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Eine in der Hauptsache erhobene und statthafte Anfechtungsklage gegen einen Bescheid, mit dem ein nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes alter Fassung AufenthG a.F. festgestellte Abschiebungsverbot widerrufen wurde, hat grundsätzlich gemäß § 75 Abs. 1 AsylG analog i.V.m. § 73c AsylG analog aufschiebende Wirkung.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Widerrufsbescheides durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist grundsätzlich gemäß § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG zulässig. Eine Einschränkung oder Anwendungssperre für Widerrufs- und Rücknahmefälle lässt sich weder dem (weiten) Wortlaut der Vorschrift noch der Gesetzesbegründung entnehmen.
Entsprechend § 73c Abs. 2 AsylG ist die Feststellung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Neue Tatsachen müssen eine veränderte Grundlage für die Gefahrenprognose im Hinblick auf das festgestellte Abschiebungsverbot geschaffen haben.
Ist die Feststellung des Abschiebungsverbots in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen, steht die Rechtskraft dieses Urteils einer behördlichen Widerrufsentscheidung nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat. Erforderlich ist eine nicht nur vorübergehende und grundlegende Änderung der Umstände, die zur Folge hat, dass der bislang Schutzberechtigte tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.
Lässt sich nach summarischer Prüfung im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes - trotz einer Verbesserung der Menschenrechtslage im Herkunftsstaat - nicht feststellen, dass im Einzelfall die (mit rechtskräftiger Entscheidung zuvor bejahte) Gefahr von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unter das erforderliche Maß der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist, geht dies nach den allgemeinen Grundsätzen zu Lasten der Behörde, die den Widerrufsbescheid erlassen hat. Sie trägt die materielle Beweislast für das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts spricht vieles dafür, dass bei der sich nach summarischer Prüfung darstellenden Menschenrechtslage in Tunesien bezogen auf einen Betroffenen, der in der Presse als ehemaliger Leibwächter Osama bin Ladens bezeichnet und von den deutschen Behörden als Gefährder eingestuft wird, eine entsprechende individualbezogene diplomatische Zusicherung zu fordern wäre, damit von einer nicht mehr beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgegangen werden könnte.
Eine gegenüber der Presse abgegebene (mündliche) Zusage eines Regierungsmitglieds ist mit einer zwischenstaatlichen, auf diplomatischer Ebene abgegebener schriftlicher Zusicherung nicht vergleichbar. Gegenüber der Presse getätigten Äußerungen kommt insbesondere keine vergleichbare Verbindlichkeit zu.
1. Dem Antragsteller wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin J. aus C. beigeordnet.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage 7a K 3425/18.A gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2018 wird wiederhergestellt.
G r ü n d e:
2Die Entscheidung erfolgt gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 des Asylgesetzes - AsylG - durch die Kammer, nachdem die Einzelrichterin die Rechtssache mit Beschluss vom 5. Juli 2018 auf diese übertragen hat.
31. Dem Antragsteller wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe bewilligt, weil er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann und der vorliegende Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. § 166 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ‑ VwGO ‑ i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung), wie sich aus den folgenden Ausführungen ergibt.
42. Der sinngemäße Antrag,
5die aufschiebende Wirkung der Klage 7a K 3425/18.A gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2018 wiederherzustellen,
6hat Erfolg. Er ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig.
7Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Var. VwGO statthaft. Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Die in der Hauptsache erhobene und statthafte Anfechtungsklage gegen den Bescheid, mit dem das nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes alter Fassung ‑ AufenthG a.F. ‑ festgestellte Abschiebungsverbot des Antragstellers widerrufen wurde, hat grundsätzlich gemäß § 75 Abs. 1 AsylG analog i.V.m. § 73c AsylG analog aufschiebende Wirkung. § 75 Abs. 1 AsylG, der seinem Wortlaut nach für die Widerrufsfälle nach §§ 73, 73b und 73c AsylG anwendbar ist, findet nach Sinn und Zweck der Vorschrift auf Fälle des ‑ wie hier erfolgten - Widerrufs entsprechend § 73c AsylG analoge Anwendung.
8Zur analogen Anwendbarkeit des § 73c AsylG im Fall des Widerrufs der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. vgl.: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 - 7a K 3661/14.A, juris, Rn. 58 ff.
9Die aufschiebende Wirkung der Klage ist entfallen, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat.
10Das Bundesamt war nicht von vornherein daran gehindert, die sofortige Vollziehung des Widerrufs des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. anzuordnen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Widerrufsbescheides durch das Bundesamt ist grundsätzlich zulässig. § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG, wonach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO unberührt bleibt, sieht die Möglichkeit vor, dass das Bundesamt die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anordnen kann.
11Die Anordnungsmöglichkeit unproblematisch bejahend: Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 18. Edition, Stand: 1. Mai 2018, § 73 Rn. 69, § 73b Rn. 23; Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, AsylVfG § 76 Rn. 11 f.
12Der Wortlaut des § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG sieht keine Beschränkung auf ausgewählte Fallkonstellationen vor, in denen dem Bundesamt diese Möglichkeit nur ausnahmsweise zustehen soll.
13Die Kammer folgt nicht der Ansicht, wonach die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufsbescheides auf der Grundlage des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO von vornherein unzulässig sei, weil die ursprünglich erworbene Rechtsposition des Ausländers erst mit Bestandskraft des Widerrufs oder der Rücknahme enden solle.
14Vgl. zu § 75 AsylG in der vor Einfügung des § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG geltenden Fassung: VG Köln, Beschluss vom 31. März 2005 – 16 L 289/05.A –, juris, Rn. 8 sowie Bayrisches VG Ansbach vom 27. November 2006 - AN 1 S 06.30884, juris, Seite 17 des Entscheidungsabdrucks, mit dem Argument, dass nach der gesetzgeberischen Wertung in § 73 Abs. 6 i.V.m. § 72 Abs. 2 AsylG a.F. der Anerkennungsbescheid und der Reiseausweis erst bei Eintritt der Unanfechtbarkeit des Widerrufsbescheids zurückzugeben sei.
15Diese Ansicht dürfte nach der Einführung des § 75 Satz 3 AsylG (heutiger § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG) zum 28. August 2007,
16eingeführt durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl. I 2007, 1970,
17überholt sein. Eine Anwendungssperre für Widerrufs- und Rücknahmefälle lässt sich weder dessen (weitem) Wortlaut noch der Gesetzesbegründung entnehmen. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte Satz 3 der Klarstellung dienen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge „wie bisher“ die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anordnen kann.
18Vgl. BT-Drs. 16/5065, 41, 220.
19Auch folgt die Kammer nicht der Ansicht, § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG sei einschränkend dahingehend auszulegen, dass die sofortige Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO in Widerrufs- bzw. Rücknahmefällen nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 75 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylG angeordnet werden dürfe und darüber hinaus unzulässig sei bzw. der Anordnung der sofortigen Vollziehung ein zu beachtendes verfassungsunmittelbares vorläufiges Bleiberecht entgegen stehe.
20Vgl. Marx, AsylG, 9. Auflage, 2017, § 75 Rn. 6 a. E. und Rn. 10 sowie Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, Loseblatt, Stand: Juni 2018, 116. Ergänzungslieferung, § 75 Rn. 21.
21Diese einschränkende Auslegung des § 75 Abs. 2 Satz 3 AsylG überzeugt nicht, da die Klage in den Fällen des § 75 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylG kraft Gesetzes bereits keine aufschiebende Wirkung hat und somit der Widerrufsbescheid sofort vollziehbar ist; die Anordnung der sofortigen Vollziehung ginge in diesem Fall ins Leere.
22Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist auch begründet.
23Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 4, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise wiederherstellen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hängt von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits ab. Bei der Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der sofort vollziehbare Verwaltungsakt rechtswidrig ist, überwiegt das private Aufschubinteresse des Antragstellers. Denn an der Vollziehung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen der angegriffene Bescheid rechtmäßig und besteht ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Bestand der sofortigen Vollziehbarkeit.
24Vorliegend ergibt die Abwägung des Interesses des Antragstellers einerseits ‑ am vorläufigen Wirksambleiben des festgestellten Abschiebungsverbots wegen beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Folter oder sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Fall der Rückkehr nach Tunesien und somit mittelbar daran, vorläufig nicht abgeschoben zu werden ‑ mit dem widerstreitenden öffentlichen Interesse andererseits ‑ die Wirkung des Abschiebungsverbots sofort zu beseitigen und mittelbar für den polizeilich als Gefährder eingestuften Antragsteller ggf. die Abschiebung zu ermöglichen ‑, dass dem Aufschubinteresse des Antragstellers Vorrang einzuräumen ist.
25Denn im Rahmen der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bloß gebotenen summarischen Prüfung erweist sich der Widerruf des Abschiebungsverbots nach dem bisherigen Sach- und Streitstand im nach § 77 Abs. 1 2. Halbsatz AsylG maßgeblichen Zeitpunkt als voraussichtlich rechtswidrig. Eine endgültige Bewertung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs im dann maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
26Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs des festgestellten Abschiebungsverbots i.S.d. § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. ist § 73 c AsylG analog.
27Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 - 7a K 3661/14.A ‑, juris, Rn. 58 ff.
28Entsprechend § 73c Abs. 2 AsylG ist die Feststellung des betreffenden Abschiebungsverbots zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Neue Tatsachen müssen eine veränderte Grundlage für die Gefahrenprognose im Hinblick auf das festgestellte Abschiebungsverbot geschaffen haben.
29BVerwG, Urteil vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -, juris, Rn. 15; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 ‑ 7a K 3661/14.A ‑, juris, Rn. 65.
30Ist die Feststellung des Abschiebungsverbots - wie im vorliegenden Fall - in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen, steht die Rechtskraft dieses Urteils einer behördlichen Widerrufsentscheidung nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht befugt, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen. Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Anerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist.
31BVerwG, Urteil vom 22. November 2011 - 10 C 29.10 -, juris, Rn. 16; Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, Loseblatt, Stand: Juni 2018, 116. Ergänzungslieferung, § 73c Rn. 7; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 66; zum Erfordernis der erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände, dort für die Frage der Flüchtlingseigenschaft, vgl.: EuGH, Urteil vom 2. März 2010, C-175/08, juris.
32Erforderlich ist eine nicht nur vorübergehende und grundlegende Änderung der Umstände, die zur Folge hat, dass der bislang Schutzberechtigte tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.
33Vgl. Marx, AsylVfG, 9. Aufl., 2017, § 73c Rn. 5; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 69.
34Gemessen an diesem Maßstab lässt sich nach summarischer Prüfung nicht feststellen, dass die Umstände, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. in der Person des Antragstellers hinsichtlich Tunesien geführt haben, im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortgefallen sind bzw. die Gefahr der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unter die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist.
35Nach bisherigem Sach- und Streitstand haben sich die Menschenrechtsverhältnisse in Tunesien nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung weiter verbessert. Dass die Gefahr der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers unter die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist, lässt sich bei summarischer Prüfung derzeit indes nicht feststellen.
36Hierfür ist zunächst maßgeblich, dass für die tunesischen Sicherheitsbehörden Anlass besteht, den Antragsteller bei Rückkehr nach Tunesien zu verhören und gegebenenfalls auch festzusetzen oder zu verhaften.
37Zur Beurteilung der Umstände, die bis zum 15. Juni 2016 das Interesse der tunesischen Sicherheitsbehörden am Antragsteller geweckt haben, vgl.: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 71.
38Die Kammer geht zudem davon aus, dass dieses Interesse der tunesischen Sicherheitsbehörden an dem Antragsteller auch aufgrund der Presseberichterstattung über diesen fortbesteht.
39Zur Presseberichterstattung bis 15. Juni 2016 siehe: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 73 ff.
40So ist im Nachgang zur mündlichen Verhandlung vom 15. Juni 2016, insbesondere nach einer Kleinen Anfrage an die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen,
41vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 17/2217 vom 20. März 2018 und Antwort der Landesregierung NRW, Drucksache 17/2416 vom 18. April 2018,
42seit dem 24. April 2018 erneut und seit dem streitgegenständlichen Widerrufsverfahren vermehrt über den Antragsteller in Zeitungen bzw. dem Internet berichtet worden, in denen der Antragsteller teilweise als Osama Bin Ladens (Ex‑)Leibwächter, (islamistischer) Gefährder bzw. Al-Kaida-Terrorist bezeichnet wurde.
43Vgl. exemplarisch: Bild-Zeitung (Online-Ausgabe), vom 15. Juni 2016, Darum schaffen wir es nicht, ihn abzuschieben, https://www.bild.de/news/inland/osama-bin-laden/leibwachter-soll-abgeschoben-werden-46320548.bild.html;
44Die Zeit (Online-Ausgabe), vom 14. Juli 2016, „Gefährlich soll ich sein?“ https://www.zeit.de/2016/28/islamismus-al-kaida-terror-afghanistan-abschiebung/komplettansicht;
45Den Antragsteller als Al-Kaida-Terrorist bezeichnend: n-tv, vom 24. April 2018, Bin Ladens Ex-Leibwächter - Warum Sami A. Sozialhilfe bekommt, https://www.n-tv.de/politik/Warum-Sami-A-Sozialhilfe-bekommt-article20402459.html;
46Welt, Video vom 4. Mai 2018, Lebt in Bochum - Osama bin Ladens Ex-Leibwächter kann nicht abgeschoben werden, https://www.welt.de/politik/deutschland/video176065831/Lebt-in-Bochum-Osama-bin-Ladens-Ex-Leibwaechter-kann-nicht-abgeschoben-werden.html;
47Focus online, vom 24. Juni 2018, Ex-Leibwächter bin Ladens kann nicht abgeschoben werden - und kassiert weiter Hilfeleistungen, https://www.focus.de/politik/deutschland/sami-a-aus-bochum-ehemaliger-leibwaechter-bin-ladens-wird-nicht-abgeschoben-und-kassiert-weiter-hilfeleistungen_id_8817498.html;
48Berliner Morgenpost (Online-Ausgabe), vom 25. Juni 2018, Gefährder - Ex-Leibwächter von Osama bin Laden soll abgeschoben werden, https://www.morgenpost.de/politik/article214684261/Ex-Leibwaechter-von-Osama-bin-Laden-soll-abgeschoben-werden.html;
49Spiegel online, vom 25. Juni 2018, Bin Ladens Ex-Leibwächter in Bochum festgenommen, http://www.spiegel.de/politik/ausland/bochum-sami-a-ex-leibwaechter-von-osama-bin-laden-festgenommen-a-1214874.html;
50Der Tagesspiegel (Online-Ausgabe), vom 25. Juni 2018, Gefährder Sami A. - Ex- Leibwächter Bin Ladens wird abgeschoben, https://www.tagesspiegel.de/politik/gefaehrder-sami-a-ex-leibwaechter-bin-ladens-wird-abgeschoben/22733476.html;
51Focus online, vom 27. Juni 2018, Ex-Leibwächter von Osama bin Laden - Sami A. klagt gegen Abschiebung aus Deutschland, https://www.focus.de/politik/deutschland/ex-leibwaechter-von-osama-bin-laden-sami-a-klagt-gegen-abschiebung-aus-deutschland_id_9170811.html;
52jeweils abgerufen am 12. Juli 2018.
53Mit vergleichbarem Inhalt berichtet auch die internationale bzw. englischsprachige Presse über den Antragsteller.
54Vgl. exemplarisch: Spiegel online, Targeting Terrorists - Germany's Dilemma in Dealing with Islamist Threats, http://www.spiegel.de/international/germany/islamist-terror-threat-germany-faces-multiple-challenges-a-1139018.html;
55Stars and Stripes, vom 24. April 2018, Osama bin Laden´s alleged ex-bodyguard receives $ 1,400 a month, https://www.stripes.com/news/europe/osama-bin-laden-s-alleged-ex-bodyguard-receives-1-400-a-month-from-german-taxpayers-1.523715;
56The Telegraph (Online-Ausgabe), vom 24. April 2018, Alleged former bodyguard of Osama bin Laden 'living on German welfare' after courts reject deportation, https://www.telegraph.co.uk/news/2018/04/24/alleged-former-bodyguard-osama-bin-laden-living-german-welfare/;
57jeweils abgerufen am 12. Juli 2018.
58Für die Annahme, dass der Antragsteller für den Fall seiner Rückführung nach Tunesien in besonderem Maße in den Focus der tunesischen Behörden gerückt ist, spricht zudem, dass sich der tunesische Minister für Menschenrechte ausweislich eines über den Antragsteller verfassten Artikels in der Bild-Zeitung zu der Foltergefahr geäußert hat.
59Vgl. Bild-Zeitung (Online-Ausgabe), vom 1. Mai 2018, Das Anti-Folter Versprechen - Schiebt den Bin-Laden-Leibwächter jetzt endlich ab!, https://www.bild.de/politik/inland/osama-bin-laden/schiebt-den-leibwaechter-jetzt-endlich-ab-55568528.bild.html, abgerufen am 12. Juli 2018.
60Aufgrund der dargestellten Sachlage geht die Kammer nach summarischer Prüfung davon aus, dass die tunesischen Behörden den Antragsteller nach seiner Wiedereinreise befragen würden, und zwar unbeschadet der Frage, ob gegen ihn in Tunesien ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, was jedenfalls im Jahr 2013 nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 11. November 2013 nicht der Fall war.
61Es kommt insoweit nicht darauf an, ob und in welchem Umfang nach dem Vortrag des Antragstellers die tunesischen Behörden sowohl den in Tunesien lebenden Vater des Antragstellers im April 2018 als auch seine deutsch-tunesische Ehefrau bei einem Besuch in Tunesien im Sommer 2017 intensiv zum Antragsteller befragt haben und ob dies für ein gesteigertes Interesse der tunesischen Sicherheitsbehörden an einer Befragung des Antragstellers sprechen könnte.
62Die zu erwartende Befragung vermag für sich genommen noch nicht das Fortbestehen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. zu rechtfertigen. Denn es ist nicht zu beanstanden, dass ein Staat Personen, die der Unterstützung von Terrororganisationen verdächtig sind, befragt, um auf diese Weise den bestehenden Verdacht aufzuklären. Im Falle einer Rückkehr des Antragstellers nach Tunesien besteht jedoch die Gefahr, dass sich die tunesischen Sicherheitsbehörden nicht auf eine Vernehmung des Antragstellers unter Beachtung der Menschenrechte beschränken werden. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischer Prüfung haben sich die Verhältnisse in Tunesien noch nicht so durchgreifend geändert, dass die vom Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Urteil vom 4. März 2009 - 11 K 4716/07.A - festgestellte beachtliche Wahrscheinlichkeit von Folter oder sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bei einer solchen Vernehmung des Antragstellers durch die tunesischen Sicherheitsbehörden zwischenzeitlich entfallen ist. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass Tunesien seit dem Umsturz im Januar 2011, insbesondere durch die Verabschiedung der neuen Verfassung am 26. Januar 2014, Fortschritte auf dem Weg zu einer demokratischen Staatsordnung gemacht hat,
63vgl. zu den Entwicklungen bis zum 15. Juni 2016: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 88 ff,
64und vieles dafür spricht, dass Tunesien nach wie vor bemüht ist, diesen Prozess weiter voranzutreiben. Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes,
65vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2017) vom 19. März 2018, insb. Seite 17,
66hat sich die Situation in jüngerer Zeit wie folgt entwickelt: Tunesien ist von 2017 bis 2019 Mitglied des Menschenrechtsrates. Im Mai 2017 stellte sich Tunesien dem Universellen Staatsüberprüfungsverfahren (UPR) des VN-Menschenrechtsrates. Mit Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 29. Juni 2011 hatte sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus verpflichtet. In Umsetzung dieser Verpflichtung wählte das Parlament im Jahr 2016 die Mitglieder der neuen sog. „Nationalen Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung“, zu deren Hauptaufgaben unangemeldete Besuche an allen Orten des Freiheitsentzugs sowie die Abgabe von Empfehlungen zur Behebung von Missständen gehören. Am 6. Februar 2017 haben hochrangige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und Tunesiens eine Gemeinsame Absichtserklärung der rechtlichen Zusammenarbeit und ein Arbeitsprogramm für die Jahre 2017 bis 2018 in Tunis unterzeichnet. Ziel der Vereinbarungen ist, die bisherige Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Rechts zu vertiefen. Die Absichtserklärung sieht insbesondere die Zusammenarbeit in den Bereichen Menschenrechtsschutz, Straf- und Strafprozessrecht, Strafvollzug, Korruptionsbekämpfung, Unabhängigkeit der Justiz sowie die Aus- und Fortbildung von Rechtsanwendern vor. Die Maßnahmen richten sich an die Mitarbeiter des Justizministeriums, der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit sowie an Rechtsanwender bis hin zu Vertretern der Zivilgesellschaft. Das Arbeitsprogramm setzt die Gemeinsame Absichtserklärung der rechtlichen Zusammenarbeit mit konkreten Maßnahmen um.
67Vgl. dazu: BMJV, Meldung vom 14. Februar 2017, Neue Zusammenarbeitserklärung mit dem tunesischen Justizministerium unterzeichnet, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2017/02142017_Tun_MoU.html;jsessionid=68E1293F711AFE30F45C9AA56EDCE557.2_cid334?nn=6704238, abgerufen am 12. Juli 2018.
68Die mit der Umsetzung vieler dieser Maßnahmen u.a. betraute Deutsche Stiftung für Internationale rechtliche Zusammenarbeit e.V. (IRZ) hat am 24. Januar 2018 ihr Regionalbüro in Tunis eröffnet.
69Vgl. BMJV, Meldung vom 24. Januar 2018, Eröffnung des IRZ Regionalbüros in Tunis, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2018/012418_IRZ_Tunis.html;
70IRZ, Meldung vom 31. Januar 2018, Regionalbüro der IRZ in Tunis eröffnet: https://www.irz.de/index.php/108-tunesien-aktuelles/1463-irz-regionalbuero-in-tunis-eroeffnet;
71jeweils abgerufen am 12. Juli 2018.
72Zwischenzeitlich ist das Gesetz zu dem Abkommen vom 26. September 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich verabschiedet worden.
73Vgl. BGBl. II 2017, 538.
74Im März und April 2017 lud der tunesische Parlamentarische Ausschuss zu Rechten, Freiheiten und Außenbeziehungen (Commission des Droits et Libertés et des Relations extérieures) Amnesty International ein, das Gremium zu beraten. Zuvor hatte der Ministerpräsident angekündigt, die Regierung werde Amnesty-Berichten über Folter und andere Verstöße der Sicherheitskräfte nachgehen. Der Ausschuss hielt anschließend vier weitere Sitzungen zum Thema Folter ab, an denen jeweils Vertreter von Amnesty International, zwei tunesischen NGOs und der Innenminister teilnahmen.
75Vgl. Amnesty International, Amnesty Report - Tunesien 2017/18 vom 22. Februar 2018, https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/tunesien, abgerufen am 12. Juli 2018.
76Gleichwohl lässt sich nach derzeitigem Sach- und Streitstand und summarischer Prüfung nicht feststellen, dass sich die Menschenrechtslage in Tunesien so grundlegend verbessert und verfestigt hat, dass die beachtliche Gefahr von Folter oder sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, insbesondere im Polizeigewahrsam oder im Gewahrsam sonstiger Sicherheitsbehörden bzw. anderer zuständiger Stellen, fortgefallen ist.
77Vgl. zu den Entwicklungen bis zum 15. Juni 2016: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 88 ff.
78Vorliegend gibt es gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Bemühungen zur Abkehr von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung noch nicht flächendeckend Früchte getragen haben.
79Für nach wie vor auftretende Fälle von Folter sprechen auch die Ausführungen des Auswärtigen Amtes im Lagebericht für Tunesien vom 19. März 2018. Zwar veröffentliche die tunesische Regierung danach keine amtlichen Informationen oder Statistiken, die belastbare qualitative oder quantitative Aussagen über Verletzungen des Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung durch staatliche Stellen zulassen würden. Sie räume mit wiederholten Bekenntnissen zur Folterprävention und zum Kampf gegen die Straflosigkeit von Amtspersonen, die sich entsprechender Vergehen schuldig gemacht haben, jedoch indirekt Verfehlungen ein. Das Justizministerium gebe an, intern spezielle Register über entsprechende Verfahren zu führen. Tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte Nichtregierungsorganisationen, wie die Organisation Mondiale contre la Torture (OMCT) oder die Organisation contre la Torture en Tunisie (OCTT), würden kontinuierlich über entsprechende Einzelfälle sowie Bestrebungen, rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten, berichten. Bislang sei es jedoch in keinem einzigen Fall gelungen, eine Verurteilung von Amtspersonen oder ehemaligen Amtspersonen wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu erreichen. Abstrakte Befürchtungen, dass diese Delikte wieder zunehmen könnten, würden vor allem im Zusammenhang mit Terrorabwehrmaßnahmen geäußert.
80Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2017) vom 19. März 2018, insb. Seite 17.
81Auch Amnesty International weist im Jahresbericht 2017/2018 zu Tunesien darauf hin, dass weiterhin Berichte über Folter und andere Misshandlungen an Gefangenen eingegangen seien. Die meisten Vorfälle hätten sich während der Festnahme und in der Untersuchungshaft ereignet. Dies habe sowohl reguläre Strafsachen als auch Fälle mit Bezug zur nationalen Sicherheit betroffen.
82Vgl. Amnesty International, Amnesty Report - Tunesien 2017/18 vom 22. Februar 2018, https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/tunesien, abgerufen am 12. Juli 2018.
83Die Organisation Human Rights Watch führt im Bericht über Tunesien weiter Fälle von Folter bzw. menschenrechtswidriger Behandlung auf und stellt dar, dass die Aufarbeitung der Foltervorfälle aus der Zeit bis zum Ende der Regierung Ben Ali schleppend voran gehe.
84Vgl. Human Rights Watch, World Report, Country Summary -Tunisia, Januar 2018, https://www.hrw.org/world-report/2018/country-chapters/tunisia;
85Human Rights Watch, Tunisia: Abusive Treatment During Protests, 31. Januar 2018, https://www.hrw.org/news/2018/01/31/tunisia-abusive-treatment-during-protests, mit einer detaillierten Beschreibung der Vorkommnisse im Zusammenhang mit Festnahmen bei Demonstrationen;
86Human Rights Watch, Human Rights Watch, Tunisia: Parliament Shouldn´t Undercut Transitional Justice, 23. März 2018, https://www.hrw.org/news/2018/03/23/tunisia-parliament-shouldnt-undercut-transitional-justice;
87Zur Arbeit der Wahrheitskommission bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit der Regierung Ben Ali und deren vorzeitiger Beendigung, vgl.: Spiegel online plus, Wahrheitskommission in Tunesien, Sie haben uns unser Recht einfach genommen, vom 8. Juni 2018, http://www.spiegel.de/suche/index.html?suchbegriff=wahrheitskommission+tunesien;
88jeweils abgerufen am 12. Juli 2018.
89Als Rückschlag wird das am 13. September 2017 erlassene Gesetz zur „Rekonziliation in der Verwaltung" angesehen, das unter gewissen Umständen Beamte, die in Korruption oder Unterschlagung verwickelt sind, vor Strafverfolgung schützen soll.
90Vgl. Human Rights Watch, Human Rights Watch, Tunisia: Parliament Shouldn´t Undercut Transitional Justice, 23. März 2018, https://www.hrw.org/news/2018/03/23/tunisia-parliament-shouldnt-undercut-transitional-justice, abgerufen am 12. Juli 2018.
91Im Hinblick auf die „Nationale Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung“ wird ausgeführt, dass Aufbau- und Ablauforganisation noch nicht abgeschlossen sind.
92Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2017) vom 19. März 2018, insb. Seite 17.
93Im April 2017 untersagte die Polizei auf dem Internationalen Flughafen Tunis-Carthage Mitgliedern des Gremiums, die Übergabe eines „Terrorismusverdächtigen“ zu überwachen, der aus Deutschland nach Tunesien abgeschoben worden war.
94Vgl. Amnesty International, Amnesty Report - Tunesien 2017/18 vom 22. Februar 2018, https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/tunesien, abgerufen am 12. Juli 2018.
95Vor diesem Hintergrund dürfte die angeführte Begründung des streitgegenständlichen Bescheides, im Jahr 2017 seien mehrfach Personen aus dem islamistischen Personenspektrum nach Tunesien zurückgeführt worden, ohne dass Fälle von anschließender Folter oder sonstiger unmenschlicher Behandlung bekannt geworden seien, zur Verneinung der Foltergefahr wenig aussagekräftig sein, wenn zugleich in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten bei den nationalen Kontrollmechanismen bekannt geworden sind.
96Nach summarischer Prüfung ergibt sich, dass insbesondere Personen, die eines terroristischen bzw. islamistischen Hintergrundes verdächtig sind, in besonderer Weise gefährdet sind, Opfer von Folter oder unmenschlicher oder unangemessener Behandlung zu werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die tunesische Regierung ein großes Interesse hat, Erkenntnisse über islamistische Strukturen in Tunesien zu erhalten.
97Vgl. zum besonderen Interesse Tunesiens im Hinblick auf die innere Sicherheit nach den inländischen Terroranschlägen im Jahr 2015: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 ‑ 7a K 3661/14.A ‑, juris, Rn. 99.
98Dass der Antragsteller nicht zuletzt aufgrund der vergangenen und gegenwärtigen Presseberichterstattung für die tunesischen Behörden in besonderem Maße der Unterstützung des Terrorismus verdächtig sein dürfte, spricht - aufgrund der Umstände des vorliegenden und nicht für die allgemeine Sicherheitslage in Tunesien repräsentativen Einzelfalls - weiterhin für die Annahme, dass dem Antragsteller bei Rückkehr nach Tunesien Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Gerade die ‑ teilweise sensationslüsterne ‑ Darstellung des Antragstellers als (mutmaßlicher) (Ex-)Leibwächter von Osama Bin Laden in der deutschen und teilweise auch englischsprachigen sowie internationalen Presse begründet die Gefahr - ohne dass es für das vorliegende Verfahren auf die Richtigkeit der Presseberichterstattung ankäme -, dass tunesische Sicherheitsbehörden den Antragsteller in nicht menschenrechtskonformer Weise vernehmen werden, um auf diese Weise an Informationen zu islamistischen Gruppierungen oder Einzelpersonen aus dem Umkreis von Al Kaida in Tunesien zu gelangen.
99Vgl. hierzu bereits: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 100, 102.
100Auch wenn der Antragsteller durch die Presseberichterstattung sicherlich eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, ergibt sich daraus nach summarischer Prüfung keine ausreichende Sicherheit dafür, dass tunesische Verhörpersonen aus Angst vor internationaler Entdeckung auf die Anwendung unzulässiger Verhörmethoden gegenüber dem Antragsteller verzichten werden.
101Selbst wenn man Bekanntheit grundsätzlich als Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung ansehen würde, wäre der Grad der Bekanntheit des Antragstellers nach summarischer Prüfung nach wie vor zu gering, als dass ausländische Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen ein ausreichend langes und nachhaltiges Beobachtungsinteresse behielten.
102Vgl. dazu schon: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Juni 2016 – 7a K 3661/14.A –, juris, Rn. 101.
103Es ist nicht zu erwarten, dass das Interesse der deutschen Presse, die den Antragsteller überwiegend als gefährlich dargestellt und teilweise reißerisch dessen Abschiebung gefordert hat, sich nach einer möglicherweise erfolgten Rückführung des Antragstellers nach Tunesien noch als vergleichbar hoch darstellen wird.
104Das vom Bundesamt angeführte Argument, dass aufgrund der Presseberichterstattung über den Antragsteller - insbesondere der als „Anti-Folter-Versprechen“ bezeichneten Äußerung des tunesischen Ministers für Menschenrechte gegenüber der Bild-Zeitung -,
105vgl. Bild-Zeitung (Online-Ausgabe), vom 1. Mai 2018, Das Anti-Folter Versprechen - Schiebt den Bin-Laden-Leibwächter jetzt endlich ab!, https://www.bild.de/politik/inland/osama-bin-laden/schiebt-den-leibwaechter-jetzt-endlich-ab-55568528.bild.html, abgerufen am 12. Juli 2018,
106das Interesse tunesischer Stellen an einer ordnungsgemäßen, rechtmäßigen und rechtlich nicht zu beanstandenden Behandlung weiter befördert werde, überzeugt nicht. Die Äußerung kann nicht losgelöst von den vorgenannten Vorfällen, auf die sich auch die vom Bundesamt zugrunde gelegten Erkenntnismittel beziehen, bewertet werden.
107Eine andere Bewertung der Menschenrechtslage in Tunesien ergibt sich auch nicht vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts. In den Entscheidungen wurde die Abschiebung von Gefährdern nach Tunesien bei im Raum stehender Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bzw. Todesstrafe nur unter bestimmten Voraussetzungen als rechtlich zulässig bewertet,
108vgl. zur Abschiebung nach § 58a AufenthG: BVerwG, Beschlüsse vom 30. August 2017 – 1 VR 5.17 –, juris, 19. September 2017 – 1 VR 8.17 –, juris und vom 26. März 2018 – 1 VR 1.18 (1 VR 8.17, 1 VR 10.17) –, juris; BVerfG, Einstweilige Anordnungen vom 23. April 2018 – 2 BvR 632/18 –, juris und vom 27. März 2018 – 2 BvR 632/18 –, juris; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 4. Mai 2018 ‑ 2 BvR 632/18 ‑ juris; nachgehend Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR -, 7. Mai 2018, soweit ersichtlich bislang nicht veröffentlicht,
109und im Ergebnis keine andere Bewertung der Menschenrechtslage in Tunesien vorgenommen. Dabei ist von Bedeutung, dass die Abschiebung in den dort entschiedenen Rechtsstreiten nur vor dem Hintergrund von diplomatischen Zusicherungen der tunesischen Regierung ermöglicht wurde.
110Das Bundesverwaltungsgericht lehnte im Fall eines Gefährders den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung gem. § 58a AufenthG mit der Maßgabe ab, dass die Abschiebung erst nach Erlangung einer Zusicherung einer tunesischen Regierungsstelle erfolgen dürfe, wonach dem Rückkehrer keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe, sowie darüber hinaus ihm bei allen etwaigen Maßnahmen tunesischer Behörden und in allen Verfahrensstadien (auch während einer etwaigen Befragung oder Inhaftierung durch Polizei oder Geheimdienst), die an die Abschiebung und die ihr zu Grunde liegenden Gründe anknüpfen, das Recht eingeräumt werde, einen Rechtsbeistand seiner Wahl beizuziehen.
111Vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. August 2017 ‑ 1 VR 5.17 ‑ , juris bzw. zum Tenor: www.bverwg.de.
112Im Fall eines anderen Gefährders, in dem sich die Gerichte mit einer möglicherweise dem Rückkehrer drohenden Verhängung einer Todesstrafe befassten, hatte das tunesische Außenministerium bereits im Vorfeld in einer Verbalnote mitgeteilt, dass sich die tunesischen Behörden u.a. verpflichtet hätten, bei der Behandlung und Inhaftierung des Rückkehrers zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens und der Strafvollstreckung die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren und ihm das Recht zuzusichern, während seiner Inhaftierung und Anhörung durch Rechtsanwälte, die freien Zugang zu ihm hätten, unterstützt und von Menschenrechtsorganisationen besucht zu werden.
113Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 4. Mai 2018 ‑ 2 BvR 632/18 ‑, juris, Rn. 5; BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 – 1 VR 8.17 –, juris, Rn. 55.
114Es spricht nach summarischer Prüfung vieles dafür, dass bei der sich nach bisherigem Sach- und Streitstand darstellenden Menschenrechtslage in Tunesien bezogen auf den Antragsteller eine entsprechende individualbezogene diplomatische Zusicherung zu fordern wäre, damit von einer nicht mehr beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung des Antragsstellers ausgegangen werden könnte.
115Ob und unter welchen inhaltlichen oder qualitativen Voraussetzungen eine solche Zusicherung als belastbar anzusehen wäre,
116vgl. zu grundsätzlichen Zweifeln, ob entsprechende diplomatische Zusicherungen überhaupt geeignet sind, eine allgemein für Angehörige einer bestimmten Personengruppe bestehende Gefahr der Folterung oder sonstigen Misshandlung entscheidungserheblich zu reduzieren sowie zur Vereinbarung von Kontrollmechanismen: VG Düsseldorf, Urteil vom 4. März 2009 – 11 K 4716/07.A –, juris, Rn. 80, 87 ff., 110 m.w.N.; nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - bedürfen diplomatische Zusicherungen jedenfalls einer Überprüfung, ob sie in ihrer praktischer Anwendung für eine ausreichende Garantie sorgen, dass der Antragsteller vor dem Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung geschützt ist; die Bedeutung, die solchen Zusicherungen seitens des Empfängerstaates beigemessen werden dürfe, hänge im jedem Einzelfall von den jeweiligen Umständen ab, vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008, Application no. 37201/06, Saadi v. Italy, zitiert nach EGMR-Rechtsprechungsdatenbank, Rn. 148. Der EGMR sieht in solchen Zusicherungen unter bestimmten, näher aufgeführten Voraussetzungen ein geeignetes Instrument zur Ausräumung der Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung selbst bei Staaten, in denen ‑ anders als in Tunesien ‑ systematisch gefoltert und misshandelt wird, vgl.: EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 ‑ Nr. 8139/09, Othman/U.K. - NVwZ 2013, 487 Rn. 188 f., vgl. auch: BVerwG, Beschluss vom 30. August 2017 – 1 VR 5.17 –, juris, Rn. 58.
117bedarf im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keiner Entscheidung.
118Eine vergleichbare Zusicherung ist im Fall des Antragstellers nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht ersichtlich. Die Existenz einer Zusicherung ist weder vorgetragen noch ergibt sie sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin.
119Die vom tunesischen Minister für Menschenrechte gegenüber der Bild-Zeitung abgegebenen Erklärungen, wonach er betont habe, dass es keine Folter gebe und die Annahme absurd sei, dass einem tunesischen Staatsbürger in Tunesien Folter drohen könnte,
120vgl. Bild-Zeitung (Online-Ausgabe), vom 1. Mai 2018, Das Anti-Folter Versprechen - Schiebt den Bin-Laden-Leibwächter jetzt endlich ab!, https://www.bild.de/politik/inland/osama-bin-laden/schiebt-den-leibwaechter-jetzt-endlich-ab-55568528.bild.html, abgerufen am 12. Juli 2018,
121erfüllt schon in formaler Hinsicht nicht die an eine Zusicherung zu stellenden Anforderungen.
122Eine gegenüber der Presse abgegebene (mündliche) Zusage eines Regierungsmitglieds ist mit einer zwischenstaatlichen, auf diplomatischer Ebene abgegebenen schriftlichen Zusicherung nicht vergleichbar.
123Vgl. dazu, eine mündliche Versicherung gegenüber dem Bundesministerium des Inneren in formeller Hinsicht nicht ausreichen lassend: VG Düsseldorf, Urteil vom 4. März 2009 – 11 K 4716/07.A –, juris, Rn. 110; eine diplomatische Zusicherung ausreichen lassend, vgl.: BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 -, juris, Rn. 50.
124Gegenüber der Presse getätigten Äußerungen kommt insbesondere keine vergleichbare Verbindlichkeit zu.
125Vor diesem Hintergrund ist es nicht entscheidungserheblich, ob die Äußerung bereits nicht individualbezogen ist, weil sie ihrem zitierten Wortlaut nach allgemein gehalten ist, oder ob sie sich möglicherweise aus dem Kontext heraus konkret auf den Antragsteller beziehen könnte.
126Lässt sich bei diesem Sach- und Streitstand nach summarischer Prüfung im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht feststellen, dass die (mit rechtskräftiger Entscheidung des VG Düsseldorf im Urteil vom 4. März 2009 – 11 K 4716/07.A – bejahte) Gefahr von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für den Antragsteller unter das erforderliche Maß der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist, geht dies nach den allgemeinen Grundsätzen zu Lasten der Antragsgegnerin. Sie trägt die materielle Beweislast für das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
127Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.