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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen tragen die Kläger.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Den Klägern wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks Z.-straße N01 (Gemarkung J., Flur N02, Flurstück N03) in B.. Das Grundstück ist mit einem von den Klägern selbst genutzten Einfamilienhaus bebaut, das aus einem zweigeschossigen Hauptteil mit Satteldach und eingeschossigen Anbauten besteht. Rückwärtig an den Hauptteil grenzt eine Terrasse an. Das Grundstück ist 822 qm groß; rund 200 qm davon sind bebaut.
3Die Beigeladene plant die Bebauung einer südöstlich angrenzenden Fläche an der N.-straße (Gemarkung J., Flur N02, Flurstück N04). Es handelt sich um eine teilweise baumbestandene Wiese, die bislang zu der Jugendstilvilla N.-straße N05 gehört hat.
4Das Grundstück der Kläger und die zur Bebauung vorgesehene Fläche der Beigeladenen liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 72 „Ortskern I.“ aus dem Jahre 2013, der sich im Wesentlichen auf Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung beschränkt und hier ein allgemeines Wohngebiet festsetzt. Entlang der N.-straße setzt der Plan im hier interessierenden Bereich eine private Grünfläche fest.
5Weitere Einzelheiten sind dem nachfolgenden Kartenausschnitt zu entnehmen:
6„Bilddarstellung wurde entfernt“
7Am 3. Mai 2022 beantragte die Beigeladene die Erteilung von Baugenehmigungen für zwei weitgehend identische Mehrfamilienhäuser mit jeweils sechs Wohneinheiten nebst Garagen, Stellplätzen und weiteren Nebenanlagen auf der fraglichen Fläche, die von Nordwesten nach Südosten hin ansteigt. Die beiden mit Satteldach (40 Grad) versehenen, rund 19 mal 11 Meter großen und rund 11 Meter hohen Baukörper sollten über zwei Vollgeschosse und ein ausgebautes Dachgeschoss verfügen und mit ihrer Längsseite (traufständig) an den nordwestlichen Grundstücksgrenzen aufstehen. Zwischen den Baukörpern und der nordwestlichen, tiefer liegenden Grundstücksgrenze stellten die Bauvorlagen eine gestufte Anschüttung gegenüber dem jetzigen Gelände dar, die auf der Grundstücksgrenze durch L-Steine abgefangen werden sollte.
8Mit Bescheiden vom 17. Oktober 2022 (Az. 282-22 und 283-22) wurden die beantragten Baugenehmigungen erteilt. Sie sind Gegenstand der Parallelverfahren 6 K 4305/22 und 6 K 4535/22. Nachdem die Kammer in den zugehörigen Eilverfahren mit Beschlüssen vom 3. Februar 2023 (6 L 1453/22) und vom 21. Februar 2023 (6 L 131/23) die aufschiebende Wirkung der jeweiligen Klage angeordnet hatte, führten die Beteiligten zunächst Einigungsgespräche, die jedoch erfolglos verliefen.
9Die Beigeladene beantragte daraufhin am 29. November 2023 die Erteilung der Baugenehmigung für eine veränderte Version des nordöstlichen der beiden Mehrfamilienhäuser. Dabei entsprach die Ausführung des Wohnhauses selbst weitestgehend der früheren Planung. Auf eine Veränderung des Geländes im Bereich der ersten drei Meter ab der nordwestlichen Grundstücksgrenze wurde indes verzichtet.
10Mit Bescheid vom 7. März 2024 wurde die beantragte Baugenehmigung (Az. 743-23) erteilt.
11Am 5. April 2024 haben die Kläger Klage erhoben.
12Zur Begründung führen sie aus: Ihr Eigentum werde durch die geplante Bebauung mittelbar beeinträchtigt. Der Beigeladenen werde eine künstliche und unansehliche Anschüttung gestattet, um die Hanglage zur N.-straße auszugleichen. Dies sei unnötig und rücksichtslos. Durch das geschaffene Gefälle werde zudem Wasser auf ihr Grundstück laufen. Wegen der zu erwartenden Verschattung werde eine natürliche Flora im Grenzbereich nicht mehr gewährleistet sein. Die Versiegelung auf dem Baugrundstück gehe weit über diejenige der Nachbargrundstücke hinaus und erhöhe das Überschwemmungsrisiko bei Starkregen. Das Vorhaben stelle einen erheblichen Eingriff in ihren Gebietserhaltungsanspruch dar. Der Charakter der Umgebung mit den beiden Jugendstilvillen an der N.-straße und ihren Parkanlagen werde beschädigt. Die geplanten Mehrfamilienhäuser würden ihr eigenes Wohnhaus um ca. fünf Meter überragen. Es entstehe eine erdrückende Wirkung, zumal die beiden Baukörper sich auch in die Breite ausdehnten. Es gebe für eine derartige Hinterlandbebauung im Übrigen auch keine Vorbilder in der Umgebung. Die Eröffnung einer zusätzlichen Zufahrt zum Baugrundstück widerspreche dem Bebauungsplan. Die Errichtung von sieben Einzelgaragen und fünf Stellplätzen führe zu einer unzumutbaren Lärmbelästigung.
13Die Kläger beantragen,
14die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 7. März 2024 (Az. 743-23) aufzuheben.
15Die Beklagte beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Sie tritt der Klage entgegen und meint, das Gebot der Rücksichtnahme werde durch die erteilten Baugenehmigungen gewahrt. Dies werde bereits durch die deutliche Einhaltung der abstandsflächenrechtlichen Vorgaben belegt. Von einer erdrückenden Wirkung könne keine Rede sein.
18Die Beigeladene hat sich nicht zum Verfahren geäußert.
19Der Einzelrichter hatte bereits am 2. Februar 2023 in den Parallelverfahren einen Ortstermin durchgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll Bezug genommen.
20Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
21Entscheidungsgründe
22Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
23Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 7. März 2024 ist hinsichtlich nachbarschützender Vorschriften rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
24Ein Nachbar kann nur dann erfolgreich gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung vorgehen, wenn diese gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Bauplanungs- oder Bauordnungsrechts verstößt und eine Befreiung oder Abweichung von diesen Vorschriften nicht vorliegt oder unter Berücksichtigung nachbarlicher Belange nicht hätte erteilt werden dürfen. Ob das Vorhaben objektiv, d. h. hinsichtlich derjenigen Vorschriften, die nicht nachbarschützend sind, rechtmäßig ist, ist dagegen im Nachbarverfahren unerheblich.
25Gemessen an diesem Maßstab ist die angefochtene Baugenehmigung nicht zu beanstanden.
261.
27Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts ist nicht erkennbar.
28Insbesondere werden die Vorgaben des Abstandsflächenrechts durch das genehmigte Vorhaben eingehalten. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Bauordnung (BauO) NRW 2018 sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese Abstandsflächen müssen nach § 6 Abs. 2 S. 1 BauO NRW 2018 auf dem Grundstück selbst, dürfen also nicht auf dem Nachbargrundstück liegen. Vorliegend sind diese Anforderungen gewahrt. Die auf dem entsprechenden Plan (Bl. 33 der Bauakte) dargestellten, im Bereich der Grenze zu dem Grundstück der Kläger liegenden Abstandsflächen entsprechen den gesetzlichen Vorgaben. Dabei ist gemäß § 6 Abs. 5 S. 1 BauO NRW 2018 auf der gesamten Länge der nordwestlichen Außenwände des Neubaus (19,37 m) von einem Abstandsmaß von 0,4 auszugehen, nachdem im Zuge der Bauordnungsnovelle zum 1. Januar 2019 das Regelabstandsmaß auf diesen Faktor reduziert worden ist. Die Abstandsfläche (T1-3) der Außenwand des mittig vorspringenden Eingangs- und Treppenhausbereichs des Hauses hat unter Zugrundelegung dieses Abstandsmaßes und des vor Beginn der Bauarbeiten existierenden, hier rund anderthalb Meter niedrigeren Geländeniveaus eine Tiefe von (10,23 x 0,4 =) 4,092 m. Die Abstandsflächen (T1-1 und T1-5) der anschließenden, zurückspringenden Teile der Wand haben eine Tiefe von (7,815 x 0,4 =) 3,126 m bzw. (7,94 x 0,4 =) 3,176 m. Alle drei Abstandsflächen liegen vollständig auf dem Baugrundstück, wobei noch ein zusätzlicher Abstand von im Bereich des Vorbaus rund 2,44 m und im Bereich der zurückspringenden Wandteile rund 5,40 m bzw. rund 5,32 m besteht.
29Auch eine Abstandsflächenrechtsverletzung durch die vorgenommenen Geländeveränderungen lässt sich für die modifizierte Planung nicht (mehr) feststellen. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BauO NRW 2018 gelten die Vorgaben des Abstandsflächenrechts auch („entsprechend“) für Anlagen, die keine Gebäude sind, die aber höher als einen Meter über die Geländeoberfläche hinausgehen und dazu geeignet sind, von Menschen betreten zu werden. Eine solche Anlage soll vorliegend in Form der vor allem nordwestlich des genehmigten Mehrfamilienhauses geplanten Anschüttung, auf der sich unter anderem die Zuwegung zum Hauseingang, aber etwa auch die Kinderspielfläche befinden, hergestellt werden. Denn diese Anschüttung ist in nicht unwesentlichen Teilen höher als einen Meter. Das zukünftige Gelände soll teilweise um bis zu rund anderthalb Meter über dem bisherigen Niveau liegen. Die Anschüttung ist auch dazu geeignet (und bestimmt), von Menschen betreten zu werden. Vor der Anschüttung ist somit eine Abstandsfläche zu bilden, die gemäß § 6 Abs. 5 S. 1 BauO NRW 2018 drei Meter tief sein und gemäß § 6 Abs. 2 S. 1 BauO NRW 2018 auf dem Baugrundstück selbst liegen muss. Dies ist vorliegend der Fall. Nach der genehmigten Planung ist ausdrücklich „keine Veränderung der Geländehöhe auf den ersten 3 m zur Grenze“ (so der Amtliche Lageplan und die entsprechenden Ansichtszeichnungen) vorgesehen. Die Abstandsfläche der Anschüttung endet somit auf der Grundstücksgrenze.
30Soweit die Kläger am Rande auch Fragen der Standsicherheit der Geländeabstützung und des Schutzes gegen abfließendes Niederschlagswasser angesprochen haben, ist festzustellen, dass die insoweit einschlägigen Vorschriften (§§ 3, 12, 13 BauO NRW 2018) im vereinfachten Genehmigungsverfahren nicht zum Prüfungsumfang gehören (§ 64 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018) und daher durch die angefochtene Baugenehmigung auch nicht verletzt sein können. Im Übrigen sind konkrete Hinweise für entsprechende Probleme oder Gefahren weder vorgetragen worden, noch ersichtlich.
312.
32Auch nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts werden durch das genehmigte Vorhaben nicht verletzt.
33Das zur Genehmigung gestellte Wohngebäude ist hinsichtlich der Nutzungsart in dem durch den Bebauungsplan Nr. 72 „Ortskern I.“ festgesetzten Allgemeinen Wohngebiet gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 1 Baunutzungsverordnung ohne weiteres zulässig. Die Festsetzung einer privaten Grünfläche entlang der N.-straße entfaltet keinen Drittschutz zugunsten der Kläger, so dass diese sich nicht erfolgreich gegen die von der Beklagten erteilte Befreiung von dieser Festsetzung wehren können. Die auf der Grundlage von § 31 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) ausgesprochene Befreiung dürfte im Übrigen aber auch keinen rechtlichen Bedenken begegnen. Weitere Vorgaben enthält der Bebauungsplan nicht, so dass gemäß § 30 Abs. 3 BauGB die Zulässigkeit hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche an § 34 oder § 35 BauGB zu messen ist.
34Der für die bauplanungsrechtliche Prüfung im – hier vorliegenden – unbeplanten Innenbereich maßgebliche § 34 Abs. 1 BauGB entfaltet indes grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung. Ob sich das Vorhaben mit Blick auf das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstückfläche in jeder Hinsichtlich in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, braucht die Kammer daher nicht zu entscheiden. Eine nachbarschützende Wirkung kommt nur dem in dem Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme zu.
35Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 19. März 2015 - 4 C 12.14 -, juris (Rn. 9).
36Das Gebot der Rücksichtnahme soll angesichts der gegenseitigen Verflechtungen der baulichen Situation benachbarter Grundstücke einen angemessenen planungsrechtlichen Ausgleich schaffen, der einerseits dem Bauherrn ermöglicht, was von seiner Interessenlage her verständlich und unabweisbar ist und andererseits dem Nachbarn erspart, was an Belästigungen und Nachteilen für ihn unzumutbar ist. Die Beachtung des Rücksichtnahmegebotes soll gewährleisten, Nutzungen, die geeignet sind, Spannungen und Störungen hervorzurufen, einander so zuzuordnen, dass Konflikte möglichst vermieden werden. Die sich daraus ergebenden Anforderungen sind im Einzelfall festzustellen, wobei die konkreten Umstände zu würdigen, insbesondere die gegenläufigen Interessen des Bauherrn und des Nachbarn in Anwendung des Maßstabes der planungsrechtlichen Zumutbarkeit gegeneinander abzuwägen sind. Dabei kann desto mehr an Rücksichtnahme verlangt werden, je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung dessen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt; umgekehrt braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, desto weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm mit dem Bauvorhaben verfolgten Interessen sind.
37Vgl. nur BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122 ff., vom 18. Mai 1995 - 4 C 20.94 -, BVerwGE 98, 235 ff., und vom 29. November 2012 - 4 C 8.11 -, BVerwGE 145, 145 ff.; Uechtritz, Das baurechtliche Rücksichtnahmegebot: Konkretisierung durch Fallgruppenbildung, DVBl. 2016, 90 ff., mit weiteren Nachweisen.
38Gemessen an diesem Maßstab hält die Kammer das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht für im bauplanungsrechtlichen Sinne rücksichtslos.
39Orientierung bei der insoweit erforderlichen Wertung bietet zunächst das Abstandsflächenrecht, das gerade den Zweck verfolgt, die Interessen von Grundstücksnachbarn im Falle einer grenzständigen oder grenznahen Bebauung zum Ausgleich zu bringen. Zwar kann durch die (landesrechtlichen) Vorgaben des § 6 BauO NRW 2018 keine verbindliche und abschließende Konkretisierung des (bundesrechtlichen) Rücksichtnahmegebots herbeigeführt werden. Die Wahrung des Abstandsflächenrechts hat aber nach ständiger Rechtsprechung eine Indizwirkung: Sind die abstandsflächenrechtlichen Vorgaben eingehalten, so ist im Regelfall auch das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, BauR 1999, 615 ff.; OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 - 2 A 130/16 -, juris (Rn. 43 ff.), und Beschluss vom 16. November 2020 - 2 B 1537/20 -, juris (Rn. 24 ff.), mit weiteren Nachweisen.
41Das Oberverwaltungsgericht hat allerdings betont, dass gerade nach der Zurücknahme der abstandsflächenrechtlichen Anforderungen im Rahmen der Novellierung der nordrhein-westfälischen Bauordnung vom Dezember 2006 stets eine Betrachtung des Einzelfalls geboten sei,
42Beschluss vom 9. Februar 2009 - 10 B 1713/08 -, BauR 2009, 775; die Indizwirkung auch für das neuere Abstandflächenrecht bekräftigend hingegen OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 - 2 A 130/16 -, juris (Rn. 45),
43und dies dürfte umso mehr für die abermalige Reduzierung der Abstandsflächenvorgaben im Zuge der Novelle 2018 gelten. Vorliegend wären die Vorgaben jedoch – wie die Behörde zutreffend betont (Hinweis Nr. 9 in der Baugenehmigung) – selbst nach der bis Dezember 2006 geltenden Fassung des Abstandsflächenrechts deutlich gewahrt.
44Auch eine Einzelfallbetrachtung führt im Übrigen vorliegend nicht zu einem von den Wertungen des Abstandsflächenrechts abweichenden Ergebnis, obwohl das Grundstück der Kläger durch das Bauvorhaben der Beigeladenen zweifellos beeinträchtigt wird.
45Die Kammer kann insbesondere nicht feststellen, dass das genehmigte Gebäude eine „erdrückende Wirkung“ auf das Haus oder das Grundstück der Kläger hat. Rücksichtslos erweist sich ein Bauvorhaben insoweit erst dann, wenn es ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich „die Luft nimmt", wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins" entsteht oder wenn die Größe des „erdrückenden" Gebäudes aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls derart übermächtig ist, dass das „erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden" Gebäude dominierte Fläche ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird.
46Vgl. nur OVG NRW, Urteile vom 19. Juli 2010 - 7 A 3199/08 -, juris, vom 18. Oktober 2011 - 10 A 26/09 -, juris, und vom 27. Mai 2019 - 10 A 1860/17 -, juris; Beschluss vom 14. Januar 2021 - 10 B 1891/20 -, juris (Rn. 10).
47Ein solcher, die Indizwirkung des Abstandsflächenrechts ausnahmsweise in Frage stellender Zustand wird vorliegend nicht erreicht. Zwar sehen die Kläger sich nach der Errichtung des Neubaus einer durchaus grenznahen, beinahe zwanzig Meter langen Wand gegenüber. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die optische Massivität dieser Wand durch Versprünge abgemildert wird. So tritt die Wand im mittleren „Drittel“ um zwei Meter vor und erreicht hier eine Nähe von rund sechseinhalb Metern zur Grenze. Die beiden äußeren Drittel treten demgegenüber zurück und halten einen Grenzabstand von rund achteinhalb Metern ein. Ähnliches gilt mit Blick auf die vertikale Gestaltung. Während der Vorbau in einer Höhe von rund neun Metern mit einem Flachdach endet, erreichen die beiden äußeren Wandabschnitte bereits in einer Höhe von etwa sechseinhalb Metern die Traufe des mit 40° moderat geneigten Satteldachs. Dass die fragliche Außenwand aufgrund des zum Grundstück der Kläger hin abfallenden Geländes optisch etwas höher wirkt als sie tatsächlich ist, liegt auf der Hand. Die topographischen Verhältnisse bringen es in einer solchen Situation mit sich, dass sich eine Bebauung des höher gelegenen Grundstücks intensiver auf das Nachbargrundstück auswirkt. Die Gefahr einer entsprechenden Bebauung „oberhalb“ ist dem tiefer gelegenen Grundstück indes als natürlicher Lagenachteil von vornherein eigen.
48Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. November 2020 - 2 B 1537/20 -, juris (Rn. 17), mit weiteren Nachweisen.
49Dass das Grundstück der Kläger und die dortige Bebauung nur noch als untergeordnetes „Anhängsel“ des Baugrundstücks erscheinen, kann jedenfalls nicht angenommen werden.
50Eine über das zumutbare Maß hinausgehende Beeinträchtigung der Belichtung und Sonneneinstrahlung ist ebenfalls nicht zu erwarten. Das Gebot der Rücksichtnahme fordert nicht, dass alle Fenster eines Hauses oder alle Teile eines Gartens optimal durch Sonneneinstrahlung belichtet werden. In einem Wohngebiet muss vielmehr damit gerechnet werden, dass Nachbargrundstücke innerhalb des durch das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es durch eine Bebauung zu einer Verschattung des eigenen Grundstücks oder von Wohnräumen kommt.
51Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 - 2 A 130/16 -, juris (Rn. 57 ff.), sowie Beschlüsse vom 9. Februar 2009 - 10 B 1713/08 -, BauR 2009, 775, vom 29. August 2011 - 2 B 940/11 - und vom 16. November 2020 - 2 B 1537/20 -, juris (Rn. 26), jeweils mit weiteren Nachweisen.
52Dass das Haus und das Grundstück der Kläger infolge des genehmigten Neubaus von jeglicher Sonneneinstrahlung abgeschnitten werden, lässt sich angesichts der begrenzten Höhe des Neubaus nicht annehmen, auch wenn eine gewisse Verschattung zu bestimmten Jahres- und Tageszeiten sicher zu erwarten ist.
53Für die Einblickmöglichkeiten aus den Fenstern des genehmigten Neubaus auf das Grundstück der Kläger gilt im Ergebnis dasselbe. Grundstückseigentümer in Wohngebieten haben es grundsätzlich hinzunehmen, dass Grundstücke innerhalb des Rahmens baulich genutzt werden, den das Bauplanungsrecht und das Bauordnungsrecht vorgeben, und dass es dadurch auch zu Einsichtnahmemöglichkeiten kommt, die in bebauten Gebieten üblich sind.
54Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2018 - 7 B 918/18 -, juris.
55Im Übrigen ist zu konstatieren, dass sich in dem am nächsten an das Grundstück der Kläger heranreichenden Gebäudeteil, also dem mittig vorspringenden Bereich, lediglich Treppenhausflächen einschließlich des Aufzugs befinden. Die Wohnzimmerbereiche der Wohnungen nebst Balkonen befinden sich auf der von den Klägern abgewandten Seite. Auch unter diesem Aspekt kann der Neubau daher nicht als im planungsrechtlichen Sinne rücksichtslos betrachtet werden.
56Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots bewirkt auch nicht der Umstand, dass der bisherige Ausblick von der Terrasse und aus dem Garten der Kläger auf die südlich befindliche, von großzügigen begrünten Freiflächen umgebene Villa aufgrund des genehmigten Gebäudes kaum mehr bestehen wird. Dass die Situation sich insoweit für die Kläger verschlechtern wird, steht außer Frage. Entsprechende vorhandene Sichtbeziehungen stellen sich jedoch im Wesentlichen als faktischer Lagevorteil dar. Auf den Fortbestand eines solchen Lagevorteils hat der Grundstückseigentümer regelmäßig keinen Rechtsanspruch.
57Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1993 - 4 C 5.93 -, NVwZ 1994, 686; OVG NRW, Urteil vom 27. Mai 2019 - 10 A 1860/17 -, juris (Rn. 58); VG Gelsenkirchen, Urteile vom 28. November 2017 - 6 K 3879/16 -, juris (Rn. 27) und vom 3. März 2020 - 6 K 2798/19 -, juris (Rn. 49).
58Den Vorwurf der Kläger, die Beigeladene habe das Mehrfamilienhaus willkürlich auf einer Anschüttung positioniert, vermag das Gericht nicht zu teilen. Die Erdgeschossfußbodenhöhe des geplanten Wohnhauses (108,75), die deutlich unterhalb des Niveaus der N.-straße liegt, orientiert sich erkennbar an dem vor Beginn der Baumaßnahme vorhandenen Gelände im Bereich der südlichen, also der „oberen“ Außenwand. Dies ist nicht zwingend, aber auch nicht unüblich. Ein tieferes Niveau des Erdgeschosses hätte unter anderem die Notwendigkeit nach sich gezogen, zum Zwecke der Belichtung auch Gelände vor der südlichen Außenwand abzugraben.
59Dass die in der Nähe der Grundstücksgrenze der Kläger vorgenommenen Geländeveränderungen zur Rücksichtslosigkeit des genehmigten Vorhabens führen könnten, vermag die Kammer ebenfalls nicht zu erkennen. Angesichts der letztlich überschaubaren Höhe der Anschüttung, des hier ohnehin ansteigenden natürlichen Geländes und der Aufteilung der Böschung in zwei Stufen ist eine erdrückende Wirkung der Anlage nicht zu erwarten.
60Auch der Vortrag schließlich, die mit den genehmigten Garagen und Stellplätzen sowie der Zufahrt verbundenen Immissionen führten zur Rücksichtslosigkeit des Vorhabens, verhilft der Klage nicht zum Erfolg. Zwar dürfen von derartigen Anlagen keine unzumutbaren Beeinträchtigungen für die Nachbarschaft ausgehen.
61Vgl. dazu etwa OVG NRW, Urteil vom 25. September 2024 - 7 A 1906/22 -, juris (Rn. 38 ff.) mit weiteren Nachweisen.
62Derartige Auswirkungen sind vorliegend aber auch nicht zu erwarten, weil das zu errichtende Mehrfamilienhaus das Grundstück der Kläger gegen Lärm und sonstige Immissionen im Bereich der Garagen, der Stellplätze und der Zufahrt weitgehend abschirmt. Zudem ist selbst der am nächsten liegende und wohl am wenigsten abgeschirmte Stellplatz – der Behindertenstellplatz südwestlich des Mehrfamilienhauses – beinahe zwanzig Meter von der Grundstücksgrenze der Kläger und noch weiter von deren Terrasse und den Fenstern entfernt.
633.
64Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit, den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese keinen Antrag gestellt und sich damit gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ihrerseits keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
65Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 und 711 Zivilprozessordnung.
66Rechtsmittelbelehrung
67Innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
68Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster schriftlich einzureichen.
69Der Antrag ist zu stellen und zu begründen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § N03 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.