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Das italienische Asylsystem weist infolge der Erklärung der italienischen Behörden, bis auf Weiteres keine Dublin-Rückkehrer aufzunehmen, systemische Mängel auf, ohne dass eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung erforderlich ist (entgegen BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2023 - 1 B 22.23 -, juris). Denn das Prinzip gegenseitigen Vertrauens gebietet es jedenfalls bei Fehlen stichhaltiger gegenteiliger Anhaltspunkte, einem Mitgliedsstaat Glauben zu schenken, wenn er eine Überlastung seiner Aufnahmeeinrichtungen und insofern konkludent systemische Mängel selbst konstatiert.
Auch bei Auseinandersetzung mit den von Dublin-Rückkehrern (wahrscheinlich) zu erwartenden tatsächlichen Verhältnissen in Italien ist (weiterhin) davon auszugehen, dass vulnerablen Asylsuchenden, insbesondere Familien mit kleinen Kindern, derzeit im Allgemeinen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, solange die italienischen Behörden keine individuelle und konkrete Zusicherung abgegeben haben, nach der die jeweils betroffenen Personen Zugang zu einer ihrer Schutzbedürftigkeit angemessenen Unterkunft und darüber hinaus auch zu einer für die Dauer ihrer Vulnerabilität angemessenen Unterstützung erhalten werden (Fortsetzung von VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2022 - 1a K 2967/19.A -, juris). Denn es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihnen ohne entsprechende Zusicherung eine ihre Vulnerabilität angemessen berücksichtigende Unterbringung nicht gewährt werden wird und es ihnen aufgrund der humanitären Situation in Italien nicht gelingen wird, ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") zu befriedigen.
3. Asylsuchende können nicht auf die Möglichkeit (vorübergehender) Tätigkeit in der sog. "Schattenwirtschaft" verwiesen werden. Bereits das der Europäischen Union innewohnende Prinzip gemeinsam geteilter Werte, hier konkret der Rechtsstaatlichkeit, verbietet es einem Mitgliedsstaat, Asylsuchende darauf zu verweisen, in einem anderen Mitgliedsstaat die dortige Rechtsordnung zu missachten.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. November 2022 (Az.: 9615573 - 475) wird aufgehoben.
Die Kosten des – gerichtsgebührenfreien – Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen die mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ausgesprochene Unzulässigkeit ihres Asylantrags und die darauf beruhende Anordnung der Abschiebung nach Italien.
3Der am 1. Januar 1981 geborene Kläger zu 1) und die am 1. Juni 1983 geborene Klägerin zu 2) sowie ihre in den Jahren 2010, 2011, 2014, 2017 und 2020 geborenen Kinder, die Kläger zu 3) bis 7) sind syrische Staatsangehörige. Sie reisten am 7. September 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten unter dem 21. September 2022 einen förmlichen Antrag auf Asyl.
4Eine bereits am 10. September 2022 erfolgte Eurodac-Abfrage durch das Bundesamt ergab, dass dem Kläger zu 1) am 4. September 2022 in Roccella Ionica (Italien) Fingerabdrücke abgenommen worden waren. Am 4. Oktober 2022 ersuchte das Bundesamt die italienischen Behörden um Aufnahme der Kläger. Unter dem 21. Oktober 2022 sowie mit korrigierter Erklärung vom 7. November 2022 nahm Italien die Aufnahmegesuche des Bundesamtes an.
5Mit Bescheid vom 21. November 2022 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte es aus, die Unzulässigkeit der Asylanträge beruhe auf der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens. Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens seien auch nicht feststellbar, weil den Klägern dort insbesondere keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Der Bescheid wurde den Klägern mit Anschreiben vom 8. Dezember 2022 übersandt. Ausweislich der in den Akten vorhandenen Postzustellungsurkunde wurde er, da eine Übergabe nicht möglich war, am 12. Dezember 2022 in den zu Wohnung gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. In einem ebenfalls in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Empfangsbekenntnis sind der Empfang des Bescheides durch einen Mitarbeiter des Diakoniewerks H. und L. am 12. Dezember 2022 sowie dessen Übergabe an den Kläger zu 1) am 13. Dezember 2022 quittiert.
6Die Kläger haben am 20. Dezember 2022 Klage erhoben und zugleich Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, auf den die erkennende Kammer mit Beschluss vom 2. Februar 2023 (Az. 1a L 1605/22.A) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat.
7Zur Begründung ihrer Klage führen die Kläger im Wesentlichen aus, in Italien herrschten für Geflüchtete solch defizitäre Umstände, dass gerade ihnen als vulnerablen Personen bei ihrer Rückkehr eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung drohe. Die Antragstellerin zu 3) leide unter Epilepsie, welche in Italien kaum behandelt worden sei. Die Klägerin zu 2) sei schwanger. Schließlich sei die Klage nicht verfristet, da sie den Bescheid erst am 13. Dezember 2022 in Empfang genommen hätten.
8Die Kläger beantragen (schriftsätzlich),
9den Bescheid der Beklagten vom 21. November 2022 aufzuheben,
10hilfsweise,
11die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren fortzuführen,
12weiter hilfsweise,
13die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen,
14sowie rein hilfsweise,
15die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Klagefrist.
16Die Beklagte beantragt (schriftsätzlich),
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung verweist sie darauf, dass die Klage bereits verfristet sei, da der angefochtene Bescheid ausweislich des PZU-Rückläufers am 12. Dezember 2022 zugestellt worden sei und die einwöchige Klagefrist somit bereits am 19. Dezember 2022 geendet habe. Im Übrigen verweist sie auf den angegriffenen Bescheid.
19Mit Beschluss vom 8. März 2023 hat die erkennende Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen. Mit Schriftsätzen vom 7. März 2023 sowie vom 24. Januar 2024 haben die Kläger, mit Schriftsatz vom 3. Juli 2023 hat die Beklagte auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
20Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowohl des hiesigen Verfahrens als auch des zugehörigen Eilverfahrens (1a L 1605/22.A) sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
21Entscheidungsgründe:
22Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes – AsylG – durch die Einzelrichterin, da dieser der Rechtsstreit durch Beschluss der Kammer vom 8. März 2023 zuvor zur Entscheidung übertragen worden ist. Die Einzelrichterin entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
23Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig (dazu I.) und begründet (dazu II.).
24I.
25Die Klage ist zulässig. Insbesondere wurde die am 20. Dezember 2022 bei Gericht eingegangene Klage gegen den mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid, vgl. §§ 57 Abs. 1, 58 Abs. 1 VwGO, fristgerecht erhoben. Gemäß § 74 Abs. 1 AsylG ist eine Klage gegen Entscheidungen nach dem AsylG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung zu erheben; ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung – wie vorliegend gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG – innerhalb einer Woche zu stellen, ist auch die Klage innerhalb einer Woche zu erheben.
26Vorliegend begann die Wochenfrist am 13. Dezember 2022 und endete gem. § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) mit Ablauf des 20. Dezember 2022, so dass die Klageerhebung (noch) innerhalb der Wochenfrist erfolgte.
27Der Bescheid des Bundesamtes wurde zwar ausweislich der in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Postzustellungsurkunde am 12. Dezember 2022 in den zur Wohnung der Kläger gehörenden Briefkasten eingelegt. Dabei handelte es sich entgegen der Auffassung der Beklagten aber nicht um eine ordnungsgemäße und mithin die Klagefrist in Gang setzende Zustellung gem. § 3 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) i.V.m. § 180 Satz 1 ZPO.
28Zwar konnte sich das Bundesamt vorliegend ungeachtet der Tatsache, ob es sich bei der Einrichtung, in der die Kläger untergebracht sind, um eine (Erst)Aufnahmeeinrichtung i.S.d. § 10 Abs. 4 AsylG handelt und mithin die dort normierten erleichterten Zustellungsvorschriften greifen würden, nach § 2 Abs. 3 VwZG für eine Zustellung durch die Post mittels Zustellungsurkunde gem. § 3 VwZG i.V.m. §§ 177 bis 182 ZPO entscheiden. Denn nach § 10 Abs. 5 AsylG bleiben die Vorschriften über die Ersatzzustellung unberührt. Die vorgenommene Zustellung erfüllt aber nicht die Anforderungen an die Ausführung der Ersatzzustellung nach § 180 Satz 1 ZPO. Danach kann, wenn die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht ausführbar ist, das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist.
29Ein für die Einlegung geeigneter Briefkasten oder die entsprechende Vorrichtung muss eine solche des Adressaten, d.h. diesem eindeutig zugeordnet sein, was sich regelmäßig aus der Beschriftung oder räumlichen Nähe zur Wohnung ergibt.
30Vgl. Häublein/Müller, in: Krüger/Rauscher, Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 180 Rn. 4 f. m.w.N.;Schultzky in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 180 Rn. 5.
31Die Anforderungen an die Empfangseinrichtung sollen insbesondere gewährleisten, dass der Adressat mit hinreichender Sicherheit in die Lage versetzt wird, den Inhalt der Sendung auch tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen.
32Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. August 2015 - 8 A 847/12 -, juris, Rn. 11.
33Zwar dürfte entgegen dem § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht erwähnenden Wortlaut eine Ersatzzustellung § 180 ZPO nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auch dann möglich sein, wenn der Adressat in einer Gemeinschaftseinrichtung über eine den Anforderungen des § 180 ZPO im Übrigen entsprechende, ihm allein zustehende Empfangseinrichtung verfügt,
34vgl. BFH, Beschluss vom 17. Juli 2009 - II B 33/08 -, juris, Rn. 7; VG Bayreuth, Beschluss vom 5. Juni 2018 - B 7 K 17.32410 -, juris, Rn. 28; VG Augsburg, Beschluss vom 17. November 2016 - Au 3 S 16.32189 -, juris, Rn. 34; Häublein/ Müller, in: Krüger/Rauscher, Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 180 Rn. 1; Schultzky, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 180 Rn. 4 m.w.N.; Dörndorfer, in: Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 47. Edition, Stand: 01.12.2022, § 130 Rn. 2 m.w.N.; Diehm, in: Kern/Diehm, ZPO, 2. Aufl. 2020, § 180 Rn. 3,
35so liegt es hier aber gerade nicht. Denn die Gemeinschaftsunterkunft, in der die Kläger untergebracht sind, verfügt nach den Feststellungen des Gerichts lediglich über einen am Eingang zum Gebäudekomplex befindlichen mit der Aufschrift B.------- “ beschrifteten Briefkasten, der sowohl für die an die Leitung der Einrichtung als auch für an die Bewohner der Unterkunft gerichtete Post genutzt wird. Weitere eigenständige Briefkästen, die den einzelnen alphabetisch nummerierten Häusern, den einzelnen Wohnungen oder Bewohnern zugeordnet wären, sind nicht vorhanden. Damit ist der Briefkasten den Klägern in keiner Weise individuell zugeordnet. Weder besteht eine räumliche Nähe zu ihrer Wohnung noch sind sie namentlich auf dem Briefkasten benannt. Sie haben überdies auch keine Zugriffsmöglichkeit auf den Inhalt des Briefkastens, da allein die die Gemeinschaftsunterkunft betreuenden Personen über den Schlüssel zum Briefkasten verfügen. Durch den Einwurf in den Briefkasten war den Klägern mithin nicht ohne weitere Zwischenschritte die Kenntnisnahme des an sie gerichteten Bescheides möglich.
36Ob es überdies vor Durchführung der Ersatzvornahme nach § 180 ZPO vorrangig eines tatsächlichen Versuches, die Adressaten zwecks Übergabe des Schriftstücks aufzusuchen – nach den Kenntnissen des Gerichts über die Örtlichkeit wird ein Zugang zum Gelände und damit zu den einzelnen Häusern der Flüchtlingsunterkunft nicht zugelassen –, oder zumindest eines – vorliegend in der Postzustellungsurkunde nicht dokumentierten – Versuchs der Übergabe an den für die Ersatzzustellung in der Gemeinschaftseinrichtung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO berechtigten Leiter der Einrichtung oder einen dazu ermächtigten Vertreter bedurft hätte, kann folglich dahinstehen.
37Schließlich liegt – schon ausweislich der Postzustellungsurkunde – auch keine wirksame Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vor. Danach kann, wenn die Person, der zugestellt werden soll, in der Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen wird, das Schriftstück dem Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter zugestellt werden. Die Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 ZPO setzt die tatsächliche Aushändigung an eine geeignete, vom Gesetz dafür zugelassene Person durch den Postzusteller voraus.
38Vgl. Thiel, in: Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 3 VwZG Rn. 34, 59; Häublein/Müller, in: Krüger/Rauscher, Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 178 Rn. 3; Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG, VwZG, 12. Aufl. 2021, § 3 VwZG Rn. 25.
39Die vorliegend in der Postzustellungsurkunde dokumentierte schlichte Einlegung in den Briefkasten der Einrichtung genügt demgegenüber nicht. Dass in der Folge ein Mitarbeiter des Diakoniewerks und X. die Postsendung an sich genommen und deren Erhalt am 12. Dezember 2022 in der bei der Übergabe an die Adressaten genutzten „Empfangsbestätigung“ dokumentiert hat, vermag – ungeachtet dessen, ob es sich hierbei um den Leiter der Einrichtung oder einen zur Postannahme ermächtigten Vertreter i.S.d. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO handelte – nichts daran zu ändern, dass eine persönliche Übergabe durch den Postzusteller nicht erfolgte. Mithin trat eine die Klagefrist auslösende Heilung der Zustellung gem. § 8 VwZG erst durch die ebenfalls in der vorgenannten Empfangsbestätigung ausgewiesene tatsächliche Aushändigung des Bescheides an den Kläger zu 1) durch einen Mitarbeiter des Diakoniewerks und X. am 13. Dezember 2022 ein.
40II.
41Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 21. November 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil bereits die in Ziffer 1 des Bescheids ausgesprochene Ablehnung der Asylanträge als unzulässig auf keiner gesetzlichen Grundlage beruht (dazu 1.). Vor diesem Hintergrund sind auch die weiteren Ziffern des Bescheids aufzuheben (dazu 2.).
421.
43Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes enthaltene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig. Denn die Asylanträge sind nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
44Unabhängig davon, ob Italien anfänglich für das Verfahren der Kläger zuständig war, ist die Zuständigkeit jedenfalls auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen, die Asylanträge der Kläger mithin nicht unzulässig, weil sich eine Abschiebung nach Italien unter Beachtung des hierfür geltenden Maßstabs (dazu a.) als unmöglich erweist (dazu b.).
45a)
46Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat – die Beklagte – die Prüfung der in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat – hier Italien – zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechte-Charta (GR-Charta) oder des diesem entsprechenden Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit sich bringen. Kann die Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedsstaat nicht erfolgen und ist auch – wie hier – kein anderer Mitgliedstaat als zuständig zu ermitteln, ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO zuständig.
47Eine Gefahr im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ist zunächst immer dann zu bejahen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in diesem Zielstaat aufgrund systemischer Mängel, das heißt regelhaft, so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylsuchenden dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta oder Art. 3 EMRK droht. Eine solche systemisch begründete Gefahr ist dabei einerseits vor allem dann anzunehmen, wenn die Aufnahmebedingungen im betroffenen Mitgliedsstaat erheblich defizitär sind, also das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder die Behandlung im Asylverfahren derart defizitär ist, dass die Betroffenen mit den notwendigen Mitteln ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht mehr hinreichend befriedigen können. Zum anderen liegt ein beachtlicher systemischer Mangel auch dann bzw. erst recht vor, wenn den Betroffenen bereits der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wird und diese insoweit ihr verbürgtes Recht auf Asyl nicht geltend machen können.
48Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 -, juris, Rn. 41; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 126; VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 36.
49Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GR-Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in den nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat nicht nur im Fall systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sondern in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei oder infolge seiner Überstellung der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
50Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87; VG Aachen, Urteil vom 1. Dezember 2020 - 9 K 3816/18.A -, nicht veröffentlicht; VG Karlsruhe Gerichtsbescheid vom 11. März 2020 - A 9 K 3651/18 -, juris, Rn. 35; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2020 - 22 K 13275/17.A -, juris, Rn. 41.
51Dabei sind die Anforderungen an die Feststellung einer Gefahr im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK begründende Zustände aufgrund des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Europäischen Union erhöht. Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie diese mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihrem Art. 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten.
52Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Solche Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.
53Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 83 ff., und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 90 ff.
54Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (erst dann) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
55Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 92 f. und 96 f., und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
56Dabei genügt auch bereits ein kurzer Zeitraum nach Rückkehr, in dem etwa Obdachlosigkeit oder andere Gründe dafür drohen, dass die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen nicht gelingen wird.
57Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zur Richtlinie 2013/33/EU); OVG NRW, Beschluss vom 22. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A -, juris, Rn. 88.
58b)
59Trotz dieses strengen Maßstabs ist im aktuellen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) davon auszugehen, dass eine Überstellung der Kläger nach Italien gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO unmöglich ist. Dabei spricht aus Sicht der Kammer bereits Alles dafür, dass das italienische Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist (dazu aa.). Ungeachtet dessen droht den Klägern jedenfalls unter Beachtung der einzelfallbezogenen Umstände eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung in Italien (dazu bb.).
60aa)
61Auf Grundlage der aktuellen Erkenntnisse geht die erkennende Kammer davon aus, dass das italienische Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist, die eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK begründen.
62Die italienischen Behörden haben mit Erklärungen vom 5. und 7. Dezember 2022 mitgeteilt, dass Überstellungen nach Italien im Rahmen des Dublin III-Verfahrens aus Kapazitätsgründen vorerst nicht möglich seien. In Ermangelung näherer Informationen, insbesondere zum Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen, sowie in Anbetracht des nunmehr erheblichen Aussetzungszeitraums von über einem Jahr ist davon auszugehen, dass Italien die (Wieder-)Aufnahme von Rückkehrern im Rahmen des Dublin-III-Verfahrens auf unbestimmte Zeit verweigert und demnach den Betroffenen entgegen ihrer Verpflichtung insoweit systemisch den Zugang zum Asylverfahren versperrt. Dies entspricht auch der jüngeren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen.
63Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, juris, Rn. 46 ff., und vom 7. Juni 2023 - 11 A 2343/19.A -, juris, Rn. 47 ff.; vgl. dazu auch VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 55 ff.; VG Köln, Beschluss vom 8. Mai 2023 - 23 L 780/23.A -, juris, Rn. 36 ff.
64Soweit das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung zuletzt als verfahrensfehlerhaft bewertet hat, weil ein Zuständigkeitsübergang aufgrund systemischer Mängel nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO zwingend die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung erfordere,
65vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2023 - 1 B 22.23 -, juris, Rn. 15, und vom 13. November 2023 - 1 B 39.23 -, juris, Rn. 15,
66überzeugt dies die Kammer nicht. Unabhängig davon, ob nicht nach dem Unionsrecht auch andere, nicht (allein) auf die Verhältnisse im betroffenen Staat abstellende – vom Europäischen Gerichtshof bislang weder explizit angenommene noch dezidiert ausgeschlossene – Möglichkeiten für die Annahme hinreichender systemischer Mängel denkbar sind, etwa die gänzliche Verweigerung des Zugangs zum System oder der politische Wille, nicht mehr am Dublin-System zu partizipieren, muss in Anbetracht des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens davon ausgegangen werden, dass, wenn sich ein Mitgliedsstaat – wie hier – der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern unter Verweis auf fehlende Aufnahmekapazitäten verweigert, diese Begründung zutreffend ist. Jedenfalls nach einem solch beachtlichen Zeitraum der Aussetzung wie hier von über einem Jahr ist daher auch von der (systemisch begründeten) beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung auszugehen. Die italienische Regierung hat mit ihren Erklärungen vom 5. bzw. 7. Dezember 2022 insoweit konkludent zum Ausdruck gebracht, dass im Falle einer Rückkehr der Betroffenen eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung droht. Denn da Italien seine Entscheidung ausschließlich mit fehlenden Kapazitäten im System begründet hat, kann – will man das Dublin-System und die darin enthaltenen Verpflichtungen ernst nehmen –, die Entscheidung nur als Versuch gewertet werden, Verstöße gegen die sich aus der Verordnung ergebenden Verpflichtungen und damit konkret eine aus italienischer Sicht offenbar beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung zu vermeiden. Soweit das Bundesverwaltungsgericht nunmehr diese Erklärungen lediglich als Indiz wertet und weitere Ermittlungen für erforderlich erachtet, stellt sich die Frage, welche Auskünfte belastbarer sind als die eigenen Verlautbarungen des betroffenen Staates.
67bb)
68Aber selbst wenn – die vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Anforderungen umsetzend respektive an der Richtigkeit der italienischen Erklärungen zweifelnd – auf die Verhältnisse in Italien bei gedachter Rücküberstellung abgestellt wird, ergibt sich hieraus nach der Überzeugung der Kammer eine beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung für die Kläger.
69Insofern ist bei der Anwendung der oben bereits geschilderten Maßstäbe besonders die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen und dabei muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie besonders vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit (z. B. Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.) unterschieden werden. Bei Letzteren ist der Schutzbedarf naturgemäß anders bzw. höher.
70Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 41. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 -, juris, Rn. 67; VG Freiburg, Urteil vom 28. Dezember 2020 - A 4 K 10160/17 -, juris, Rn. 33.
71Dies gilt insbesondere im Fall der Betroffenheit von Kindern. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass der durch Art. 4 GR-Charta bzw. in gleicher Weise durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz bei Kindern – unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden – noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind. Diese bestehen aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, aber auch ihres Status als Schutzsuchende.
72Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, juris, Rn. 119.
73Kinder sind grundsätzlich verletzlicher und ihre Bewältigungsmechanismen sind noch unentwickelter. Sie neigen zudem mehr dazu, feindselige Situationen als verstörend zu empfinden, Drohungen Glauben zu schenken und von ungewohnten Umständen emotional beeinträchtigt zu werden. Sie reagieren auch stärker auf Handlungen, die gegen nahe Verwandte gerichtet sind. Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind eine ungebührende Härte darstellen.
74Vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, vom 22. Dezember 2009, S. 10 und 25.
75Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Schutzsuchende müssen deshalb an ihr Alter angepasst sein um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls wird die Schwere erreicht, die erforderlich ist, um unter das Verbot in Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GR-Charta zu fallen. Bei Minderjährigen wiegt ihre besonders verwundbare Lage schwerer als die Tatsache, dass sie Ausländer mit unrechtmäßigem Aufenthalt sind.
76Vgl. EGMR, Urteil vom 4.November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, juris, Rn. 99, 119.
77Die Kläger bilden eine in Deutschland zusammenlebende Kernfamilie, wobei dieser Familie auch Kleinkinder angehören. Aufgrund dessen sind sie – davon ausgehend, dass der Rückkehrprognose auf der Basis von Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) eine Ausreise bzw. Überstellung aller Familienmitglieder nur gemeinsam zu Grunde zu legen ist,
78vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 16 ff. –
79insgesamt der Personengruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen, für die ein erhöhter Schutzbedarf zu konstatieren ist.
80Dies zugrunde legend ist die Vermutung, dass Italien Dublin-Rückkehrern, die sich in der Situation der Kläger befinden, den Schutz der in der GR-Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere aus Art. 4, bietet, auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Informationen durchgreifend erschüttert. Für vulnerable Personen, insbesondere Familien mit minderjährigen Kindern, geht die beschließende Kammer – schon vor der italienischen Erklärung zum Aufnahmestopp – in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass zu befürchten ist, dass ihnen in Italien aufgrund der dort herrschenden humanitären Bedingungen eine erniedrigende bzw. unmenschliche Behandlung droht, wenn nicht eine individuelle und konkrete Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, die eine hinreichende und adäquate Unterstützung – namentlich eine ihrer Vulnerabilität angemessene und für eine hinreichende zeitliche Dauer zur Verfügung stehende Unterkunft – sicherstellt. Dies auch unabhängig davon, ob die Antragsteller in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, ein Asylverfahren nicht eingeleitet worden ist, dieses bereits negativ abgeschlossen ist oder ob sie bereits internationalen Schutz zuerkannt bekommen haben.
81Vgl. ausführlich VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2022 - 1a K 2947/19.A -, juris, Rn. 62 ff.
82An dieser Einschätzung hält die Kammer weiterhin fest. Das Vorliegen einer individuellen Garantieerklärung der italienischen Behörden, die vorliegend weder vorgetragen ist noch sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ergibt, ist auch vor dem Hintergrund der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt aktuellen Gesamtbedingungen in Italien erforderlich, da andernfalls zu befürchten ist, dass die Kläger die in ihrer speziellen Situation dringend erforderliche Unterstützung in Italien nicht erhalten und dadurch in eine Situation der Verelendung unabhängig von ihrem eigenen Willen geraten werden. Unerheblich ist insofern insbesondere die Tatsache, dass die italienischen Behörden das Aufnahmegesuch des Bundesamtes betreffend die Kläger angenommen haben. Denn darin kann allenfalls die erklärte Bereitschaft Italiens, die Kläger am Flughafen in Empfang zu nehmen und ihnen bei ihrer Weiterreise behilflich zu sein, gesehen werden. Dass die Kläger einerseits eine Unterkunft erhalten sowie an weiteren notwendigen Unterstützungen teilhaben werden, die andererseits ihrer Vulnerabilität angemessen sein werden, ist damit aber weder ausdrücklich noch sinngemäß etwas erklärt worden.
83Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 41 ff.
84Es ist indes bereits nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Kläger in Italien eine Unterkunft erhalten werden, jedenfalls keine ihrer Vulnerabilität angemessene. Den Klägern wird es auch nicht gelingen, für sich selber zu sorgen.
85Haben Asylsuchende – wie die Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt, sondern sind ihnen etwa nur Fingerabdrücke abgenommen worden, besagen die Erkenntnismittel, dass sie nach Ankunft in Italien das Recht haben, einen Asylantrag zu stellen, und demnach wie solche Asylsuchende behandelt werden, die erstmals in Italien einreisen und einen Asylantrag stellen. Sie haben demnach auch einen Anspruch auf staatliche Unterkunft.
86Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 4.
87Von daher hat die Rechtsprechung – einschließlich der erkennenden Kammer – auch bislang angenommen, dass Dublin-Rückkehrer, die nach ihrer Rückkehr nach Italien erstmalig einen Asylantrag stellen, eine Unterkunft erhalten werden.
88Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A -, juris, Rn. 65 ff.
89Davon kann aber aufgrund der feststellbaren geänderten Umstände inzwischen nicht mehr ausgegangen werden. Denn zunächst hat Italien gerade wegen der fehlenden Kapazitäten und insoweit der fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten für alle Dublin-Rückkehrer die Aufnahme ausgesetzt. Aus den oben benannten Gründen handelt es sich bei den entsprechenden Erklärungen um die gewichtigste Erkenntnisquelle, so dass sie daher auch vornehmlich angesichts des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens als wahr zugrunde zu legen sind. Aber auch wenn diese Aussage zu einer Überforderung des Systems – wie nunmehr hier – als nicht hinreichend betrachtet wird oder wenn angenommen wird, dass Hintergrund des Aufnahmestopps (allein oder überwiegend) der politische Wille ist, keine Asylberechtigten im Land aufzunehmen, ergeben sich in Zusammenschau mit der schon vor dem Aufnahmestopp bekannten unzureichenden Versorgungslage von Asylbewerbern – neuere tagesaktuelle Erkenntnisse sind schon aus der Natur der Sache heraus nicht zu erlangen und können der hypothetischen Betrachtung mithin nicht zugrunde gelegt werden – hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass auch im Falle einer unterstellten Rückübernahme die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden und damit Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt würden.
90Denn die Lage des Unterbringungssystems in Italien war auch in den letzten Jahren bereits angespannt.
91Vgl. nur Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 23 ff.
92In Anbetracht der aktuellen – sprunghaft angestiegenen – Zahlen in Italien neu ankommender Flüchtlinge geht das Gericht nun davon aus, dass es nicht (mehr) genügend Unterbringungskapazitäten gibt. Italien hatte zuletzt einen enormen Zuwachs an ankommenden Flüchtlingen zu verzeichnen. Im Jahr 2023 sind bis September bereits insgesamt 115.000 Flüchtlinge und damit fast doppelt so viele wie im Vorjahrszeitraum nach Italien gekommen. Im ersten Halbjahr 2023 wurden daher auch mit über 60.000 mehr als doppelt so viele Asylanträge wie im Vorjahreszeitraum gestellt.
93Vgl. UNO, Flüchtlinge in Italien: Italien steht weiterhin vor großen Herausforderungen, Stand: September 2023 (abrufbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/italien); Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Entscheiderbrief 11/2023, Blick zum Nachbarn – Italien: Regierung Meloni – Bilanz der einjährigen Amtszeit, S. 7.
94Berücksichtigt man nun, dass Italien im Jahr 2022 insgesamt, d.h. unter Berücksichtigung jeglicher Unterkunftskapazitäten, 107.677, im Juli 2023 125.922 und zuletzt im November knapp 140.000 Unterkunftsplätze zur Verfügung stellte,
95vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 147 (für 2022), Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 12 (für Juli und November 2023),
96ergibt sich gerade unter Einbeziehung der aufgrund der regelmäßig mehrjährigen Dauer des Asylverfahrens nicht unerheblichen durchschnittlichen Unterbringungszeit eines Asylbewerbers, der hinzukommenden, ebenfalls unterzubringenden ukrainischen Flüchtlinge,
97vgl. AIDA, Temporary Protection Italy, Mai 2023, S. 13 ff.,
98und trotz der feststellbaren Aufstockung der Unterbringungskapazitäten beachtlich wahrscheinlich, dass in Italien nicht so viele Plätze verfügbar sein können, als dass es für den Ausschluss einer beachtlichen Gefahr einer Obdachlosigkeit hinreichend wäre. Dies gilt umso mehr, als dass bei Unterstellung einer Rückkehr der Kläger auch die zahlreichen übrigen Dublin-Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland und den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die seit mehr als einem Jahr nicht überstellt worden sind und bei denen die Überstellungsfrist nicht abgelaufen ist, mit in den Blick zu nehmen sind, die ebenfalls – hypothetisch – untergebracht werden müssen. Allein angesichts dieser sich aufdrängend enorm hohen Anzahl unterzubringender Asylsuchender ergibt sich schnell, dass auch die erhöhten Unterbringungskapazitäten in Italien nicht auszureichen vermögen.
99Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 12; AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 151 f.
100Insoweit legen die benannten Zahlen jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung die Richtigkeit der italienischen Angaben zur Unterbringungskapazitätserschöpfung besonders nahe,
101so bereits VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2024 - 1a K 3331/23.A -, juris, Rn. 43 ff.,
102so dass davon auszugehen ist, dass die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft erhalten werden.
103Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Kläger aufgrund ihrer Vulnerabilität – neben anerkannt Schutzberechtigten – infolge der sog. „Lamorgese“-Reform im Jahr 2020 (wieder) Zugang zu den Einrichtungen des Sistema di Accoglienza e Integrazione (SAI) haben sollen. Denn es ist weiterhin nicht erkennbar, dass diese Reform im Wesentlichen über das Papier, auf dem sie steht, hinausgegangen und tatsächlich hinreichend umgesetzt worden wäre.
104Vgl. dazu auch ausführlich bereits VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2022 - 1a K 2947/19.A -, juris, Rn. 93 ff.
105So sollen in den SAI insgesamt 43.923 Unterbringungsplätze bestehen, von denen 6.299 Plätze für unbegleitete Minderjährige und 803 Plätze für Menschen mit psychischen Problemen oder körperlichen Behinderungen vorgesehen sein sollen.
106AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 151 f.
107Diese Kapazitäten sind in Ansehung der bereits dargelegten Flüchtlingszahlen jedenfalls derart eingeschränkt, dass selbst eine de iure bestehende privilegierte Zugangsmöglichkeit für vulnerable Personengruppen de facto nicht hinreichend sicherstellt, dass die Kläger unmittelbar Zugang zu einer entsprechenden Einrichtung haben und nicht – wie es für diese Personengruppe bereits allein für die Annahme einer Art. 4 GRCh widersprechenden Behandlung ausreicht – (zunächst) obdachlos werden.
108Vgl. OVG RP, Beschluss vom 23. Januar 2024 - 13 A 10945/22.OVG -, juris, Rn. 35 ff.
109Dies gilt umso mehr, als der von den italienischen Behörden erklärte Übernahmestopp keine Ausnahmen für Vulnerable wie die Kläger vorsieht.
110Aber selbst wenn vulnerable Personen eine Unterkunft erhalten sollten, ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln keineswegs mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass diese der Vulnerabilität angemessen wären.
111Bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand im Jahr 2014, dass das italienische Unterbringungssystem für vulnerable Menschen, insbesondere Familien mit (Klein-)Kindern beachtlich defizitär ist.
112Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127 (131).
113Daran hat sich bislang aus Sicht des Gerichts auch nichts geändert. Die Erkenntnismittel weisen weiterhin daraufhin, dass die Unterbringungen aufgrund ihrer Größe und Struktur eine eher grundlegende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Basisinformation, Rechtsberatung und medizinischer Notversorgung bieten, grundsätzlich aber keinen geschützten Rahmen für kleine Kinder bieten, die aufgrund ihres Alters und der besonderen Umstände des Einzelfalls besonderes schutzbedürftig sind. Personen mit besonderen Bedürfnissen erhalten bei der Unterbringung daher mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die nötige Unterstützung.
114Vgl. AIDA, Country Report Italy, Update 2022, S. 164 ff.; Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: Oktober 2022, S. 17 f.; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S. 40 f., 102 f.
115Im Übrigen erweist sich eine Rücküberstellung vulnerabler Personen auch nicht etwa deshalb als unionsrechtskonform, weil es den Betroffenen ohne staatliche Unterbringung möglich wäre, für sich sorgen zu können. Denn insoweit erweist sich die Situation des Arbeitsmarktes sowie der staatlichen oder nichtstaatlichen Unterstützungshandlungen als prekär. Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen bereits ausgeführt, dass selbst ein junger, gesunder und alleinstehender Dublin-Rückkehrer in Italien nicht für sich sorgen könne.
116Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 1689/20.A -, juris, Rn. 110 ff.
117Dass sich hieran bislang nichts geändert hat, nimmt die Kammer in Ansehung der derzeit in Italien herrschenden humanitären Bedingungen bereits unabhängig vom Vorliegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit weiterhin an.
118Vgl. zum Folgenden auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2024 - 1a K 3331/23.A -, juris, Rn. 60 ff.
119Auf informelle Siedlungen oder besetzte Häuser können Asylsuchende nicht als Ersatz für eine staatliche Unterbringung verwiesen werden. Denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden ist wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände nicht nur unzumutbar, sondern vor allem auch illegal.
120Vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 107.
121Im Übrigen können die Kläger auch nicht darauf verwiesen werden, dass von Seiten der Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen Unterkünfte angeboten werden. Denn nicht nur, dass die Zahl der insoweit zur Verfügung stehenden Plätze gar nicht überblickbar ist und bereits deshalb eine Unterkunftsgewährung nicht hinreichend wahrscheinlich ist, handelt es sich ausweislich der vorhandenen Erkenntnismittel – wenn überhaupt – nur um wenige Unterbringungsplätze. Angesichts des enormen Zustroms an Flüchtlingen in Italien und vor dem Hintergrund, dass auch die bereits anerkannten Schutzberechtigten häufig auf diese Form der Unterbringung verwiesen werden,
122so etwa jüngst für bereits anerkannte Schutzberechtigte BayVGH, Beschluss vom 11. Oktober 2023 - 24 B 23.30525 -, juris, Rn. 23, der sich aber bereits gar nicht mit der Frage der Anzahl der verfügbaren nichtstaatlichen Unterbringungskapazitäten beschäftigt, sondern den Umstand, dass Unterbringung auf privater Ebene erfolgt, an sich ohne nähere Prüfung und Auswertung von Erkenntnismitteln genügen lässt,
123kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass diese privat zur Verfügung gestellten Plätze ausreichend sind.
124Vgl. dazu AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 152 f.; vgl. auch bereits OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 105 mit Verweis auf OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 79, 99, 150 ff.
125Den Klägern wird es schließlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien auch nicht möglich sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit der Kläger zu 1. und 2. zu erzielenden Mitteln eine Unterkunft zu finanzieren und sich und die Familie darüber hinaus mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.
126Im Jahr 2022 lag die Arbeitslosenquote in Italien bei rund 8,12 Prozent; für das Jahr 2023 wurde sie auf 7,9 Prozent geschätzt. Prognostisch wird sie in den nächsten Jahren ungefähr bei 8 Prozent bleiben.
127Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17316/umfrage/arbeitslosenquote-in-italien/#:~:text=Im%20Jahr%202022%20hat%20die,Prognosen%20bis%20zum%20Jahr%202028.
128Asylwerber dürfen in Italien zwar zwei Monate nach Antragstellung legal arbeiten. Auch aufgrund der nicht geringen Arbeitslosenzahlen in Italien ist es für Asylsuchende aber schwer, Arbeit zu finden. Sprachbarrieren, das Leben ohne Unterkunft/auf der Straße, das Fehlen einer spezifischen, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Unterstützung sowie fehlende Qualifikationen oder Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen erschweren die Arbeitssuche zusätzlich.
129Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 9; AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 159.
130Darüber hinaus haben Arbeitgeber häufig Bedenken, Asylbewerber einzustellen, die lediglich im Besitz der Asylantragsbescheinigung oder des Antrags auf Verlängerung der sechsmonatigen Aufenthaltserlaubnis sind, da diese kein Ablaufdatum aufweisen, auch wenn sie der Aufenthaltserlaubnis rechtlich gleichgestellt sind.
131Vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 159.
132Bei Würdigung dieser Umstände ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Kläger zu 1. und 2. entweder keine Arbeit finden werden oder aber allenfalls eine solche (Niedriglohn-)Arbeit, die eine zumutbare Unterkunft zu finanzieren nicht hinreichend gewährleistet.
133Soweit einige (Ober-)Gerichte die Betroffenen – unter Ausblendung der Frage, ob in diesem Sektor hinreichende Einkünfte zur Befriedigung der essentiellen Bedürfnisse erwirtschaftet werden können – ohne weitere Differenzierung auf eine Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft verweisen,
134vgl. etwa Sächsisches OVG, Urteil vom 15. März 2022 - 4 A 506/19.A -, juris, Rn. 58,
135erscheint dies aus Sicht der erkennenden Kammer zynisch und im Ergebnis unzumutbar. Ein Mitgliedsstaat darf nicht auf Möglichkeiten und Optionen in einem anderen Mitgliedsstaat verweisen, die nicht nur nach den gemeinsamen europarechtlichen Regelungen – wie hier etwa durch Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates 2016/344/EU –, sondern auch nach den Vorschriften des betroffenen anderen Mitgliedsstaates illegal und zu bekämpfen sind – ganz abgesehen davon, dass der betroffene Asylantragsteller dadurch auch der Gefahr von Sanktionen dieses Mitgliedsstaates ausgesetzt ist.
136Vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 137.
137Hier versucht der italienische Staat gerade angesichts wachsender Schwarzarbeit diese einzudämmen und hat daher bestehende Strafandrohungen verschärft und neue Straftatbestände gegen kriminelle Arbeitgeber geschaffen. Der italienische Staat geht auch vermehrt gegen illegale Beschäftigung und Ausbeutung von Ausländern vor.
138Vgl. etwa https://www.handelsblatt.com/politik/international/schattenwirtschaft-italien-forciert-den-kampf-gegen-steuerhinterziehung-und-schwarzarbeit/26104226.html.
139Dabei ändert auch nichts der Umstand, dass Schwarzarbeit in Italien faktisch als „Kavaliersdelikt“ angesehen wird und sehr weit verbreitet ist,
140vgl. dazu mit Verweis auf entsprechende Erkenntnismitteln Sächsisches OVG, Urteil vom 15. März 2022 - 4 A 506/19.A -, juris, Rn. 58,
141weil ein Mitgliedsstaat von einem anderen Mitgliedsstaat nicht auf der einen Seite die Einhaltung von (gemeinsamen) Regelungen einfordern darf, indem er auf der anderen Seite auf die Möglichkeit der Gesetzesüberschreitung – gleich welchen Umfangs – in demselben Mitgliedsstaat verweist. Eine solche Argumentation widerspricht der für die Europäischen Union basalen und das Prinzip gegenseitigen Vertrauens rechtfertigenden Prämisse, dass alle Mitgliedsstaaten diejenigen Werte teilen, auf die sich die Europäische Union gründet,
142vgl. nur EuGH, Urteil vom 30. November 2023 - C-228/21 u.a. -, juris, Rn. 130 m.w.N.,
143zu denen nach Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) auch die Rechtsstaatlichkeit zählt. Dass ein Mitgliedsstaat diesen Wert jedenfalls nicht hinreichend teilt, der Dublin-Rückkehrer darauf verweist, in einem anderen Mitgliedsstaat das dort geltende Recht zu brechen – sei dieser Rechtsbruch auch faktisch kaum geahndet –, drängt sich auf.
144Soweit das Bundesverwaltungsgericht eine Tätigkeit in der sogenannten „Schattenwirtschaft“ für grundsätzlich zumutbar erachtet und hierbei diese Frage als „geklärt“ bezeichnet,
145vgl. Beschlüsse vom 17. Januar 2022 - 1 B 66.21 -, juris, Rn. 29, und vom 9. Januar 1998 - 9 B 1130.97 -, juris, Rn. 5,
146hat es hier erkennbar nur die (normative) Zumutbarkeit einer (vorübergehenden) Tätigkeit in der „Schattenwirtschaft“ im Allgemeinen in den Blick genommen, zugleich aber betont ausgeführt, dass mangels Entscheidungserheblichkeit nicht abschließend zu entscheiden sei, ob insoweit ein weitergehender, abstrakt genereller (unionsrechtlicher) Klärungsbedarf zu den Maßstäben der Statthaftigkeit einer Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft besteht – etwa dahin, ob danach zu differenzieren ist, in welcher Weise der Staat gegen Schwarzarbeit vorgeht, auf wen eine etwaige Strafandrohung abzielt und wie sich der tatsächliche Bedarf an ausländischen Arbeitskräften in bestimmten Sektoren der Volkswirtschaft und die tatsächliche Praxis der Strafverfolgung darstellten.
147Insofern ist die erkennende Kammer der Ansicht, dass im vorliegenden Fall, in dem Italien durch seine Gesetzgebung zu erkennen gegeben hat, die Schwarzarbeit – trotz oder aufgrund ihrer weiten Verbreitung – nicht dulden zu wollen, ohnehin viele Italiener selbst auf diese Arbeitsform angewiesen sind und die Asylantragsteller – jedenfalls soweit sie noch nicht anerkannt sind – wohl auch in Ansehung der ihnen gegenüber bestehenden Vorbehalte insbesondere Sanktionen zu befürchten haben, die zudem ihren Schutzanspruch beeinträchtigen könnten, eine Unzumutbarkeit auch nach diesem Maßstab anzunehmen ist.
148Unabhängig davon können die Kläger aber auch deshalb nicht auf eine Tätigkeit in der „Schattenwirtschaft“ verwiesen werden, weil diese sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in die Lage versetzen können wird, für sich eine den benannten unionsrechtlichen Anforderungen genügende Unterbringung und Versorgung zu erwirtschaften. Schwarzarbeit ist unter den Asylbewerbern in Italien sehr verbreitet. Viele Flüchtlinge arbeiten in der Landwirtschaft, z. B. in der saisonalen Erntearbeit, meist aber unter prekären Arbeitsbedingungen. Der Lohn reicht in der Regel bereits nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder gar einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten. Demnach genügt die Tätigkeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch nicht, um für sich und die Kinder der Familie die Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse zu gewährleisten.
149Vgl. nur Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, 10. Juni 2021, S. 13.
150Ohne einen (sicheren) Zugang zum staatlichen Unterbringungssystem ist auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Kläger Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe sie ihr Existenzminimum sichern könnten. Denn Asylsuchende, die in keiner Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, erhalten keine staatliche Unterstützung.
151Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 62 ff.; vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 139.
1522.
153Angesichts der Rechtswidrigkeit der Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides fehlen auch die Voraussetzungen für die in den weiteren Ziffern getroffenen Regelungen. Denn jedenfalls in der vorliegenden Konstellation erfordern die Rechtsgrundlagen stets die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig, an der es aufgrund der bereits gemachten Ausführungen gerade mangelt. Das gilt sowohl für die in Ziffer 2 enthaltene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG) als auch die in Ziffer 3 angeordnete Abschiebung (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) als auch für die in Ziffer 4 vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG).
1543.
155Da die Klage mit dem Hauptantrag Erfolg hat, war über die Hilfsanträge nicht mehr zu befinden.
156III.
157Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, 709 Satz 2 und 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).