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Auch für junge, alleinstehende und gut ausgebildete junge Männer kann unter den geänderten Umständen in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht ohne Weiteres angekommen werden, dass sie bei einer Rückkehr in der Lage sein werden, ihr Existenzminimum ohne Rückgriff auf ein familiäres Netzwerk allein aus eigener Kraft sicherzustellen.
I. Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Ziffern 4., 5. und 6. des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.04.2017 in Ansehung der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Afghanistan festzustellen.Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 3/4 und die Beklagte zu 1/4. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d :
2Der am °°.°°.°°°° in L. geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, dem Volk der Tadschiken zugehörig und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste am 27.08.2016 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 02.09.2016 einen Asylantrag.
3Bei seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG am 15.02.2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er Afghanistan wegen der Bedrohung durch die Taliban und aufgrund von Repressalien durch die Polizei verlassen habe. Der Kläger habe nach dem Abitur für zwei Jahre die Universität besucht. Danach sei er ein Jahr lang als Bauingenieur tätig gewesen. Im Anschluss daran habe er eine Tätigkeit bei der L. Bank in L1. aufgenommen. Diese Tätigkeit habe er insgesamt 2 ½ Jahre ausgeübt. Bei der Bank sei er für den Bereich Transaktionen über Western Union zuständig gewesen. Dabei sei über Western Union Geld an die Taliban angewiesen worden. Der Absender sei zunächst nicht erkennbar gewesen, da lediglich Abkürzungen verwandt worden seien. Nach einiger Zeit habe die Bank die Anweisung erhalten, die Absenderdaten auf Vollständigkeit zu kontrollieren. Auch vom Empfänger habe man sich den Ausweis zeigen lassen sollen. Der Kläger habe daraufhin mehrfach Bankkunden, die sich Geld über Western Union hätten auszahlen lassen wollen, wegen Unvollständigkeit der Angaben zurückweisen müssen. Nach einiger Zeit sei er außerhalb der Bank von Leuten angehalten worden, die ihm Überweisungsnummern genannt und nach Geld verlangt hätten. Eine Woche später sei der Kläger erneut angehalten worden. Die Leute hätten erneut nach dem Geld verlangt. Außerdem sei der Kläger mit dem Tode bedroht worden. Der Kläger habe sich daraufhin an die Polizei gewandt. Diese habe ihm nicht helfen können. Nach einer weiteren Zeit von ca. eineinhalb Wochen seien ein paar Leute an sein Hotelfenster gekommen. Sie hätten nach Geld verlangt und den Kläger zusammengeschlagen und mit einem Messer verletzt. Der Kläger habe sich dann zum Zimmer der Hotelkellner geschleppt. Diese hätten die Polizei gerufen. Der Kläger sei danach fünf bis sechs Tage im Krankenhaus geblieben. Zwei bis zweieinhalb Wochen danach sei erneut ein Unbekannter in die Bank gekommen und habe erklärt, dass die Leute ihr Geld verlangen würden. Wenn der Kläger das Geld nicht übergeben würde, dann würde man ihn umbringen. Der Kläger sei daraufhin zu seinem Vorgesetzten und sodann zur Polizei gegangen. Diese habe ihm nicht helfen können. In der Nähe der Bank sei dann eine Bombe explodiert. Die Polizei habe daraufhin von ihm verlangt, die Bombenleger zu identifizieren, da es die gleichen Personen gewesen seien, die von dem Kläger Geld verlangt hätten. Danach sei er nicht nur durch die Taliban bedroht, sondern auch ständig von den Sicherheitsbehörden belästigt worden. Der Kläger sei schließlich nach L. gefahren. Der Mann seiner Schwester sei Staatsanwalt gewesen. Der Schwager habe ihm erklärt, dass er selber bedroht werde. Der Kläger solle mit seiner Schwester Afghanistan verlassen. Dies habe der Kläger dann kurze Zeit später auch getan. Neben dieser Schwester lebten eine weitere Schwester und seine Mutter in Deutschland.
4Mit Bescheid vom 28.04.2017 lehnte das BAMF den Antrag auf Asylanerkennung des Klägers ab (Ziffer 2.), erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 1., 3.) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.). Der Kläger wurde zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. bei Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert. Ihm wurde bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
5Zur Begründung führte es aus, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG sei. Der Kläger sei in Afghanistan keinen Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt gewesen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen gleichfalls nicht vor. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG bestünden nicht. Der Kläger sei gesund und im erwerbsfähigen Alter. Zudem sei der Kläger gut ausgebildet. Er könne das Existenzminimum aus eigener Kraft erwirtschaften.
6Der Bescheid wurde dem Kläger am 06.05.2017 zugestellt.
7Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 15.05.2017, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht am selben Tage, hat der Kläger Klage bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erhoben und mit Schriftsatz vom 06.06.2017 weiter begründet. So sei der Kläger in Afghanistan wegen der von ihm verweigerten Auszahlungen mit dem Tode bedroht worden. Er befürchte bei einer Rückkehr eine Verfolgung durch die Taliban und durch die Regierung. Durch die Flucht aus Afghanistan habe er sich in eine oppositionelle Rolle gebracht. Durch die Taliban würde ihm daher eine gegenteilige politische Ansicht unterstellt werden. Eine interne Fluchtalternative sei nicht gegeben. Insbesondere käme auch eine Unterstützung durch Verwandte nicht in Betracht, da diese andernfalls selbst in den Fokus der Taliban geraten würden.
8In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger unter Klagerücknahme im Übrigen zuletzt beantragt,
9den Bescheid der Beklagten vom 28.04.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen,
10dass der Kläger in seiner Person die Voraussetzungen des § 3 AsylG erfülle,
11dass ihm subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen sei,
12dass in der Person des Klägers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
13Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen und bezieht sich zur Begründung im Wesentlichen auf den angefochtenen Bescheid.
14Durch Beschluss vom 20.09.2018 wurde dem Kläger die beantragte Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
15Am 20.09.2021 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der der Kläger informatorisch angehört wurde, wird auf die hierüber gefertigte Niederschrift Bezug genommen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen. Das Gericht hat neben den Verwaltungsvorgängen des Klägers auch diejenigen der Schwestern sowie der Mutter des Klägers beigezogen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
18Der gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zuständige Einzelrichter konnte über die Klage des Klägers entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 20.09.2021 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
19Soweit der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG) in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
20Im Übrigen ist die zulässige Klage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) begründet, soweit die Beklagte dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht zuerkannt hat. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 28.04.2017 ist zu Ziffern 4., 5. und 6. rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes, § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Insoweit war der Bescheid des BAMF aufzuheben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
21Ansonsten ist die Klage nicht begründet.
221. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG.
23Nach § 3 Abs. 1 AsylG genießt ein Ausländer den Schutz als Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (dazu im Einzelnen § 3b AsylG) außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Ausnahmsweise ausgeschlossen ist dieser Flüchtlingsschutz in den Fällen des § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG und des § 60 Abs. 8 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -.
24Als Verfolgung gelten gemäß § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art und Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen bzw. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, § 3a Abs. 1 AsylG. Die grundlegenden Menschenrechte in diesem Sinne sind insbesondere die Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Folter, Sklaverei und Leibeigenschaft, keine Strafe ohne Gesetz). Als Verfolgung können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gelten, aber auch gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, ebenso unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, ebenso die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, ebenso Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die den Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 2 AsylG ausschließen, sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
25Ausgehen kann die Verfolgung gemäß § 3b AsylG von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
26Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt voraus, dass das Gericht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit einen Sachverhalt feststellen kann, aus dem sich in rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind. Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern.
27Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.4.1990-9 C 4.89 -, juris.
28Die Verpflichtung zur Anerkennung eines Asylbewerbers setzt voraus, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des von ihm behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat, wenn es hierauf entscheidend ankommt.
29Vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985, Az. 9 C 109/84.
30Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes eines Asylbewerbers sind allerdings seine Aussagen im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist gerade bei fehlenden Beweisen gesteigerte Bedeutung beizumessen,
31vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985, a. a. O.
32Eine richterliche Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylbewerber geschilderten Sachverhalts verlangt aber regelmäßig einen substantiierten, im Wesentlichen widerspruchsfreien und anschaulichen Tatsachenvortrag. Ein im Wesentlichen unzutreffendes oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchliches Vorbringen eines Asylbewerbers bleibt unbeachtlich, die Unglaubwürdigkeit des Asylvorbringens kann allein bereits zur Unbegründetheit der Asylklage führen.
33Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 29.11.1990, Az. 2 BvR 1095/90.
34Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag bedarf es einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten, um einem solchen Asylbewerber glauben zu können.
35Vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.1985, 9 C 27/85.
36Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Ist es danach von der Wahrheit des vorgebrachten Schicksals überzeugt – wenn es hierauf ankommt –, dann ist bei insoweit ablehnendem Bescheid auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG zu erkennen, im anderen Falle ist die Klage abzuweisen. Die bloße Wahrscheinlichkeit eines vorgetragenen Asylsachverhalts reicht für die Asylanerkennung nicht aus.
37Vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.07.1989, Az. 9 B 239/89.
38a) Hier konnte das Gericht auch nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 20.09.2021 nicht die Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) vom Vorliegen einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlung gewinnen.
39aa) Zwar hat der Kläger sowohl in seiner Anhörung bei dem Bundesamt am 15.02.2017 als auch in der mündlichen Verhandlung am 20.09.2021 im Kern ausgesagt, dass er seinerzeit Afghanistan verlassen habe, weil er durch die Taliban und auch die Regierung bedroht bzw. verfolgt worden sei.
40bb) Allerdings folgt aus beiden Darstellungen keine glaubhafte Bedrohungslage des Klägers. Denn in beiden Darstellungen war der Kläger nicht in der Lage, insbesondere die behauptete Nachstellung durch Mitglieder der Taliban angesichts von fehlgeschlagenen Transaktionen über Western Union in glaubhafter Art und Weise darzustellen. Der Kläger hat weder in seiner Anhörung bei dem Bundesamt noch in der gerichtlichen Anhörung am 20.09.2021 detailliert und lebendig von den behaupteten zahlreichen Kontakten mit den Taliban berichten können, die von dem Kläger die Einlösung der Western Union-Transaktionen gefordert haben sollen. Der Kläger hat bzgl. keiner der behaupteten Begegnungen auch nur ansatzweise eine lebendige Beschreibung der Situation und der Personen, die ihn bedroht haben sollen, abgeben können. In beiden Anhörungen war diesbezüglich nur die Rede von „diesen Leuten“ (siehe etwa Bl. 45 der VVe, Az. 6843321-423) oder von „Gruppen“ (siehe S. 4 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 20.09.2021). Es fehlt umfassend an einer Beschreibung von äußeren Merkmalen der Personen, die den Kläger wiederholt bedroht haben sollen.
41Auch konnte der Kläger etwa bzgl. des Überfalls der Angreifer auf ihn in seinem Hotelzimmer weder eine lebendige, nachvollziehbare Darstellung der Ereignisse noch eine widerspruchsfreien Ablauf der Geschehnisse schildern. In seiner gerichtlichen Anhörung am 20.09.2021 hat der Kläger ausgesagt, dass nachts drei Personen in sein Zimmer gekommen seien. Sie hätten Geld verlangt und ihm dann mit einem Messer am Bauch verletzt. Er habe dann geschrien. Jemand, der in dem Hotel aufgepasst habe, sei ihm dann zur Hilfe gekommen. Bereits einen Tag zuvor sei jemand aus der Gruppe in die Bank gekommen und hätte ihm die Nummer einer Western Union-Transaktion gezeigt. Der Kläger habe dieses Geld jedoch nicht ausgezahlt. Er sei dann sofort am nächsten Tag zur Polizei gegangen. Noch am gleichen Tag sei es dann abends im Hotel zu diesem Überfall gekommen. (Siehe Seite 3 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 20.09.2021.) Bei seiner Anhörung bei dem Bundesamt am 15.02.2017 hat der Kläger hingegen einen völlig anderen Ablauf geschildert. Der Kläger sei von diesen Leuten außerhalb der Bank angehalten worden und man habe Geld von ihm gelangt. Sie hätten ihm erklärt, dass sie nicht mehr in die Bank kommen würden und das Geld von ihm haben wollten. Sie hätten ihn auch geschlagen und getreten. Der Kläger sei daraufhin zur Polizei gegangen und habe von den Ereignissen erzählt. Der Kläger sei weiterhin am nächsten Tag zum Polizeichef gegangen und habe erneut über diese Probleme gesprochen. Erst ca. eine bis anderthalb Wochen danach seien ein paar Leute an sein Fenster im Hotel gekommen, hätten geklopft, nach Geld verlangt und ihn schließlich zusammengeschlagen und mit einem Messer verletzt. (Siehe Seite 5-6 der Anhörungsniederschrift vom 15.02.2017, Blatt 45 f. der VVe.) Der Kläger hat insoweit gerade hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs der Geschehnisse völlig unterschiedliche Angaben gemacht.
42Auch die weiteren Angaben, die der Kläger beim Bundesamt und in der mündlichen Vernehmung zum Verfolgungsgeschehen gemacht hat, sind nicht überzeugend. So wirkt insbesondere der behaupteten Umstand, dass nach den Übergriffen der Bankkunden auf den Kläger in unmittelbarer Nähe der Bank eine Bombe explodiert sei und der Kläger sodann der Polizei habe helfen sollen, die Bombenleger zu identifizieren, deutlich konstruiert. Gleiches gilt für die Behauptung des Klägers, dass der Ehemann seiner Schwester Staatsanwalt gewesen sei und sich – zeitgleich wie der Kläger – ebenfalls einer Verfolgung ausgesetzt gesehen habe. In diesem Zusammenhang fällt zudem auf und spricht gegen die Glaubhaftigkeit der behaupteten Geschehnisse, dass der Kläger bei dem Bundesamt auf Nachfrage nicht angeben konnte, von wem der Schwager in Afghanistan bedroht worden sei. (Siehe Anhörungsniederschrift vom 15.02.2017, S. 7, Bl. 47 der VVe.)
43b) Ausgehend von den oben dargestellten erheblichen Glaubhaftigkeitsmängeln und Widersprüchlichkeiten kann das Gericht keinerlei fassbare Bedrohungs- bzw. Verfolgungshandlung des Klägers in Afghanistan feststellen. Das erkennende Gericht schenkt insoweit dem Vortrag des Klägers keinen Glauben, sondern geht vielmehr davon aus, dass der Kläger einen Sachverhalt vorgetragen hat, der sich so nicht zugetragen hat.
44Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger intellektuell nicht in der Lage wäre, tatsächlich Erlebtes nachvollziehbar darzustellen. Der Kläger hat nach seinen Angaben in Afghanistan das Abitur abgelegt und sodann ein Studium als Bauingenieur absolviert. Weiterhin hat er nach eigenen Angaben mehrere Jahre in einer Bank gearbeitet. Schon der hohe Bildungsstand des Klägers kann seinen nicht glaubhaften und widersprüchlichen Vortrag nicht nachvollziehbar erklären.
45c) Auch die Rückkehr des Klägers aus einem westlichen Land nach Afghanistan würde nicht zu einer ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden (Gruppen-) Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG führen. Hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung mangelt es jedenfalls an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte.
46Vgl. nur VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29. November 2019 – 5a K 7039/17.A –, Rn. 49 - 50, juris.
47d) Eine flüchtlingsrechtlich bedeutsame Bedrohungslage liegt nach allem zur Überzeugung des Gerichts nicht vor.
482. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
49a) Ausgehend von den Angaben des Klägers droht dem Kläger nach der Überzeugung des Gerichts kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 AsylG. Auf die obigen Ausführungen wird Bezug genommen. Es fehlt an einer drohenden Schadenslage nach § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 AsylG.
50b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.
51Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird.
52Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12 – juris.
53Der Kläger ist nach seinen Angaben in L. geboren worden und hat bei einer Bank in L1. gearbeitet. Nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung habe er mittlerweile kaum noch nahe Verwandte in Afghanistan. Einzig ein Bruder lebe in L. . Die übrigen Familienmitglieder lebten im Iran oder in Deutschland. Schon von daher kommt hier als Rückkehrort für den Kläger realistischerweise nach wie vor nur eine der afghanischen Metropolen, und zwar insbesondere L. , in Betracht.
54Bei der Prüfung, ob dem Ausländer zumindest in seiner Herkunftsregion aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben droht, sind gegebenenfalls gefahrerhöhende persönliche Umstände zu berücksichtigen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Liegen hingegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Dazu können aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Allerdings kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
55BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 18 ff.
56Nach diesen Grundsätzen und auf Grundlage der aktuellen Auskunftslage geht das Gericht davon aus, dass in der Rückkehrprovinz des Klägers (L. ) kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, der für den Kläger zu einer erheblichen individuellen Gefahr führen würde.
57Eine Aufschlüsselung der Gefährdungslage nach Regionen bzw. Provinzen enthält der Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen aus Dezember 2017 (EASO, Afghanistan, Security Situation, verfügbar auf ecoi.net). Diesem Bericht lässt sich entnehmen, dass für die Provinzhauptstadt L. von September 2016 bis Mai 2017 insgesamt 290 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet sind (EASO, S. 155). Bei einer Einwohneranzahl in L. -Stadt von zumindest 4.117.414 Menschen (siehe Nachweise unter http://cso.gov.af/en/page/demography-and-socile-statistics/demograph-statistics/3897111) lag die Wahrscheinlichkeit, im Jahr 2016/2017 binnen eines Jahreszeitraumes Opfer eines Anschlages zu werden, bei einer Wahrscheinlichkeit von ca. 1:10.648.
58Keine höhere Wahrscheinlichkeit ergibt sich aus dem Bericht der EASO vom Juni 2019. (Siehe Afghanistan, Security Situation, June 2019, abrufbar unter https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports.) Danach sind für das Jahr 2018 für die gesamte Provinz L. 1.866 sicherheitsrelevante Vorfälle (596 Todesfälle und 1.270 Verletzte) verzeichnet, wobei nach den dortigen Angaben die meisten Anschläge auf die Hauptstadt L. entfallen. (Siehe EASO, S. 166.) Dies ergibt eine Wahrscheinlichkeit, in der gesamten Provinz L. im Jahr 2018 binnen eines Jahres Opfer eines Anschlages zu werden, von ca. 1:4.754.
59Nach dem „Reports on the protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2019“, abrufbar unter https://unama.unmissions.org/protection-of-civilians-reports, ist es im Jahr 2019 in L. zu insgesamt 1.563 zivilen Todesopfern gekommen. (Siehe dort, S. iii.) Auch dieser Wert führt zu keiner signifikanten Steigerung des Risikos in L. , Opfer eines (tödlichen) Anschlags zu werden.
60Nach dem „Annual Report 2020“, abrufbar unter https://unama.unmissions.org/sites/default/files/afghanistan_protection_of_civilians_report_2020_revs3.pdf“ ist es im Jahr 2020 in L. zu insgesamt 817 zivilen Opfern gekommen. (Siehe dort, S. 3.) Auch diese Angabe führt zu keiner signifikanten Steigerung des Risikos in L. , Opfer eines (tödlichen) Anschlags zu werden
61Insgesamt erachtet das Gericht das Risiko in dem vorliegenden Ausmaß (zwischen ca. 1:4.754 und 1:10.648) auch unter Berücksichtigung der jüngsten Opferzahlen im Jahr 2019 nicht als derart gravierend, als dass die als beachtlich angenommene Schwelle (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 14 ff.) erreicht bzw. überschritten wird.
62Schließlich sind besondere gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers nicht gegeben. Zu den gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – zB als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt.
63Vgl. Bergmann/Dienelt/Bergmann AsylG § 4 Rn. 14-16, beck-online.
64Auch diese Voraussetzungen liegen jedoch in der Person des Klägers nicht vor.
653. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistan nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des AufenthG.
66Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.).
67Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Insoweit muss es sich um Gefahren handeln, die den einzelnen Ausländer in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen. Erfasst werden dabei nur zielstaatsbezogene Gefahren. Diese müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
68Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, "allgemein" ausgesetzt ist, sind demgegenüber nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Abschiebestopp-Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Insoweit entfaltet § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG grundsätzlich eine gewisse Sperrwirkung. Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG greift aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur dann ausnahmsweise nicht, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" würde.
69Vgl. zu § 60 Abs. 7 AufenthG a.F.: Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 -, und vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 10. September 2014 - 13 A 984/14.A -; jeweils zitiert nach juris.
70Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung.
71Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Januar 2013 - 13 A 2635/12.A - und - 13 A 2673/12.A - sowie vom 13. Februar 2013 - 13 A 1524/12.A -; jeweils zitiert nach juris.
72Die Beantwortung hängt dabei maßgeblich von dem individuellen Risikoprofil des Klägers ab, das wiederum durch eine Vielzahl einzelfallbezogener Kriterien wie seine Schul- und Ausbildung, seinen Beruf, seinen Familienstand, sein Alter, sein Gesundheitszustand, sein Geschlecht und die Möglichkeit der Wiedereingliederung in einen Familienverband bestimmt wird.
73Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Dezember 2014 - 13 A 2294/14.A -, zitiert nach juris.
74Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen.
75Vgl. BayVGH, Urteile vom 8. November 2012 - 13a B 11.30465 - und - 13a B 11.30391 -, sowie OVG NRW, Urteil vom 26. August 2014 - 13 A 2998/11.A -; jeweils zitiert nach juris.
76Dies zugrunde gelegt ging das Gericht auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung jedenfalls bis zur Machtübernahme in Afghanistan durch die Taliban am 15. August 2021 davon aus, dass trotz der nach wie vor teilweise äußerst schlechten allgemeinen Versorgungslage in L. nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach L. erleiden müsste.
77Vgl. OVG NRW, Urteile vom 3. März 2016 - 13 A 1828/09.A - und vom 26. August 2014 - 13 A 2998/11.A - sowie Beschluss vom 30. April 2015 - 13 A 477/15.A; OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 21. März 2012 - 8 A 11048/10 - und - 8 A 11050/10 -; BayVGH, Urteil vom 30. Januar 2014 - 13a B 13.30279 - sowie Beschluss vom 10. August 2015 - 13a ZB 15.30050 -; OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 2 LB 23/08 -; OVG Sachsen, Urteil vom 10. Oktober 2013 - A 1 A 474/09 - sowie Beschluss vom 23. Januar 2015 - A 1 A 140/13 -; Hessischer VGH, Urteil vom 30. Januar 2014 - 8 A 119/12.A -; jeweils zitiert nach juris.
78Insbesondere hat das Gericht in der Gesamtschau der bis zur Machtübernahme der Taliban vorliegenden Auskünfte angenommen, dass vor allem für alleinstehende, aus dem europäischen Ausland zurückkehrende und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen in L. - mitunter auch ohne familiären Rückhalt - die Möglichkeit gegeben ist, als Tagelöhner wenigstens das Überleben zu sichern.
79Vgl. OVG NRW, Urteile vom 3. März 2016 - 13 A 1828/09.A - und vom 26. August 2014 - 13 A 2998/11.A - sowie Beschluss vom 26. Oktober 2010 - 20 A 964/10.A -; BayVGH, Urteile vom 14. Januar 2015 - 13a ZB 14.30410 -, vom 30. Januar 2014 - 13a B 13.30279 - und vom 8. November 2012 - 13a B 11.30391 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. März 2012 - 8 A 11050/10 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -; OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 2 LB 23/08 -; jeweils zitiert nach juris; siehe auch UNHCR - Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, dort S. 10, http://www.refworld.org/docid/570f96564.html; siehe zudem UNHCR - Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 125; vgl. ferner OVG NRW, Urteile vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris, und – 13 A 3741/18.A –, juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG NDS), Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris; Verwaltungsgerichtshof Hessen (VGH Hessen), Urteil vom 23. August 2019 – 7 A 2750/15.A –, juris; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Urteil vom 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 –, juris.
80Eine extreme Gefahrenlage in L. könne sich jedoch für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
81Vgl. etwa aus der Rechtsprechung des VG Augsburg: Urteile vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30234 - (Rückkehrgefahren wegen langjährigen Aufenthalts im Iran und Schussverletzung); vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30233 - (jugendliches Alter; gesamtes Leben im Iran verbracht); vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30232 - (Rückkehrgefahren für junge Frau); vom 9. Januar 2013 - Au 6 K 12.30127 - (Rückkehrgefahren bei Rückkehr eines Minderjährigen nach L. ); vom 26. Oktober 2012 - Au 6 K 11.30425 - (keine eigenständige Sicherung des Existenzminimums für Minderjährigen), vom 11. Oktober 2012 - Au 6 K 12.30100 - (18-jährig, in schlechter psychischen Verfassung und ohne Erfahrungen im Berufsleben), vom 10. Oktober 2012 - Au 6 K 11.30359 - (alleinstehende, ältere Frau); vom 13. März 2012 - Au 6 K 11.30402 - (Rückkehr angesichts des Alters, 63 und 59 Jahre, und des Gesundheitszustandes nicht zumutbar), vom 11. Januar 2012 - Au 6 K 11.30309 - (vierköpfige Familie mit zwei Kindern im Alter von zwölf und vierzehn Jahren), vom 24. November 2011 - Au 6 K 11.30222 - (Familienverband mit vier kleinen Kindern) und vom 16. Juni 2011 - Au 6 K 11.30153 - (Familie mit zwei Kindern).
82In der Gesamtschau der Auskünfte sei davon auszugehen, dass die Rückkehrsituation, die ein Rückkehrer (in L. ) vorfinde, wesentlich davon mitbestimmt werde, ob er sich auf familiäre oder sonstige verwandtschaftliche Strukturen verlassen könne oder ob er auf sich allein gestellt sei. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser seine Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen sei, desto leichter und besser könne er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und dort jedenfalls sein Existenzminimum sichern.
83Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. August 2018 – 5a K 1462/17.A –, Rn. 98, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29. November 2019 – 5a K 7039/17.A –, Rn. 98, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. August 2020 – 5a K 11323/17.A –, Rn. 88, juris;
84Allerdings war schon deutlich vor dem Zusammenbrechen der Zivilregierung in Afghanistan im August 2021 und der anschließenden Machtübernahme durch die Taliban zu konstatieren, dass die (Flucht‑)Metropolen L. und Herat sich aufgrund der hohen Zahl von Binnenflüchtlingen und durch den Abzug der internationalen Truppen in der jüngeren Vergangenheit durch eine besonders zugespitzte Lage auszeichnen. Bereits im Jahr 2017 sind über 151.000 Menschen von Pakistan und weitere 395.000 aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die Rückkehrenden sind bei ihrer Ankunft in Afghanistan beinahe vollkommen vom weiteren Familienverband und von internationaler Hilfe abhängig. Vom 1. Januar bis 4. August 2018 sind 463.157 Afghanen aus den beiden Nachbarstaaten Pakistan und Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Rückkehrende lassen sich hauptsächlich in Städten nieder. Dies schafft einen zusätzlichen Wettbewerb um die ohnehin wenigen Jobmöglichkeiten und führt schließlich zu tieferen Löhnen. Rückkehrende machen rund 44 Prozent der 2,1 Millionen in informellen Siedlungen lebenden Menschen aus. Informelle Siedlungen bieten meist einen schlechten oder keinen Zugang zu Basisdienstleistungen und Infrastruktur (Elektrizität, sauberes Wasser, Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen). Zudem sind die Unterkünfte meist behelfsmäßig gebaut und können nur bedingt vor Kälte, Hitze und Feuchtigkeit schützen. Die Lebensbedingungen von Rückkehrenden liegen unter den normalen Standards. Rückkehrende, die nicht in ihre Heimatregion zurückkehren können, werden oft zu IDPs oder sind gezwungen, das Land erneut zu verlassen. Zudem hat die Hilfe, die sie bei ihrer Rückkehr erhalten, kaum eine nachhaltige Wirkung auf ihre Situation. Unterkunft, eine sichere Existenz, Lebensmittelsicherheit und wirtschaftliche Möglichkeiten bleiben nach der Ankunft prekär. Ob es Rückkehrende schaffen, sich in Afghanistan wieder zu integrieren, hängt nicht zuletzt von den verschiedenen Netzwerken ab, über die sie verfügen. Gelingt es Rückkehrenden nicht, sich wieder zu integrieren, bleiben sie praktisch vollkommen abhängig von familiärer Unterstützung und internationaler Hilfe.
85Vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 12.09.2018, S. 19 f., mzwN, abrufbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/afghanistan/180912-afg-update-profile-d.pdf.
86Weiterhin sind die Chancen auf dem Markt für Tagelöhner in L. im Zuge der Coronapandemie erheblich gesunken. Der in den Großstädten ohnehin schon angespannte Arbeits- und Tagelöhnermärkte ist übersättigt.
87Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund des Virus die ohnehin angeschlagene Wirtschaft weiter zusammenbricht. In Kombination mit der hohen Anzahl an (Binnen‑)Flüchtlingen, die überwiegend auf den Tagelöhnermarkt angewiesen sind, ist die Möglichkeit, sich auf dem Tagelöhnermarkt durchzusetzen und so die überlebenswichtige Tätigkeit zu ergattern, derzeit kaum noch vorhanden.
88Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 4; Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 2, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken+Afghanistan+27.03.2020.pdf.
89Darüber hinaus waren schließlich die Tagelöhnermärkte in den meisten relevanten Großstädten, namentlich insbesondere in L. und Herat, über drei Wochen faktisch geschlossen, weil zur Eindämmung der Epidemie eine dreiwöchige Ausgangssperre verhängt worden ist und Märkte und Geschäfte geschlossen worden sind.
90Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-gefangenenaustausch-101.html; Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 4, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken+Afghanistan+27.03.2020.pdf.
91Der in kurzer Zeit zu verzeichnende hochgradige Anstieg an (Binnen-)Flüchtlingen, die sich insbesondere in den Großstädten ansiedeln, hat zudem dazu geführt, dass die ohnehin schon schwierige Suche nach Wohnraum für Rückkehrer/innen aus dem Ausland in einem unzumutbaren Maße erschwert wird.
92Vgl. Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 3, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken+Afghanistan+27.03.2020.pdf.
93Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban haben sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan und die humanitäre Situation für Rückkehrer durch die jüngsten Entwicklungen infolge der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschärft.
94Nachdem die Taliban nach der Einnahme Kabuls am 15.08.2021 und dem Abzug der NATO-Truppen Ende August 2021 die Kontrolle über fast ganz Afghanistan übernommen haben, haben der Internationale Währungsfond und etliche Länder den Zugriff Afghanistans auf im Ausland befindliche Währungsreserven gesperrt. Dies betrifft den Großteil der afghanischen Währungsreserven. Zugleich wurde die Zahlung vorgesehener humanitärer Hilfen gestoppt. Auch die Weltbank hat die Finanzierung sämtlicher von ihr in Afghanistan unterstützter Projekte eingestellt.
95Vgl. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/iwf-taliban-hilfsgelder-devisen-devisenreserven-usa-101.html; „IMF Blocks Afghanistan’s Access to Emergency Reserves“, https://tolonews.com/index.php/business-174302; „Biden Administration Freezes Billions in Afghan Reserves: Report“, https://tolonews.com/index.php/business-174277.
96Afghanistan ist massiv von internationalen Hilfen abhängig. Etwa 75 % der staatlichen Ausgaben werden durch ausländische Hilfsgelder finanziert. Zudem ist die afghanische Wirtschaft in hohem Maße auf Importe angewiesen, was zu einem erheblichen Außenhandelsdefizit führt, das bisher fast ausschließlich durch externe Hilfsgelder finanziert wird.
97Vgl. World Bank Group, Afghanistan Development Update April 2021, S. 21.
98Das Einfrieren internationaler Bargeldreserven hat bereits jetzt dazu geführt, dass in Afghanistan Bargeld knapp wird und es zu erheblichen Preissteigerungen auch für Grundnahrungsmittel gekommen ist.
99Vgl. https://www.wiwo.de/politik/ausland/nach-machtuebernahme-der-taliban-in-afghanistan-wird-das-bargeld-knapp/27537298.html; https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/taliban-zentralbank-devisenreserven-afghanistan-usa-101.html
100Die Versorgungslage hat sich dadurch in nur drei Wochen zwischen dem 1. und dem 22. August weiter massiv verschlechtert. Die Lebensmittelpreise sind in dieser Zeit landesweit erheblich gestiegen. Zugleich haben sich die Arbeitsmöglichkeiten verschlechtert. Ein Tagelöhner findet im Schnitt lediglich noch an 2,1 Tagen pro Woche Arbeit (-10,5 %).
101Vgl. WFP, Afghanistan, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Special Bulletin (22.08.2021), S. 2.
102Bereits vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban hatte die bisherige Regierung die Gelder für Infrastrukturprojekte gekürzt und die frei gewordenen Gelder dem Verteidigungshaushalt zugeordnet bzw. in anderen Fällen Projekte wegen fehlender Finanzierung verschieben müssen.
103Siehe „Afghan Economic Projects Suspended for Lack of Funds“, https://tolonews.com/business-173506; Development Projects Suspended Due to Proposed Budget Reduction, https://tolonews.com/index.php/business-173966.
104Durch die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Taliban laufen (westliche) ausländische Investoren zudem zukünftig Gefahr von den US-Behörden sanktioniert zu werden, weil die Taliban von den USA als Terrororganisation eingestuft werden. Dies verbietet es US-Bürgern und unter US-amerikanische Jurisdiktion fallenden natürlichen und juristischen Personen mit den Taliban Handel zu treiben. Da die Taliban die Regierungsgewalt in Afghanistan übernommen haben liegt es nahe, dass diese Sanktionen nunmehr auch den afghanischen Staat betreffen.
105Vgl. https://www.justsecurity.org/77957/the-humanitarian-and-policy-challenges-of-u-s-sanctions-on-the-taliban/.
106Viele Hilfsorganisationen sind zwar weiterhin vor Ort in Afghanistan vertreten, haben aber angesichts der unsicheren Lage einen Teil ihrer (ausländischen) Mitarbeiter aus Afghanistan abgezogen und ihre Büros ganz oder zum Teil geschlossen. Die Tätigkeit der noch im Land aktiven Organisationen wird durch die unklare Sicherheitslage, Gewaltakte gegen humanitäre Helfer und fehlende Geldmittel beeinträchtigt.
107Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/machtuebernahme-der-taliban-in-afghanistan-wie-hilfsorganisationen-jetzt-weiterarbeiten/27537224.html; IOM, Afghanistan, Situation Report 26.08.2021, S. 1.
108Andere Hilfsorganisationen, insbesondere der Vereinten Nationen, wie das World Food Programme haben zwar alle Büros in Afghanistan geöffnet. Es fehlt jedoch nach Angaben des WFP aufgrund des gestiegenen Bedarfs und knapper Mittel in erheblichem Maße an Hilfsgütern. So geht das WFP davon aus, dass der derzeitige Vorrat an Weizenmehl, dem wichtigsten Versorgungsgut, noch vor Wintereinbruch aufgebraucht sein könnte.
109Vgl. https://www.wfp.org/stories/afghanistan-wfp-continues-deliver-winter-and-humanitarian-crisis-loom.
110Eine Unterstützung freiwilliger Rückkehrer durch die Internationale Organisation für Migration findet derzeit nicht statt. Auch die Förderung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage bis auf weiteres ausgesetzt.
111Siehe https://www.returningfromgermany.de/en/countries/afghanistan.
112Für den Zugang zum erheblich umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt spielten schon vor der Machtübernahme der Taliban persönliche Kontakte und lokale Netzwerke eine überragende Rolle. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als eine formelle Qualifikation. Auch im Falle der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit hängt die Möglichkeit der Erzielung eines regelmäßigen Einkommens ebenfalls vom Vorhandensein eines Netzwerks ab, über das die entsprechenden Aufträge erlangt werden.
113Vgl. Eva-Catharina Schwörer, Gutachten, Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, S. 16 f.; European Asylum Support Office (EASO), Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on L. , Mazar-e Sharif an Herat, August 2020, S. 31.
114Vor diesem Hintergrund sprechen erhebliche Gründe dafür, dass auch der ansonsten gut ausgebildete Kläger, der in Afghanistan das Abitur erworben, dort ein Studium absolviert hat und auch über relevante Berufserfahrung in Afghanistan verfügt, aufgrund der derzeitigen Situation in Afghanistan, nämlich dem Zusammenbruch der Zivilregierung und der Machtübernahme durch die Taliban sowie den erheblichen Einbrüchen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der Corona-Pandemie, einer extremen, individuellen Gefahrensituation ausgesetzt wäre. Über relevante familiäre Unterstützung in Afghanistan, i. e. L. , die dem Kläger eine nicht nur kurzfristige Existenzsicherung verschaffen könnte, verfügt der Kläger jedenfalls derzeit nicht. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, leben seine Mutter sowie zwei seiner Schwestern nachgewiesenermaßen in Deutschland. Eine weitere Schwester lebe mittlerweile im Iran. Ebenfalls habe sein Vater Afghanistan jüngst in Richtung des Iran verlassen. Sein in L. lebender Bruder habe aus Angst vor Verfolgung seine Wohnung verlassen und befinde sich derzeit in einem Versteck, da er zuvor mit den Amerikanern zusammen gearbeitet habe.
115Danach würde der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan bei einer Rückkehr allein auf sich gestellt sein. Familiäre Unterstützung könnte der Kläger nach dem oben Gesagten nicht (mehr) beanspruchen. Auch ist nicht erkennbar, dass der Kläger, der bereits im Jahr 2016 aus Afghanistan ausgereist ist, nach einer Rückkehr dort auf ein noch vorhandenes (berufliches) Netzwerk zurückgreifen könnte. Angesichts dieser Umstände ist insgesamt nicht erkennbar, dass es dem Kläger, der von keiner Seite Unterstützung in Afghanistan finden könnte, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gelingen würde, unter den derzeit geltenden Bedingungen in Afghanistan sein Existenzminimum auch nur in notwendigem Ausmaß zu sichern. Ihm drohten damit Obdachlosigkeit, Hunger und Armut für einen nicht absehbaren Zeitraum ohne jegliche Aussicht auf Besserung.
1164. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. des Bescheides ist rechtswidrig und aufzuheben, da wegen der Zuerkennung des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG nicht mehr vorliegen. Umstände dafür, dass die Abschiebung des Klägers ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist (vgl. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Alt. 2 AsylG), sind nicht ersichtlich. Gleichfalls ist Ziffer 6. des angefochtenen Bescheides aufzuheben. Die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Absatz 2 AufenthG konnte durch die Beklagte mangels rechtmäßiger Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG nicht wirksam ausgesprochen werden, § 75 Nr. 12 AufenthG.
1175. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 155 Abs. 2, Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.
118Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
119Rechtsmittelbelehrung:
120Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1211. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1222. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1233. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
124Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), zu beantragen. In dem Antrag, der das angefochtene Urteil bezeichnen muss, sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
125Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.