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Keine Bindung der Fahrerlaubnisbehörde, wenn feststeht, dass die Tat ein anderer begangen hat.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 3. Juni 2005 wird angeordnet. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert beträgt 1.250,00 Euro.
Gründe:
2Der sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 3. Juni 2005 anzuordnen,
4ist gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zulässig und sachlich auch begründet. Die in § 2a Abs. 6 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) vorgeschriebene sofortige Vollziehung der angefochtenen Anordnung einer Nachschulungsmaßnahme nach § 2a Abs. 2 Nr. 1 StVG ist trotz des gesetzlich vermuteten überwiegenden öffentlichen Interesse im vorliegenden Fall nicht geboten. Denn es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ordnungsverfügung, so dass das private Interesse des Antragstellers überwiegt, von dieser Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben.
5Nach § 2a Abs. 2 Nr. 1 StVG ist die Teilnahme an einem Aufbauseminar u. a. dann anzuordnen, wenn gegen den Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe wegen einer innerhalb der Probezeit begangenen schwerwiegenden Verkehrsverfehlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 StVG in das Verkehrszentralregister einzutragen ist. Die Bewertung der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Rahmen der Fahrerlaubnis auf Probe erfolgt gemäß § 34 Abs. 1 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) nach Anlage 12 dieser Verordnung. Zu den schwerwiegenden Zuwiderhandlungen zählen danach u. a. Verstöße gegen die Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung über die Geschwindigkeit.
6Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Denn gegen den Antragsteller ist im Zusammenhang mit einer am 20. Dezember 2004 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 23 km/h ein seit dem 29. April 2005 rechtskräftiger Bußgeldbescheid über 65,00 Euro ergangen. Der Vorfall ereignete sich etwa ein halbes Jahr nach Erteilung der Fahrerlaubnis und lag damit innerhalb der zweijährigen Probezeit. Allerdings hat der Antragsteller vorgetragen und belegt, dass er die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht begangen hat. Dass er tatsächlich nicht der Fahrer war, ergibt sich aus dem bei der Bußgeldakte befindlichen Foto i.V.m. der anwaltlichen Versicherung seines Prozessbevollmächtigten, der dort abgelichtete Fahrer sei nicht sein ihm vom Ansehen bekannter Mandant.
7Auch der Antragsgegner hat keinen Zweifel mehr daran, dass der gegen den Antragsteller erlassene rechtskräftig gewordene Bußgeldbescheid inhaltlich falsch ist. Er sieht sich jedoch durch § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG daran gehindert, diesen Umstand zu berücksichtigen. Danach ist die Fahrerlaubnisbehörde nämlich bei den Maßnahmen nach den Nummern 1 bis 3 an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit gebunden. Durch diese seit dem 1. Januar 1999 geltende Vorschrift ist die zu einer früheren Fassung der Vorschrift ergangene Rechtsprechung
8vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. April 1994 - 11 C 54.92 -, NJW 95, 70
9überholt, wonach eine Bindung an die in der rechtskräftigen Entscheidung enthaltenen Sachverhaltsfeststellungen nicht anzunehmen sei, wenn gewichtige Anhaltspunkte gegen deren Richtigkeit sprächen.
10Vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 1999 - 3 Bs 250/99 -, NZV 00,269; OVG Saarlouis, Beschluss vom 21. Dezember 2000 - 9 V 30/00 -, DAR 01, 427.
11Allerdings lassen beide Entscheidungen ausdrücklich die Frage offen, ob die Bindung an die Feststellungen rechtskräftiger Entscheidungen auch dann gilt, wenn die Entscheidung offensichtlich unrichtig ist, insbesondere wenn wie hier ohne weitere Nachforschungen feststeht, dass der Adressat der Entscheidung die ihr zugrunde liegende Tat nicht begangen hat. Das erkennende Gericht neigt dazu, § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG einschränkend dahin auszulegen, dass solche Fälle nicht gemeint sind. Die Bindung an offensichtlich unrichtige Entscheidungen ist nach Sinn und Zweck der Regelung nicht geboten und wäre im Ergebnis rechtsstaatlich unerträglich.
12In der amtlichen Begründung zur Einführung des § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG (BT-Drucksache 13/6914) heißt es vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, es solle klargestellt werden, dass die Fahrerlaubnisbehörde nicht noch einmal prüfen müsse, ob der Fahranfänger die Tat tatsächlich begangen habe. Einer solchen Prüfung bedarf es aber auch in den Fällen nicht, in denen die Unrichtigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung über eine Ordnungswidrigkeit oder eine Straftat offensichtlich auf der Hand liegt.
13Das Aufbauseminar soll bei Fahranfängern Defizite in der Einstellung und im Fahrverhalten aufarbeiten, die in bestimmten Zuwiderhandlungen, die in der Anlage 12 zu § 34 FeV im Einzelnen aufgeführt sind, zu Tage getreten sind. Dieser erzieherische Ansatz wäre in Frage gestellt und würde möglicherweise sogar in sein Gegenteil verkehrt, wenn gegen besseres Wissen aus rein formalen Gründen eine nicht begangene Tat zum Anlass der Maßnahme gemacht würde.
14Es begegnet zwar keinen rechtlichen Bedenken, wenn unter gesetzlich geregelten Umständen, etwa bei Versäumung von Rechtsbehelfsfristen, Sanktionen unabhängig davon wirksam werden und wirksam bleiben, ob sie materiell gerechtfertigt waren oder nicht. Dies ist im Einzelfall aus Gründen der Rechtssicherheit hinzunehmen. Es ist aber eine Sache, eine als fehlerhaft erkannte Sanktion aufrechtzuerhalten, und etwas ganz anderes, eine solche Sanktion als Rechtfertigung für weitere Sanktionen zu benutzen und damit, auch wenn für jedermann klar ist, dass dies nicht zutrifft, so zu tun, als habe der Betreffende das geahndete Delikt doch begangen. Der Sinn eines solchen ordnungsbehördlichen Vorgehens wäre dem davon Betroffenen und auch der Allgemeinheit kaum zu vermitteln.
15Dabei wögen die Folgen bei der hier umstrittenen Anordnung eines Aufbauseminars noch nicht einmal besonders schwer. Die in § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG geregelte Bindung an rechtskräftige Entscheidungen gilt aber nicht nur für die Anordnung eines Aufbauseminars, sondern auch für die Entziehung der Fahrerlaubnis eines Fahranfängers im Fall des § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG und findet sich wortgleich in § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG, so dass auch nach dem dort geregelten Punktsystem die Fahrerlaubnis wegen einer offensichtlich nicht begangenen Tat entzogen werden könnte, wenn die Vorschrift nicht einschränkend angewendet würde. Dies könnte im Extremfall dazu führen, dass jemand, der beruflich darauf angewiesen ist, für mindestens sechs Monate (§ 4 Abs. 10 Satz 1 StVG) die Fahrerlaubnis verliert, der, unverschuldet und ohne davon zu erfahren, zu Unrecht einem unter Umständen sogar durch Ermittlungsfehler der Polizei veranlassten Ordnungswidrigkeitenverfahren ausgesetzt war, das mit einem rechtskräftig gewordenen und im Verkehrszentralregister eingetragenen Bußgeldbescheid geendet hat, gegen den nach möglicherweise unverschuldeter Versäumung der Fristen für einen Wiedereinsetzungsantrag wegen Unterschreitens der sog. Bagatellgrenze gemäß § 85 des Ordnungswidrigkeitengesetzes noch nicht einmal ein Wiederaufnahmeverfahren zulässig wäre.
16Dieser konstruierte, aber immerhin nicht unvorstellbare Fall könnte ohne einschränkende Auslegung der in § 2a Abs. 2 Satz 2 und § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG geregelten Bindung an rechtskräftige straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Entscheidungen nicht befriedigend gelöst werden. Da bei einer solchen einschränkenden Auslegung keine Möglichkeit besteht, danach zu unterscheiden, wer verursacht und/oder verschuldet hat, dass eine offensichtlich fehlerhafte Entscheidung ergangen bzw. rechtskräftig geworden ist, kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, dass der Antragsteller sich selbst zunächst der von ihm nicht begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bezichtigt hat. Auch die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts wegen eines besonders schweren und offensichtlichen Fehlers gemäß § 44 des Verwaltungsverfahrensgesetzes hängt nicht davon ab, dass der Adressat des Verwaltungsakts an seinem Erlass nicht mitgewirkt hat.
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes.