auch äußerlich erkennbaren - Zweckbestimmung in der näheren Umgebung einzigartig sind. Sie erlangen die Stellung eines "Unikats" umso eher, je einheitlicher die nähere Umgebung im Übrigen baulich genutzt ist. Trotz ihrer deutlich in Erscheinung tretenden Größe und ihres nicht zu übersehenden Gewichts in der näheren Umgebung bestimmen sie nicht deren Eigenart, weil sie wegen ihrer mehr oder weniger ausgeprägt vom übrigen Charakter der Umgebung abweichenden Struktur gleichsam isoliert dastehen.
106Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 15. Februar 1990 - 4 C 23.86 -, BVerwGE 84, 322 ff. = juris Rn 12 ff.; zu der Einordnung von Wohnhäusern als Fremdkörper in einem faktischen Gewerbegebiet z.B. OVG NRW, Urteil vom 3. April 2008 - 7 A 593/07 -, juris Rn. 62; BayVGH, Urteil vom 2. Januar 2008 - 1 BV 04.2737 -, juris Rn. 24; VGH B.-W., Urteil vom 13. Februar 2012 - 5 S 1778/11 -, juris Rn. 27; OVG S.-A., Beschluss vom 11. April 2024 - 2 M 18/24 -, juris Rn. 10; VG Arnsberg, Urteil vom 18. Januar 2011 - 4 K 1310/09 -, juris Rn. 41; VG München, Urteil vom 16.9.2020 - M 9 K 18.2511 -, juris Rn. 27 f.
107Die Wohnhäuser S.-straße N05 und N06 liegen zwar im Gegensatz zu dem Gebäude S.-straße N11 an der Straße, nehmen von der rund 700 Meter langen Straßenfront des Gebiets aber nur einen kleinen Bruchteil ein. Das zwischen großen gewerblichen Gebäuden eingezwängte Wohnhaus S.-straße N06 mit seinem baumbestandenen Garten nimmt sich in der Abfolge von großflächigen gewerblichen Nutzungen an der S.-straße als überraschender, singulärer Ausreißer aus. Dasselbe gilt für das Gebäude S.-straße N05, das zwischen dem Gebäudekomplex der Stadtbetriebe und der von der Beklagten vorgehaltenen Parkplatzfläche ebenfalls wenig passend wirkt.
108Insgesamt vermögen die drei Wohnhäuser, zwischen denen jeweils ein erheblicher Abstand liegt und die in der sonstigen Bebauung der fraglichen, mehr als 60000 qm großen Umgebung gleichsam verschwinden, den Charakter der Umgebung nicht ernsthaft zu prägen.
1093.
110Mit dem Hilfsantrag ist die Klage unzulässig. Einen Bauantrag, dem zufolge der Spitzboden als privater Abstellraum und der fragliche Kellerraum als Archiv des Gewerbebetriebes genutzt werden, hat der Kläger bei der Beklagten nicht gestellt. Mangels Verwaltungsverfahrens kann ein solcher Bauantrag somit auch nicht zum Gegenstand eines Klageverfahrens gemacht werden. Im Übrigen wäre die Klage auch mit dem Hilfsantrag unbegründet. Denn die in Rede stehende Änderung der Planung würde allenfalls einen Teil der aufgezeigten baurechtlichen Probleme lösen.
111Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
112Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
113Rechtsmittelbelehrung
114Innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
115Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster schriftlich einzureichen.
116Der Antrag ist zu stellen und zu begründen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.