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Die Annahme der Rechtsmissbräuchlichkeit der Berufung auf den Status eines freizügigkeitsberechtigten Arbeitnehmers kann im Einzelfall auf dem bewusst hergestellten Ungleichgewicht zwischen den durch die Erwerbstätigkeit erzielten Einnahmen einerseits und den in Anspruch genommenen Sozialleistungen andererseits beruhen (hier: Rechtsmissbrauch verneint; anders in Urteil der Kammer vom 11. Mai 2023 - 8 K 4095/22 - dort: Rechtsmissbrauch bejaht).
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.
Die fünf Bescheide der Beklagten vom 25. März 2022 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
2Die Kläger sind bulgarische Staatsangehörige. Der am 1. November 19** geborene Kläger zu 1. ist der Ehemann der am 16. November 19** geborenen Klägerin zu 2. Die minderjährigen, am 17. Juli 20**, 22. Mai 20** und 19. Dezember 20** geborenen Kläger zu 3. bis 5. sind – auch wenn für diese bislang laut unbestrittenem Vortrag der Beklagten keine gültigen Pässe vorgelegt wurden – laut unbestrittenem Vortrag der Kläger die (leiblichen) Kinder der Kläger zu 1. und 2. Gültige Pässe der Kläger zu 3. bis 5. befinden sich laut unbestrittenen Erklärungen der Kläger zu 1. und 2. zu Protokoll des Gerichts in der durchgeführten mündlichen Verhandlung in ihrem Besitz.
3Die Kläger reisten am 29. April 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein.
4Der Klägerin zu 2. wurde laut dem beigezogenen Bundeszentralregisterauszug vom 16. März 2023 (GA 314 bis 319) im Zeitraum von 2015 bis 2019 insgesamt acht Mal wegen Diebstählen, versuchten Diebstählen und Computerbetrugs in drei Fällen strafrechtlich verurteilt. Mit den zeitlich zuletzt erfolgten, mittlerweile rechtskräftigen Verurteilungen durch das Amtsgericht I. vom 19. Februar 2019 und durch das Amtsgericht F. vom 7. Mai 2019 wurden Freiheitsstrafen von 6 Monaten bzw. 1 Jahr und 9 Monaten ausgesprochen. Diese wurden mit Beschluss des Amtsgerichts F. vom 15. Juni 2021 nachträglich zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten zusammengefasst. Nach Verbüßung der Hälfte der gebildeten Gesamtstrafe (seit dem 1. April 2019, BA 2, 4) wurde mit Beschluss des Landgerichts F. vom 2. Februar 2022 (BA 2, 10 ff.) der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt und ein Bewährungshelfer bestellt. Die strafgerichtliche Bewährungszeit für die Klägerin zu 2. läuft danach noch bis zum 10. Februar 2025.
5Die Beklagte nahm die strafgerichtlichen Verurteilungen der Klägerin zu 2. zu den letztgenannten Freiheitsstrafen zum Anlass zu prüfen, ob die Kläger freizügigkeitsberechtigt sind und hörte diese mit Verfügungen vom 9. Februar 2022 bzw. vom 16. März 2022 nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW zu beabsichtigten Verlustfeststellungen nebst Abschiebungsandrohungen an (BA 1, 7 f.; BA 2, 18 f., 32 f.; BA 3, 1 f.; BA 4, 1 f.; BA 5, 2 f.).
6Die Kläger reichten daraufhin ID-Cards der Kläger zu 1. und 2. (BA 1, 14 f.), eine internationale Heiratsurkunde der Kläger zu 1. und 2. (BA 1, 11 = GA 72 f. = GA 275), eine Urkunde in kyrillischer Schrift (BA 1, 12), eine Gesundheitskarte der AOK O. für den Kläger zu 1. (BA 1, 20), ein Bestätigungsschreiben über einen bis zum 31. Juli 2021 befristeten Dienstvertrag des Klägers zu 1. mit der G. NRW M. GmbH (BA 1, 16 ff.), Lohnabrechnungen für November 2021 und Januar 2022 (BA 1, 16 ff.), eine Übersetzung der bulgarischen Geburtsurkunde des Klägers zu 3. (BA 1, 10 = GA 276 ff (nebst Apostille) und eine Geburtsurkunde des Klägers zu 5. (BA 1, 13) bei der Beklagten ein.
7Die Beklagte stellte sodann mit den vorliegenden fünf streitgegenständlichen Verfügungen – datierend jeweils vom 25. März 2022 (BA 1, 33 ff.; BA 2, 45 ff.; BA 3, 26 ff.; BA 4, 26 ff.; BA 5, 27 ff.) und zugestellt mit Zustellungsurkunden jeweils am 28. März 2023 (BA 1, 47 f.; BA 2, 63 f.; BA 3, 38 f.; BA 4, 38 f.; BA 5, 39 f.) – unter Anordnung der sofortigen Vollziehung den Verlust der Rechte auf Freizügigkeit der Kläger nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU fest, drohte jeweils mit Setzung einer freiwilligen Ausreisefrist von einem Monat ab Zustellung der Verfügungen die Abschiebung in den vorrangigen Zielstaat Bulgarien an und sprach Befristungen von 6 bzw. 12 Monaten aus. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kläger zu 1. und 2. seit ihrer Einreise ernsthaft um (Vollzeit-)Arbeitsplätze bemüht hätten, der Beklagten nicht vorliegen würden. Bei dem von dem Kläger zu 1. vorgelegten Arbeitsvertrag handele sich um eine untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit. Selbst wenn man unterstelle, dass die aktuelle Beschäftigung des Klägers zu 1. die unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft begründen würde, könne sich daraus kein Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit ergeben, weil die Geltendmachung eines solchen Freizügigkeitsrechtes sich nach der Gesamtwürdigung aller Umstände als rechtsmissbräuchlich darstelle.
8Die Kläger haben am 8. April 2022 Klage erhoben und einen Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sowie Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt. Das Eilverfahren 8 L 453/22 ist nach erfolgten übereinstimmenden Erledigungserklärung in der Hauptsache im Rahmen des mit gerichtlicher Verfügung vom 12. Oktober 2022 vorgeschlagenen außergerichtlichen Vergleichs nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingestellt worden. Mit Abschluss des außergerichtlichen Vergleichs hat die Beklagte zudem die Nrn. 4 und 5 der jeweiligen Tenöre der streitgegenständlichen fünf Bescheide vom 25. März 2022, namentlich die dort geregelten Befristungsentscheidungen aufgehoben. Die Kammer hat den Klägern mit Beschluss vom 28. März 2022 Prozesskostenhilfe bewilligt.
9Die Kläger tragen zur Begründung ihrer Klage im Wesentlichen vor, dass das dargelegte Arbeitsverhältnis des Klägers zu 1. entgegen der geäußerten Rechtsauffassung der Beklagten keine untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit darstelle. Vielmehr würden bereits die vorgelegten Abrechnungen für die Monate November 2021 bis Februar 2022 belegen, dass der Kläger zu 1. einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis nachgehe und dieses nach Art, Umfang, Dauer und Vergütung die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes begründe. Der Kläger zu 1. verteile im Rahmen seiner Arbeitnehmertätigkeit Zeitungen mit seinem privaten Pkw, weshalb ihm auch Kilometergeld in Höhe von 0,30 Euro pro gefahrenem Kilometer gezahlt werde. Üblicherweise bemesse sich eine normale Tour auf 60 km, weshalb er pro Einsatztag 18,- Euro Fahrkosten erhalte. Ferner werde er üblicherweise an 24 bis 25 Tagen im Monat eingesetzt. Manchmal komme es vor, dass er ein anderes Revier mit übernehmen müsse, sodass sich die zurückgelegten Kilometer und damit auch das Fahrgeld erhöhen würden. Die Berufung auf die Arbeitnehmereigenschaft sei entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht rechtsmissbräuchlich. Die Kläger zu 1. und 2. hätten sich seit ihrer Einreise darum bemüht, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen und Vollzeittätigkeiten zu erlangen. Dass dies bislang nicht gelungen sei, dürfe mit dem deutschen Arbeitsmarkt zusammenhängen. Ferner könnten sich die Kläger vor dem Hintergrund des Schulbesuchs der Kläger zu 3. und 4. erfolgreich auf ein Recht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) 492/2011 berufen.
10Nachdem die Beteiligten den Rechtstreit teilweise, namentlich hinsichtlich der von der Beklagten aufgehobenen Befristungsentscheidungen zu Nrn. 4 und 5 der jeweiligen Tenöre der streitgegenständlichen fünf Bescheide vom 25. März 2022 zu Protokoll des Gerichts in der durchgeführten mündlichen Verhandlung übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, beantragen die Kläger,
11die fünf Bescheide der Beklagten vom 25. März 2022 (in der aktuellen Fassung) aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Die Beklagte tritt dem Klagebegehren entgegen und verweist zur Begründung auf die streitgegenständlichen Bescheide. Ferner macht sie geltend, dass die Kläger ihrer Verpflichtung aus § 8 Abs. 1 Nr. 2 FreizügG/EU hinsichtlich der Kläger zu 3. bis 5. nicht nachgekommen seien, da sie für diese keine gültigen Pässe vorgelegt hätten. Ein Recht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) 492/2011 liege nicht vor, da ein Berufen auf dieses Recht vorliegend ebenfalls rechtsmissbräuchlich sei. Der Kläger zu 1. habe erst fast ein Jahr nach der Einreise eine Beschäftigung aufgenommen. Aus den vorgelegten Arbeitsverträgen ginge hervor, dass es sich bei allen Beschäftigungen um solche mit einer geringen Wochenarbeitszeit gehandelt habe. Nachweise, dass sich der Kläger zu 1. um eine Vollzeitarbeitsstelle bemüht habe, lägen nicht vor. Auch die Klägerin zu 2. habe sich zumindest um eine Teilzeitarbeitsstelle bemühen können.
15Die Kläger haben im laufenden Klageverfahren folgende weitere Unterlagen überreicht: Arbeitsvertrag des Klägers zu 1. mit der G1. UG vom 21. Januar 2016 (ab 1. Februar 2016, 8 Stunden pro Woche, pauschal 360,- Euro netto pro Monat) (GA 78 f. = 122 f.), Lohnabrechnung der G1. UG für Februar 2016 bis August 2016 (GA 125 ff.), Kündigungsschreiben der G1. UG vom 11. August 2016 zum 31. August 2016 (GA 124), Schreiben der G. A. NRW GmbH vom 27. Oktober 2018 über eine unbefristete Beschäftigung des Klägers zu 1. über den 31. Oktober 2018 hinaus (GA 80 = GA 133), Lohnabrechnung der G. A. NRW GmbH für Oktober 2018 mit den Angaben „Eintritt 20.1.2017“, „Austritt: 31.10.2018“, 540,- brutto/Monat (GA 132), Arbeitsvertrag des Klägers zu 1. mit der J. GmbH vom 19. Februar 2019 – befristet auf 12 Monate – (ab dem 19. Februar 2019, 15 Stunden pro Woche) (GA 81 f. = GA 135 f.), Lohnabrechnung der J. GmbH für den Kläger zu 1. für Februar und März 2019 (GA 138 f.) Kündigung des Klägers zu 1. durch J. GmbH mit Schreiben vom 5. März 2019 zum 20. März 2019 (GA 83 = GA 137), Arbeitsvertrag des Klägers zu 1. mit der S. GmbH vom 1. August 2019 (ab 5. August 2019, befristet bis 31. Januar 2020, 43,5 Stunden pro Monat, 10,56 Euro pro Stunde) (GA 140 ff.), Lohnabrechnung der S. GmbH für August 2019 bis Mai 2020 (GA 146 ff.), Verlängerungsvertrag des Klägers zu 1. mit der S. GmbH vom 27.01.2020 – Verlängerung des zum 5. August 2019 eingegangenen Beschäftigungsverhältnisses bis zum 31. Juli 2020 (GA 84 = GA 144), Auszug (= Seite 1 und 2) eines Dienstvertrages des Klägers zu 1. mit der G. A. NRW GmbH ab 1. Mai 2020 – befristet bis 31. Juli 2020 (GA 85 f. = GA 156 f.), Schreiben der G. A. NRW GmbH/G. NRW M. GmbH an den Kläger zu 1. zur jeweiligen Verlängerung des Dienstvertrages vom 18. Juni 2020 (bis zum 31. Januar 2021) und 10. Dezember 2020 (bis zum 31. Juli 2021) sowie vom 31. Juni 2021 (unbefristet) (GA 87 ff.), Lohnabrechnung der G. NRW M. GmbH für den Kläger zu 1. für November 2021 bis März 2022 (GA 164, GA 74 f. = GA 163, GA 76 = GA 162, GA 77 = GA 161, GA 160), Lohnabrechnung der G. NRW M. GmbH für den Kläger zu 1. für November und Dezember 2022 (GA 290 ff.) sowie für Januar bis April 2023 (GA 333 ff.), Krankenversicherungsmitgliedsbescheinigung nach § 175 SGB V der AOK O. vom 2. August 2019, Meldebescheinigung zur Sozialversicherung des Klägers zu 1. vom 12. Juni 2020 (GA 145), Bescheinigung der AOK O. vom 6. März 2023 für den Kläger zu 1. über Versicherungszeiten „ab 1. September 2022 laufend“ (GA 271), Rentenversicherungsverlauf des Klägers zu 1. (GA 119 f.), Auflistung der Beschäftigungsverhältnisse des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. (GA 121), Schreiben der G. A. NRW GmbH/G. NRW M. GmbH vom 25. April 2019, wonach die Klägerin zu 2. dort über den 30. April 2019 bis zum 30. April 2020 beschäftigt wurde (GA 94), Schreiben der G. A. NRW GmbH/G. NRW M. GmbH vom 6. August 2019, wonach die Klägerin zu 2. dort im Zeitraum vom 18. Januar bis 17. Juni 2019 beschäftigt war (GA 93 = GA 166 = GA 281), Lohnabrechnung der G. NRW M. GmbH für die Klägerin zu 2. für Februar 2019 bis Juli 2019 (GA 167 ff.), Verlängerungsvertrag der S. GmbH vom 27. Januar 2020 – Verlängerung des zum 5. August 2019 eingegangenen Beschäftigungsverhältnisses bis zum 31. Juli 2020 (GA 95 = 184), Lohnabrechnung der S. GmbH für die Klägerin zu 2. für August 2019 bis Juli 2020 (GA 186 ff = GA 283 ff.), Meldebescheinigung zur Sozialversicherung der Klägerin zu 2. vom 13. August 2020 (GA 185 = GA 282), Auflistung der Beschäftigungsverhältnisse des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. (GA 121), Bescheinigung der AOK O. vom 8. März 2023 für die Klägerin zu 1. über Versicherungsschutz „ab 1. September 2022“ (GA 323), Bewilligungsbescheid des Jobcenters vom 22. März 2022 über einen monatlichen Gesamtbetrag von 1.433,- Euro für die Monate April 2022 bis September 2022 (GA 96 ff.), Aufhebungsbescheid des Jobcenters vom 31. März 2022 ab Mai 2022 (GA 102 f.), Schulbescheinigung des Klägers zu 3. vom 5. April 2022 (GA 90 = GA 294), Schulbescheinigung des Klägers zu 3. vom 8. Februar 2023 (GA 298) unter anderem mit folgendem Inhalt: „Der Schüler besuchte unsere Schule bis zum 30.04.2022. Die Wiederaufnahme an unsere Schule war am 09.01.2023. Seitdem besucht er regelmäßig den Unterricht der Klasse 07B.“, Schulbescheinigung der Klägerin zu 4. vom 5. April 2022 (GA 92 = GA 295), Schulbescheinigung der Klägerin zu 4. vom 1. Dezember 2022 (GA 296), Zeugnis der Klägerin zu 4. vom 16. Januar 2023 (GA 299) mit folgenden Bemerkungen: „Durch zwischenzeitliche Abschiebung berufen sich N. Noten auf einen kurzen Beurteilungszeitraum. Ihre Lernentwicklung befindet sich noch auf dem gleichen Stand wie vor der Abschiebung, da sie in dieser Zeit keine Schule besucht hat. N. hat am Förderunterricht „Deutsch als Zweitsprache" teilgenommen.“, Schulbescheinigung des Klägers zu 5. vom 1. Dezember 2022 (GA 297), Bescheinigung der AOK O. vom 6. März 2023 für den Kläger zu 3. über Versicherungszeiten „ab 1. September 2022 laufend Familienversicherung“ (GA 273), Bescheinigung der AOK O. vom 6. März 2023 für die Klägerin zu 4. über Versicherungszeiten „ab 1. September 2022 laufend Familienversicherung“ (GA 272) sowie Bescheinigung der AOK O. vom 6. März 2023 für den Kläger zu 5. über Versicherungszeiten „ab 1. September 2022 laufend Familienversicherung“ (GA 274).
16Die Kläger haben nach der Zustellung der streitgegenständlichen Verlustfeststellungsbescheide vom 25. März 2022 die Bundesrepublik Deutschland zeitweilig verlassen, ohne sich melderechtlich abzumelden. Sie sind sodann nach einem nicht näher bestimmten Zeitraum spätestens im September 2022 wieder eingereist und seither erneut unter ihrer bisherigen Anschrift wohnhaft. Nachweise zur Kündigung des Mietvertrages bzw. Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers zu 1. wurden nicht vorgelegt.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, namentlich auch des Protokolls zur mündlichen Verhandlung sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Beiakten 1 bis 10) Bezug genommen.
18Entscheidungsgründe:
19Das Verfahren war einzustellen, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, § 92 Abs. 3 VwGO analog.
20Im Übrigen hat die Klage Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
21Der Zulässigkeit der Klage steht insbesondere nicht entgegen, dass die Kläger die Bundesrepublik Deutschland zeitlich nach Zustellung der streitgegenständlichen Verlustfeststellungsbescheide vom 25. März 2022 zeitweilig verlassen haben. Insofern mangelt es der Klage weder an der erforderlichen Statthaftigkeit (§ 42 Abs. 1, 1. Mögl. VwGO) noch fehlt das erforderliche allgemeine Rechtsschutzinteresse. Denn das zeitweilige Verlassen der Bundesrepublik Deutschland durch die Kläger hat insbesondere weder zu einem Einreise- oder Aufenthaltsverbot noch zur Erledigung der streitgegenständlichen Verlustfeststellungen und der Abschiebungsandrohungen (§ 43 Abs. 2 VwVfG NRW) noch – unter Berücksichtigung der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 SGB II – zu einem erneuten „bedingungslosen dreimonatigen Freizügigkeitsrecht“ geführt.
22Denn Verlustfeststellungen nach § 5 Absatz 4 FreizügG/EU führen weder zu einem Aufenthalts- noch zu einem Einreiseverbot.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 22. Juni 2021 – C‑719/19 –, juris Rn. 102.
24Ferner reicht für eine Erledigung einer Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU – wie vorliegend – nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs das bloße physische Verlassen des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats durch einen Unionsbürger nicht aus. Vielmehr muss der Unionsbürger um ein neuerliches Aufenthaltsrecht in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates in Anspruch nehmen zu können, das Hoheitsgebiet nicht nur physisch verlassen, sondern auch seinen Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet tatsächlich und wirksam beendet haben, so dass bei seiner Rückkehr in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht davon ausgegangen werden kann, dass sein vorangegangener Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet in Wirklichkeit ununterbrochen fortbesteht.
25Vgl. EuGH, Urteil vom 22. Juni 2021 – C‑719/19 –, juris Rn. 81.
26Für die Feststellung, ob ein Unionsbürger seinen Aufenthalt nach Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG (sogenannte Freizügigkeits- bzw. Unionsbürgerrichtlinie, nachfolgend: RL 2004/38/EG) tatsächlich und wirksam beendet hat, sind sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die eine Lösung der Bindungen zwischen dem betreffenden Unionsbürger und dem Aufnahmemitgliedstaat erkennen lassen. Ein Antrag auf Löschung in einem Einwohnermelderegister, die Kündigung eines Miet- bzw. Pachtvertrags oder eines Vertrags über die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wie Wasser oder Elektrizität, ein Umzug, die Abmeldung von einem Dienst zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder die Beendigung sonstiger Beziehungen, die mit einer gewissen Integration dieses Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat einhergehen, können insoweit von gewisser Bedeutung sein.
27Vgl. EuGH, Urteil vom 22. Juni 2021 – C‑719/19 –, juris Rn. 91.
28Vorliegend wurde der Aufenthalt der Kläger nach Zustellung der Verlustfeststellungsbescheide nicht tatsächlich und wirksam im vorgenannten Sinne beendet, sodass sich die streitgegenständlichen Verlustfeststellungen und Abschiebungsandrohungen nicht erledigt haben (§ 43 Abs. 2 VwVfG NRW) und auch kein „neues“ Freizügigkeitsrecht der Kläger infolge der zwischenzeitlichen Ausreise entstanden ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht vorliegend insoweit fort. Denn unabhängig von der zu beantwortenden Frage, ob die Kläger – wie die Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung auf Befragung des Gerichts behauptet haben – tatsächlich nach Zustellung der Verlustfeststellungsbescheide lediglich zwei Wochen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, namentlich in Bulgarien, verbracht haben, haben sie jedenfalls nach der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände, die eine Lösung der Bindungen der Kläger zur Bundesrepublik Deutschland erkennen lassen können, das Bundesgebiet nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur zeitweise physisch verlassen. Denn sie haben unbestritten keinen Antrag auf Löschung im Einwohnermelderegister gestellt, ihren Mietwohnungsvertrag wie auch Verträge über die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wie Wasser oder Elektrizität und auch den laufenden Arbeitsvertrag des Klägers zu 1. bei der G. NRW M. GmbH nicht gekündigt.
29Die danach zulässige Klage ist zudem begründet.
30Denn die fünf Bescheide der Beklagten vom 25. März 2022 (in der aktuellen Fassung) sind rechtwidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
31Zwar lagen zunächst die Voraussetzungen für eine Überprüfung des Vorliegens bzw. des Fortbestandes der Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung nach § 5 Abs. 3 FreizügG/EU vor.
32Denn nach der vorgenannten Vorschrift kann das Vorliegen oder der Fortbestand der Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung aus besonderem Anlass überprüft werden.
33Wann ein besonderer Anlass vorliegt, ist im Gesetz nicht näher definiert. Ein solcher Anlass liegt indes vor, wenn der zuständigen Behörde Sachverhalte zur Kenntnis gelangen, die vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 2, 2. UAbs. RL 2004/38/EG „begründete Zweifel“ am Bestand bzw. Fortbestand des Freizügigkeitsrechts wecken.
34Für Unionsbürger kann insofern die Aufgabe der Erwerbstätigkeit einen Anlass zur Überprüfung darstellen. Auch wenn nachträglich ein Antrag auf Sozialleistungen (SGB II oder SGB XII) gestellt wird, wird in der ausländerrechtlichen Praxis davon ausgegangen, dass ein besonderer Anlass im Sinne von § 5 Abs. 3 FreizügG/EU vorliegt, der es rechtfertigt, die Voraussetzungen der ausreichenden Existenzmittel zu überprüfen (vgl. Nr. 4.1.2.2. AVwV-FreizügG/EU). Ausgeschlossen sind dagegen systematische Überprüfungen, die ohne Rücksicht auf die Verhältnisse des Einzelfalls vorgenommen werden.
35Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 16 und § 5 IV. Rn. 26, vgl. auch Urteil der Kammer vom 11. Mai 2023 – 8 K 1630/22 –, bislang n. v.
36Nach diesen Maßgaben rechtfertigen die von der Beklagten vorliegend zum Anlass genommenen rechtskräftigen Verurteilungen der Klägerin zu 2. durch das Amtsgericht I. vom 19. Februar 2019 und durch das Amtsgericht F. vom 7. Mai 2019 zu Freiheitsstrafen von 6 Monaten bzw. 1 Jahr und 9 Monaten bzw. zu der mit Beschluss des Amtsgericht F. vom 15. Juni 2021 nachträglich gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten die vorliegende Überprüfung, da bereits infolge einer solchen Freiheitsstrafe die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung, namentlich einer hinreichenden Lebensunterhaltssicherung der familiären Haushaltsgemeinschaft, hätten entfallen sein können und mithin begründete Zweifel am Bestand bzw. Fortbestand des Freizügigkeitsrechts wecken.
37Soweit sich die Kläger auf Daueraufenthaltsrechte nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU berufen könnten, würde auch dies an der Zulässigkeit der Prüfung nach § 5 Abs. 3 FreizügG/EU nichts ändern.
38Zwar entfällt grundsätzlich mit dem Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU zugleich die Möglichkeit der anlassbezogenen Überprüfung der Freizügigkeitsvoraussetzungen.
39Vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR / § 5 Abs. 3 FreizügG/EU, Rn. 5.
40Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU setzt jedoch voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt hat. Allein durch eine fünfjährige Anwesenheit eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates (Unionsbürger) im Bundesgebiet entsteht noch kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU.
41Vgl. zu § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –, juris, Rn. 17.
42Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU gilt es insofern im Falle bestehender begründeter Zweifel am Bestand bzw. Fortbestand des Freizügigkeitsrechts inzident vorab zu überprüfen.
43So auch hier.
44Trotz Prüfungsanlasses sind die fünf Bescheide der Beklagten vom 25. März 2022 (in den aktuellen Fassungen) aber rechtwidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten. Denn die Voraussetzungen der jeweiligen Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU liegen nicht vor.
45Nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU kann die Ausländerbehörde den Verlust eines Freizügigkeitsrechts feststellen, wenn die Voraussetzungen desselben nach § 2 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung eines ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind.
46Die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift sind vorliegend nicht gegeben. Denn es steht im derzeitigen entscheidungserheblichen Zeitpunkt zur sicheren Überzeugung des Gerichts fest, dass den bulgarischen Klägern Freizügigkeitsrechte jedenfalls nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU und Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zustehen.
47Insofern sei ergänzend angemerkt, dass maßgeblich für die rechtliche Beurteilung aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen, die Grundlage einer Aufenthaltsbeendigung sein können, grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts – vorliegend der Kammer – ist. Diese Grundsätze gelten nur dann nicht, wenn und soweit aus Gründen des materiellen Rechts ausnahmsweise ein anderer Zeitpunkt maßgeblich ist.
48Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 – 1 C 48/18 – juris Rn. 9, mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
49Ob in Fällen der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU – wie vorliegend – ausnahmsweise ein anderer Zeitpunkt namentlich dann maßgeblich ist, wenn die Ausländerbehörde zunächst gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU den Verlust eines Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat, der Unionsbürger im Verlauf des Verfahrens aber erneut freizügigkeitsberechtigt geworden ist bzw. eine Verlustfeststellung zeitabschnittsweise teilbar ist, kann hier offenbleiben.
50Ebenso offen gelassen: BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 – 1 C 48/18 – juris Rn. 10; vgl. aber bejahend Urteil der Kammer vom 11. Mai 2023 – 8 K 4561/22 – (zur Veröffentlichung in nrwe vorgesehen).
51Denn es steht zur sicheren Überzeugung des Gerichts fest, dass den bulgarischen Klägern bereits im Zeitpunkt der Zustellung der streitgegenständlichen Bescheide am 28. März 2023 Freizügigkeitsrechte zustanden und fortgesetzt zustehen.
52Diese ergeben sich selbsttragend aus § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sowie aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011.
53Ob die Voraussetzungen der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bereits deshalb nicht vorliegen, weil die Voraussetzungen der Freizügigkeitsrechte der Kläger nach § 2 FreizügG/EU nicht innerhalb von fünf Jahren nach Begründung eines ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind, kann vor dem aufgezeigten Hintergrund dahinstehen. Insofern muss vorliegend nicht entschieden werden, ob den streitgegenständlichen fünf Verlustfeststellungen bereits entgegensteht, dass die Kläger vor Zustellung der Verlustfeststellungen möglicherweise Daueraufenthaltsrechte nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben haben.
54Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).
55Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts setzt insofern unionsrechtlich voraus, dass der Betroffene während eine Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen erfüllt hat. Mithin müssen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG während eines zusammenhängenden Zeitraums von fünf Jahren erfüllt worden sein, wobei diese Zeitspanne nicht der Zeitraum vor der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz sein muss.
56Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –, juris Rn. 17 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. September 2016 – 7 B 10406/16 –, juris.
57Dass die Kläger Daueraufenthaltsrechte erworben haben, könnte sich etwaig aus einer während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren im Sinne des Gesetzes ununterbrochenen Arbeitnehmertätigkeit des Klägers zu 1. im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU für diesen und abgeleitet von diesem für die Kläger zu 2. bis 5 nach § 3 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 2 Nr. 3 a bzw. c FreizügG/EU ergeben, sofern für diesen Zeitraum ein sogenannter Rechtsmissbrauch zu verneinen wäre.
58Ob dem Kläger zu 1. bereits seit seiner Arbeitnehmertätigkeit insbesondere ab Ende Januar 2017 für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren ein eigenständiges Freizügigkeitsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmer zustand und die Berufung auf eine solche Arbeitnehmertätigkeit nicht missbräuchlich war, kann vorliegend – wie bereits ausgeführt – indes dahinstehen.
59Denn jedenfalls die seit 1. Mai 2020 und aktuell von dem Kläger zu 1. ausgeübte Erwerbstätigkeit stellt zumal vor dem Hintergrund des durchschnittlich erzielten monatlichen Bruttoentgelts in 2022 von ca. 786 Euro eine Arbeitnehmertätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU dar, welche ihm – unabhängig von einem etwaig erworbenen Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU – ein Freizügigkeitsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU und abgeleitet hiervon auch den Klägern zu 2. bis 5. ein Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU vermittelt. Dies gilt namentlich auch vor dem Hintergrund dessen, dass das monatlich ausgezahlte Kilometergeld in Höhe von ca. 450 Euro als Aufwandsentschädigung unberücksichtigt bleibt. Ein Berufen der Kläger auf die vorbenannten Freizügigkeitsrechte ist zudem nicht rechtsmissbräuchlich.
60Im Einzelnen:
61Dem Kläger zu 1. steht infolge der von ihm seit 1. Mai 2020 und fortwährend aktuell ausgeübten Erwerbstätigkeit ein Freizügigkeitsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU zu. Denn die von ihm ausgeübte Erwerbstätigkeit stellt sich zumal vor dem Hintergrund des durchschnittlich erzielten monatlichen Bruttoentgelts in 2022 von ca. 786 Euro als Arbeitnehmertätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU dar.
62Der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU verwendete Arbeitnehmerbegriff ist anhand der Maßgaben des Unionsrechts in der Ausformung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auszulegen. Er darf – insoweit dem Gedanken des Binnenmarkts verpflichtet – nicht eng ausgelegt werden und ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Arbeitnehmer in diesem Sinne ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit für einen anderen nach dessen Weisung ausübt und hierfür als Gegenleistung eine Vergütung (ggfls. auch in Form einer Sachleistung) erhält, es sei denn, die Tätigkeit hat einen so geringen Umfang, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Dies ist anhand aller ein Arbeitsverhältnis kennzeichnenden Aspekte zu bewerten. Erforderlich ist eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalles. Dabei sind neben der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und der Höhe der Vergütung auch die weitere Ausgestaltung und Dauer des Beschäftigungsverhältnisses zu berücksichtigen, zum Beispiel Ansprüche auf Urlaub oder auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie die Anwendung von Tarifverträgen. Auch Teilzeittätigkeiten können den Anforderungen des Begriffs der Arbeitnehmereigenschaften genügen. Ein langjähriger Bestand des Arbeitsverhältnisses ist ein Indiz für die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft, aber auch Beschäftigungen von kurzer Dauer können eine Arbeitnehmereigenschaft begründen.
63Vgl. exemplarisch EuGH, Urteil vom 23. März 1982, C-53/81, Celex-Nr. 61981CJ0053, juris, Rn. 11 (Rs. Levin); Urteil vom 4. Februar 2010 – C-14/09 – (Rs. Genc), juris Rn. 16 ff. m. w. N.; Urteil vom 4. Juni 2009 – C-22/08 – (Rs. Vatsouras), juris Rn. 26 ff.; Urteil vom 21. Februar 2013 – C-46/12 –, juris Rn. 39 ff.; Urteil vom 16. Juli 2020 – C-658/18 – (Rs. Governo della Repubblica italiana), juris Rn. 93 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. April 2012 – 1 C 10.11 –, juris Rn. 15 ff. (zum Arbeitnehmerbegriff des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80); OVG Lüneburg, Beschluss vom 1. März 2022 – 13 LA 368/21 –, juris Rn. 8; LSG NRW, Beschluss vom 31. Januar 2023 – L 7 AS 1652/22 B ER –, juris Rn. 28; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 2 FreizügG/EU Rn. 36 ff.; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 45 AEUV Rn. 13 ff, jeweils m. z. w. N.
64Eine Tätigkeit ist dabei nicht schon dann völlig untergeordnet und unwesentlich, wenn der Betreffende daraus nur ein geringes, das Existenzminimum nicht deckendes Einkommen erzielt, selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht.
65Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C-213/05 –, juris Rn. 27; Urteil vom 14. Dezember 1995 – C-444/93 –, juris Rn. 18; Urteil vom 4. Juni 2009 – C-22/08 – (Rs. Vatsouras), juris Rn. 28, jeweils m. w. N.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Juni 2015 – L 20 AS 1297/15 B ER u. a. –, juris Rn. 12 f.; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 2 FreizügG/EU Rn. 47.
66Der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet, kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübte Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist. Unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmerstatus begründen kann. Eine fixe zeitliche Mindestdauer kann nicht gefordert werden.
67Vgl. EuGH, Urteil vom 04. Februar 2010, C-14/09, Celex-Nr. 62009CJ0014 (Rs. Genc), juris Rn. 26; Urteil vom 1. Oktober 2015 – C-432/14 –, juris Rn. 24; BSG, Urteil vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 42/19 R –, juris, Rn. 18; Berlit, in: GK-AufenthG, § 3 FreizügG/EU, Rn. 43.
68Ab einer Arbeitsstundenzahl von zehn Wochenstunden ist jedenfalls in aller Regel von einem Arbeitsverhältnis auszugehen.
69Vgl. EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 – C-444/93 – (Rs. Megner und Scheffel), juris Rn. 18; LSG NRW, Urteil vom 6. Oktober 2021 – L 12 AS 1004/20 –, juris Rn. 63.
70Nach den vorgenannten Maßgaben stellt die seit 1. Mai 2020 und aktuell von dem Kläger zu 1. ausgeübte Erwerbstätigkeit – zumal vor dem Hintergrund des durchschnittlich erzielten monatlichen Bruttoentgelts in 2022 von ca. 786 Euro – eine Arbeitnehmertätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU dar, welche ihm – unabhängig von einem etwaig erworbenen Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU – ein Freizügigkeitsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU und abgeleitet hiervon auch den Klägern zu 2. bis 5. Freizügigkeitsrechte nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU vermittelt. Dies gilt namentlich auch vor dem Hintergrund dessen, dass das monatlich ausgezahlte Kilometergeld in Höhe von ca. 450 Euro als Aufwandsentschädigung unberücksichtigt bleibt.
71Darüber hinaus haben die Kläger Freizügigkeitsrechte nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 erworben.
72Zwar können nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Norm begründet zuvörderst ein Recht auf Gleichbehandlung. Aus dem Recht zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung folgt zugleich ein eigenständiges, originäres und autonomes Recht der Kinder des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme. Ein entsprechendes Recht vermittelt Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zudem dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss. Dieser Elternteil kann auch der vormalige Wanderarbeitnehmer selbst sein. Das Aufenthaltsrecht ist der Förderung der Inanspruchnahme des Rechts der Kinder auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht zu dienen bestimmt und besteht auch nach dem Ende der Erwerbstätigkeit des Wanderarbeitnehmers fort. Es endet regelmäßig mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes, sofern dieses nicht ausnahmsweise weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können.
73Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 – 1 C 48/18 – juris Rn. 31, mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
74Freizügigkeitsrechte der Kläger nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 sind vorliegend jedenfalls infolge des nachgewiesenen regelmäßigen Schulbesuchs des Klägers zu 3. seit dem 9. Januar 2023 entstanden (vergleiche Schulbescheinigung des Klägers zu 3. vom 8. Februar 2023 (GA 298): „Der Schüler besuchte unsere Schule bis zum 30.04.2022. Die Wiederaufnahme an unsere Schule war am 09.01.2023. Seitdem besucht er regelmäßig den Unterricht der Klasse 07B.“). Ob ein solches Recht darüber hinaus aus einem regelmäßigen Schulbesuch der Klägerin zu 4. erwachsen ist, kann hier dahinstehen. Das in Kopie vorgelegte Zeugnis der Klägerin zu 4. vom 16. Januar 2023 (GA 299) ist insofern in sich widersprüchlich, als dort zum einen von – wenn auch unentschuldigten –, aber lediglich 9 versäumten Stunden die Sprache ist, sodann aber unter dem Feld „Bemerkungen“ wie folgt ausgeführt wird: „Durch zwischenzeitliche Abschiebung berufen sich N. Noten auf einen kurzen Beurteilungszeitraum. Ihre Lernentwicklung befindet sich noch auf dem gleichen Stand wie vor der Abschiebung, da sie in dieser Zeit keine Schule besucht hat. N. hat am Förderunterricht „Deutsch als Zweitsprache" teilgenommen.“
75Das Berufen auf die vorliegend begründete unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft des Klägers zu 1. und die damit einhergehende Geltendmachung eines auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU bzw. auf § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU gestützten Freizügigkeitsrechts der Kläger stellt sich ebenso wie ein Berufen auf Freizügigkeitsrechte nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 – entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten – vorliegend auch nicht als rechtsmissbräuchlich dar.
76Ausgenommen vom Arbeitnehmerbegriff sind danach solche Arbeitsverhältnisse, die nach der Gesamtwürdigung aller Umstände und insbesondere des Verhaltens des Unionsbürgers missbräuchlich, insbesondere ausschließlich zur Erlangung von Sozialleistungen, eingegangen wurden. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist nicht nur eine wahrheitswidrige, sondern auch eine missbräuchliche Berufung auf Normen des Unionsrechts nicht gestattet. Ein Missbrauch ist anzunehmen, wenn eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde und der Betroffene in der Absicht handelte, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden.
77Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. März 2017 – 18 B 274/17 –, juris Rn. 3 unter Verweis auf EuGH, Urteile vom 12. März 2014 – C-456/12 –, vom 16. Oktober 2012 – C-364/10 –, vom 22. Dezember 2010 – C-303/08 – und vom 14. Dezember 2000 – C-110/99 –, jeweils juris; Bay. VGH, Beschluss vom 27. November 2018 – 10 CS 18.2180 u.a. –, juris Rn. 9 ff.; Dienelt in: Bergmann/Dienelt, AuslR, § 2 FreizügG/EU, Rn. 52 f. m. w. N.; vgl. auch Urteile der Kammer vom 7. März 2019 – 8 K 3298/17 –, rechtskräftig, juris Rn. 25 ff. und vom 10. September 2020 – 8 K 871/17 –, rechtskräftig, juris Rn. 26 ff.
78Nach der ausgehend von diesen Maßgaben gebotenen Gesamtschau ist das Verhalten der Kläger zur sicheren Überzeugung der Kammer im Ergebnis nicht rechtsmissbräuchlich.
79Ob ein erkennbares subjektiv rechtsmissbräuchliches Verhalten gegeben ist, weil die Kläger etwaig in der Absicht handelten, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden, kann insofern dahinstehen. Mithin kommt es vorliegend nicht darauf an, ob nur eine formale Erfüllung der Mindestvoraussetzungen der Freizügigkeit – hier namentlich durch den Kläger zu 1. – vorlag, die dem Sinn und Zweck der Unionsbürgerrichtlinie nicht entsprach und mit welcher die Kläger lediglich das Ziel verfolgten, sich dadurch soziale Vorteile des Unionsrechts zu verschaffen.
80Denn selbst wenn man vorliegend von einer subjektiven Absicht der Kläger ausgehen würde, die formalen Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht willkürlich zu schaffen, um sich einen Anspruch auf Sozialleistungen in erheblichem Umfang zu erhalten, so würde sich der Sozialleistungsbezug der Kläger vorliegend unter Einbeziehung der Einkünfte aus der Beschäftigung des Klägers zu 1. im Rahmen der vorliegenden individuellen Gesamtbetrachtung nicht als objektiv „unangemessen“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und damit nicht als missbräuchlich darstellen, zumal hinsichtlich der Annahme einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu wahren sind.
81Insofern gilt es zunächst zu beachten, dass die Kläger als Familien- und Haushaltsgemeinschaft im sozialgesetzlichen Sinne eine Bedarfsgemeinschaft bilden und im vorliegenden Zusammenhang, namentlich der Beantwortung der Frage einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen, nur gemeinsam betrachtet werden können.
82Hierfür spricht die Systematik des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts mit seiner Unterscheidung zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Unionsbürgern. Hieraus folgt, dass ein Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger grundsätzlich nicht zur Inanspruchnahme der allgemeinen Sozialhilfesysteme der Aufnahmemitgliedstaaten in Anspruch genommen werden kann. Mit der Unterscheidung zwischen nicht Erwerbstätigen und Erwerbstätigen wird danach zunächst vorausgesetzt, dass Erwerbstätige grundsätzlich in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
83Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 5a II. Rn. 23.
84Hierfür spricht ferner, dass grundsätzlich Voraussetzung für die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG – und damit für den Genuss der damit verbundenen aufenthaltsrechtlichen Erleichterungen (vgl. §§ 3, 4 FreizügG/EU) bis hin zum Daueraufenthaltsrecht – ist, dass der primär Freizügigkeitsberechtigte (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Nrn. 1 bis 3 FreizügG/EU), sprich die Bezugsperson, dem Familienangehörigen Unterhalt gewährt.
85Vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 30.
86Ein Nachzugsrecht für begleitende Familienangehörige eines nicht erwerbstätigen Unionsbürgers setzt insofern nach der in Art. 7 Abs. 1b und 2 RL 2004/38/EG enthaltenen Formulierung „über die erforderlichen Mittel verfügt“ (vgl. § 4 FreizügG/EU „ausreichende Existenzmittel“) entsprechend den Nachweis ausreichender Existenzmittel und eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes für den sein Freizügigkeitsrecht ausübenden Unionsbürger und die ihn begleitenden Familienangehörigen voraus.
87Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 3 II Rn. 7 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2010 – C-310/08 -, Rn. 28.
88Der Auffassung, dass aus dem Wortlaut des § 4 FreizügG/EU – der vorliegend nicht einschlägig, aber von einer vergleichbaren Interessenlage geprägt ist – eine einzelfallbezogene Auslegung dahingehend folgt, dass das Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers unabhängig von dem Vorhandensein existenzsichernder Mittel für die Familienangehörigen zu beurteilen ist,
89in diesem Sinne: Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 4 FreizügG/EU, Rn. 32,
90vermag die Kammer bereits vor dem Hintergrund des Wortlautes des Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/38/EG nicht zu folgen.
91In diesem Sinne: Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 18.
92Denn Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/38/EG verknüpft die Freizügigkeit des im familiären Verbund lebenden, nicht erwerbstätigen Unionsbürgers mit der materiellen Sicherung für die Familienangehörigen. Zugleich macht aber die Formulierung des Art. 7 Abs. 1b RL 2004/38/EG deutlich, dass diese Verknüpfung ihren Grund im Schutz der finanziellen Interessen des Aufnahmemitgliedstaat hat („sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen“). Verfügt daher ein begleitender Familienangehöriger über eigene existenzsichernde Mittel, so besteht kein Risiko der Inanspruchnahme des Sozialsystems des Aufnahmemitgliedstaats. Ein Unionsbürger, der für sich, nicht aber für seine von ihm abhängigen Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, erfüllt daher die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/38/EG nicht mehr. Entsprechendes muss auch für § 4 FreizügG/EU trotz des unklaren Wortlauts gelten.
93Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 18; a.A. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 4 FreizügG/EU, Rn. 32.
94Geprägt hiervon kann auch die Frage einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen nur gemeinsam für die Kläger beantwortet werden.
95Dass der nunmehr in § 1 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU (vormals: § 3 Abs. 2 FreizügG/EU) enthaltenen Definition des Familienangehörigen, welche weitgehend wörtlich dem Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38/EG entnommen wurde, um eine höchstmögliche Übereinstimmung mit der Richtlinie zu gewährleisten,
96vgl. Drucksache 19/21750, S. 37,
97und die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelten Grundsätze weiterhin zur Anwendung kommen lässt,
98vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 3 Nr. 5 Begriff der Familienangehörigen sowie Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 31,
99als Ausnahme hierzu zu entnehmen ist, dass Verwandte in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (sprich: Kinder oder auch Enkel der Bezugsperson bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres), als Familienangehörige der Bezugsperson gelten, ohne dass ihnen Unterhalt von dieser gewährt werden müsste, ändert rechtlich insofern nichts.
100Ebenso ändert hieran § 3 Abs. 1 FreizügG/EU rechtlich nichts, welcher hinsichtlich eines Freizügigkeitsrechts von Familienangehörigen dahingehend differenziert, ob es sich um Familienangehörige von erwerbstätigen Unionsbürgern oder nicht erwerbstätigen Unionsbürgern handelt. Denn (nur) für Familienangehörige von nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, also der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürgern, gilt in Abgrenzung zu § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU auch Satz 2 der Norm, welcher auf die weiteren Maßgaben des § 4 FreizügG/EU verweist, wonach Familienangehörige – von nicht erwerbstätigen Unionsbürgern – insbesondere über ausreichende Existenzmittel verfügen müssen, um ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu erlangen, § 4 Satz 1 FreizügG/EU.
101Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –, juris Rn. 24 f.; vgl. zu entsprechenden Abgrenzungsfragen auch Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 3, II. Rn. 4.
102Denn im europäischen Freizügigkeitsrecht kommt es gerade nicht darauf an, ob ein Familienangehöriger einen Unterhaltsanspruch im Rechtssinne hat,
103vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 32 unter Bezugnahme u.a. auf EuGH, Urteil vom 9. Januar 2007 - C-1/05 -, juris,
104oder welche Gründe für eine Bedürftigkeit vorliegen,
105vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 33 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014 - C-423/12 -, juris,
106sondern allein darauf, ob tatsächlich Unterhaltsleistungen gewährt werden und ob die Verwandten in Anbetracht ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse selbst zu decken.
107Vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 32, 34 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 9. Januar 2007 - C-1/05 -, juris.
108So auch hier.
109Ob es sich um eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes handelt, ist folglich auch vor diesem Hintergrund für die in Haushaltsgemeinschaft lebende klägerische Familie als Bedarfsgemeinschaft in Gänze zu beantworten.
110Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht automatisch einen Verlust des Freizügigkeitsrechts zu begründen vermag. Da auch insoweit mit Blick auf die sich der Verlustfeststellung anschließenden Pflicht, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu wahren sind, ist vielmehr – wie aufgezeigt – eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen erforderlich. Zwar kann der Umstand, dass ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Insbesondere dem 10. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG ist insofern zu entnehmen, dass die Voraussetzung der Existenzsicherung vor allem verhindern soll, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen.
111Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –, juris Rn. 21, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH.
112Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG sollte der Aufnahmemitgliedstaat dazu „prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen“. Von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen kann danach nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage ausgegangen werden, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde.
113Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –, juris Rn. 21 unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 19. September 2013 – C-140/12 – , juris Rn. 67.
114Die Höhe der als unangemessen zu erachtenden Inanspruchnahme von Sozialleistungen ist in Abgrenzung bzw. im Verhältnis zu ausreichenden Existenzmitteln im Sinne von § 4 FreizügG/EU im Rahmen der Gesamtabwägung des jeweiligen Einzelfalls zu bestimmen.
115Insofern ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass der Europäische Gerichtshof für die Bestimmung des Arbeitnehmerstatus festgestellt hat, dass es für die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit unerheblich ist, ob eine Vergütung über dem Existenzminimum des Aufenthaltsstaates liegt oder ob es sich bei dem Arbeitsverhältnis lediglich um eine Teilzeitbeschäftigung handelt.
116Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 5a II. Rn. 24 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 23. März 1982 – 53/81 –.
117Im Hinblick auf die grundsätzlich weite Auslegung des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und den Grundsatz der finanziellen Solidarität,
118vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 5a II. Rn. 25 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002 – Rs. C-224/89 –,
119entfällt ein Freizügigkeitsrecht daher noch nicht dadurch, dass die Erwerbstätigkeit nicht mehr zur Deckung des vollen Lebensunterhalts ausreicht, solange keine „unangemessene Inanspruchnahme“ von Sozialhilfeleistungen vorliegt (vgl. Erwägungsgrund Nr. 16 RL 2004/38/EG).
120Ausreichende Existenzmittel sind in Abgrenzung zu einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen insofern solche, die sicherstellen, dass der Freizügigkeitsberechtigte die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats nicht dauerhaft bzw. auf unbestimmte Zeit in einem nicht unerheblichen Umfang in Anspruch nehmen muss.
121Dem hier heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 4 FreizügG/EU ist zudem das Erfordernis einer gewissen Stabilität der Lebensunterhaltssicherung für die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts zu entnehmen. Bereits der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 lit. b RL2004/38/EG stellt auf die längerfristige Unabhängigkeit von Sozialhilfeleistungen ab. Hierfür bedarf es einer Prognose über die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen („sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen“). Erforderlich ist daher eine fortdauernde und regelmäßige Bereitstellung ausreichender Existenzmittel, die voraussichtlich die Betroffenen von der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unabhängig machen.
122Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 12c
123Welchen Umfang finanzielle Leistungen haben müssen, um als „ausreichend“ angesehen werden zu können, ergibt sich wiederum in umgekehrter Richtung aus dem Zweck von Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/38/EG, die dauernde Belastung der Sozialhilfesysteme zu verhindern, und dem Wortlaut der Vorschrift. Für § 1 Abs. 2 Nr. 3c bzw. d FreizügG/EU (Verwandte in auf- oder absteigender Linie, deren Unterhalt durch die freizügigkeitsberechtigte Person geleistet wird) hat der Europäische Gerichtshof insofern das Erfordernis der „Unterhaltsleistung“ extensiv ausgelegt und eine bescheidene tatsächliche Unterhaltsgewährung ausreichen lassen.
124Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 13 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 18. Juni 1987 – 316/85 –, juris.
125Eine Regelung zur Höhe des zu leistenden Unterhaltes fehlt indes ebenso wie eine abschließende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu diesem Problem. Zu einer Unterhaltsgewährung im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU gehört aber eine fortgesetzte und regelmäßige Leistung mit einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken.
126Vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 35 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1993 – 11 C 1/93 –, juris.
127So erhielt die niederländische Klägerin in der zuvor zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht aus dem Jahr 1993 – anlehnend an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 18. Juni 1987 – 316/85 – im maßgeblichen Bewilligungszeitraum, in welchem sie bereits das 21. Lebensjahr überschritten hatte, fortgesetzt monatliche Unterhaltsleistungen von ihrem Vater in Höhe von 300 DM, die es ihr ermöglichten, ihren Lebensunterhalt während des fortgesetzten Auslandsstudiums in Großbritannien „zu einem nicht unerheblichen Teil“ – namentlich neben der monatlichen staatlichen Förderung von 949 DM, mithin etwa zu einem Viertel – zu decken.
128Die daraus abgeleitete Folge, dass die teilweise Deckung des Unterhalts bei gleichzeitiger Sozialhilfeabhängigkeit – dauerhaft – ausreicht,
129vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1993 – 11 C 1/93 –, juris Rn. 13 f.; vgl. aber auch Urteil der Kammer vom 11. Mai 2023 – 8 K 4095/22 –, n. v., wonach nach den dortigen Gesamtumständen des Einzelfalls eine anteilige Deckung des Lebensunterhalts von ca. einem Fünftel nicht ausreicht,
130und es insofern unschädlich ist, wenn ergänzend zur Unterhaltsleistung auch öffentliche Sozialleistungen (insbesondere nach SGB II oder SGB XII) bezogen werden,
131vgl. Diesterhöft, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU, Abs. 2, Rn. 36 ebenfalls unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 18. Juni 1987 – 316/85 –,
132beruht auf der möglichst weit auszulegenden Förderung der Familienzusammenführung von Verwandten im weiteren Sinne mit freizügigkeitsberechtigen Personen.
133Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 13a.
134Allein der Wunsch, die deutschen Sozialeinrichtungen nicht mit dem Aufenthalt unversorgter (erwachsener) Familienangehöriger von Unionsbürgern zu belasten, rechtfertigt es daher nicht, die vom Gesetzgeber angestrebte Harmonisierung außer Acht zu lassen.
135Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1993 – 11 C 1/93 –, juris Rn. 14.
136Der vorliegend in Abgrenzung heranzuziehende Begriff „ausreichender Existenzmittel“ kann insofern auch nicht so eng ausgelegt werden, dass die Inanspruchnahme oder das Risiko der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen zur Deckung eines besonderen Bedarfs bereits die Annahme ausreichender Existenzmittel ausschließt. Erforderlich sind die Mittel, die zur Bestreitung des allgemeinen Lebensbedarfs (Unterkunft, Kleidung, Lebensmittel, Kommunikation) erforderlich sind. Verlangt werden kann daher nicht der volle Betrag sozialer Leistungen, die gegebenenfalls zur Deckung besonderer Bedarfe in Anspruch genommen werden können. Die Nr. 4.1.2.3. AVwV zu § 4 FreizügG/EU sieht insofern nachvollziehbar als Grundlage für die Bemessung der ausreichenden Existenzmittel eine Vergleichsberechnung unter Einbeziehung der regionalen sozialhilferechtlichen Bedarfssätze vor, wobei zugleich die persönlichen Umstände in jedem Einzelfall zu berücksichtigen sind.
137Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 14.
138Denn es gilt ergänzend zu beachten, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 4 RL 2004/38/EG keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen dürfen, die sie als ausreichend betrachten, sondern in jedem Einzelfall die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen müssen. Dieser Betrag darf in keinem Fall über dem Schwellenbetrag liegen, unter dem der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen Sozialhilfe gewährt, oder, wenn dieses Kriterium nicht anwendbar ist, über der Mindestrente der Sozialversicherung des Aufnahmemitgliedstaates. In § 4 FreizügG/EU wird daher darauf verzichtet, einen festen Betrag festzulegen.
139Der ursprünglich in § 8 Abs. 3 Satz 1 der Freizügigkeitsverordnung/EG als „Orientierungsmarke“ festgelegte „Bedarfseckwert für Alleinstehende und Haushaltsvorstände“ und die hieraus abgeleiteten Bedarfseckwerte für weitere Haushaltsangehörige wurden vor diesem Hintergrund nicht in das Freizügigkeitsgesetz/EU übernommen.
140Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 15; Terwocht, Beck`scher Online-Kommentar zum AuslR, § 4 FreizügG/EU, Rn. 3; vgl. auch BT-Drs. 15/420, 103.
141Es gilt andererseits zu beachten, dass einem Mitgliedstaat nach Art. 7 RL 2004/38/EG die Möglichkeit erhalten bleiben muss, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen. Würde einem betroffenen Mitgliedstaat diese Möglichkeit genommen, hätte dies zur Folge, dass Personen, die bei ihrer Ankunft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, automatisch in den Genuss solcher Mittel kämen, und zwar insbesondere durch die Gewährung einer besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung, deren Ziel darin besteht, den Lebensunterhalt des Empfängers zu sichern. Folglich ist bei der Beurteilung, ob ein Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG in Anspruch nehmen zu können, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen, ohne die beantragten Sozialleistungen – insbesondere auch beitragsunabhängigen Geldleistung – wie Kindergeld – zu berücksichtigen.
142Vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2014 – C-333/13 –, juris Rn. 78 ff.
143Dies zugrunde gelegt handelt es sich hier zur sicheren Überzeugung des Gerichts nicht um einen unangemessenen Sozialleistungsbezug.
144Zwar ist der Grund für den Sozialleistungsbezug vorliegend – soweit derzeit ersichtlich – nicht lediglich vorübergehender Natur. Angesichts des Ausbildungsstandes sowohl des Klägers zu 1. als auch der Klägerin zu 2. und ihren bisherigen Erwerbsbiografien – die Kläger zu 1. und 2. haben laut eigenen Angaben keine abgeschlossenen Berufsausbildungen, sind bis zur 5. bzw. 3. Klasse zur Schule gegangen und haben bislang als Reinigungskräfte und als Zeitungszusteller gearbeitet – ist prognostisch auch nicht damit zu rechnen, dass der Bedarf der derzeit 5-köpfigen Bedarfsgemeinschaft vollständig oder auch nur weitgehend aus einem zu erzielenden Einkommen der Kläger zu 1. und 2. gedeckt werden kann. Dies ist indes nach den vorausgegangenen Ausführungen aber auch nicht erforderlich. Vielmehr darf vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes prognostisch von einer wenn auch ggfls. bescheidenen tatsächlichen Unterhaltsgewährung des Klägers zu 1. und künftig ggfls. auch der Klägerin zu 2. für die Haushaltsgemeinschaft ausgegangen werden, die fortgesetzt und regelmäßig erfolgt und zumindest einen Teil des Lebensunterhaltes regelmäßig deckt. Vor dem Hintergrund dessen, dass die Klägerin zu 2. bereits in den Jahren 2019 und 2020 erwerbstätig war und die Kläger zu 3. bis 5. mittlerweile 13, 11 und 7 Lebensjahre alt sind, darf prognostisch – ohne das es entscheidungstragend darauf ankäme – mithin auch davon ausgegangen werden, dass auch die Klägerin zu 2. künftig erneut eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und zur Lebensunterhaltssicherung der Familie ergänzend beitragen können wird.
145Wie die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden zutreffend ausgeführt hat, ist hinsichtlich des Umfangs des Sozialleistungsbezugs festzustellen, dass die Kläger unter Außerachtlassung des Kindergeldes (ab 2023 in Höhe von 250 Euro je Kind) insgesamt einen Regelbedarf von etwa 1.740 Euro zuzüglich der Kosten der Unterkunft – hier in Höhe von 420 Euro Grundmiete nebst 255 Euro Nebenkosten (vergleiche insoweit den Bewilligungsbescheid des Jobcenters vom 22. März 2022 über einen monatlichen Gesamtbetrag von 1.433,- Euro für die Monate April 2022 bis September 2022 (GA 96 ff.)) – und damit einen hier zu berücksichtigen Bedarf von ca. 2.415 Euro pro Monat haben. Dass entsprechende Leistungen mit Aufhebungsbescheid des Jobcenters vom 31. März 2022 ab Mai 2022 (GA 102) infolge der verfügten Verlustfeststellungen der Beklagten nicht mehr bewilligt wurden, steht dem nicht entgegen. Dem hier mithin zu berücksichtigen Bedarf von ca. 2.415 Euro pro Monat können die Kläger seit 2022 ca. 786 Euro monatliche Bruttoerwerbseinnahmen des Klägers zu 1. gegenüberstellen. Das monatlich ausgezahlte Kilometergeld in Höhe von ca. 450 Euro bleibt dabei als Aufwandsentschädigung unberücksichtigt. Danach wird der monatliche Bedarf der Kläger derzeit im Umfang von durchschnittlich etwa 32,5 % aus eigenem Einkommen, also knapp zu einem Drittel gedeckt und werden im Übrigen Sozialleistungen des Staates in Anspruch genommen.
146Dass auch im vorliegenden Einzelfall nach erfolgter Gesamtabwägung prognostisch eine wie hier gegebene teilweise Deckung des Unterhalts bei gleichzeitiger Sozialhilfeabhängigkeit – dauerhaft – ausreicht und es insofern unschädlich ist, dass ergänzend zur Unterhaltsleistung auch öffentliche Sozialleistungen (hier nach SGB II) bezogen werden, beruht letztlich auf der möglichst weit auszulegenden Förderung der Familienzusammenführung von Verwandten – hier der klägerischen Familie mit insgesamt drei minderjährigen Kindern – mit einer freizügigkeitsberechtigten Person – hier dem Kläger zu 1. Auch im vorliegenden Einzelfall kann daher allein der Wunsch, die deutschen Sozialeinrichtungen nicht mit dem Aufenthalt unversorgter Familienangehöriger von Unionsbürgern zu belasten, es nicht rechtfertigen, die vom Gesetzgeber angestrebte Harmonisierung (auch der Sozialleistungssysteme) außer Acht zu lassen.
147Soweit grundsätzlich weiter zu berücksichtigen ist, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde, kann es nicht darauf ankommen, die den Betroffenen als Bedarfsgemeinschaft gewährten Sozialleistungen ins Verhältnis zur Gesamtheit der Sozialleistungen der Bundesrepublik Deutschland zu setzen. Vielmehr ist die für den Betroffenen kennzeichnende Lage zu abstrahieren und die Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit zu bewerten, die entstünde, wenn jeder Unionsbürger in einer so gekennzeichneten Lage eine ausreichende Existenzsicherung und damit (mittelbar) weiterhin den Bezug der zu untersuchenden Sozialleistungen für sich beanspruchen könnte. Nur bei dieser Betrachtung zeigen sich die (drohenden) Belastungen für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit. Die Annahme einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen setzt mithin mit anderen Worten eine umfassende Beurteilung der Frage voraus, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde.
148Vgl. Hailbronner, FreizügG/EU Kommentar, § 4 II. 2. Rn. 18b unter Bezugnahme auf Bay. VGH, Beschluss vom 4. Februar 2020 – 10 ZB 19.155 –, juris ; ebenso OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. September 2016 – 7 B 10406/16 – juris Rn. 46 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 11. November 2014 – C-333/13 –, juris Rn. 76.
149Bezogen auf den vorliegenden Einzelfall geht es demnach um zurückliegende und weiter für eine unbestimmte Zeit zu gewährende Sozialleistungen für die 5-köpfige Kernfamilie bestehend aus Eltern und drei minderjährigen Kindern, welche sich bereits alle gemeinsam seit Ende April 2015 in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft aufhalten. Die Hilfeleistungen decken derzeit gut zwei Drittel des Lebensbedarfs der 5-köpfigen Kernfamilie ab. Angesichts der begründeten Erwartung, dass der derzeit allein erwerbstätige Kläger zu 1. im Rahmen seiner unbefristeten Erwerbstätigkeit künftig zumindest gleichbleibende Einkünfte erzielen und die Klägerin zu 2. künftig ergänzend hierzu beitragen kann, werden Hilfeleistungen zwar fortgesetzt, nicht aber weiterhin in demselben erheblichem Umfang zu leisten sein.
150Soweit es in der insoweit übertragbaren Interessenlage des Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b RL 2004/38/EG, der die Anforderungen an ausreichende Existenzmittel formuliert, darum geht, nicht erwerbstätige Unionsbürger daran zu hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats – wie hier – zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen,
151vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. September 2016 – 7 B 10406/16 – juris Rn. 46 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 11. November 2014 – C-333/13 –, juris Rn. 76,
152kann eine daraus erwachsene unangemessene Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit in Bezug auf den vorliegend zu abstrahierenden Einzelfall nicht erkannt werden. Denn auch wenn man das nationale Sozialhilfesystem letztlich für sämtliche Unionsbürger in der Lage der Kläger als familiäre Haushalts-/Bedarfsgemeinschaft öffnen würde, könnte allein der Wunsch, die deutschen Sozialeinrichtungen nicht mit dem Aufenthalt unversorgter Familienangehöriger von Unionsbürgern zu belasten, es nicht rechtfertigen, die vom Gesetzgeber angestrebte Harmonisierung (auch der Sozialleistungssysteme) außer Acht zu lassen.
153Da nach alledem die in den fünf Bescheiden der Beklagten vom 25. März 2022 getroffenen jeweiligen Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU aufzuheben sind, gilt dies auch für die nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU verfügten Abschiebungsandrohungen. Auch diese sind danach rechtswidrig und verletzten die Kläger in ihren Rechten.
154Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 161 Abs. 2 und § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 Satz 1 und 2 ZPO.
155Das Gericht hat von der nach § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Möglichkeit, die Berufung zuzulassen, keinen Gebrauch gemacht, weil die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO nicht vorliegen. Das Gericht weicht weder von einer Entscheidung der in Nr. 4 genannten Gerichte ab noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung. Zwar dürfte die rechtliche Problematik eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung haben, den die Entscheidung tragenden Erwägungen im Rahmen einer Gesamtabwägung des Einzelfalls kommt ein solches Gewicht jedoch nicht zu.
156Rechtsmittelbelehrung:
157Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1581. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
1592. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
1603. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1614. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1625. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
163Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.
164Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
165Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.