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1. Das Bundesamt ist von Unionsrechts wegen befugt, einen internationalen Schutz betreffenden Antrag selbstständig zu prüfen, wenngleich dem Antragsteller zuvor durch einen anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt wurde (s. EuGH Rs. C 753/22).
2. Eine solche eigenständige Entscheidung darf in Einzelfällen ergehen, ohne dass die Behörden des Zuerkennungsstaats um Übermittlung eventuell dort (noch) vorliegender Informationen, die zur dortigen Zuerkennung geführt haben, ersucht werden, wenn die dortigen Unterlagen, sofern sie noch vorhanden sein sollten, im Lichte des vom Europäischen Gerichtshof aufgezeigten Zwecks des Informationsaustauschs objektiv ungeeignet erscheinen, die entscheidungserhebliche Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich zu vervollständigen. Dies kommt in Betracht, wenn dem Ausländer dort der subsidiäre Schutzstatus jedenfalls vor einem erheblichen Zeitraum zuerkannt wurde und er nach seinen Angaben während des gesamten Verfahrens in der Bundesrepublik Deutschland keine individuellen Verfolgungsgründe und keine individuellen Umstände für einen ernsthaften Schaden vorgetragen sowie in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, solche auch nicht im früheren Verfahren vor dem anderen Mitgliedstaat geäußert haben.
3. Im Zentrum der Prüfung internationalen Schutzes stehen nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie RL 2011/95/EU die Person des Klägers, sein Vorbringen und die von ihm vorgelegten Dokumente sowie die Tatsachen im Herkunftsland im entscheidungserheblichen Zeitpunkt.
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger den auf Anerkennung als Asylberechtigten gerichteten Antrag zurückgenommen hat.
Die unter Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes vom 1. April 2022 angeordnete Abschiebungsandrohung und das unter Ziffer 6 des vorerwähnten Bescheides angeordnete befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt 3/4 und die Beklagte trägt 1/4 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweiligen Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Der Kläger ist nach seinen Angaben in Zakho (Provinz Dohuk) im Irak geboren, muslimischen Glaubens und spricht arabisch, kurdisch und türkisch. Als Geburtsdatum benennt er den N03 1978. In den von ihm vorgelegten Dokumenten der griechischen Behörden ist sein Geburtsdatum mit dem N04 1978 angegeben. Für den Unterschied hält er ein Missverständnis ursächlich. Die nach seinen Angaben bei seiner Schwester im Irak gelassenen irakischen Personaldokumente legte er, auch nach Aufforderung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) am 12. Dezember 2017, nicht vor. Am August 2017 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine Ehefrau, die am N05 1988 in Mossul geborenen X., und seine vier Kinder halten sich mittlerweile ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland auf. Seine am N06 2004 geborene Tochter M. verfügt über eine bis zum N07 2024 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz. Seine Ehefrau und weiteren Kinder – der am N08 2014 geborene D., die am N09 2010 geborene B. und der am 28. April 2007 O. – sind geduldet. Ein Bruder von ihm lebt in Q..
3In seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 12. Dezember 2017 gab er an, zuletzt habe er in Zakho im Stadtteil Salahaddin im Haus seines Bruders gewohnt, mit seiner Frau, zwei Söhnen und zwei Töchtern. Die Schule habe er bis zur vierten Klasse besucht. Er habe Autoteile verkauft. Er sei Autoelektriker und habe diesen Beruf auch ausgeübt. Den Irak habe er im September 2015 verlassen. Zu der Zeit sei der IS nach Shingal gekommen. Das sei in der Nähe von Zakho. Sie hätten dort viel zu viel Angst gehabt. Kurden hätten seit vielen Jahren Probleme von allen Seiten; durch Saddam, durch Iraker, durch Iran und den IS. Es gebe noch immer Konflikte dort. Er sei über Griechenland gereist, dort habe er sich sechs bis acht Monate aufgehalten. Als er dort im Sommer 2016 die Zuerkennung erhalten habe, sei er nach Deutschland gekommen. Sein in Q. lebender Bruder habe ihm bei den Behörden geholfen. Sein Bruder habe einen Supermarkt in Q.. Dort habe er arbeiten wollen. Die Ausländerbehörde hätte ihm dies nicht erlaubt, weil er kein griechisches Dokument gehabt habe, das ihm erlaubte, in Deutschland zu arbeiten. Er habe erfolglos versucht, dies in Griechenland zu erhalten. Das deutsche Konsulat in Griechenland habe ein Visum für die Arbeit bei seinem Bruder abgelehnt. Dann sei er wieder nach Deutschland gekommen und ungefähr ein bis zwei Monate geblieben. Dann sei er in den Irak gegangen. Dorthin sei er auch in den Jahren 2016 und 2017 gereist, um seine Kinder zu sehen und nach Deutschland zu bringen. Er habe sich wieder in Zakho aufgehalten. Dort gebe es kein Leben, seine Frau und seine Kinder seien damals in die Türkei geflohen. Sie seien nun in Serbien. Ihm sei es seelisch nicht gut gegangen. Er sei immer von Düsseldorf in den Irak geflogen. Dort lebe noch eine Schwester, und ein Bruder sowie seine Großfamilie. In Griechenland gebe es keine Lebensqualität. Dort gebe es nur teure Krankenhäuser, die Ärzte seien teuer und es gebe keine Krankenversicherung, auch keine Arbeit. Sein Bruder in Deutschland habe ihm immer per Western Union Geld überwiesen. Sonst habe er einmal im Monat Oliven gepflückt.
4Ausweislich der Stempel in seinem griechischen Reisepass (Beiakte Bl. 64 der Beiakte Heft 1) reiste er
5am 22. Mai 2016 über den internationalen Flughafen Erbil in den Irak ein,
am 28. Juni 2016 über den internationalen Flughafen Al-Sulaimaniya aus dem Irak aus,
am 31. Juli 2016 über den internationalen Flughafen Erbil aus dem Irak aus,
am 7. September 2016 über den internationalen Flughafen Erbil in den Irak ein,
am 1N08 2016 über den internationalen Flughafen Erbil aus dem Irak aus,
am 22. Mai 2017 über den internationalen Flughafen Erbil in den Irak ein und
am 31. Juni 2016 über den internationalen Flughafen Erbil aus dem Irak aus.
Nach seiner Rückkehr in den Irak gefragt trug er vor: „Man kann im Irak arbeiten und Geld verdienen, aber man ist mit dem Leben da unglücklich. Geld ist nicht alles. Ich möchte auch in Deutschland arbeiten und dabei glücklich sein.“
14In Griechenland erhielt der Kläger am 9. November 2015 nach Aktenlage internationalen Schutz (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) und zwar subsidiären Schutz („subsidiary protection“, Bl. 115 der Beiakte Heft 1).
15Im Rahmen eines sog. Dublinverfahrens hatte das Bundesamt durch Bescheid vom 13. Juni 2018 (N10 - 438) neben der Unzulässigkeitsentscheidung (Ziff. 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorlägen (Ziff. 2) und dem Kläger die Abschiebung nach Griechenland angedroht sowie ausgeführt, in den Irak dürfe er nicht abgeschoben werden (Ziff. 3). Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Aachen mit Urteil vom 18. Mai 2020 – 10 K 2336/18.A – den Bescheid des Bundesamts vom 13. Juni 2018 mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3 getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden dürfe, aufgehoben. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hatte die Beklagte durch Urteil vom 2. September 2021 (15a K 1150/21.A) auf eine sog. Untätigkeitsklage verpflichtet, über den auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hilfsweise auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise auf Feststellung von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG) gerichteten Antrag des Klägers vom 12. Dezember 2017 zu entscheiden.
16Mit Bescheid vom 1. April 2022 (N10 - 438) erkannte das Bundesamt dem Kläger daraufhin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziff. 1.), lehnte seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigten ab (Ziff. 2), erkannte ihm den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziff. 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorlägen (Ziff. 4), forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides bzw. rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, drohte ihm für den fruchtlosen Fristablauf die Abschiebung in den Irak oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat an (Ziff. 5) und ordnete ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreiseverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG an (Ziff. 6). Für die Begründung des Bescheides wird auf Blatt 456 bis 466 der Beiakte Heft 1 verwiesen. Der Bescheid wurde dem Kläger am 6. März 2023 gegen Empfangsbestätigung in seiner Erstaufnahmeeinrichtung zugestellt (Blatt 155 Beiakte Heft 1).
17Hiergegen hat der Kläger am 21. April 2022 die vorliegende Klage erhoben. Zu deren Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, er dürfe weder nach Griechenland noch in den Irak abgeschoben werden. Dies folge aus den Gerichtsentscheidungen im Dublinverfahren. Der Bescheid vom 13. Juni 2018, wonach der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden dürfe, habe zu Recht weiterhin Bestand. An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in den Irak bestünden Zweifel, weil dem Kläger in Griechenland der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden sei. Der auf dieser Grundlage von den griechischen Behörden erteilte Aufenthaltstitel sei zeitlich nicht beschränkt. Ein Ausländer, dem in einem Mitgliedsstaat der EU der subsidiäre Schutz im Sinne des § 4 AsylG zuerkannt worden sei, dürfe nicht in das Land abgeschoben werden, in dem ihm der ernsthafte Schaden drohe, der die Schutzzuerkennung trage. Im Hinblick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs – C 753/22 – liege eine eingeschränkte Bindungswirkung der Schutzanerkennung in einem anderen EU-Staat vor. Vor einer danach möglichen eigenständigen, individuellen, vollständigen und aktualisierten Prüfung des Asylgesuchs sei die Behörde verpflichtet, unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedsstaates einzuleiten, die zuvor eine Schutzzuerkennung ausgesprochen habe. Hierzu sei das Verfahren an das Bundesamt zurückzuverweisen, damit ein solcher Informationsaustausch durchgeführt werden könne.
18Der Kläger, der zunächst mit Klageerhebung noch die Anerkennung als Asylberechtigter begehrt und in der mündlichen Verhandlung seine Klage beschränkt hatte, beantragt,
19die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. April 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG zuzuerkennen,
20hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen,
21und weiter hilfsweise Abschiebungsverbote hinsichtlich Irak in der Person des Klägers nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
22Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
23die Klage abzuweisen.
24Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids. Soweit in der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in dem vormaligen Bescheid vom 13. Juni 2018 klargestellt worden sei, dass der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden dürfe, was das Verwaltungsgericht Aachen nicht aufgehoben habe, habe dieser Satz lediglich klarstellende Funktion, weil in der dem Bescheid vom 13. Juni 2018 zugrundeliegenden Unzulässigkeitsentscheidung lediglich eine Rückkehr nach Griechenland geprüft worden sei, nicht hinsichtlich des Herkunftslandes Irak.
25Die Kammer hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 16. Februar 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Der Kläger hatte in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit, zu seinen Asylgründen vorzutragen. Für die Einzelheiten wird auf die Niederschrift Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts verwiesen.
26Entscheidungsgründe:
27Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Einzelrichter. Das Gericht konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten entscheiden, weil diese gemäß § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in der ordnungsgemäßen Ladung darauf hingewiesen wurde, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
28I. Das Verfahren war einzustellen, soweit der Kläger die Klage beschränkt und dadurch konkludent zurückgenommen,
29vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30. Juni 2006 – 1 L 4/06 –, juris Rn. 55; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 6. März 2024 – 15a K 2897/22.A –; Brandt, in Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 5. Auflage 2023, Kapitel P. Rn. 5.
30hat (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO). In die Rücknahmeerklärung nach Stellung der Anträge hatte die Beklagte schriftsätzlich eingewilligt.
31II. Die Ziffern 5. und 6. des angefochtenen Bescheids vom 1. April 2022 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
32Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz in seiner aktuellen Fassung. Im Rahmen der asylrechtlichen Streitigkeit hat das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen.
33Rechtsgrundlage für die Abschiebungsandrohung (Ziff. 5 des angefochtenen Bescheids) ist § 34 Abs. 1 AsylG. Danach erlässt das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist, der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen und der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich (§ 34 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden (§ 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
34Unabhängig von der Frage nach dem Vorliegen weiterer Voraussetzungen liegt die in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG normierte notwendige Bedingung für den Erlass der Abschiebungsandrohung nicht vor. Danach darf der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Diese, hier auf die unionsrechtliche Anforderung, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen aus Art 5 Buchst a und b der Richtlinie 2008/115/EG in jeder Lage des Verfahrens zu beachten, zurückgehende Prüfung hat das Bundesamt vorzunehmen.
35Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26. Januar 2024 – 15a K 4469/22.A –, juris Rn. 77.
36Das Bundesamt hat sich nicht damit auseinandergesetzt, dass der Kläger sich mit seiner Kernfamilie, von der jedenfalls eine seiner Töchter über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt, in einer Wohnung aufhält und mit ihnen zusammenlebt, dass sie ihm emotionalen Halt geben und sie nach seinen Worten ihr Leben miteinander teilen.
37Der bei der Auslegung von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG zu berücksichtigende Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG verlangt die Berücksichtigung von familiären Belangen auch unter volljährigen Familienangehörigen. Dies folgt aus dem insoweit offenen Wortlaut „die familiären Bindungen“ sowie dem Zweck des Norminhalts und dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit ("effet utile").
38Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26. Januar 2024 – 15a K 4469/22.A –, juris Rn. 36-56.
39Die entgegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG unterbliebene Prüfung der familiären Bindungen führt darüber hinaus nicht zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.
40Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteile vom 26. Januar 2024 – 15a K 4469/22.A –, juris Rn. 78, und vom 21. Juli 2023 – 6a K 2402/21.A –, juris Rn. 23; VG Hamburg, Urteil vom 14. Juli 2023 – 8 A 490/21 –, juris Rn. 62; VG Düsseldorf, Urteil vom 3. Juli 2024 – 22 K 3139/23.A –, juris Rn. 105, m.w.N. zum Streitstand; a.A.: VG Gelsenkirchen, Urteile vom 13. Juni 2023 – 9a K 250/21.A –, juris Rn. 20, vom 11. Juni 2024 – 9a K 4069/21.A –, juris, vom 21. Juni 2024 – 9a K 589/21.A –, juris, und vom 15. August 2023 – 12a K 2687/19.A –, juris Rn. 19 ff.; offengelassen: Sächs. OVG, Urteil vom 2. August 2023 – 6 A 9/18.A –, juris Rn. 48, m.w.N. zur erstinstanzlichen Rechtsprechung, die insbesondere im Hinblick auf die "familienzusammenbetrachtende Rückkehrprognose" ein Abschiebungsverbot ablehnt, VG Leipzig, Urteil vom 19. Juni 2023 – 1 K 496/22.A –, juris Rn. 30.
41Die auf die Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 AufenthG gestützte Anordnung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots für 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung unter Ziff. 6 des angefochtenen Bescheids nimmt an der Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung teil
42III. Im Übrigen ist der Bescheid des Bundesamtes vom 1. April 2022 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ihm stehen die (hilfsweise) begehrten Ansprüche aus § 3 Abs. 1 und 4 AsylG, § 4 Abs. 1 AsylG und § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht zu.
43Das Bundesamt durfte eigenständig über den Asylantrag und ohne Bindung an die griechische Zuerkennungsentscheidung aus November 2015 entscheiden.
44Eine automatische Anerkennung von Zuerkennungsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten, wie sie unionsrechtlich zulässig von Mitgliedstaaten vorgesehen werden kann, ist in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig nicht vorgesehen.
45Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 69.
46Das Bundesamt ist von Unionsrechts wegen befugt, den internationalen Schutz betreffenden Antrag des Klägers selbstständig zu prüfen, wenngleich griechische Behörden ihm internationalen Schutz zuerkannt hatten. Die Prüfung des Bundesamtes hat einzeln, objektiv und unparteiisch anhand genauer und aktueller Informationen zu erfolgen. Hierbei sind alle mit dem Herkunftsland des Klägers verbundene und zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevanten Tatsachen, die maßgeblichen Angaben des Klägers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und persönlichen Umstände zu berücksichtigen. Dies folgt aus Art. 10 Abs. 3, Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU i.V.m. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU.
47Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 72 f.
48Diesen Anforderungen ist das Bundesamt, das den Kläger – wie das Gericht in der mündlichen Verhandlung informatisch – persönlich angehört hat, gerecht geworden.
49Die vorliegende Entscheidung des Gerichts über den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. den hilfsweise gestellten Antrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes konnte ergehen, ohne dass die griechischen Behörden um Übermittlung eventuell dort (noch) vorliegender Informationen, die zur dortigen Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus geführt hatten, ersucht wurden.
50Für eine Entscheidung der Behörden eines Mitgliedstaats über einen Antrag auf internationalen Schutz, der dem Antragsteller zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zuerkannt wurde, hat der Europäische Gerichtshof aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabsatz 1 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Verpflichtung der zuständigen Behörde, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, abgeleitet, unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats einzuleiten, die den Antragsteller zuvor als Flüchtling anerkannt hat.
51Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 77 f.
52Diese Pflicht zum Informationsaustausch ist nach den Worten des Europäischen Gerichtshofs, auch in anderen Sprachfassungen, zwar auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bezogen,
53vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 78, „[…] the information in its possession that led to refugee status being granted.“, sowie „[…] un échange d’informations avec l’autorité compétente de l’État membre ayant précédemment octroyé le statut de réfugié au même demandeur.“, Unterstreichungen nur hier,
5455
soll jedoch im Rahmen des Verfahrens zur Gewährung – nicht auf die Flüchtlingseigenschaft begrenzten – internationalen Schutzes die mit dem neuen Antrag befasste Behörde in die Lage versetzen, ihre Überprüfungen in voller Kenntnis der Sachlage vorzunehmen.
56Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 79, („[…] under the international protection procedure.“, „[…] dans le cadre de la procédure de protection internationale.“, Unterstreichungen nur hier).
57Die bei dieser Prüfung nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigenden und vom Europäischen Gerichtshof herausgehobenen Umstände sind neben den mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie 2011/95/EU) die den Antragsteller/Kläger selbst betreffenden Umstände, seine Angaben und von ihm vorgelegten Dokumente (Art. 4 Abs. 3 Buchst. b) der Richtlinie 2011/95/EU), seine individuelle und persönlichen Umstände (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) der Richtlinie 2011/95/EU), sowie seine Aktivitäten seit Verlassen des Herkunftsstaates (Art. 4 Abs. 3 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU). Hiernach stehen die Person des Klägers, sein Vorbringen und die von ihm vorgelegten Dokumente sowie die Tatsachen im Herkunftsland im entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Zentrum der Prüfung.
58Im Hinblick auf diese bei jeder Einzelfallprüfung individuell und aktuell zu berücksichtigenden Umstände im Zeitpunkt der entscheidungserheblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) konnte im Lichte des von dem Europäischen Gerichtshofs hervorgehobenen Zwecks, die Überprüfung auf eine volle Kenntnis der Sachlage zu stützen, im vorliegenden Verfahren von einer Anforderung weiterer Unterlagen von den griechischen Behörden abgesehen werden. Die aus November 2015 stammenden und mittlerweile neun Jahre alten Unterlagen, sofern sie noch vorhanden sein sollten, erscheinen im Lichte des vom Europäischen Gerichtshof aufgezeigten Zwecks des Informationsaustauschs objektiv ungeeignet, die entscheidungserhebliche Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich zu vervollständigen. Ihre Anforderung stellte vorliegend, auch im Lichte des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, eine bloße Förmelei dar und wäre mit dem Grundsatz der zügigen Verfahrensbearbeitung nicht zu vereinbaren. Denn nach dem 18. Erwägungsrund der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes liegt es im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird. Dem folgend stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU sicher, dass das Prüfungsverfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird. Zeitlich nicht absehbare Verzögerungen durch einen in der Sache offensichtlich ungeeigneten Informationsaustausch wären damit nicht überein zu bringen. In diesem Licht sind die Maßgaben des Europäischen Gerichtshofs für die mit dem erneuten Antrag befasste Behörde zu sehen, einen Informationsaustausch mit der Behörde, die zuvor die Zuerkennung ausgesprochen hat, „unverzüglich“, einzuleiten.
59Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 78, („[…] as soon as possible […]“, „[…] dans les meilleurs délais […]“.
60Dieser Maßgabe der Unverzüglichkeit kann vorliegend offensichtlich keine Rechnung mehr getragen werden. Zudem brächte ein Informationsaustausch inhaltlich bei Berücksichtigung der von dem Kläger (vgl. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU) vorgetragenen Umstände offensichtlich nichts entscheidungserhebliches für die Sachlage im hier maßgeblichen Zeitpunkt zu Tage. Sie könnten nicht der sachgerechten Vervollständigung der Sachlagenkenntnisse dienen.
61Die griechischen Behörden hatten dem Kläger bereits im November 2015 den subsidiären Schutzstatus zuerkannt. Dieser hat auf die Frage des Einzelrichters in der mündlichen Verhandlung nach seinem Vorbringen und dem Verfahrensablauf in Griechenland angegeben, bei der Befragung in Griechenland habe er in der Sache dasselbe gesagt, wie vor dem Bundesamt. Die griechischen Behörden hätten ebenso nach dem IS gefragt und beispielsweise danach, wie weit Shingal von Zahko entfernt sei. Eine selbst erlebte Bedrohung habe er weder erlebt noch vor den griechischen Behörden geschildert.
62Demgegenüber wurde der Kläger zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal sowohl durch das Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung angehört und hatte Gelegenheit im Klageverfahren, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, vorzutragen. Der Zuerkennung subsidiären Schutzes lagen – nach seinem eigenen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung – keine individuellen Gefahrenumstände zugrunde, die im Wege eines Informationsaustauschs zu Tage treten könnten und für die vorliegende Entscheidung von Relevanz wären. Die für die griechische Entscheidung maßgeblichen neun Jahre zurückliegenden Umstände tragen für die vorliegende Entscheidung nichts aus. Dies mag in Fällen individueller Verfolgung anders zu beurteilen sein, insbesondere soweit Antragsteller ihr behauptetes Verfolgungsschicksal belegende Nachweise, wie Dokumente oder Objekte, im früheren Verfahren des anderen Mitgliedstaats vorgelegt haben, die im dortigen Verfahren verblieben sind. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.
63Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus für aus Zakho stammende irakische Staatsangehörige im November 2015 auch nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts vertretbar erscheint, was in die vorliegende Berücksichtigung eingeflossen ist, aber ebenso dem erheblichen Zeitablauf und der Zurückdrängung des IS auch südlich von Zakho, im Norden Ninives, (s. dazu nachstehend) Rechnung tragen muss.
64Dies vorausgeschickt hat das Bundesamt die Anträge des Klägers zu Recht abgelehnt.
651. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG. Sein Vortrag lässt keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung im Rückkehrfall erkennen.
66Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a - 3d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.
67Der Kläger hat keine individuelle Verfolgung vorgetragen.
682. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG.
69Ein Anspruch aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 2 AsylG steht ihm nicht zu. Nach diesen Regelungen ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden im Sinne der beiden vorerwähnten Nummern gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1) oder Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2). Der Vortrag des Klägers zeigt keinen in diesem Sinne ihm drohenden ernsthaften Schaden auf.
70Ein Anspruch aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG steht ihm ebenso nicht zu. In der Region Kurdistan Irak sind weder sein Leben noch die Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ernsthaft und individuell bedroht. Hierzu ist auf die Situation im Herkunftsort bzw. in der Herkunftsregion des Klägers abzustellen, hier auf die Situation in der Region Kurdistan Irak. Der Konflikt braucht nicht landesweit zu bestehen.
71Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 13.
72Der IS ist zwar offiziell besiegt, aber weiterhin aktiv und stellt eine Bedrohung dar.
73Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 5. Juni 2024, S. 18; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 18.
74Trotz seiner stark geschwächten Kapazitäten führt der IS weiterhin Operationen durch, insbesondere in ländlichen Gebieten im Norden und Westen des föderalen Irak, wo die Präsenz der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) begrenzt ist. Eine grundlegende geografische Verteilung der IS-Kämpfer lässt sich aus deren Operationen ableiten, die sie gegen die Sicherheitskräfte und die PMF-Milizen durchführen.
75Vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 24.
76Nach den Angaben des Auswärtigen Amts führen die Türkei Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak und die iranischen Sicherheitskräfte Luftschläge gegen kurdische Gruppierungen im Nordirak aus. Berichte über zivile Opfer dieser Angriffe blieben jedoch vereinzelt.
77Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 5. Juni 2024, S. 6 und vom 28. Oktober 2022, S. 14; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 44 f.; EUAA, Country Guidance: Iraq, Common analysis and guidance note, June 2022, S. 218.
78Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Sitz in den Bergen des Nordiraks verübte ebenfalls mehrere Anschläge in der Kurdistan Region Irak, bei denen auch mehrere Angehörige der kurdischen Sicherheitskräfte (Peschmerga) getötet wurden.
79Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 18.
80Eine permanente Gefährdung der Bevölkerung in der Region Kurdistan Irak ist damit insgesamt jedoch nicht festzustellen.
81Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteile 26. Januar 2024 – 15a K 978/22.A –, und vom 18. Oktober 2023 – 15a K 925/20.A –, Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2023 – 15a K 689/20.A –.
82Dabei kann offen bleiben, ob derzeit im Irak bzw. in der Region Kurdistan Irak ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht. Es fehlt jedenfalls an einer hinreichenden individuellen Bedrohung des Klägers infolge eines solchen Konflikts.
83Unabhängig davon genügt für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung nicht, dass ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt zu einer permanenten Gefährdung der Bevölkerung führt. Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr kann sich jedoch individuell verdichten (Gefahrverdichtung). Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann in erster Linie auf gefahrerhöhenden persönlichen Umständen beruhen. Dies sind solche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen als andere. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Ausländer als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Im Ausnahmefall kann eine ernsthafte individuelle Bedrohung von Leib oder Leben aber auch durch eine allgemeine Gefahr hervorgerufen sein, die sich in besonderer Weise verdichtet bzw. zugespitzt hat. Davon ist auszugehen, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.
84Vgl. EuGH, Urteile vom 1N09 2009 – Rs. C-465/07 (Elgafaji) –, juris Rn. 43, und vom 30. Januar 2014 – Rs. C-285/12 (Diakité) –, juris Rn. 30 ff.; BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 –, juris Rn. 32, sowie vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 –, juris Rn. 24.
85Für die Region Kurdistan liegt eine solche verdichtete Gefährdungslage nicht vor. Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den IS erheblich verbessert, wenn sie auch überwiegend instabil bleibt.
86Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteile 26. Januar 2024 – 15a K 978/22.A –, und vom 18. Oktober 2023 – 15a K 925/20.A –, Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2023 – 15a K 689/20.A –; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatsdokumentation Irak, 9. Oktober 2023, S. 43 ff.
87Individuelle gefahrerhöhende Umstände im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
88Letztlich sind damit auch unter ernsthafter Berücksichtigung der Zuerkennung subsidiären Schutzes zugunsten des Klägers durch die griechischen Behörden im November 2015 bei individueller, aktueller und vollständiger Prüfung keine stichhaltigen Gründe für einen ihm im Irak drohenden ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 AsylG bzw. Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU festzustellen.
893. Der auf die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in der Person des Klägers hinsichtlich Irak gerichtete weitere Hilfsantrag, ist ebenfalls unbegründet.
90Diese Prüfung der nicht unionsrechtlich determinierten und auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote gerichtete Anspruchsgrundlagen aus dem Recht des Mitgliedstaats,
91vgl. dazu VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26. Januar 2024 – 15a K 4469/22.A –, Rn. 103, zu § 60 Abs. 5 AufenthG
92erfolgt ohne Berücksichtigung der griechischen Zuerkennungsentscheidung vom 9. November 2015. Vorliegend geht es nicht um die Prüfung internationalen Schutzes.
93Der Maßgabe unter Ziffer 3 des in dem im Rahmen des Dublin-Verfahrens ergangenen Bescheids vom 13. Juni 2018, dass der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden durfte, kommt bei der vorliegenden Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG keine Bedeutung zu. Diese Maßgabe war im Rahmen der damaligen Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG lediglich darin begründet, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Irak gar nicht geprüft waren. Der vorliegend angefochtene Bescheid unternimmt diese Prüfung gerade unter der hier zu überprüfenden Ziffer 4.
94Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies setzt das Bestehen einer individuellen und konkret drohenden Gefahr voraus. Eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Rückkehrfall landesweit drohende individuelle Gefahr in diesem Sinne hat der Kläger weder vorgetragen noch ist sie sonst ersichtlich.
95Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist nicht festzustellen. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung eines Ausländers ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) insbesondere dann mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr („real risk“) der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre.
96Vgl. EGMR, Urteile vom 23. März 2016, F.G. gegen Schweden, Nr. 43611/11, Rn. 110, m.w.N., und vom 28. Juni 2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u.a., Rn. 212.
97Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann sich in erster Linie aus individuellen Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann aber ausnahmsweise auch aus der allgemeinen Sicherheits- oder humanitären Lage im Herkunftsland folgen, wobei dies nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind.
98Vgl. EGMR, Urteile vom 29. Januar 2013, S.H.H. gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 60367/10, Rn. 75, und vom 28. Juni 2011, a.a.O., Rn. 218, 241, 278: „in very exceptional cases“ bzw. „in the most extreme cases“; BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 22 ff.
99Erforderlich ist die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung; eine hypothetische, auf bloßen Spekulationen gründende Gefahr genügt nicht.
100Vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 15. April 2021 – A 13 K 5632/27 –, juris S. 10 f. UA, m.w.N.
101Das ist mit Blick auf die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen im Abschiebungszielstaat nur dann der Fall, wenn ein sehr hohes Gefährdungsniveau vorliegt. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall im Sinne der Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverwaltungsgerichts vor, in dem eine Abschiebung eine Verletzung von Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein Mindestmaß an Schwere ("minimum level of severity") aufweisen. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen.
102Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2021 – 9 A 570/20.A –, juris Rn. 380 ff., mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR und des BVerwG.
103Bei der Feststellung, ob schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die im Einzelfall zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt, ist eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen.
104Die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr sind unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat der Abschiebung als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen.
105Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2021 – 9 A 570/20.A –, juris Rn. 343.
106Derartige außergewöhnliche Umstände liegen im Fall des Klägers nicht vor. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wird er zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) sein Existenzminimum im Irak sicherstellen können.
107Die Lebensbedingungen und die humanitären Verhältnisse sind im gesamten Irak, aber auch in der Autonomen Region Kurdistan-Irak, ernst.
108Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 5. Juni 2024, S. 28; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 54 ff.; EASO, Country of Origin Report, Iraq – Key Socio-economic Indicators für Baghdad, Basrah and Sualymaniya, November 2021, S. 24 ff.
109Die wirtschaftliche Lage ist im gesamten Irak allgemein schwierig. Der Staat kann die Grundversorgung der Bevölkerung nicht durchgehend und auch nicht in allen Landesteilen gewährleisten. Die Corona‑Pandemie und der Ölpreisverfall haben die wirtschaftliche und finanzielle Situation verschlechtert und zu einer prekären Lage für einen Teil der Bevölkerung beigetragen.
110Vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 5. Juni 2024, S. 18, 28. Oktober 2022 und vom 25. Oktober 2021, S. 5, 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 9. Oktober 2023, S. 260 und vom 15. Oktober 2021, S. 158; EASO, Country of Origin Report, Iraq – Key Socio-economic Indicators für Baghdad, Basrah and Sualymaniya, November 2021, S. 24 ff.
111In der Region Kurdistan Irak herrscht wegen einer Dürre, im Zusammenspiel mit Staudämmen in Iran, Wasserknappheit. Die Regierung der Region Kurdistan Irak hat im Jahr 2021 deswegen zusätzliche 1,7 Millionen Dollar (2,5 Mrd IQD) für Trinkwasser bereitgestellt. Die Stromversorgung unterliegt erheblichen Schwankungen. Die in 2023 benannte Stromerzeugung von etwa 8.500 MW kann den Bedarf von rund 14.000 MW nicht decken. Gleichzeitig steigt die Stromnachfrage weiter an. Sie ist nur für bis zu 20 Stunden pro Tag gegeben.
112Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 9. Oktober 2023, S. 261 f.
113Die Erwerbsquote in der Herkunftsprovinz des Klägers, Dohuk, wurde im Jahr 2021 auf 39,6 Prozent geschätzt und die Arbeitslosigkeit im Jahr 2021 auf 24,1 Prozent. Die Arbeitsmarktbeteiligung in Dohuk Stadt lag 2018 bei 58,5 Prozent bei den Männern und 11,7 Prozent bei den Frauen. Rund 1 Prozent der Bevölkerung des Gouvernements Dohuk war 2023 von akuter Armut betroffen und 2,9 Prozent armutsgefährdet. Etwa 2,67 Prozent der Bevölkerung Dohuks (rund 62.500 Personen) waren mit Stand September 2023 unzureichend ernährt. Für rund 9,33 Prozent (rund 218.600 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch. Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Dohuk im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten.
114Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 9. Oktober 2023, S. 263.
115Dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 5. Juni 2024 können zu diesen Umständen der Wirtschaftslage sowie der Versorgungssicherheit keine konkreteren Angaben entnommen werden. Er reicht an die Qualität des Erkenntnismaterials der vorerwähnten Angaben des Österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nicht heran.
116Die vorstehend dargelegten Erkenntnisse zugrunde gelegt ist der Einzelrichter überzeugt, dass der Kläger wie bis zu seiner Ausreise sein Existenzminimum mit dem Art. 3 EMRK wahrenden Niveau wird sichern können. Zunächst ist festzustellen, dass ihm dies auch zuvor gelungen ist. Er hatte seine Familie versorgt und hat nach seinen Angaben den Beruf des Autoelektrikers ausgeübt und Autoteile verkauft. Wieso dies im Rückkehrfall nicht erneut möglich sein soll, hat er weder vor dem Bundesamt noch während des Gerichtsverfahrens näher dargelegt. Zudem muss er im Rückkehrfall Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten in Betracht ziehen. Zusätzlich zur (finanziellen) familiären Unterstützung durch seinen Bruder aus der Bundesrepublik Deutschland, der ihm bereits während der Aufenthalte des Klägers in Griechenland „immer per Western Union Geld überwiesen“ habe, ist er im Rückkehrfall auf seine Großfamilie im Irak zu verweisen. Überdies sind zur anfänglichen Sicherung seines Existenzminimums erreichbare Rückkehrhilfen zu berücksichtigen.
117Die Gefahr einer ernsthaften Verletzung von Art. 3 EMRK ist nicht schon dann gegeben, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Für die Frage, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen, sind auch Rückkehrhilfen zu berücksichtigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein.
118BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 –, juris Rn. 25.
119An diesen Maßstäben gemessen droht dem Kläger im Hinblick auf die vorstehend aufgezeigten Versorgungsmöglichkeiten nicht beachtlich Verelendung, weil auch die verfügbaren Rückkehr- und Reintegrationsprogramme zu berücksichtigen sind.
120Zunächst kann er über die Rückkehrprogramme REAG/GARP Reisekosten, eine finanzielle Unterstützung für die Reise sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe erhalten, dazu zählen: Flug- oder Busticket, Fahrtkosten vom Wohnort zum Flughafen oder (Bus-)Bahnhof, eine Reisebeihilfe (Geld für die Reise) i.H.v. 200 EUR pro Person (100 EUR pro Person unter 18 Jahren), Medizinische Unterstützung während der Reise (zum Beispiel Rollstuhlservice, medizinische Begleitperson) und im Zielland (maximal 2.000 EUR für bis zu drei Monate nach Ankunft) sowie eine einmalige Förderung i.H.v. 1.000 EUR pro Person (500 EUR pro Person unter 18 Jahren, pro Familie maximal 4.000 EUR).
121Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp/.
122Freiwillig Rückkehrende, die mit dem REAG/GARP-Programm ausreisen und eine reguläre Starthilfe erhalten, können im Irak eine ergänzende Reintegrationsunterstützung (Starthilfe-Plus) erhalten,
123vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrationsunterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp, zum Stand ab 1. Januar 2024.
124und das zum 1. April 2022 gestartete JRS-Programm („Joint Reintegration Services“) in Anspruch nehmen. Das JRS-Programm bietet individuelle Reintegrationshilfen für Rückkehrende in ihre Herkunftsländer.
125Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs.
126Das JRS-Programm bietet Kurzzeit- und Langzeitunterstützung (Post Arrival Package/Post Return Package). Die Kurzzeit-Unterstützung ("Post Arrival Package") erfasst zeitlich bis zu drei Tage nach der Ankunft und sachlich eine Flughafenabholung, einen Weitertransport zum Zielort, notwendige Übernachtungen vor der Zielorterreichung, medizinischen Zusatzbedarf sowie die Familienzusammenführung für unbegleitete Minderjährige. Die Langzeit-Unterstützung ("Post Return Package") erfasst zeitlich bis zu zwölf Monaten nach der Ausreise und sachlich eine Wohnungsunterstützung, medizinischen Bedarf bei schweren Erkrankungen, schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen, Beratung zu Arbeitsmöglichkeiten und Hilfestellung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, Unterstützung bei der Gründung eines (eigenen) Geschäftes, eine Familienzusammenführung, rechtliche Beratung und administrative Unterstützung sowie psychosoziale Unterstützung. Die JRS-Hilfen werden grundsätzlich als Sachleistungen gewährt. Die Höhe der Unterstützung orientiert sich an folgenden Beträgen: 2.000 Euro für die freiwillige Rückkehr des/der Hauptantragstellers/in, 1.000 Euro für jedes weitere Familienmitglied, 615 Euro als Kurzzeitunterstützung innerhalb von 3 Tagen nach Ankunft und 1.000 Euro für rückgeführte Personen.
127Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs, zum Stand ab 1. Januar 2024.
128Für das Herkunftsland Irak werden abhängig von den individuellen Bedürfnissen der rückkehrenden Person folgende Leistungen angeboten: Inempfangnahme am Flughafen, individuelle Betreuung, Unterstützung beim Aufbau eines kleinen Unternehmens oder bei der Jobsuche, Business Start-up Training und Jobmessen, Unterstützung bei der Suche nach einem passenden Bildungspfad oder einer Ausbildung, Weitervermittlung an Gesundheitseinrichtungen, Unterstützung bei der Suche nach Kontaktpersonen, Administrative Unterstützung, Informationen hinsichtlich des Landes. ETTC´s (European Technology and Training Centre) Hauptbüro und Trainingcenter ist in Erbil, weitere Zweigstellen befinden sich in Sulaimaniya, Dohuk, Kirkuk und Bagdad.
129Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/iraq/.
130Zur Umsetzung betreibt die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen Büros in Erbil, Sulaimaniya und Bagdad, die an festgelegten Wochentagen zu festen Zeitfenstern in der Landessprache telefonisch erreichbar sind.
131Vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/iraq.
132Diese Rückkehrhilfen sind zur Überzeugung des Gerichts für den Kläger ausreichend, eine Rückkehr, Wohnungssuche, sofern er keine Aufnahme bei seiner Familie finden sollte, und Aufnahme einer Beschäftigung zu erreichen. Anstrengungen, Mühen und auch die Überwindung einzelner Fehlschläge hierzu können verlangt werden.
133Dies gilt auch, wenn nach dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung mit dem Bundesverwaltungsgericht,
134vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, juris Rn. 16,
135zu unterstellen wäre, der Kläger habe im Rückkehrfall auch die Existenz seiner Ehefrau und seiner vier Kinder sicherzustellen. Dies hat er bereits vor seiner Ausreise geleistet. Bestünde wegen des höheren Alters seiner Kinder ein höherer Bedarf wäre darauf hinzuweisen, dass im Fall der Rückkehr im Familienverband nach den vorstehenden Ausführungen am Maßstab der Verhältnisse im Herkunftsland erhebliche finanzielle Mittel bei der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen zur Verfügung stünden. Zudem wäre der Kläger mit seiner Familie auf finanzielle Unterstützung seines in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Bruders zu verweisen, der ihm bereits nach Griechenland Geld über Western Union geschickt hatte.
136Den Wunsch, in der Nähe des Grabes seines verstorbenen Kindes in der Bundesrepublik Deutschland zu leben, hat der Kläger in seiner informatorischen Anhörung nicht geäußert, sondern sein Bevollmächtigter bei der Begründung der Anträge. Dies nährt Zweifel daran, es handele sich um einen eigenen und starken Wunsch des Klägers. Dieser war in seinen abschließenden Worten darauf nicht eingegangen. Jedenfalls ist ein solcher, wenngleich menschlich verständlicher, Wunsch nicht geeignet, ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu tragen.
137IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und § 155 Abs. 2 VwGO. Die dem Kläger obliegende Kostenlast entspricht dem Umfang des konkludent zurückgenommenen Klageteils sowie seinem anteiligen Unterliegen. Sein anteiliges Obsiegen trägt den Kostenlastanteil der Beklagten. Der Ausspruch der Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 und 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2, 108 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung.
138Rechtsmittelbelehrung:
139Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1401. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1412. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1423. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
143Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich zu beantragen. In dem Antrag, der das angefochtene Urteil bezeichnen muss, sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
144Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
145Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.