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Das italienische Asylsystem weist infolge der Erklärung der italienischen Behörden, bis auf Weiteres keine Dublin-Rückkehrer aufzunehmen, systemische Mängel auf, ohne dass eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung erforderlich ist (entgegen BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2023 - 1 B 22.23 -, juris). Denn das Prinzip gegenseitigen Vertrauens gebietet es jedenfalls bei Fehlen stichhaltiger gegenteiliger Anhaltspunkte, einem Mitgliedsstaat Glauben zu schenken, wenn er eine Überlastung seiner Aufnahmeeinrichtungen und insofern konkludent systemische Mängel selbst konstatiert.
Auch bei Auseinandersetzung mit den von Dublin-Rückkehrern (wahrscheinlich) zu erwartenden tatsächlichen Verhältnissen in Italien ist nunmehr von einer beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung auch der (nicht vulnerablen) Dublin-Rückkehrer auszugehen, die in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Trotz des für diese Asylsuchenden auf dem Papier existierenden Anspruchs auf Unterbringung ist vor dem Hintergrund der weiterhin sehr hohen Anzahl an unterzubringenden Asylsuchenden und vor allem im Falle einer unterstellten Rückkehr dann auch der übrigen, seit mehr als einem Jahr nicht rücküberstellten, aber weiterhin zu überstellenden Asylsuchenden angesichts tatsächlich begrenzter Aufnahmekapazitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass für sie eine menschenrechtskonforme Unterbringung ausgeschlossen ist und es ihnen aufgrund der humanitären Situation in Italien nicht gelingen wird, ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") zu befriedigen.
Asylsuchende können nicht auf die Möglichkeit (vorübergehender) Tätigkeit in der sog. "Schattenwirtschaft" verwiesen werden. Bereits das der Europäischen Union innewohnende Prinzip gemeinsam geteilter Werte, hier konkret der Rechtsstaatlichkeit, verbietet es einem Mitgliedsstaat, Asylsuchende darauf zu verweisen, in einem anderen Mitgliedsstaat die dortige Rechtsordnung zu missachten.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2023 (Az.: ) wird aufgehoben.
Die Kosten des – gerichtsgebührenfreien – Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand:
2Der Kläger wendet sich gegen die mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ausgesprochene Unzulässigkeit seines Asylantrags und die darauf beruhende angeordnete Abschiebung nach Italien.
3Der im Jahr 1986 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste am 2. März 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. März 2023 einen Antrag auf Asyl.
4Eine bereits am 3. März 2023 erfolgte Eurodac-Abfrage durch das Bundesamt ergab, dass dem Kläger am 18. Februar 2023 auf Lampedusa (Italien) Fingerabdrücke abgenommen worden waren. Am 11. April 2023 ersuchte das Bundesamt die italienischen Behörden um Aufnahme des Klägers. Eine Reaktion blieb aus.
5Mit Bescheid vom 18. Juli 2023 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen, (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte es aus, die Unzulässigkeit des Asylantrages beruhe auf der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens. Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens seien auch nicht feststellbar, weil dem Kläger dort insbesondere keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Der Bescheid wurde am 24. Juli 2023 dem Kläger zugestellt.
6Der Kläger hat am 27. Juli 2023 Klage erhoben und zugleich Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, auf den die erkennende Kammer mit Beschluss vom 8. August 2023 (Az. 1a L 1240/23.A) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat.
7Der Kläger beantragt (schriftsätzlich und wörtlich),
8den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2023 (Az.: ) aufzuheben.
9und
10die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylVfG anzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gem. § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gem. § 60 V und VII Satz 1 Aufenthaltsgesetz vorliegen.
11Die Beklagte beantragt (schriftsätzlich),
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung verweist sie auf den angegriffenen Bescheid.
14Mit Beschluss vom 31. Oktober 2023 hat die erkennende Kammer den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit gerichtlicher Verfügung vom 31. Oktober 2023, den Beteiligten am 2. November 2023 zugestellt, wurden die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung im schriftlichen Verfahren angehört.
15Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowohl des hiesigen Verfahrens als auch des zugehörigen Eilverfahrens (1a L 1240/23.A) sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe:
17Der aufgrund des Beschlusses der Kammer vom 31. Oktober 2023 gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) zuständige Einzelrichter entscheidet gemäß § 77 Abs. 2 AsylG über die Sache ohne mündliche Verhandlung. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht in Fällen wie hier außerhalb des § 38 Abs. 1 und des § 73b Abs. 7 AsylG, und wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist, im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, sofern kein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wird und die Beteiligten vorab hierauf hingewiesen wurden. So liegt der Fall hier. Das Gericht hat mit Verfügung vom 31. Oktober 2023, die gemäß § 56 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zugestellt wurde, die Beteiligten unter Verweis auf die Regelung in § 77 Abs. 2 AsylG nicht nur auf die beabsichtigte Entscheidung im schriftlichen Verfahren hingewiesen, sondern auch über den möglichen Antrag auf mündliche Verhandlung belehrt, ohne dass eine entsprechende Reaktion der Beklagten geschweige denn des anwaltlich vertretenen Klägers wahrgenommen hätte werden können.
18Das Gericht deutet den wörtlich gestellten Antrag bei verständiger Würdigung des insoweit allein maßgeblichen klägerischen Begehrens (vgl. § 88 VwGO) dahin um, dass allein die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 18. Juli 2023 begehrt wird. Denn soweit der Kläger darüber hinausgehend letztlich auch die materielle Prüfung seines Asylbegehrens anstrebt, ist seine Klage insoweit unstatthaft und kann von seinem tatsächlichen Begehren mithin nicht umfasst sein. Es ist inzwischen geklärt, dass bei Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes wegen der Zweistufigkeit des Asylverfahrens – erst entscheidet das Bundesamt, dann das Gericht – vor Gericht zunächst nur diese Ablehnungsentscheidung angefochten werden kann und es im Erfolgsfall dann vornehmlich Aufgabe des Bundesamtes ist, den Asylantrag materiell zu prüfen. Dem Gericht ist dies zunächst verwehrt.
19Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris, Rn. 16.
20Die so verstandene zulässige – insbesondere gemäß § 74 Abs. 1 AsylG fristgerecht erhobene – Klage hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juli 2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil bereits die in Ziffer 1 des Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig auf keiner gesetzlichen Grundlage beruht (dazu I.). Vor diesem Hintergrund sind auch die weiteren Ziffern des Bescheids aufzuheben (dazu II.).
21I.
22Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes enthaltene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig. Denn der Asylantrag ist nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
23Unabhängig davon, ob Italien anfänglich für das Verfahren des Klägers zuständig war, ist die Zuständigkeit jedenfalls auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen, der Asylantrag des Klägers mithin nicht unzulässig, weil sich eine Abschiebung nach Italien unter Beachtung des hierfür geltenden Maßstabs (dazu 1.) als unmöglich erweist (dazu 2.).
241.
25Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat – die Beklagte – die Prüfung der in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat – hier Italien – zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechte-Charta (GR-Charta) oder des diesem entsprechenden Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit sich bringen. Kann die Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedsstaat nicht erfolgen und ist auch – wie hier – kein anderer Mitgliedstaat als zuständig zu ermitteln, ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO zuständig.
26Eine Gefahr im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ist zunächst immer dann zu bejahen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in diesem Zielstaat aufgrund systemischer Mängel, das heißt regelhaft, so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylsuchenden dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta oder Art. 3 EMRK droht. Eine solche systemisch begründete Gefahr ist dabei einerseits vor allem dann anzunehmen, wenn die Aufnahmebedingungen im betroffenen Mitgliedsstaat erheblich defizitär sind, also das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder die Behandlung im Asylverfahren derart defizitär ist, dass die Betroffenen mit den notwendigen Mitteln ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht mehr hinreichend befriedigen können. Zum anderen liegt ein beachtlicher systemischer Mangel auch dann bzw. erst recht vor, wenn den Betroffenen bereits der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wird und diese insoweit ihr verbürgtes Recht auf Asyl nicht geltend machen können.
27Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 -, juris, Rn. 41; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 126; VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 36.
28Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GR-Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in den nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat nicht nur im Fall systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sondern in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei oder infolge seiner Überstellung der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
29Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87; VG Karlsruhe Gerichtsbescheid vom 11. März 2020 - A 9 K 3651/18 -, juris, Rn. 35; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2020 - 22 K 13275/17.A -, juris, Rn. 41.
30Dabei sind die Anforderungen an die Feststellung einer Gefahr im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK begründender Zustände aufgrund des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Europäischen Union erhöht. Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie diese mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihrem Art. 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten.
31Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Solche Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.
32Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 83 ff., und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 90 ff.
33Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (erst dann) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
34Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 92 f. und 96 f., und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
35Dabei genügt auch bereits ein kurzer Zeitraum nach Rückkehr, in dem etwa Obdachlosigkeit oder andere Gründe dafür drohen, dass die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen nicht gelingen wird.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zur Richtlinie 2013/33/EU); OVG NRW, Beschluss vom 22. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A -, juris, Rn. 88.
372.
38Trotz dieses strengen Maßstabs ist im aktuellen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) davon auszugehen, dass eine Überstellung des Klägers nach Italien gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO unmöglich ist. Dabei spricht aus Sicht der Kammer bereits Alles dafür, dass das italienische Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist (dazu a.). Ungeachtet dessen droht dem Kläger jedenfalls unter Beachtung der einzelfallbezogenen Umstände eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung in Italien (dazu b.).
39a)
40Auf Grundlage der aktuellen Erkenntnisse geht die erkennende Kammer davon aus, dass das italienische Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist, die eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK begründen.
41Die italienischen Behörden haben mit Erklärungen vom 5. und 7. Dezember 2022 mitgeteilt, dass Überstellungen nach Italien im Rahmen des Dublin III-Verfahrens aus Kapazitätsgründen vorerst nicht möglich seien. In Ermangelung näherer Informationen, insbesondere zum Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen, sowie in Anbetracht des nunmehr erheblichen Aussetzungszeitraums von über einem Jahr ist davon auszugehen, dass Italien die (Wieder-)Aufnahme von Rückkehrern im Rahmen des Dublin-III-Verfahrens auf unbestimmte Zeit verweigert und demnach den Betroffenen entgegen ihrer Verpflichtung insoweit systemisch den Zugang zum Asylverfahren versperrt. Dies entspricht auch der jüngeren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen.
42Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, juris, Rn. 46 ff., und vom 7. Juni 2023 - 11 A 2343/19.A -, juris, Rn. 47 ff.; vgl. dazu auch VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 55 ff.; VG Köln, Beschluss vom 8. Mai 2023 - 23 L 780/23.A -, juris, Rn. 36 ff.
43Soweit das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung zuletzt als verfahrensfehlerhaft bewertet hat, weil ein Zuständigkeitsübergang aufgrund systemischer Mängel nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO zwingend die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung erfordere,
44vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2023 - 1 B 22.23 -, juris, Rn. 15, und vom 13. November 2023 - 1 B 39.23 -, juris, Rn. 15,
45überzeugt dies die Kammer nicht. Unabhängig davon, ob nicht nach dem Unionsrecht auch andere, nicht (allein) auf die Verhältnisse im betroffenen Staat abstellende – vom Europäischen Gerichtshof bislang weder explizit angenommene noch dezidiert ausgeschlossene – Möglichkeiten für die Annahme hinreichender systemischer Mängel denkbar sind, etwa die gänzliche Verweigerung des Zugangs zum System oder der politische Wille, nicht mehr am Dublin-System zu partizipieren, muss in Anbetracht des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens davon ausgegangen werden, dass, wenn sich ein Mitgliedsstaat – wie hier – der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern unter Verweis auf fehlende Aufnahmekapazitäten verweigert, diese Begründung zutreffend ist. Jedenfalls nach einem solch beachtlichen Zeitraum der Aussetzung wie hier von über einem Jahr ist daher auch von der (systemisch begründeten) beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung auszugehen. Die italienische Regierung hat mit ihren Erklärungen vom 5. bzw. 7. Dezember 2022 insoweit konkludent zum Ausdruck gebracht, dass im Falle einer Rückkehr der Betroffenen eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung droht. Denn da Italien seine Entscheidung ausschließlich mit fehlenden Kapazitäten im System begründet hat, kann – will man das Dublin-System und die darin enthaltenen Verpflichtungen ernst nehmen –, die Entscheidung nur als Versuch gewertet werden, Verstöße gegen die sich aus der Verordnung ergebenden Verpflichtungen und damit konkret eine aus italienischer Sicht offenbar beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung zu vermeiden. Soweit das Bundesverwaltungsgericht nunmehr diese Erklärungen lediglich als Indiz wertet und weitere Ermittlungen für erforderlich erachtet, stellt sich die Frage, welche Auskünfte belastbarer sind als die eigenen Verlautbarungen des betroffenen Staates.
46b)
47Aber selbst wenn – die vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Anforderungen umsetzend respektive an der Richtigkeit der italienischen Erklärungen zweifelnd – auf die Verhältnisse in Italien bei gedachter Rücküberstellung abgestellt wird, ergibt sich hieraus nach der Überzeugung der Kammer eine beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung für den Kläger.
48Die Vermutung, dass Italien Dublin-Rückkehrern, die sich in der Situation des Klägers befinden, den Schutz der in der GR-Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere aus Art. 4, bietet, ist auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Informationen durchgreifend erschüttert. Aufgrund aktueller Erkenntnisse ist zu befürchten, dass der Kläger die in seiner speziellen Situation dringend erforderliche Unterstützung in Italien nicht erhalten und dadurch in eine Situation der Verelendung unabhängig von seinem eigenen Willen geraten wird.
49Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weder im staatlichen Unterbringungssystem (dazu aa.) noch auf privater Ebene (dazu bb.) eine angemessene Unterkunft erlangen wird. Die humanitären Bedingungen in Italien lassen es aber auch nicht zu, dass es ihm anderweitig gelingen wird, seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) zu befriedigen (dazu cc.).
50aa)
51Im Hinblick auf die Unterbringungssituation ist davon auszugehen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Obdach erhalten wird.
52Zwar besagen die Erkenntnismittel, dass Dublin-Rückkehrer, die – wie der Kläger –bislang in Italien noch keinen Asylantrag gestellt haben, nach Ankunft in Italien das Recht haben, einen Asylantrag zu stellen und demnach auch einen Anspruch auf staatliche Unterkunft haben.
53Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 4.
54Von daher hat auch die Rechtsprechung – einschließlich der erkennenden Kammer –angenommen, dass Dublin-Rückkehrer, die nach ihrer Rückkehr nach Italien erstmalig einen Asylantrag stellen, eine Unterkunft erhalten werden.
55Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A -, juris, Rn. 65 ff.
56Davon kann aber aufgrund der feststellbaren geänderten Umstände inzwischen nicht mehr ausgegangen werden. Denn zunächst hat Italien gerade wegen der fehlenden Kapazitäten und insoweit der fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten für alle Dublin-Rückkehrer die Aufnahme ausgesetzt. Aus den oben benannten Gründen handelt es sich bei den entsprechenden Erklärungen um die gewichtigste Erkenntnisquelle, so dass sie daher auch vornehmlich angesichts des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens als wahr zugrunde zu legen sind. Aber auch wenn diese Aussage zu einer Überforderung des Systems – wie nunmehr hier – als nicht hinreichend betrachtet wird oder wenn angenommen wird, dass Hintergrund des Aufnahmestopps (allein oder überwiegend) der politische Wille ist, keine Asylberechtigten im Land aufzunehmen, ergeben sich in Zusammenschau mit der schon vor dem Aufnahmestopp bekannten unzureichenden Versorgungslage von Asylbewerbern – neuere tagesaktuelle Erkenntnisse sind schon aus der Natur der Sache heraus nicht zu erlangen und können der hypothetischen Betrachtung mithin nicht zugrunde gelegt werden – hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass auch im Falle einer unterstellten Rückübernahme die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden und damit Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt würden.
57Denn die Lage des Unterbringungssystems in Italien war auch in den letzten Jahren bereits angespannt.
58Vgl. nur Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 23 ff.
59In Anbetracht der aktuellen – sprunghaft angestiegenen – Zahlen in Italien neu ankommender Flüchtlinge geht das Gericht nun davon aus, dass es nicht (mehr) genügend Unterbringungskapazitäten gibt. Italien hatte zuletzt einen enormen Zuwachs an ankommenden Flüchtlingen zu verzeichnen. Im Jahr 2023 sind bis September bereits insgesamt 115.000 Flüchtlinge und damit fast doppelt so viele wie im Vorjahrszeitraum nach Italien gekommen. Im ersten Halbjahr 2023 wurden daher auch mit über 60.000 mehr als doppelt so viele Asylanträge wie im Vorjahreszeitraum gestellt.
60Vgl. UNO, Flüchtlinge in Italien: Italien steht weiterhin vor großen Herausforderungen (abrufbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/italien); Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Entscheiderbrief 11/2023, Blick zum Nachbarn – Italien: Regierung Meloni – Bilanz der einjährigen Amtszeit, S. 7.
61Berücksichtigt man nun, dass Italien im Jahr 2022 insgesamt, d.h. unter Berücksichtigung jeglicher Unterkunftskapazitäten, 107.677, im Juli 2023 125.922 und zuletzt im November knapp 140.000 Unterkunftsplätze zur Verfügung stellte,
62vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 147 (für 2022), Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 12 (für Juli und November 2023),
63ergibt sich gerade unter Einbeziehung der aufgrund der regelmäßig mehrjährigen Dauer des Asylverfahrens nicht unerheblichen durchschnittlichen Unterbringungszeit eines Asylbewerbers, der hinzukommenden, ebenfalls unterzubringenden ukrainischen Flüchtlinge,
64vgl. AIDA, Temporary Protection Italy, Mai 2023, S. 13 ff.,
65und trotz der feststellbaren Aufstockung der Unterbringungskapazitäten beachtlich wahrscheinlich, dass in Italien nicht so viele Plätze verfügbar sein können, als dass es für den Ausschluss einer beachtlichen Gefahr einer Obdachlosigkeit hinreichend wäre. Dies gilt umso mehr, als dass bei Unterstellung einer Rückkehr des Klägers auch die zahlreichen übrigen Dublin-Rückkehrer, die seit mehr als einem Jahr nicht überstellt worden sind und bei denen die Überstellungsfrist nicht abgelaufen ist, mit in den Blick zu nehmen sind, die ebenfalls – hypothetisch – untergebracht werden müssen. Allein angesichts dieser sich aufdrängend enorm hohen Anzahl unterzubringender Asylsuchender ergibt sich schnell, dass auch die erhöhten Unterbringungskapazitäten in Italien nicht auszureichen vermögen. Dies allemal auch deshalb, weil seit Mai 2023 durch das Gesetz 50/2023 der Zugang zu einem Teil der staatlichen Unterbringungsarten – die Sistema di Accoglienza e Integrazione (SAI) – nur noch solchen Asylbewerbern offen steht, die – anders als der Kläger – vulnerabel sind oder auf legalem Weg nach Italien eingereist sind.
66Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 12; AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 151 f.
67Insoweit legen die benannten Zahlen jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung die Richtigkeit der italienischen Angaben zur Unterbringungskapazitätserschöpfung besonders nahe. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterbringungsmöglichkeit erhalten wird.
68bb)
69Der Kläger wird im Falle seiner Rücküberstellung nach Italien auch außerhalb der staatlichen Aufnahmeeinrichtungen keine menschenwürdige Unterkunft finden.
70Auf informelle Siedlungen oder besetzte Häuser können Asylsuchende nicht als Ersatz für eine staatliche Unterbringung verwiesen werden. Denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden ist wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände nicht nur unzumutbar, sondern vor allem auch illegal.
71Vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 107.
72Im Übrigen kann der Kläger auch nicht darauf verwiesen werden, dass von Seiten der Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen Unterkünfte angeboten werden. Denn nicht nur, dass die Zahl der insoweit zur Verfügung stehenden Plätze gar nicht überblickbar ist und bereits deshalb eine Unterkunftsgewährung nicht hinreichend wahrscheinlich ist, handelt es sich ausweislich der vorhandenen Erkenntnismittel – wenn überhaupt – nur um wenige Unterbringungsplätze. Angesichts des enormen Zustroms an Flüchtlingen in Italien und vor dem Hintergrund, dass auch die bereits anerkannten Schutzberechtigten häufig auf diese Form der Unterbringung verwiesen werden,
73so etwa jüngst für bereits anerkannte Schutzberechtigte BayVGH, Beschluss vom 11. Oktober 2023 - 24 B 23.30525 -, juris, Rn. 23, der sich aber bereits gar nicht mit der Frage der Anzahl der verfügbaren nichtstaatlichen Unterbringungskapazitäten beschäftigt, sondern den Umstand, dass Unterbringung auf privater Ebene erfolgt, an sich ohne nähere Prüfung und Auswertung von Erkenntnismitteln genügen lässt,
74kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass diese privat zur Verfügung gestellten Plätze ausreichend sind.
75Vgl. dazu AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 152 f.; vgl. auch bereits OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 105 mit Verweis auf OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 79, 99, 150 ff.
76cc)
77Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rücküberstellung nach Italien auch nicht in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.
78Im Jahr 2022 lag die Arbeitslosenquote in Italien bei rund 8,12 Prozent; für das Jahr 2023 wird sie auf 7,9 Prozent geschätzt. Prognostisch wird sie in den nächsten Jahren ungefähr bei 8 Prozent bleiben.
79Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17316/umfrage/arbeitslosenquote-in-italien/#:~:text=Im%20Jahr%202022%20hat%20die,Prognosen%20bis%20zum%20Jahr%202028.
80Asylwerber dürfen in Italien zwar zwei Monate nach Antragstellung legal arbeiten. Auch aufgrund der nicht geringen Arbeitslosenzahlen in Italien ist es für Asylsuchende aber schwer, Arbeit zu finden. Sprachbarrieren, das Leben ohne Unterkunft/auf der Straße, das Fehlen einer spezifischen, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Unterstützung sowie fehlende Qualifikationen oder Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen erschweren die Arbeitssuche zusätzlich.
81Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich): Länderinformation und Staatendokumentation – Italien, 27. Juli 2023, S. 9; AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 159.
82Darüber hinaus haben Arbeitgeber häufig Bedenken, Asylbewerber einzustellen, die lediglich im Besitz der Asylantragsbescheinigung oder des Antrags auf Verlängerung der sechsmonatigen Aufenthaltserlaubnis sind, da diese kein Ablaufdatum aufweisen, auch wenn sie der Aufenthaltserlaubnis rechtlich gleichgestellt sind.
83Vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 159.
84Bei Würdigung dieser Umstände ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Kläger entweder keine Arbeit finden wird oder aber eine allenfalls eine solche (Niedriglohn-)Arbeit, die eine zumutbare Unterkunft zu finanzieren nicht hinreichend gewährleistet.
85Soweit einige (Ober-)Gerichte die Betroffenen – unter Ausblendung der Frage, ob in diesem Sektor hinreichende Einkünfte zur Befriedigung der essentiellen Bedürfnisse erwirtschaftet werden können – ohne weitere Differenzierung auf eine Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft verweisen,
86vgl. etwa Sächsisches OVG, Urteil vom 15. März 2022 - 4 A 506/19.A -, juris, Rn. 58,
87erscheint dies aus Sicht der erkennenden Kammer zynisch und im Ergebnis unzumutbar. Ein Mitgliedsstaat darf nicht auf Möglichkeiten und Optionen in einem anderen Mitgliedsstaat verweisen, die nicht nur nach den gemeinsamen europarechtlichen Regelungen – wie hier etwa durch Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates 2016/344/EU –, sondern auch nach den Vorschriften des betroffenen anderen Mitgliedsstaates illegal und zu bekämpfen sind – ganz abgesehen davon, dass der betroffene Asylantragsteller dadurch auch der Gefahr von Sanktionen dieses Mitgliedsstaates ausgesetzt ist.
88Vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 137.
89Hier versucht der italienische Staat gerade angesichts wachsender Schwarzarbeit diese einzudämmen und hat daher bestehende Strafandrohungen verschärft und neue Straftatbestände gegen kriminelle Arbeitgeber geschaffen. Der italienische Staat geht auch vermehrt gegen illegale Beschäftigung und Ausbeutung von Ausländern vor.
90Vgl. etwa https://www.handelsblatt.com/politik/international/schattenwirtschaft-italien-forciert-den-kampf-gegen-steuerhinterziehung-und-schwarzarbeit/26104226.html.
91Dabei ändert auch nichts der Umstand, dass Schwarzarbeit in Italien faktisch als „Kavaliersdelikt“ angesehen wird und sehr weit verbreitet ist,
92vgl. dazu mit Verweis auf entsprechende Erkenntnismitteln Sächsisches OVG, Urteil vom 15. März 2022 - 4 A 506/19.A -, juris, Rn. 58,
93weil ein Mitgliedsstaat von einem anderen Mitgliedsstaat nicht auf der einen Seite die Einhaltung von (gemeinsamen) Regelungen einfordern darf, indem er auf der anderen Seite auf die Möglichkeit der Gesetzesüberschreitung – gleich welchen Umfangs – in demselben Mitgliedsstaat verweist. Eine solche Argumentation widerspricht der für die Europäischen Union basalen und das Prinzip gegenseitigen Vertrauens rechtfertigenden Prämisse, dass alle Mitgliedsstaaten diejenigen Werte teilen, auf die sich die Europäische Union gründet,
94vgl. nur EuGH, Urteil vom 30. November 2023 - C-228/21 u.a. -, juris, Rn. 130 m.w.N.,
95zu denen nach Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) auch die Rechtsstaatlichkeit zählt. Dass ein Mitgliedsstaat diesen Wert jedenfalls nicht hinreichend teilt, der Dublin-Rückkehrer darauf verweist, in einem anderen Mitgliedsstaat das dort geltende Recht zu brechen – sei dieser Rechtsbruch auch faktisch kaum geahndet –, drängt sich auf.
96Soweit das Bundesverwaltungsgericht eine Tätigkeit in der sogenannten „Schattenwirtschaft“ für grundsätzlich zumutbar erachtet und hierbei diese Frage als „geklärt“ bezeichnet,
97vgl. Beschlüsse vom 17. Januar 2022 - 1 B 66.21 -, juris, Rn. 29, und vom 9. Januar 1998 - 9 B 1130.97 -, juris, Rn. 5,
98hat es hier erkennbar nur die (normative) Zumutbarkeit einer (vorübergehenden) Tätigkeit in der „Schattenwirtschaft“ im Allgemeinen in den Blick genommen, zugleich aber betont ausgeführt, dass mangels Entscheidungserheblichkeit nicht abschließend zu entscheiden sei, ob insoweit ein weitergehender, abstrakt genereller (unionsrechtlicher) Klärungsbedarf zu den Maßstäben der Statthaftigkeit einer Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft besteht – etwa dahin, ob danach zu differenzieren ist, in welcher Weise der Staat gegen Schwarzarbeit vorgeht, auf wen eine etwaige Strafandrohung abzielt und wie sich der tatsächliche Bedarf an ausländischen Arbeitskräften in bestimmten Sektoren der Volkswirtschaft und die tatsächliche Praxis der Strafverfolgung darstellten.
99Insofern ist die erkennende Kammer der Ansicht, dass im vorliegenden Fall, in dem Italien durch seine Gesetzgebung zu erkennen gegeben hat, die Schwarzarbeit – trotz oder aufgrund ihrer weiten Verbreitung – nicht dulden zu wollen, ohnehin viele Italiener selbst auf diese Arbeitsform angewiesen sind und die Asylantragsteller – jedenfalls soweit sie noch nicht anerkannt sind – wohl auch in Ansehung der ihnen gegenüber bestehenden Vorbehalte insbesondere Sanktionen zu befürchten haben, die zudem ihren Schutzanspruch beeinträchtigen könnten, eine Unzumutbarkeit auch nach diesem Maßstab anzunehmen ist.
100Unabhängig davon kann der Kläger aber auch deshalb nicht auf eine Tätigkeit in der „Schattenwirtschaft“ verwiesen werden, weil diese ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in die Lage versetzen können wird, für sich eine den benannten unionsrechtlichen Anforderungen genügende Unterbringung und Versorgung zu erwirtschaften. Schwarzarbeit ist unter den Asylbewerbern in Italien sehr verbreitet. Viele Flüchtlinge arbeiten in der Landwirtschaft, z. B. in der saisonalen Erntearbeit, meist aber unter prekären Arbeitsbedingungen. Der Lohn reicht in der Regel bereits nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder ein sicheres Einkommen zu bieten. Demnach genügt die Tätigkeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch nicht, um für sich die elementaren Grundbedürfnisse zu gewährleisten.
101Vgl. nur Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, 10. Juni 2021, S. 13.
102dd)
103Schließlich wird der Kläger beachtlich wahrscheinlich keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe er dort sein Existenzminimum sichern könnte. Denn Asylsuchende, die in keiner Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, erhalten keine staatliche Unterstützung.
104Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 62 ff.; vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 139.
105II.
106Angesichts der Rechtswidrigkeit der Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides fehlen auch die Voraussetzungen für die in den weiteren Ziffern getroffenen Regelungen. Denn jedenfalls in der vorliegenden Konstellation erfordern die Rechtsgrundlagen stets die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig, an der es aufgrund der bereits gemachten Ausführungen gerade mangelt. Das gilt sowohl für das in Ziffer 2 enthaltene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG), als auch die in Ziffer 3 angeordnete Abschiebung (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG), als auch für die in Ziffer 4 vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG).
107III.
108Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, 709 Satz 2 und 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
109Rechtsmittelbelehrung:
110Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1111. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1122. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1133. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
114Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich zu beantragen. In dem Antrag, der das angefochtene Urteil bezeichnen muss, sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
115Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
116Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.