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1. Eritreische Staatsangehörige, die der Nationaldienstpflicht unterliegen, haben einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes, jedenfalls soweit ihnen regelmäßig bei Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Ableistung des militärischen Teils des Nationaldienstes und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (hier bejahrt).
2. Die Abgabe der sogenannten Reueerklärung ist eritreischen Staatsangehörigen allgemein unzumutbar (Abgrenzung zu OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 OVG -, juris).
Das Verfahren wird im Umfang der Klagerücknahme eingestellt.
Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2019 (Az.: 7095685 – 224) verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Der Kläger begehrt von der Beklagten unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) die Gewährung subsidiären Schutzes, hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Eritreas.
3Der im Jahr 1983 in Eritrea geborene Kläger ist eigenen Angaben zufolge eritreischer Staatsangehöriger. Er reiste am 16. November 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24. November 2017 einen förmlichen Antrag auf Asyl.
4Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 27. November 2017 in Dortmund trug der Kläger im Wesentlichen vor, wegen des Nationaldienstes im Jahr 2015 aus Eritrea ausgereist zu sein. Er habe den militärischen Teil des Nationaldienstes abgeleistet und sei hierbei erkrankt. Da er aber nicht geschont worden sei, habe er sich für die Desertion entschieden. Für Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
5Mit Bescheid vom 11. Februar 2019 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), auf Asylanerkennung (Ziff. 2) sowie Gewährung subsidiären Schutzes (Ziff. 3) ab. Abschiebungsverbote wurden zudem nicht festgestellt (Ziff. 4). Der Kläger wurde zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. bei Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert, wobei ihm bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach Eritrea oder in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei, angedroht wurde (Ziff. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Sachvortrag des Klägers sei unglaubhaft. Für Einzelheiten wird auf den Bescheid verwiesen. Der Bescheid wurde dem Kläger am 22. Februar 2019 zugestellt.
6Der Kläger hat am 7. März 2019 Klage erhoben. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf seine während der Anhörung gegenüber dem Bundesamt gemachten Angaben. Ergänzend führt er aus, sofern seine Angaben, insbesondere zu seiner Schullaufbahn, widersprüchlich seien, liege dies einmal an einer unvollständigen Übersetzung beim Bundesamt, aber auch daran, dass er Schwierigkeiten habe, sich zu den Geschehnissen zu äußern.
7Der Kläger hat zunächst vollumfänglich – mit Ausnahme der Anerkennung als Asylberechtigte – Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes erhoben. Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2023 hat er die Klage hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen.
8Der Kläger beantragt nunmehr – schriftsätzlich –,
9die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2019 (Az.: ) zu verpflichten,
10ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
11hilfsweise,
12Abschiebungsverbote in Ansehung seiner Person hinsichtlich Eritreas festzustellen.
13Die Beklagte beantragt (schriftsätzlich),
14die Klage abzuweisen.
15Zur Begründung verweist sie auf den angegriffenen Bescheid.
16Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16. Mai 2022 auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit Schriftsätzen vom 11. September sowie 22. September 2023 haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
17Zu weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
18Entscheidungsgründe:
19Der vor dem Hintergrund des Beschlusses der Kammer vom 16. Mai 2022 gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) zuständige Einzelrichter entscheidet ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten hiermit wirksam einverstanden erklärt haben (vgl. § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
20Soweit die Klage zurückgenommen wurde, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
21Im Übrigen hat die zulässige, insbesondere gemäß § 74 Abs. 1 AsylG fristgerecht erhobene, Klage mit ihrem noch verbleibenden Hauptantrag in der Sache Erfolg. Denn die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamts vom 11. Februar 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung subsidiären Schutzes (dazu I.). Vor diesem Hintergrund sind auch die übrigen noch streitgegenständlichen Ziffern, vornehmlich die Abschiebungsandrohung sowie die Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, dazu II.).
22I.
23Dem Kläger ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 4 AsylG subsidiärer Schutz zu gewähren. Denn unter Zugrundelegung von Eritrea als Herkunftsland der Klägerin (dazu 1.) ist davon auszugehen, dass ihr dort ein beachtlicher ernsthafter Schaden droht (dazu 2.).
241.
25Für die Gewährung subsidiären Schutzes ist gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf das Herkunftsland abzustellen. Nach der Legaldefinition in § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG handelt es sich hierbei um das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt oder – bei Staatenlosen – in dem er seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
26Insoweit ist davon auszugehen, dass der Kläger allein die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt. Seinen Angaben im Verwaltungsverfahren zufolge wurde er zwar in Äthiopien geboren, weil im Jahr seiner Geburt (1983) Eritrea kein unabhängiger, eigener Staat war. Die insoweit zunächst erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit hat er indes verloren, weil er und seine Eltern seit jeher und damit auch über das Jahr 2003 hinaus auf eritreischem Staatsgebiet blieben.
27Vgl. dazu ausführlich OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020 - 19 A 1420/19.A -, juris, Rn. 100 ff.; Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, S. 8 (Rn. 24 ff.).
282.
29Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
30Hinsichtlich der Frage der Gefahr eines solchen Schadens, gilt es, eine Prognose anzustellen. In Bezug auf diesen Prognosemaßstab ist bei der Prüfung der Zuerkennung des subsidiären Schutzes der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor dem Eintritt eines Nachteils im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG hervorgerufen werden kann.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris, Rn. 20; OVG NRW, Urteil vom 26. August 2014 - 13 A 2998/11.A -, juris, Rn. 34.
32Nach § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
33Nach § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3d Abs. 1 AsylG kann Schutz vor einem ernsthaften Schaden nur geboten werden, vom Staat (Nr. 1) oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten. Nach § 3d Abs. 2 AsylG muss der Schutz vor einem ernsthaften Schaden wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.
34Dem Ausländer wird der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor einem ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
35Nach diesen Maßgaben droht dem Kläger in seinem Herkunftsland Eritrea ein ernsthafter Schaden, weil ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatlicherseits eine unangemessene bzw. unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erwartet.
36Die Auslegung dieser Vorschrift und seiner Begriffe orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen.
37Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12, Tarakhel ./. Schweiz, - juris.
38Eine unmenschliche Behandlung meint dabei die vorsätzliche Verursachung körperliche Schmerzen oder physischen bzw. psychischen Leids, eine erniedrigende Behandlung liegt vor, wenn ein Verhalten geeignet ist, das Opfer zu entwürdigen oder zu demütigen.
39Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - Nr. 30696/09, M.S.S. ./. Belgien und Griechenland -, juris; OVG NRW, Urteile vom 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A sowie 13 A 3741/18.A -, juris.
40Demnach ist in Anbetracht der im vorliegenden Einzelfall anzunehmenden Gesamtumstände zu erkennen, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung droht.
41Dabei ist das Bild der Beurteilung der für nach Eritrea zurückkehrende Ausländer drohenden unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung in der Rechtsprechung heterogen. Während einige Entscheidungen unter Hinweis darauf, dass es den Betroffenen möglich und zumutbar sei, einen ggf. drohenden Schaden durch Erlangung des sog. Diasporastatus abzuwenden, eine beachtlich wahrscheinlich drohende unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung verneinen,
42vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 OVG -, juris, Rn. 54 ff.; OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris, Rn. 65 ff.,
43besteht zwischen den Gerichten, die von einer solchen Behandlung ausgehen, unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf deren Anknüpfungspunkt. Ein beachtlicher Teil der Rechtsprechung sieht diese in dem Umstand, dass die Betroffenen nach ihrer Rückkehr den Nationaldienst absolvieren müssen.
44So etwa OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 81 ff.; OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 31 ff.; VG Köln, Urteil vom 3. August 2023 - 8 K 7155/17.A -, juris, Rn. 195 ff.; VG Bremen, Beschluss vom 13. Dezember 2021 - 7 K 2745/20 -, juris, Rn. 78 ff.; VG Münster, Urteil vom 10. September 2019 - 11 K 5924/16.A -, juris, Rn. 156 ff.; VG Berlin, Urteil vom 28. Februar 2019 - 28 K 392.18.A -, juris, Rn. 46; VG Hannover, Urteil vom 23. Januar 2018 - 3 A 6312/16 -, juris, Rn. 74.
45Einschränkend wird aber auch vereinzelt angenommen, dass dies jedenfalls nicht gelten solle, wenn der Einsatz im zivilen Teil des Nationaldienstes droht, weil dieser als frei von ernsthaften Schaden beurteilt wird.
46Vgl. etwa OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 293/18 OVG -, juris, Rn. 40; ähnlich OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 - 19 A 1857/19.A -, juris, Rn. 68.
47Teilweise wird darüber hinaus auch der Umstand, dass nach Eritrea Zurückkehrende unmittelbar nach Ankunft zur Überprüfung ihres Nationaldienststatus mehrere Tage inhaftiert werden und in der Haft Folter und entwürdigende Behandlung zu erwarten haben, als für sich genommen ausreichende Grundlage für die Annahme einer drohenden unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung erachtet.
48Vgl. insbesondere OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 101 f.
49Andere Gerichte wiederum sehen die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung (auch) in der drohenden Bestrafung, die einem eritreischen Staatsbürger bei Rückkehr nach Eritrea droht, wenn er im nationaldienstfähigen Alter illegal aus Eritrea ausgereist ist.
50Vgl. etwa VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. Mai 2017 - 1a K 1931/16.A -, juris, Rn. 33; VG Magdeburg, Urteil vom 25. Mai 2023 - 6 A 219/21 MD -, juris, Rn. 73 ff.; VG Regensburg, Urteil vom 11. August 2020 - RO 2 K 19.32345 -, juris, Rn. 63.
51Im Streitfall kann offen bleiben, ob dem Kläger eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung deshalb droht, weil ihm bei Rückkehr nach Eritrea die Entziehung vom Nationaldienst vorgeworfen wird und insoweit willkürliche Strafen drohen (dazu a.). Denn jedenfalls droht ihm die (erneute) Ableistung des militärischen Nationaldienstes und damit eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung (dazu b.). Er kann auch nicht auf die Erlangung des Diasporastatus als Mittel zur Abwendung der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung verwiesen werden (dazu c.).
52a)
53Es bedarf keiner Entscheidung darüber, ob dem Kläger bei Rückkehr nach Eritrea eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung in Form willkürlicher Bestrafung droht. Insoweit kann auch offen bleiben, ob der Vortrag des Klägers, er sei vor seiner Ausreise im militärischen Teil des Nationaldienstes eingebunden gewesen und als klassischer „Desserteur“ anzusehen, glaubhaft ist.
54Insoweit berichten die Erkenntnisquellen davon, dass jedenfalls dann, wenn ein Betroffener (illegal) ausreist, um dem Nationaldienst zu umgehen, – was bei Glaubhaftigkeit der klägerischen Angaben unzweifelhaft der Fall wäre – willkürliche Bestrafungen drohen, die von einer Belehrung bis hin zu Haftstrafen unter unwürdigen Bedingungen reichen können.
55Vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 22 f.
56b)
57Diese Frage bedarf deshalb keiner Antwort, weil dem Kläger bei Rückkehr nach Eritrea jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung in Gestalt des Ableistens des Nationaldienstes droht. Der Kläger unterliegt aller Wahrscheinlichkeit nach der Nationaldienstpflicht (dazu aa.) und ihm droht die Ableistung des militärischen Teils des Nationaldienstes (dazu bb.). Jedenfalls dieser begründet auch eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung (dazu cc.).
58aa)
59Die Pflicht zum Nationaldienst trifft nach Art. 6 der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 (Proklamation) alle Bürger unabhängig ihres Geschlechts im Alter zwischen 18 und 50 Jahren. Ausgenommen sind nach Art. 12 der Proklamation nur solche, die den Nationaldienst bereits vor Inkrafttreten der Proklamation abgeleistet haben oder Unabhängigkeitskämpfer waren. Der Nationaldienst besteht formell lediglich aus einem 18monatigen aktiven militärischen Dienst (inklusive einer zwölfmonatigen militärischen Grundausbildung) und anschließendem Reservistendienst.
60Vgl. dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S.14 f.
61In der Praxis sieht die Lage hingegen deutlich anders aus: Nicht nur, dass auch bereits Minderjährige in den Nationaldienst berufen werden, verbleiben die meisten Eritreer entweder im militärischen Dienst oder werden nach der militärischen Grundausbildung bis auf unbestimmte Zeit auf nicht-militärischen Nationaldienstposten (z. B. in der staatlichen Verwaltung, Straßenbau, Landwirtschaft) eingesetzt und gehen demzufolge nicht in den Reservezustand über. Von daher geht die Dienstzeit üblicherweise über die gesetzlich vorgesehene Dauer deutlich hinaus und beträgt regelmäßig zehn oder 20 Jahre. Zwar wird bei Frauen häufig eine informelle Altersgrenze von 27 Jahren angewendet, teilweise leisten Frauen mit über 40 Jahren aber noch ihren Dienst. Entgegen der gesetzlichen Regelungen werden allerdings verheiratete und schwangere Frauen sowie Mütter faktisch von dem militärischen, in aller Regel aber auch von dem zivilen Teil des Nationaldienstes freigestellt.
62Vgl. dazu insgesamt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S.14 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Eritrea, Stand: 19. Mai 2021, S. 11 f.; EASO, Country of Origin Information Report: Eritrea – National service, exit, and return, September 2019, S. 22 ff., 33 f.; vgl. auch ausführlich OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 - 19 A 1857/19.A -, juris, Rn. 38 ff.
63Das wichtigste Mittel, um die eritreischen Bürger zum Nationaldienst zu rekrutieren, ist das Schulsystem. Im Juli und August eines jeden Jahres werden die Schüler rekrutiert, die die 11. Klasse beendet haben, also regelmäßig 17 Jahre alt sind. Diese müssen, um später den Schulabschluss zu erhalten (ESECE - Eritrean Secondary Education Certificate Examinbations), zunächst die militärische Grundausbildung in einem entsprechenden Ausbildungslager in Sawa absolvieren. Für die übrigen Schüler, die vorzeitig die Schule beenden, werden die örtlichen Verwaltungsbehörden angewiesen, diese zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Ort einzubestellen, um sie dem Nationaldienst zuzuführen.
64Vgl. dazu insgesamt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S.15; EASO, Country of Origin Information Report: Eritrea – National service, exit, and return, September 2019, S. 26 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 - 19 A 1857/19.A -, juris, Rn. 42 ff.
65Demnach ist davon auszugehen, dass der 40jährige Kläger (weiterhin) der Pflicht zum Nationaldienst unterliegt.
66bb)
67Dabei besteht auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei Rückkehr nach Eritrea dort den militärischen Teil des Nationaldienstes ableisten muss.
68Die Informationslage hinsichtlich der Behandlung zwangsweise zurückgeführter Personen ist dürftig, da es in Ermangelung hinreichender Abschiebungen an belastbaren empirischen Erkenntnissen fehlt. Allerdings sprechen diejenigen Erkenntnisse, die es über zwangsweise zurückgeführte Personen gibt, nahezu einhellig davon, dass die betroffenen Personen zunächst – in der Regel in einem unterirdischen Gefängnis in Tesseney – inhaftiert werden, um deren Nationaldienststatus zu klären. Hierbei wird von willkürlichen Festnahmen und Folter berichtet. Die weitere Behandlung hängt vom Nationaldienststatus ab: Personen, die – wie die Klägerin – bislang noch keinen Nationaldienst absolviert haben, werden in die militärische Grundausbildung geschickt und anschließend dem militärischen Teil des Nationaldienstes zugeführt. Personen, die den Nationaldienst bereits absolviert haben, werden in andere Gefängnisse transferiert.
69Vgl. EASO, Country of Origin Information Report: Eritrea – National service, exit, and return, September 2019, S. 62 ff.; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 11 f.; Amnesty International, Just Deserts: Why Indefinite National Service in Eritrea ha created a Generation of Refugees, 2015, S. 9; vgl. dazu auch OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 48 f.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 50 ff.
70Auf dieser Grundlage geht das Gericht davon aus, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit nicht nur einer unmittelbaren Inhaftierung des Klägers nach Ankunft in Eritrea, sondern auch einer Ableistung des militärischen Teils des Nationaldienstes droht. Denn auch wenn die Erkenntnislage vergleichsweise dünn ist, deuten die wenigen vorhandenen Quellen beinahe ausnahmslos auf eine entsprechende Vorgehensweise hin, was wenn auch nicht die Gewissheit, so doch die beachtliche Wahrscheinlichkeit, Opfer eines solchen Behandlung zu werden, begründet.
71cc)
72Der militärische Teil des Nationaldienstes bedeutet für den Kläger aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls eine unmenschliche Behandlung, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach für ihn mit Schmerzen und körperlichen wie psychischen Qualen verbunden ist.
73Die Erkenntnisquellen berichten insoweit einhellig davon, dass der militärische Teil des Nationaldienstes von sklavenähnlichen Zuständen geprägt ist. In diesem Zusammenhang wird vor allem bei den Militärübungen das Mittel drakonischer sowie demütigender Strafen und Misshandlungen genutzt, wie etwa Schläge, stunden- und tagelanges Fesseln oder auch Folterhandlungen.
74Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S.15; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Eritrea, Stand: 19. Mai 2021, S. 11 f.; EASO, Country of Origin Information Report: Eritrea – National service, exit, and return, September 2019, S. 37 ff.; HRC, Report of the detailed findings oft he Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 2015, S. 304 f.; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 4 ff.; vgl. auch OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 31 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 83 ff.
75Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes drohen darüber hinaus auch sexuelle Übergriffe in Form von sexuelle Nötigung bis hin zu Vergewaltigungen. Insoweit wird von einem massiven Risiko sexueller Gewalt durch Befehlshaber und Kameraden berichtet.
76Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S.15; EASO, Country of Origin Information Report: Eritrea – National service, exit, and return, September 2019, S. 38 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, 30. Juni 2017, S. 12 f.; HRC, Report of the detailed findings oft he Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 2015, S. 22 ff.; vgl. dazu auch bereits VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. März 2018 - 1a K 4738/17.A -, juris, Rn. 71 ff.
77Angesichts dessen und in Anbetracht des Umstandes, dass es sich offenkundig nicht um Einzelfälle, sondern um systembedingte und routinemäßige Menschenrechtsverletzungen handelt, besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass auch der Kläger in Eritrea Behandlungen ausgesetzt sein wird, die die Schwelle des Art. 3 EMRK erheblich überschreiten und damit eine unmenschliche Behandlung bedeuten.
78c)
79Der Kläger kann nicht darauf verwiesen werden, über Erlangung des „Diasporastatus“ dem militärischen Teil des Nationaldienstes und damit der drohenden unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung zu entgehen.
80Es entspricht einem allgemeinen und in der Rechtsprechung anerkannten Grundsatz, dass Schutzsuchende, die durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr der Verfolgung, eines ernsthaften Schadens oder anderweitiger erheblicher Gefahren abwenden können, keinen entsprechenden Schutz verlangen können. Dieser Grundsatz kommt etwa auch in § 3e AsylG zum Ausdruck, wonach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (und über § 4 Abs. 3 AsylG auch die Gewährung subsidiären Schutzes) ausgeschlossen ist, wenn der Betroffene sich zumutbar in einem anderen Teil seines Herkunftslandes niederlassen kann, in dem ihm keine Verfolgung (bzw. kein ernsthafter Schaden) droht. Insoweit ist für die Gefahrenprognose immer beachtlich, wenn es zumutbare Wege gibt, die drohende Verfolgung, den drohenden Schaden oder die drohende anderweitige Gefahr abzuwenden.
81Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 -, juris, Rn. 52; BVerwG, Beschlüsse vom 19. April 2018 - 1 B 8.18 -, juris, Rn. 17, und vom 30. Juli 2012 - 10 B 27.12 -, juris, Rn. 4, sowie Urteile vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, juris, Rn. 27, vom 3. November 1992 - 9 C 21.92 -, juris, Rn. 12, und vom 6. Oktober 1987 - 9 C 13.87 -, juris, Rn. 11; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 -, juris, Rn. 59; OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 55 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 56.
82Der Diasporastatus ist an sich eine für im Ausland lebende Eritreer gedachte Möglichkeit, unbehelligt wieder nach Eritrea ein- und anschließend wieder ausreisen zu können. Es wird auch erwartet, dass man mindestens ein Mal im Jahr Eritrea wieder verlässt. Als „Gegenzug“ sind alle im Ausland lebenden Eritreer verpflichtet, die sog. Aufbausteuer (sog. Diasporasteuer) in Höhe von 2 % des erwirtschafteten Einkommens an den eritreischen Staat zu zahlen.
83Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S.21 f.; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 7 ff.
84Die Möglichkeit der Erlangung des Diasporastatus wird aber offenbar auch denjenigen eritreischen Staatsbürger offengehalten, die zumindest freiwillig nach mehr als drei Jahren dauerhaft nach Eritrea zurückkehren. Neben der Zahlung der Diasporasteuern wird von diesen aber zusätzlich die Unterzeichnung der sog. „Reueerklärung“ („Immigration and Citizenship Services Request Form“) erwartet, in der die illegale Ausreise bzw. das Umgehen des Nationaldienstes zugegeben und die dafür zu erwartende Strafe akzeptiert wird. Das Unterzeichnen dieser Reueerklärung ist für illegal ausgereiste Eritreer bereits zwingende Voraussetzung, um im Ausland konsularische Dienste des eritreischen Staates in Anspruch zu nehmen.
85Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 21 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Eritrea, Stand: 19. Mai 2021, S. 29; EASO, Country of Origin Information Report: Eritrea – National service, exit, and return, September 2019, S. 57 ff.; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 7 ff.; vgl. dazu insgesamt auch OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 51; OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 54 ff.
86Im Falle der Abgabe einer Reueerklärung, so jedenfalls teilweise die Erkenntnislage, werden einem Rückkehrenden frühere Verfehlungen wie illegale Ausreise und Umgehung des Nationaldienstes im Regelfall nicht mehr vorgehalten. Auch wird man für eine gewisse Zeit vom Nationaldienst befreit.
87Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 22 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Eritrea, Stand: 19. Mai 2021, S. 29; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 9; vgl. dazu insgesamt auch OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 55 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 56.
88Diese Erkenntnis lässt aber den Anspruch des Klägers auf Gewährung subsidiären Schutzes nicht entfallen. Dabei kann hier offen bleiben, ob der „Diasporastatus“ bzw. das Unterzeichnen der Reueerklärung überhaupt eine taugliche Maßnahme darstellen, um einer Bestrafung bzw. der Einberufung in den Nationaldienst in hinreichendem Maße zu entgehen. Hieran bestehen unter mehreren Aspekten Zweifel. Zum einen berichten einige Erkenntnisquellen ohnehin, dass der Diasporastatus nur solchen dauerhaft nach Eritrea zurückkehrenden Personen offenstehe, die bereits in den 1990er Jahren zurückgekehrt seien, bereits eine ausländische Staatsangehörigkeit besäßen, bereits Visa erhalten hätten oder den Diasporastatus bereits früher erlangt hätten.
89Vgl. Danish Immigration Service, Eritrea: National service, exit and entry, 2020, S. 36; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 10; vgl. auch OVG Sachsen, Urteil vom 19. Juli 2023 - 6 A 178/21.A -, juris, Rn. 51.
90Auch die übrigen Erkenntnisquellen zeugen – zweitens – zunächst von einer willkürlichen Handhabung der Straffreiheit,
91vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 25; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 64 f.; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 10,
92so dass eine solche möglicherweise nicht als garantiert anzusehen ist und die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines drohenden Schadens insoweit bereits deshalb weiterhin als gegeben anzunehmen sein könnte.
93Ablehnend OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris, Rn. 68.
94Schließlich zeugen drittens die Erkenntnisquellen überdies davon, dass der Diasporastatus allenfalls zwölf Monate Schutzwirkung entfaltet, weil der eritreische Staat anschließend die Betroffenen nicht mehr als Auslandseritreer, auf die der Diasporastatus bezogen ist, sondern vielmehr (wieder) als Inlandseritreer ansieht.
95Vgl. Danish Immigration Service, Eritrea: National service, exit and entry, 2020, S. 30; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 9.
96Dieser vergleichsweise kurze Schutzzeitraum vermag die an sich bestehende beachtliche Wahrscheinlichkeit eines drohenden Schadens möglicherweise – auch in Ansehung der zeitlichen Vorgaben im Rahmen des § 3d Abs. 2 AsylG – nicht in relevantem Umfang zu verkürzen.
97So VG Köln, Urteil vom 3. August 2023 - 8 K 7155/17.A -, juris, Rn. 221 ff.; anders hingegen OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris, Rn. 85 ff.; vgl. zu dem anzulegenden Zeitraum Vgl. EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 41738/10 -, NVwZ 2017, 1187 (1189); BVerwG, Urteil vom 31. März 1981 - 9 C 237.80 -, juris, Rn. 14.
98Diese Fragen bedürfen aber deshalb im Streitfall keiner Beantwortung, weil die Abgabe der Reueerklärung zur Erlangung des „Diasporastatus“, selbst wenn sie ein taugliches Mittel zur Vermeidung eines drohenden Schadens sein sollte, aus Sicht des erkennenden Gerichts jedenfalls keine zumutbare (Handlungs-)Option darstellt.
99Wann etwas unzumutbar ist, hängt von einer einzelfallbezogenen Abwägung der gegenläufigen Interessen ab. Erforderlich ist demnach eine Gesamtbetrachtung der für und gegen die Zumutbarkeit streitenden objektiven Gesichtspunkte des Einzelfalles.
100Vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 19. April 2018 - 1 B 8.18 -, juris, Rn. 17.
101Das bedeutet, geht es um den Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder – wie hier – der Gewährung subsidiären Schutzes, müssen auf der einen Seite die (Rechts-)Güter und Interessen in die Abwägung eingestellt werden, die berührt werden, wenn man den Betroffenen auf die in Rede stehenden Verhaltensweise verweist und diese entsprechend von ihm einfordert, und andererseits diejenigen Aspekte berücksichtigt werden, die sich aus der (international-)rechtlichen Verpflichtung der Beklagten zur im Einzelfall erforderlichen Schutzgewährung ergeben. Daher wird in Anlehnung an die Regelung des § 3e AsylG, der den Gedanken des Schutzausschlusses bei zumutbarem Verhinderungsverhalten in einfaches Recht inkorporiert und wonach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. über § 4 Abs. 3 AsylG auch die Gewährung subsidiären Schutzes zu verneinen ist, wenn der Betroffene sich in zumutbarer Weise in einem anderen Teil seines Herkunftslandes niederlassen kann, der Maßstab der Zumutbarkeit der in Rede stehenden Handlungsalternative dahingehend beschrieben, dass die mit dieser verbundenen Rechtsgutbeeinträchtigungen nach Art und Ausmaß den für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Gewährung subsidiären Schutzes erforderlichen Grad einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte nicht erreichen. Sobald die mit der zu prüfenden Handlungsvariante verbundenen (anderen) Gefahren ihrerseits das in §§ 3 ff. und § 4 AsylG geregelte Schutzniveau unterschreiteen, ist demnach grundsätzlich von einer Zumutbarkeit auszugehen.
102So ausdrücklich OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 -, juris, Rn. 62.
103Im Streitfall bedeutet dies aber nach Auffassung der Kammer, dass der Verweis auf die Erlangung des „Diasporastatus“ unzumutbar ist. Dabei ist nicht maßgeblich, dass dies die Zahlung einer gewissen Geldsumme erfordert, weil eine Steuerpflicht an sich keine Unzumutbarkeit begründet, zumal die hier in Rede stehende Summe keineswegs als zu hoch zu betrachten ist.
104Vgl. dazu ausführlich OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris, Rn. 70 ff.
105Allerdings kann in Anbetracht der den eritreischen Staat ausmachenden Eigenschaften die erforderliche Abgabe der Reueerklärung nicht erwartet werden, weil sie zu sehr in die Rechte des Betroffenen eingreift.
106Dies lässt sich allerdings nicht unmittelbar aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ableiten. Denn soweit dieses entschieden hat, dass die Abgabe dieser Reueerklärung unzumutbar ist, betrifft die angesprochene Entscheidung nicht die hier in Streit stehende Frage der Gewährung internationalen Schutzes, sondern das ausländerrechtliche Problem der Passbeschaffung nach der Aufenthaltsverordnung, auf deren Grundlage das Bundesverwaltungsgericht eine Interessenabwägung vorgenommen hat, in deren Rahmen es zur Unzumutbarkeit der Reueerklärung gekommen ist. Insoweit musste das Gericht andere Aspekte und letztlich einen anderen Maßstab anlegen, als es hier angezeigt ist.
107Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2022 - 1 C 9.21 -, juris, Rn. 18 ff.; zur fehlenden Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf asylrechtliche Sachverhalte auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 -, juris, Rn. 70.
108Die Kammer ist auch der Auffassung, dass die Reueerklärung keine mit der Menschenwürde unvereinbare Selbstbelastung darstellt, weil nicht das Gestehen von – eventuell sonst nur schwer nachweisbaren – Straftaten im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, sondern vielmehr die Anerkennung der und die Unterwerfung unter die eritreische Rechtsordnung verbunden mit einer (zeitweisen) Strafabsehung Ziel und Gegenstand der Reueerklärung sind.
109Vgl. ausführlich OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 -, juris, Rn. 68.
110Von daher kommt es auch nicht entscheidend darauf an, ob die Abgabe der Reueerklärung gegen den Willen des Betroffenen erfolgt – unabhängig davon, dass wohl bei jeder Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags letztlich von einer konkludenten Weigerung, die Reueerklärung abzugeben, ausgegangen werden muss.
111Allerdings führen die vom Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen herangezogenen Aspekte auch hier zu der Annahme fehlender Zumutbarkeit, soweit die fehlende rechtsstaatliche Komponente der Reueerklärung in den Blick genommen wird. Insoweit geht das Bundesverwaltungsgericht überzeugend davon aus, dass die mit der in der Reueerklärung liegenden Selbstbezichtigung verbundene bedingungslose und uneingeschränkte Unterwerfung unter die eritreische Staatsgewalt mit rechtsstaatlichen Prinzipien kaum in Einklang zu bringen ist und ihre Erklärung insoweit nicht zugemutet werden kann.
112Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2022 - 1 C 9.21 -, juris, Rn. 27.
113Es ist mit rechtsstaatlichen Prinzipien auch aus Sicht des erkennenden Gerichts unvereinbar und damit unzumutbar vom Kläger zu verlangen, dass dieser eine bedingungslose und uneingeschränkte Unterwerfung unter die eritreische Staatsgewalt erklärt und damit selbst die Voraussetzungen für seine Rückführung schafft, während ihm die Abgabe dieser Erklärung keinerlei Gewähr dafür bietet, dass der eritreische Staat, der gerade auch für seine Willkür bekannt ist, ihn nicht gleichwohl – jedenfalls nach Ablauf eines beschränken Zeitraum – einer erniedrigenden unmenschlichen Behandlung unterzieht, namentlich ihn (willkürlich) strafrechtlich verfolgt oder ihn in den Militärdienst einberuft. Dies kann bei Gesamtbetrachtung der Umstände deshalb nicht zumutbar sein, weil der eritreische Staat gerade auch für seine Willkür vornehmlich im Umgang mit vermeintlichen Straftätern bekannt ist, wie sich aus den bereits zitierten Erkenntnismitteln ergibt. Insoweit gibt es auch keine rechtstaatliche Grundlage, die den eritreischen Staat dazu (selbst-)verpflichten würde, bei Abgabe der Reueerklärung und innerhalb eines beachtlichen Zeitraumes keine – §§ 3 ff. bzw. § 4 AsylG widersprechende – Strafen zu verhängen oder nicht in den Militärdienst einzuberufen. Insofern ist – wie bereits beschrieben – nicht ausgeschlossen, dass trotz der Abgabe der Reueerklärung von (willkürlichen) Bestrafungen und Einberufungen in den Nationaldienst erfolgen können.
114vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 25; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 64 f.; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, 30. September 2018, S. 10.
115Dies mag zwar – wie oben dargelegt – nicht bereits dazu führen, dass die Reueerklärung an sich kein taugliches Mittel ist, um der drohenden Gefahr zu entgehen. Sie ist aber in Anbetracht der oben dargelegten Grundsätze dem Kläger angesichts der ihm drohenden Gefahren nicht zumutbar. Jemandem internationalen Schutz abzusprechen, weil ein bekanntermaßen willkürlich handelnder und rechtsstaatliche Grundsätze ignorierender Staat für eine gewisse Zeit Straffreiheit garantiert bzw. nicht in den die Gefahr begründenden Militärdienst einberuft, vermag nicht zu überzeugen. Es kann daher auch nicht verlangt werden, sich gegen den Willen und damit entgegen seinem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht diesem Staat zu unterwerfen.
116Vgl. ebenso OVG Niedersachsen, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 -, juris, Rn. 76 ff.; VG Köln, Urteil vom 20. April 2023 - 8 K 14995/17.A -, juris, Rn. 158 ff.; für eine Zumutbarkeit hingegen OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. August 2023 - 4 LB 145/20 -, juris, Rn. 60 ff.; OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris, Rn. 65 ff.
117II.
118In Anbetracht des Vorstehenden sind die übrigen Ziffern des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben.
119Für die Erforderlichkeit für eine Entscheidung über die Feststellung eines Abschiebungsverbots sind keine Sachgründe ersichtlich (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Die in Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Regelung ist daher aufzuheben.
120Vgl. auch Heusch, in: Kluth/Heusch, Beck´scher Onlinekommentar Ausländerrecht, Stand: 1. Oktober 2023, § 31 AsylG, Rn. 23 f.
121Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids ist überdies rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil auch für sie die Voraussetzungen nicht vorliegen. Denn nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AsylG darf eine Abschiebungsandrohung unter anderem nur dann erfolgen, wenn der Betroffene – anders als der Kläger – keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes hat. Entsprechend ist auch die Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil nach §§ 75 Nr. 12, 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) mangels Abschiebungsandrohung kein Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgesprochen werden darf.
122III.
123Die Kostenentscheidung beruht im Hinblick auf die Klagerücknahme auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO, wobei beide Streitgegenstände gleich gewichtet werden. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit basiert auf §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung.
124Rechtsmittelbelehrung:
125Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1261. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1272. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1283. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
129Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich zu beantragen. In dem Antrag, der das angefochtene Urteil bezeichnen muss, sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
130Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
131Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.