Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
1. Widerrung der Flüchtlingseigenschaft wegen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht mehr beachtlich wahrscheinlicher Verfolgungsgefahr aufgrund einer Gruppenverfolgung der Yeziden durch den IS im Irak (Ninive).
2. Offen gelassen, ob eine Verurteilung wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern (§§ 14 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3, 96 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) und b), Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten (aus drei Einzelstrafen von jeweils zwei Jahren Freiheitsstrafe) den Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG erfüllen kann.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Der am °.N. 1988 in B. (Irak) geborene Kläger ist nach seinen Angaben irakischer Staatsangehöriger, ohne Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens. Nach seiner von ihm auf den °°. K. 2009 datierten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erkannte das Bundesamt für D. und Z. (nachfolgend: Bundesamt) ihm durch Bescheid vom 11. August 2009 (Az.: °°°°°°°-°°°) die Flüchtlingseigenschaft zu. Im Wesentlichen beruhte die Zuerkennung auf einer vom Bundesamt angenommenen Verfolgung des Klägers aufgrund seiner Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Yeziden.
3Unter dem 29. Januar 2020 bat das Bundesamt die für den Wohnort des Klägers zuständige Ausländerbehörde (nachfolgend: Ausländerbehörde) um Aktualisierung der Eintragungen im Ausländerzentralregister. Mit Schreiben vom 28. N. 2020 teilte die Ausländerbehörde dem Bundesamt mit, das Landgericht Essen habe den Kläger mit Urteil vom 15. N. 2019 – °° °°° °/°° °° °S. – wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten (aus drei Einzelstrafen von jeweils zwei Jahren Freiheitsstrafe) verurteilt. Sie übersandte das Urteil und bat um Prüfung, ob ein Widerruf bzw. eine Rücknahme der zuerkannten Flüchtlingseigenschaft erfolge. Für die Einzelheiten des Anschreibens und erwähnten Urteils wird auf Bl. 9-22 und 25 Bezug genommen.
4Unter dem 23. September 2022 fragte das Bundesamt bei dem Auswärtigen Amt die Übersendung eines slowakischen Urteils über den Kläger an. Für diesen werde die Einleitung eines Widerrufs- / Rücknahmeverfahrens geprüft. Dem Bundesamt liege der Hinweis über eine Verurteilung durch das Bezirksgericht Bratislava/Slowakische Republik zu drei Jahren Freiheitsstrafe wegen des illegalen Transports von Migranten vor. Das Bundesamt benötige das Urteil, um über Ausschlusstatbestände bei dem Kläger zu befinden. Unter dem 28. September 2022 bat das Bundesamt zudem die Ausländerbehörde und die Staatsanwaltschaft Essen um Übersendung des slowakischen Urteils. Unter dem 29. September 2022 vermerkte das Bundesamt, der Klägers sei am °°.B. 2022 aus der Justizvollzugsanstalt in C. entlassen worden. Auf Anfrage vom 17. November 2022 teilte das Bundesamt für Justiz am 21. November 2022 aus dem slowakischen Strafregister vom selben Tag mit, der Kläger sei rechtskräftig am 14. Februar 2017 wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und mit einer Sanktionsdauer von fünf Jahren aus dem Hoheitsgebiet ausgewiesen worden.
5Mit Vermerk vom 6. Dezember 2022 leitete das Bundesamt ein Aufhebungs-/Widerrufsverfahren ein. Der Kläger erfülle den Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG. Für die Einzelheiten des Vermerks wird auf Bl. 46 f. Bezug genommen. das Bundesamt hörte den Kläger mit Schreiben vom 8. Dezember 2022 zum beabsichtigten Widerruf wegen des Ausschlusstatbestands gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG an, das ihm mit Postzustellungsurkunde am 15. Dezember 2022 zugestellt wurde. Nachdem der spätere Prozessbevollmächtigte des Klägers am 6. Januar 2023 für diesen beim Bundesamt sein Mandat anzeigte und Akteneinsicht beantragte, wurde ihm diese unter dem 13. Januar 2023 gewährt.
6Mit weiterem Vermerk vom 19. Februar 2024 hielt das Bundesamt fest, die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 5 AsylG lägen vor, weil der Kläger Ausschlusstatbestände gemäß § 3 Abs. 2 AsylG erfülle und von der Gewährung internationalen Schutzes auszuschließen sei. Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG erfasse der Ausschlusstatbestand auch Anstifter oder in sonstiger Weise Beteiligte an der Straftat. Für die Einzelheiten des Vermerks wird auf Bl. 64 f. Bezug genommen.
7Mit Schreiben vom 26. Februar 2024 gab das Bundesamt dem Kläger über seinen Bevollmächtigten Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats über die Fortsetzung des eingeleiteten Widerrufsverfahrens nach einer Neubewertung. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei nach § 73 Abs. 5 AsylG zu widerrufen, weil der Kläger den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG, ggfs. i.V.m. Satz 2, erfülle. Danach sei ein Ausländer u.a. von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe für die Annahme vorliegen, dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat bzw. an einer Zuwiderhandlung in sonstiger Art und Weise beteiligt war. Die Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Essen mit Urteil vom 15. N. 2019 (Az.: °° °°° °/°° °° °.; °° °° °°°/°°°°° °.) wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten (Einzelfreiheitsstrafe 2 Jahre) erfülle diesen Tatbestand. Eine Stellungnahem ging bei dem Bundesamt nicht ein.
8Mit Bescheid vom 3. April 2024 (°°°°°°° - °°°) widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 11. August 2009 (Az.: °°°°°°°-°°°) zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziff. 2) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorlägen (Ziff. 3). Zur Begründung führte es aus die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 5 AsylG lägen vor, weil der Kläger den Ausschlusstatbestand gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG erfülle und von der Gewährung internationalen Schutzes auszuschließen sei. Aus schwerwiegenden Gründen sei die Annahme gerechtfertigt, dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt habe. Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG würden von diesem Ausschlusstatbestand auch Anstifter oder in sonstiger Weise Beteiligte an der Straftat erfasst. Dabei liege mangels einheitlicher internationaler Kriterien grundsätzlich eine Orientierung an den Regeln des nationalen Strafrechts zu Täterschaft und Teilnahme nahe. Allerdings müsse auch im Fall der Beihilfe der Tatbeitrag nach seinem Gewicht dem eines täterschaftlichen Tatbeitrages im Sinne dieser Vorschrift entsprechen. Der Kläger habe gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen gehandelt bzw. sei an solchen Handlungen beteiligt gewesen. Er sei am 14. Februar 2017 durch das Bezirksgericht Bratislava, rechtskräftig seit dem 15. Juni 2017, wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt zu 3 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden (Geschäftsnummer.: °°° °°°°). Am 29. November 2018 sei er aus der slowakischen Inhaftierung nach Deutschland ausgeliefert worden. Das Landgericht Essen habe ihn mit Urteil vom 15. Mai 2019 (Az.: °° °°° °/°° °° °.; °° °° °°°/°° °°° °.) wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Damit stehe fest, dass der Ausländer beharrlich – noch dazu unter fortwährendem Missbrauch des durch Deutschland gewährten Schutzstatus und der damit einhergehenden Rechte – sowie aus wirtschaftlichen Gründen gegen die Grundsätze und Ziele der Vereinten Nationen zuwiderhandele. Damit gefährde er zudem die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Zur Durchsetzung seiner finanziellen Interessen sei er bereit, auf Dauer („gewerbsmäßig“) im Rahmen der organisierten Kriminalität tätig zu werden und bereits angelegte Schleusungsnetzwerke durch eigene Schleusungsaktivitäten zu unterstützen. Er habe geplant, organisiert, arbeitsteilig und grenzübergreifend gehandelt. Zudem habe er eine Vielzahl an Drittstaatsangehörigen unter Umgehung der geltenden Einreisebestimmungen in die Bundesrepublik Deutschland verbracht. Aus diesen Gründen sei er zugleich nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG (ggfs. i.V.m. Satz 2) von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Im drohe im Rückkehrfall im Irak keine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK. Eine Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak finde nicht mehr statt. Anderweitige Verfolgungsgefahren habe er nicht vorgebracht. Im Hinblick auf die von dem Bundesamt im angefochtenen Bescheid ab Seite 11 dargestellte allgemeine Versorgungslage könne er seine Existenz im Rückkehrfall sicherstellen. Er sei ein bei Erlass des Bescheids 36-jähriger erwerbsfähiger Mann. Laut Urteil des Landgerichts Essen sei er verheiratet und habe – nach Aktenlage zum heutigen Zeitpunkt – vier minderjährige Kinder im mutmaßlichen Alter von 17, 15, 14 und zwölf Jahren. Insofern bestehe kein erhöhter Betreuungsaufwand für die Kinder. Er habe die Schule im Irak für fünf Jahre besucht und lebe mittlerweile 15 Jahre in Deutschland. Den überwiegenden Teil seines Lebens habe er sich jedoch im Irak aufgehalten, spreche die Landessprache und sei somit mit den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten in seinem Heimatland vertraut. Ihm sei es zuzumuten und möglich, ungelernte bzw. einfache Tätigkeiten im Niedriglohnsektor, die keine besondere Qualifikation voraussetzen, auszuüben, um sich sein Existenzminimum sichern zu können. Zudem bestehe vor allem in einer anfänglichen Übergangszeit die Möglichkeit, Unterstützung durch das staatlich finanzierte Public Distribution System (PDS) bzw. durch Rückkehr- und Reintegrationsprogramme in Anspruch zu nehmen. Belange für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG seien weder vorgetragen, noch ersichtlich. Eine Abschiebungsandrohung ergehe nicht, da es an der hierfür erforderlichen Rechtsgrundlage für das Bundesamt fehle und die Regelung des § 34 AsylG insofern als abschließend anzusehen sei.
9Hiergegen hat der Kläger am 25. April 2024 die vorliegende Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt er im Wesentlichen vor, er habe durch Schreiben vom 10. April 2024 über seinen Bevollmächtigten sinngemäß mitgeteilt, die sozialen Verhältnisse des Klägers stellten sich positiv dar. Er sei familiär in der Bundesrepublik verbunden. Bis Ende 2023 habe er eine berufliche Tätigkeit wahrgenommen, „was insbesondere Sozial zu Gute kam“. Auf Gelder des Staates sei er nicht angewiesen, was er auch zu keinem Zeitpunkt beabsichtige. Die Arbeitslosigkeit sei lediglich daraus resultiert, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis vorlag, das aus betrieblichen Gründen gekündigt worden war. Gründe für einen beabsichtigenden Widerruf seien hiernach schon nicht ersichtlich gewesen. Etwaige Widerrufsgründe lägen nicht vor. Entgegen der Auffassung der Beklagten handele es sich bei den benannten Strafverurteilungen nicht um schwere Kriminalität im Sinne von § 3 AsylG. Insbesondere lägen die Taten lange zurück. Die entsprechend positive soziale Integration sei nachweislich dargestellt worden. Die Beklagte sei hierauf nicht eingegangen. Eine slowakische Verurteilung sei hier nicht gleichzusetzen mit einer Verurteilung in der Bundesrepublik. Auf den langen Zeitablauf sei hinzuweisen. Unberücksichtigt bleiben dürfe ebenfalls nicht, dass der Kläger unstreitig die Flüchtlingseigenschaft innehabe, sprich aus einem Kriegsgebiet stamme und hier über persönliche Erfahrungen verfüge, die sich keiner der hier Beteiligten vorstellen könne. Die hier in Rede stehenden Taten beträfen keine Drogenkriminalität, Betrugskriminalität oder anderweitige Vermögensdelikte, sondern vielmehr Flüchtlingsproblematiken, wobei hier jedenfalls eine persönliche Anhörung des Klägers erforderlich erscheine, um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Im Zuge dessen werde Beweis durch Parteieinvernahme bzw. hilfsweise Anhörung angeboten. Danach werde feststehen, dass hier jedenfalls keine schwere Kriminalität anzunehmen sei. In keinster Weise sollten etwaige Schleusungsdelikte verschont werden. Natürlich handele es sich hier um Grundsätze, die auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht geteilt würden. Jedoch sei – wie bereits erwähnt – auf den konkreten Einzelfall abzustellen. Ihm sei weiterhin subsidiärer Schutz zu gewähren. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG sei nicht erfüllt.
10Der Kläger beantragt schriftsätzlich wörtlich,
11„Der Widerrufsbescheid vom 03.04.2024 GZ: °°°°°°°-°°°, zugestellt 11.04.2024 wird aufgehoben.“
12Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.
15Die Kammer hat durch Beschluss vom 23. Mai 2024 den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Das Gericht hat die Beteiligten mit jeweils am 25. Juni 2024 zugestellter Verfügung zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Dabei hatte es darauf hingewiesen, dass die Klage aller Voraussicht nach keine Erfolgsaussichten haben dürfte. Für die weiteren Einzelheiten des Hinweises wird auf Bl. 33 der Gerichtsakte Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen.
16Entscheidungsgründe:
17Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Einzelrichter und gemäß § 84 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nach Anhörung der Beteiligten als Gerichtsbescheid.
18I. Der im Bescheid des Bundesamtes vom 3. April 2024 ausgesprochene Widerruf ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
19Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz (AsylG) in seiner aktuellen Fassung. Im Rahmen der asylrechtlichen Streitigkeit hat das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen.
201. Ob der Widerruf gestützt auf die Rechtsgrundlage des § 73 Abs. 5 AsylG rechtmäßig erfolgt ist, kann dahinstehen. Jedenfalls ist der Widerruf, gemessen an der insoweit austauschbaren, Rechtsgrundlage des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtmäßig.
212. Der Widerruf ist formell rechtmäßig erfolgt. Das Bundesamt hat dem Kläger, nachdem es von seinen strafrechtlichen Verurteilungen Kenntnis erlangt hat, die Einleitung des Widerrufsverfahrens unter dem 8. Dezember 2022 mitgeteilt, ihn zur Mitwirkung aufgefordert, ihm mit Schreiben vom 26. Februar 2024 Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme binnen eines Monats gegeben (§ 73b Abs. 3 und Abs. 6 AsylG) und ihn darauf hingewiesen, nach bisheriger Aktenlage zu entscheiden, äußere er sich nicht innerhalb der angegebenen Frist (§ 73b Abs. 6 Satz 3 AsylG). Die Mitteilung seines Prozessbevollmächtigten am 5. April 2024, er werde kurzfristig Stellung nehmen und bitte hierfür um Fristverlängerung von zwei Wochen war verspätet und erreichte das Bundesamt nach Erlass des Bescheids. Zwar gab das Bundesamt den Bescheid erst ab dem 8. April 2024 in die Zustellung per Post an den Prozessbevollmächtigten des Klägers. An der Befugnis zur Entscheidung nach Aktenlage (§ 73b Abs. 6 Satz 3 AsylG) änderte sich dadurch nichts.
22Die unionsrechtliche Grundlage der Regelung in § 73b Abs. 6 AsylG, Art. 45 Abs. 1 Buchst. a) und b) der Richtlinie 2013/32/EU, verlangt lediglich, dem von einem eingeleiteten Widerrufsverfahren Betroffenen Gelegenheit in einer persönlichen Anhörung oder in einer schriftlichen Erklärung zu geben, die Gründe vorzubringen, die nach seiner Auffassung dagegensprechen, ihm den internationalen Schutz abzuerkennen.
23Vgl. Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18. April 2024 – 13 A 10157/24.OVG –, juris Rn. 20.
24Eine Stellungnahme des Klägers war dem Bundesamt nicht binnen der Monatsfrist zugegangen. Einen Grund für die begehrte Fristverlängerung hatte der Prozessbevollmächtigte nicht genannt, sodass dahinstehen kann, ob die Frist § 73b Abs. 6 Satz 3 AsylG verlängerungsfähig ist. Das weitere Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 17. April 2024, mit dem Text „in vorbezeichneter Angelegenheit hatten wir Ihnen die Unterlagen bereits zur Verfügung gestellt. Im Nachgang dazu überreichen wir Ihnen weitere Unterlagen, bezogen auf die soziale Stellung unseres Mandanten, sowie den Arbeitsvertrag, in Kopie als Anlage“ nebst angehangener Dokumente (Arbeitsvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer, Erklärung zur Sozialversicherungspflicht, Erstunterweisung Mitarbeiter Reinigung, Anlagen zum Arbeitsvertrag, Verpflichtungserklärung Wahrung von Geheimnissen) war aus den vorstehenden Gründen von dem Bundesamt nicht zu berücksichtigen und enthält unabhängig davon keinen berücksichtigungsfähigen Inhalt in einem Widerrufsverfahren nach § 73b AsylG.
253. Der angefochtene Widerruf ist auch materiell-rechtlich rechtmäßig erfolgt.
26Dahinstehen kann, ob das Bundesamt den Widerruf auf § 73 Abs. 5 AsylG stützen konnte. Danach ist die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung des internationalen Schutzes zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn der Ausländer von der Erteilung nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG oder nach § 4 Abs. 2 oder 3 AsylG hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist (3.1.). Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft war aufgrund der insoweit austauschbaren Rechtsgrundlage des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen (3.2.)
273.1. Ob der Kläger wegen der vom Landgericht Essen abgeurteilten Taten von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AsylG ausgeschlossen ist, kann offen bleiben. Danach ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Dies gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
28Die auf §§ 14 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3, 96 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) und b), Abs. 2 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) gestützte Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Essen mit Urteil vom 15. Mai 2019 – °° °°° °/°° °° °. – wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten (aus drei Einzelstrafen von jeweils zwei Jahren Freiheitsstrafe) erfüllt nach neuerer Rechtsprechung den Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG nicht.
29Danach erfasse die Ausschlussklausel einzelne Täter nur, wenn sie Verbrechen begangen haben, die den internationalen Frieden, die internationale Sicherheit sowie die friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten beeinträchtigen oder ernsthafte und andauernde Menschenrechtsverletzungen zum Gegenstand haben, wenn sie in einem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation eine gewisse Machtposition besitzen und zur Verletzung dieser Grundsätze durch den Staat unmittelbar beitragen.
30Vgl. VG Hannover, Beschlüsse vom 18. April 2024 – 12 B 1127/24 –, juris Rn. 22 und vom 7. Mai 2024 – 2 B 1302/24 –, juris Rn. 22; VG Berlin, Urteil vom 28. November 2023 – 23 K 693/21 A –, juris Rn. 29; VG Halle (Saale), Urteil vom 14. Februar 2023 – 6 A 206/20 –, juris Rn. 41; VG Düsseldorf, Urteil vom 8. Februar 2022 – 17 K 1533/20.A –, juris Rn. 15.
31Einzelne Personen ohne Machtposition in einem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation können von dem Ausschlussgrund erfasst sein, wenn sie Aktivitäten des internationalen Terrorismus begangen haben.
32Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. November 2013 – 10 C 26.12 –, juris Rn. 12 und vom 7. Juli 2011 – 10 C 26.10 – juris Rn. 28; OVG NRW, Urteil vom 27. Mai 2016 – 9 A 653/11.A –, juris Rn. 106 – 109; VG Hannover, Beschlüsse vom 18. April 2024 – 12 B 1127/24 –, juris Rn. 22 und vom 7. Mai 2024 – 2 B 1302/24 –, juris Rn. 22; VG Berlin, Urteil vom 28. November 2023 – 23 K 693/21 A –, juris Rn. 29; VG Halle (Saale), Urteil vom 14. Februar 2023 – 6 A 206/20 –, juris Rn. 41; VG Düsseldorf, Urteil vom 8. Februar 2022 – 17 K 1533/20.A –, juris Rn. 15 ff.
33Eine staatliche oder staatsähnliche Machtposition hat der Kläger nicht ausgefüllt. Handlungen im Bereich des internationalen Terrorismus hat er nach den vorliegenden Feststellungen nicht begangen.
34Die im slowakischen Strafregister eingetragene, rechtskräftige dortige Verurteilung am 14. Februar 2017 wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt zu drei Jahren Freiheitsstrafe vermag den auf § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bzw. Satz 2 AsylG gestützten Ausschluss aus den vorstehenden Gründen ebenso wenig zu tragen. Der Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist zudem nicht erfüllt, weil der Kläger Taten, soweit festgestellt, nicht vor seiner Aufnahme als Flüchtling durch Bescheid vom 11. August 2009 begangen hat. Dahinstehen kann deshalb, ob die gewerbsmäßige Einschleusung von Ausländern grundsätzlich dem Normzweck von § 3 Abs. 2 AsylG unterfallen kann sowie, ob eine Verurteilung sowie verbüßte Haftstrafe der Anwendung entgegenstehen, weil gemeinsamer Zweck der Vorschriften in § 3 Abs. 2 AsylG ist, zu verhindern, dass sich Täter einer entsprechenden Straftat durch die Stellung eines Schutzantrags im Ausland einer strafrechtlichen Verantwortung entziehen,
35vgl. BeckOK MigR/Wittmann, 18. Ed. 15.1.2024, AsylG § 3 Rn. 41, m.w.N.; EuGH, Urteil vom 9. November 2010 – C-57/09 und C-101/09 –, NVwZ 2011, 285 Rn. 104,
36oder der des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG „gerade auch darin [besteht], schweren Straftätern den Genuss der Flüchtlingseigenschaft zu verwehren, um die Akzeptanz von anerkannten Flüchtlingen in der Bevölkerung des Aufnahmestaats nicht zu gefährden.“
37Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. Juli 2024 – 14 A 2847/19.A –, juris Rn. 155, mit Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 24. November 2009 – 10 C 24.08 –, juris Rn. 27 und 41.
383.2. Unabhängig davon kann sich der ausgesprochene Widerruf im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG stützen. Danach ist die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AsylG).
39Die den Zuerkennungsbescheid vom 11. August 2009 tragenden Umstände, eine damals angenommene Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak, sind weggefallen. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen und der Kammer ist bereits – spätestens – seit 2021 keine Gruppenverfolgung von Yeziden mehr im Irak, einschließlich der Provinz Ninive, dort Sindjar, festzustellen.
40Vgl. OVG NRW, Urteile vom 5. September 2023 – 9 A 1249/20.A –, juris Rn. 34 ff., vom 21. Dezember 2022 – 9 A 1740/20.A –, juris Rn. 33 ff. und vom 10. Mai 2021 – 9 A 1489/20.A –, juris Rn. 49 ff.; VG Gelsenkirchen, Urteile vom 23. Oktober 2023 – 15a K 2233/20.A – und vom 19. August 2022 – 15a K 1435/19.A –.
41Seitdem es im Dezember 2017 landesweit gelungen ist, dem sog. IS die Gebietshoheit wieder zu entziehen, fehlen diesem die militärischen Fähigkeiten zu einer Fortsetzung der genannten Gruppenverfolgung. Seitdem agiert der IS aus dem Untergrund und versucht, vor allem durch gezielte Terroranschläge regional oder lokal Einflusssphären zu erhalten oder wiederzugewinnen („asymmetrische Kriegsführung“).
42Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Irak, Stand: 9. Oktober 2023, S. 24f.
43Die Anzahl der IS-Angriffe ist tendenziell sinkend. Im Januar 2022 verübte der IS 46 Anschläge. Das war die niedrigste Zahl von Anschlägen im Irak seit 2003.
44Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Irak, Stand: 2. März 2022.
45Während die Zahl der Kämpfer des IS im Irak im Jahr 2022 auf 2.000 bis 10.000 geschätzt wurde, geht das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) in einem jüngeren Bericht von lediglich 500 aktiven IS-Kämpfern im Irak aus. Der IS wird im Irak weiterhin bekämpft. Die Zahl der Anschläge des IS in der Provinz Ninive gegen Zivilisten ist weiterhin, rückläufig.
46Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. September 2023 – 9 A 1249/20.A –, juris Rn. 64 m.w.N. und Darstellung der herangezogenen Tatsachengrundlagen; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Irak, Stand: 9. Oktober 2023, S. 25f.
47Im Jahr 2023 wurden (bis inklusive August) nur noch rund 14 Angriffe pro Monat registriert.
48Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Irak, Stand: 9. Oktober 2023, S. 26.
49Mit der geschilderten Zurückdrängung des IS aus der Provinz Ninive ist es auch nach Auffassung des erkennenden Gerichtes ausgeschlossen, dass die Terrormiliz aktuell noch über Strukturen verfügt, die es ihr ermöglicht, yezidische Glaubenszugehörige in der Provinz Ninive systematisch im Rahmen eines eingeleiteten und durchgeführten Verfolgungsprogramms bzw. mit einer entsprechenden Verfolgungsdichte zu verfolgen, wie es Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung wäre.
50Gegen eine Gruppenverfolgung der Yeziden in Ninive auch: OVG NRW, Urteil vom 5. September 2023 – 9 A 1249/20.A –, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2023 – A 10 S 400/23 –, juris.
51Die vorgenannte Veränderung der Umstände im Hinblick auf den Fortfall einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak – insbesondere in der Heimatregion des Klägers Ninive – ist auch erheblich und nicht nur vorübergehend (§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG). Nicht nur vorübergehend ist eine derartige Änderung, wenn eine Prognose ergibt, dass sich die Änderung der Umstände als stabil erweist, das heißt der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält.
52Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris Rn. 17 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 29. November 2022 – 8 A 4314/21 –, juris Rn. 24.
53Dies ist hier der Fall. Der IS gilt – wie ausgeführt – im Irak offiziell seit dem Ende des Jahres 2017 als besiegt, nachdem er in der Fläche besiegt worden war.
54Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28. Oktober 2022, S. 4.
55Diese Veränderung dieser Umstände ist seit dem Jahr 2019 wiederholt und dauerhaft in der obergerichtlichen Rechtsprechung festgestellt worden.
56Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 7. August 2019 – 9 LB 154/19 –, juris; OVG NRW, Urteile vom 10. Mai 2021 – 9 A 570/20.A und 9 A 1489/20.A –, vom 25. Februar 2022 – 9 A 322/19.A –, vom 21. Dezember 2022 – 9 A 1740/20.A –, zuletzt vom 5. September 2023 – 9 A 1249/20.A –, juris.
57Umstände, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass sich diese Lage – in Bezug auf den IS – in absehbarer Zeit wieder ändern wird, sind nicht ersichtlich.
58Dem Widerruf der Flüchtlingseigenschaft steht auch nicht § 73 Abs. 3 AsylG entgegen. Danach gelten § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 und Nr. 6 und Abs. 2 AsylG nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe oder auf früher erlittenen ernsthaften Schaden berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder wenn er staatenlos ist, des Landes, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, abzulehnen.
59§ 73 Abs. 3 AsylG knüpft an besonders schwerwiegende Schädigungssituationen an, deren Nachwirkungen den Ausländer gegenwärtig insbesondere psychisch weiterhin so erheblich und nachhaltig belasten, dass ihm eine Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit nicht zuzumuten ist. Dabei hängt die Beurteilung des Gewichts der Gründe und der Zumutbarkeit der Rückkehr von der besonderen Schwere der erlittenen Schädigung einerseits und von deren nachhaltigen individuellen Auswirkungen auf den Ausländer andererseits ab.
60Vgl. Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 36. Edition Stand Januar 2023, § 73 AsylG Rn. 130 mit Nachweisen aus der obergerichtlichen Rechtsprechung.
61Die Belastung muss auf dem früher erlittenen Schaden beruhen, welcher wiederum für die Unzumutbarkeit der Rückkehr kausal sein muss. Insoweit muss sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen können, für die ihn die Darlegungs- und Feststellungslast trifft. Ihm obliegt es, diejenigen Tatsachen darzulegen, die den Schluss auf die Unzumutbarkeit der Rückkehr in das Land zulassen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
62Vgl. Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 36. Edition Stand Januar 2023, § 73 AsylG Rn. 130 f.
63Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Zwar war dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft wegen einer angenommenen Gruppenverfolgung der Yeziden zuerkannt worden. Dies allein vermag den Ausschluss des Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft nach § 73 Abs. 3 AsylG indes vorliegend nicht zu rechtfertigen. Der Kläger hat konkrete individuelle Umstände, die eine erhebliche und nachhaltige Belastung im oben genannten Sinne begründen könnten, nicht vorgetragen.
643.3. Den weiteren Ausführungen in der gerichtlichen Hinweisverfügung vom 29. Juni 2024,
65„Individuelle asylrechtlich relevante Verfolgung hat der Kläger in seiner Anhörung am 10. August 2009 nicht geschildert und auch nicht im Widerrufsverfahren vorgetragen. Ansprüche auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder hilfsweise auf Feststellung von Abschiebungsverboten in seiner Person für den Irak dürften ebenso nicht bestehen. Zu § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG ist nichts vorgetragen oder sonst erkennbar. Zu § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG mangelt es nach gegenwärtiger Rechtsprechung der Kammer wie des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen an einem hinreichendem Grad willkürlicher Gewalt, auch in der Provinz Ninive, wobei der Kläger nach §3e AsylG auch auf eine inländische Fluchtalternative in der Region Kurdistan Irak zu verweisen wäre, insbesondere in Erbil oder Sulaimaniya. Für einen Anspruch aus § 60 Abs. 5 und 7 AsylG dürfte nichts ersichtlich sein. Er hat ausweislich seiner eigenen Angaben in der Anhörung am 10. August 2009 im Irak auf Baustellen gearbeitet, fünf Jahre als Fahrer und ein Jahr davon bei einem öffentlichen Arbeitgeber (Rathaus). Seinen familiären Bindungen (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG, Art. 5 Buchst. b) RL 2008/115/EG) dürfte in der Sache durch das - kompetenzbegründete - Absehen von einer Abschiebungsandrohung gegenwärtig Rechnung getragen sein.“
66hat er nichts entgegengesetzt. Das Gericht hält daran fest.
67Der Kläger wäre – an dieser Stelle eine andauernde Gruppenverfolgung in der Provinz Ninive unterstellt – auf nunmehr möglichen internen Schutz nach § 3e AsylG in der Region Kurdistan Irak zu verweisen.
68Die Flüchtlingseigenschaft wird einem Ausländer nach § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
69In der Region Kurdistan Irak droht dem Kläger keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG (aa.). Er kann tatsächlich sicher und legal in die Region Kurdistan Irak einreisen (bb.), wird dort aufgenommen (cc.) und eine Niederlassung ist ihm zumutbar (dd.), § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
70aa. In der Region Kurdistan Irak, wie auch in anderen Gebieten, die unter der Kontrolle der kurdischen Regionalregierung stehen, droht dem Kläger keine Verfolgung aufgrund seines yezidischen Glaubens durch den Islamischen Staat oder sonstige nichtstaatliche Akteure. Dort sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung, insbesondere auch durch die Terrormiliz Islamischer Staat, geschützt. Hier haben viele Z. aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden und üben ihren Glauben aus. In der Region Kurdistan Irak werden islamkritische Diskussionen weniger rigide unterdrückt als anderswo. Der Verfassungsentwurf der Region Kurdistan Irak enthält zwar die Scharia als eine der Gesetzesquellen, jedoch verbietet er nicht die Existenz von Gesetzen, die das islamische Recht verletzen (wie dies in der irakischen Verfassung festgeschrieben ist), außerdem anerkennt er die Rechte von Nicht-Muslimen.
71Vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 28. Oktober 2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staaten-dokumentation Irak vom 9. Oktober 2023.
72Während es zwar weiterhin Berichte über gesellschaftliche Gewalt, hauptsächlich durch bewaffnete religiöse Gruppen in vielen Teilen des Landes gab, erfolgten keine Berichte über religiös motivierte Gewalt in der autonomen Kurdenregion.
73Vgl. BFA, Situation von Christinnen in der KRI, 17. September 2020.
74Dass Nichtbestehen einer Gefahr der Gruppenverfolgung durch den IS in der Region Kurdistan Irak ist auch dauerhaft zu erwarten. Zwar ist festzustellen, dass der IS im Irak noch immer Anschläge aus dem Untergrund verübt. Obgleich er seit dem Jahr 2017 im Irak in der Fläche besiegt wurde, bleibt er als terroristische Organisation eine Gefahr und in der Lage, weitere Anschläge, landesweit zu verüben. Insbesondere ist in den zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Regierung der Region Kurdistan Irak umstrittenen Gebieten ein Sicherheitsvakuum entstanden.
75Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. Oktober 2022, S. 4.
76Dass Mitglieder des IS jedoch wieder in einer derartigen Anzahl wie vor der Niederschlagung im Jahr 2017 in Richtung Norden ziehen werden, so dass erneute systematische Übergriffe auf die religiösen Minderheiten in der Region zu befürchten sind, erscheint angesichts der zwischenzeitlichen Erfolge der Allianz aber nahezu ausgeschlossen.
77Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteile vom 19. Juli 2023 – 15a K 33/22.A –, n.v., und vom 3. Juni 2022 – 13a K 2986/19.A –, juris, Rn. 59 ff., sowie Gerichtsbescheid vom 3. September 2019 – 15a K 8014/16.A –, n.v.; VG Oldenburg, Urteil vom 27. Februar 2018 – 15 A 883/17 –; VG Augsburg, Urteile vom 15. Januar 2018 – Au 5 K 17.35594 – und vom 3. April 2017 – Au 5 K 17.30512 –; VG Karlsruhe, Urteil vom 10. Oktober 2017 – A 10 K 1508/17 –, jeweils juris.
78Insbesondere ist davon auszugehen, dass die kurdischen Autonomiebehörden alles daransetzen werden, die Region Kurdistan Irak unter ihrer vollständigen Kontrolle zu halten.
79Vgl. hierzu die Erkenntnisse des VG Köln, Urteil vom 11. Juli 2018 – 12 K 4094/17.A –, juris Rn. 38 - 40, unter Verweis auf VG Karlsruhe, Urteil vom 10.10.2017 – A 10 K 1508/17 –, juris.
80Mit den kurdischen Peschmerga ist ein Schutzakteur vorhanden, der willens und in der Lage ist, den IS – jedenfalls auf dem Gebiet der Region Kurdistan Irak – zu besiegen.
81Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 3. Juni 2022 – 13a K 2986/19.A –, juris Rn. 65 ff.
82bb. Der Kläger kann zur Überzeugung des Einzelrichters (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) legal in die Region Kurdistan Irak einreisen und dort Aufnahme finden.
83Die tatsächliche Erreichbarkeit setzt voraus, dass es nutzbare Verkehrsverbindungen vom Ort eines eigenen Aufenthalts (Herkunftsregion; Ort des externen Schutzgesuches) zum Ort des internen Schutzes gibt, die ohne unverhältnismäßige Schwierigkeiten und auch zu Kosten, die aufzubringen dem Ausländer nicht unmöglich oder unzumutbar sind, genutzt werden können.
84BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 18.
85„Legal“ erreichbar im Sinne des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Ort des internen Schutzes, wenn er unter Nutzung legal nutzbarer Verkehrsverbindungen erreicht werden kann. Dem Ausländer wird kein illegales Verhalten abverlangt, um zum Ort des internen Schutzes zu gelangen. Er muss aber die Transportmittel oder die Reiseroute selbst nicht rechtlich völlig frei wählen und nutzen können; Anmeldungs- oder Genehmigungsvorbehalte sind jedenfalls dann unschädlich, wenn sie aus legitimen Gründen (etwa Sicherheitszwecken) aufgestellt sind und der Ausländer eine tatsächliche, reale Möglichkeit hat, die entsprechenden Genehmigungen auch zu erhalten. Unschädlich sind Straßenkontrollen auf dem Reiseweg oder sonstige administrative Reisebeschränkungen, die die Fortbewegung als solche nicht (nachhaltig) beeinträchtigen. Der Zugang in die Gebiete des internen Schutzes mit dem Ziel des Zuzuges darf schließlich nicht rechtlich entweder vollständig untersagt oder nur unter sachlich nicht gerechtfertigten Voraussetzungen (z.B. Genehmigungen) möglich sein, die der Ausländer tatsächlich nicht oder nur unter für ihn unzumutbaren Bedingungen erfüllen kann.
86BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 19.
87„Sicher“ im gegebenen Zusammenhang ist ein Ort des internen Schutzes erreichbar, wenn Transportmittel oder eine Reiseroute zur Verfügung stehen, bei deren Nutzung der Ausländer sich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr aussetzen muss, dem Zugriff von verfolgungsmächtigen Akteuren ausgesetzt zu werden oder einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
88BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 20.
89Daran gemessen, wird der Kläger sicher und legal in die Region Kurdistan Irak reisen können, etwa über den Flughafen in Erbil, zumal Einreiseprobleme weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind.
90cc. Der Kläger kann ferner damit rechnen, dort aufgenommen zu werden.
91Am Ort des internen Schutzes findet ein Ausländer „Aufnahme“, wenn er nach dessen legaler Erreichbarkeit nicht nur erstmaligen Zugang erhält, sondern dort legal seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann. Der dauernde Aufenthalt darf mithin nicht kraft Gesetzes oder durch administrative Beschränkungen vollständig untersagt oder von Voraussetzungen abhängig sein, die von dem Ausländer tatsächlich nicht oder nur unter für ihn unzumutbaren Bedingungen erfüllt werden können. Es darf mithin kein illegaler Aufenthalt und in dem Sinne unbeständiger Aufenthalt sein, so dass der Ausländer jederzeit mit seiner Beendigung rechnen muss; unschädlich sind aufenthaltsbegrenzende Maßnahmen, Befristungen oder sonstige Voraussetzungen, die tatsächlich nicht durchgesetzt werden und deren Nichtbeachtung geduldet wird.
92BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 23.
93Der Kläger kann sich in der Region Kurdistan Irak niederlassen, weil er aus Ninive stammt. Für Kurden yezidischer Religionszugehörigkeit sowie arabischer und turkmenischer Familien ist für eine Niederlassung in Erbil oder Sulaimaniya keine Bürgschaft erforderlich.
94Vgl. Österreichisches M. für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 2. März 2022, S. 166, und Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 226.
95Christen, Yesiden und Angehörige anderer Minderheitengruppen von außerhalb der Region Kurdistan Irak dürfen sich in Erbil aufhalten, ohne eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen zu müssen. Sie haben sich jedoch beim lokalen Asayish und dem Mukhtar anzumelden. Im Gouvernement Sulaimaniya gelten für Kurden und Yesiden von außerhalb der Region Kurdistan Irak dieselben Regeln wie für Bürger der Region Kurdistan Irak.
96Vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 226
97Dies belegen auch die von Gesetzes wegen zu berücksichtigenden Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Z. oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (§ 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG).
98EUAA, Country Guidance: Iraq, Common analysis and guidance note, June 2022, S. 244; UNHCR, Bericht zur Möglichkeit, in Gebiete, die für interne Umsiedlung vorgeschlagen wurden, zu reisen und sich dauerhaft dort niederzulassen (Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR's Country Guidance on Iraq; Ability of Iraqis to Legally Access and Settle Durably in Proposed Areas of Internal Relocation), ID 2082216, S. 15, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082216/63720e304.pdf
99Danach sind Niederlassungshindernisse nicht ersichtlich, solche stellen auch die örtlichen Meldeauflagen bei den Sicherheitsbehörden grundsätzlich nicht dar.
100dd. Die Niederlassung in der Region Kurdistan Irak, ist dem Kläger ferner zumutbar.
101Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüberhinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung am Ort des internen Schutzes. Diese Anforderung bleibt eingebettet in den flüchtlingsrechtlichen Zusammenhang. Sie zielt nicht darauf, die in völker- und unionsrechtlichen Kodifikationen enthaltenen Grund- oder Menschenrechte umfassend zu verwirklichen; jenseits der Missachtung grundlegender Menschenrechtsstandards scheidet ein Gebiet nicht schon dann als Ort internen Schutzes aus, wenn dort „irgendein bürgerliches, politisches oder sozioökonomisches Menschenrecht vorenthalten wird“.
102BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 27-30.
103Die Wahrung des durch Art. 3 EMRK geforderten Existenzminimums ist nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Voraussetzung für die Zumutbarkeit der Niederlassung.
104BVerwG, Urteile vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 33 und vom 24. Juni 2021 – 1 C 27.20 –, juris Rn. 15.
105In zeitlicher Hinsicht muss die Niederlassung von perspektivischer Dauer sein. In sachlicher Hinsicht folgt aus dem notwendig-hinreichenden Mindestschutz des Existenzminimums nach Art. 3 EMRK für die Sicherung des existenziellen Grundbedürfnisses Wohnen und dort insbesondere den Schutz vor schlechter Witterung; eine eigene, dauerhaft zur alleinigen Verfügung stehende Wohnung ist nicht erforderlich, wenn durch den Zugang zu wechselnden Unterkünften Obdachlosigkeit hinreichend sicher vermieden werden kann; auch Sammel- oder Lagerunterkünfte, die ein sicheres, witterungsfestes Obdach bieten und auch sonst eine menschenwürdige Unterkunft gewährleisten, sind nicht ausgeschlossen.
106BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 37.
107Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten am Ort des internen Schutzes, insbesondere der wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, sowie der persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 RL 2011/95/EU zu prüfen, also insbesondere von familiärem und sozialem Hintergrund, Geschlecht und Alter. Nr. 25 UNHCR-Richtlinie 2003 nennt als maßgebliche Faktoren Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse, soziale oder andere Schwächen, ethnische, kulturelle oder religiöse Überlegungen, politische und soziale Verbindungen und Vereinbarkeiten, Sprachkenntnisse, Bildungs-, Berufs- und Arbeitshintergrund und -möglichkeiten sowie ggf. erlittene Verfolgung und deren psychische Auswirkungen. Maßstab für die Zumutbarkeit ist mithin nicht eine „hypothetische) vernünftige Person“ oder eine von individuellen Besonderheiten abstrahierende Betrachtungsweise. In den Blick zu nehmen sind die jeweils schutzsuchende Person und ihre konkreten Möglichkeiten, am Ort des internen Schutzes (über)leben zu können.
108BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300, juris Rn. 31.
109An diesem Maßstab gemessen, ist dem Kläger in der Region Kurdistan Irak möglich, das durch Art. 3 EMRK geforderte Existenzminimum dauerhaft zu sichern.
110Zwar sind die Lebensbedingungen und die humanitären Verhältnisse in der Region Kurdistan Irak allgemein schwierig.
111OVG NRW, Urteil vom 25. Februar 2022 – 9 A 322/19.A –, juris Rn. 89.
112In der Region Kurdistan Irak gibt es jedoch mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Es liegen derzeit keine Erkenntnisse vor, die auf eine systematische Diskriminierung aus Deutschland zurückgeführter Iraker schließen lassen. Vielmehr werden Auslandsaufenthalte und -erfahrungen bei Bewerbungen positiv vermerkt.
113Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. Oktober 2022, S. 24.
114Der Kläger konnte vor Ausreise seinen Lebensunterhalt sicherstellen. Er wird als arbeitsfähiger Mann wieder eine Erwerbsmöglichkeit aufnehmen können, auch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten kommen in Betracht. Ob er neben zusätzlich zu erreichbaren Rückkehrhilfen auch familiäre Unterstützung von seiner Familie erhalten kann, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich. Er spricht kurdisch. Damit kann er sich in der Region Kurdistan Irak verständigen. Das Vorstehende gilt auch, soweit mit dem Bundesverwaltungsgericht,
115vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 –, juris Rn. 19,
116für die Rückkehrprognose die Rückkehr seiner Kernfamilie zu unterstellen ist. In diesem Fall stünden ergänzend (s. nachfolgend) für eine anfängliche Sicherung des Existenzminimums nach Rückkehr die erhöhten Rückkehrhilfen zur Verfügung. Zudem wäre in diesem Fall zu verlangen, dass sein alsbald 18-jähriger Sohn zum Familienerwerb einen Beitrag leiste bzw. von dem Kläger nicht mitzuversorgen wäre.
117Überdies und unabhängig von einer familiären Unterstützung sind für den Kläger erreichbare Rückkehrhilfen für die anfängliche Finanzierung seiner Niederlassung zu berücksichtigen.
118Die Gefahr einer ernsthaften Verletzung von Art. 3 EMRK ist nicht schon dann gegeben, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Für die Frage, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen, sind auch Rückkehrhilfen zu berücksichtigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein.
119BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 –, juris Rn. 25.
120An diesen Maßstäben gemessen kann der Kläger sein Existenzminimum auch ohne familiäre Unterstützung durch Rückkehr- und Reintegrationsprogramme sichern, bis ihm wieder ein eigenständiger Erwerb möglich sein wird.
121Zunächst kann er über die Rückkehrprogramme REAG/GARP Reisekosten, eine finanzielle Unterstützung für die Reise sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe erhalten, dazu zählen: Flug- oder Busticket, Fahrtkosten vom Wohnort zum Flughafen oder (Bus-)Bahnhof, eine Reisebeihilfe (Geld für die Reise) i.H.v. 200 EUR pro Person (100 EUR pro Person unter 18 Jahren), Medizinische Unterstützung während der Reise (zum Beispiel Rollstuhlservice, medizinische Begleitperson) und im Zielland (maximal 2.000 EUR für bis zu drei Monate nach Ankunft) sowie eine einmalige Förderung i.H.v. 1.000 EUR pro Person (500 EUR pro Person unter 18 Jahren, pro Familie maximal 4.000 EUR).
122Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp/.
123Freiwillig Rückkehrende, die mit dem REAG/GARP-Programm ausreisen und eine reguläre Starthilfe erhalten, können im Irak eine ergänzende Reintegrationsunterstützung (Starthilfe-Plus) erhalten,
124vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrationsunterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp, zum Stand ab 1. Januar 2024,
125und das zum 1. April 2022 gestartete JRS-Programm („Joint Reintegration Services“) in Anspruch nehmen. Das JRS-Programm bietet individuelle Reintegrationshilfen für Rückkehrende in ihre Herkunftsländer.
126Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs.
127Das JRS-Programm bietet Kurzzeit- und Langzeitunterstützung (Post Arrival Package/Post Return Package). Die Kurzzeit-Unterstützung ("Post Arrival Package") erfasst zeitlich bis zu drei Tage nach der Ankunft und sachlich eine Flughafenabholung, einen Weitertransport zum Zielort, notwendige Übernachtungen vor der Zielorterreichung, medizinischen Zusatzbedarf sowie die Familienzusammenführung für unbegleitete Minderjährige. Die Langzeit-Unterstützung ("Post Return Package") erfasst zeitlich bis zu zwölf Monaten nach der Ausreise und sachlich eine Wohnungsunterstützung, medizinischen Bedarf bei schweren Erkrankungen, schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen, Beratung zu Arbeitsmöglichkeiten und Hilfestellung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, Unterstützung bei der Gründung eines (eigenen) Geschäftes, eine Familienzusammenführung, rechtliche Beratung und administrative Unterstützung sowie psychosoziale Unterstützung. Die JRS-Hilfen werden grundsätzlich als Sachleistungen gewährt. Die Höhe der Unterstützung orientiert sich an folgenden Beträgen: 2.000 Euro für die freiwillige Rückkehr des/der Hauptantragstellers/in, 1.000 Euro für jedes weitere Familienmitglied, 615 Euro als Kurzzeitunterstützung innerhalb von 3 Tagen nach Ankunft und 1.000 Euro für rückgeführte Personen.
128Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs, zum Stand ab 1. Januar 2024.
129Für das Herkunftsland Irak werden abhängig von den individuellen Bedürfnissen der rückkehrenden Person folgende Leistungen angeboten: Inempfangnahme am Flughafen, individuelle Betreuung, Unterstützung beim Aufbau eines kleinen Unternehmens oder bei der Jobsuche, Business Start-up Training und Jobmessen, Unterstützung bei der Suche nach einem passenden Bildungspfad oder einer Ausbildung, Weitervermittlung an Gesundheitseinrichtungen, Unterstützung bei der Suche nach Kontaktpersonen, Administrative Unterstützung, Informationen hinsichtlich des Landes. ETTC´s (European Technology and Training Centre) Hauptbüro und Trainingcenter ist in Erbil, weitere Zweigstellen befinden sich in Sulaimaniya, Dohuk, Kirkuk und Bagdad.
130Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/iraq/.
131Zur Umsetzung betreibt die Internationale Organisation für D. (IOM) der Vereinten Nationen Büros in Erbil, Sulaimaniya und Bagdad, die an festgelegten Wochentagen zu festen Zeitfenstern in der Landessprache telefonisch erreichbar sind.
132Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/iraq.
133Diese Rückkehrhilfen sind zur Überzeugung des Gerichts ausreichend, eine Rückkehr, Wohnungssuche und Aufnahme einer Beschäftigung zu erreichen. Anstrengungen, Mühen und auch die Überwindung einzelner Fehlschläge hierzu können verlangt werden.
134Ferner ist auch im Hinblick auf die allgemeinen Verhältnisse in Kurdistan Irak feststellbar, dass eine Niederlassung für den Kläger sich dort als zumutbar erweist. Es besteht dort kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, der mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einhergeht, dass der Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in diesem Gebiet der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt wäre. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf die zutreffenden und aktuellen Ausführungen in den Urteilen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen –
135vgl. beispielhaft OVG NRW, Urteile vom 10. Mai 2021 – 9 A 570/20.A –, vom 12. Oktober 2021 – 9 A 549/18.A – und vom 22. Oktober 2021 – 9 A 2152/20.A – und vom 25. Februar 2022 – 9 A 322/19.A –, jeweils juris –,
136Bezug genommen, der sich das Gericht anschließt. Soweit es in Erbil am 15. Januar 2024 zu Anschlägen gekommen ist, zu denen sich der Iran bekannt hat,
137vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/iran-raketen-syrien-irak-100.html.,
138vermag dieses singuläre Ereignis eine andere Bewertung nicht zu rechtfertigen.
139Der Umstand, dass das türkische Militär insbesondere im Norden von Dohuk Luftangriffe gegen Stellungen der PKK fliegt,
140vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation – Irak, Stand: 9. Oktober 2023, S. 43,
141führt ebenfalls nicht dazu, dass dem Kläger eine Niederlassung wegen des Vorliegens eines innerstaatlichen Konfliktes in der Region Kurdistan Irak nicht zumutbar wäre. Unbeschadet dessen, dass der Kläger bereits nicht gezwungen ist, sich in der Region Dohuk niederzulassen, bestünde für ihn auch dort bereits deswegen keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt, da dort kein bewaffneter Konflikt festzustellen ist, dessen Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.
142Die vorgenannte Lage erfasst weder die Region Kurdistan Irak insgesamt noch die gesamte Provinz Dohuk. Zudem ist die Zahl der auf diese Angriffe zurückzuführenden zivilen Opfer sehr gering.
143vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Irak, Stand: 9. Oktober 2023, S. 44, 49.
144Nach alledem war die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, ohne dass dem Bundesamt insoweit ein Ermessen zustand. Die relevanten Punkte der weggefallenden Verfolgungsgefahr hatte das Bundesamt im Widerrufsbescheid angesprochen.
145II. Soweit der Klageantrag auf die Aufhebung des gesamten Widerrufsbescheids vom 3. April 2024 und damit auch auf eine Aufhebung der Ziffern 2. und 3. des angegriffenen Bescheides gerichtet ist, hat die Klage ebenfalls keinen Erfolg. Sie ist insoweit unzulässig. Die auf die reine Aufhebung gerichtete ausdrücklich erhobene Anfechtungsklage des anwaltlich vertretenen Klägers ist in Bezug auf die Ziffern 2. und 3. des Bescheides vom 3. April 2024 nicht statthaft. Der Kläger kann mit der hier beantragten Aufhebung der getroffenen Feststellungen eine – letztlich begehrte – Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. die Feststellung eines Abschiebungsverbots nicht erreichen. Statthafte Klageart hierfür ist vielmehr die insoweit vorrangige Verpflichtungsklage. Unabhängig davon wäre ein entsprechender Verpflichtungsantrag aus den vorstehenden Ausführungen zu § 3e AsylG unbegründet.
146III. Die Kostenentscheidung zulasten des unterlegenen Klägers beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und der Ausspruch der Gerichtskostenfreiheit auf § 83b AsylG.
147Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 und 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2, 108 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung.
148Rechtsmittelbelehrung:
149Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten die Zulassung der Berufung oder mündliche Verhandlung beantragen; wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.
150Belehrung für den Fall, dass die Zulassung der Berufung beantragt wird:
151Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids schriftlich zu beantragen. Über den Antrag, der den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen muss, entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster. In dem Antrag sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1521. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1532. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1543. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
155Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
156Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
157Belehrung für den Fall, dass mündliche Verhandlung beantragt wird:
158Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu stellen. Wird der Antrag rechtzeitig gestellt, gilt der Gerichtsbescheid als nicht ergangen; sonst wirkt er als rechtskräftiges Urteil.
159Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elek-tronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.