Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Bei der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU handelt es sich um einen auf der Zeitachse teilbaren Verwaltungsakt, der für einen bestimmten Zeitraum aufgehoben und für andere aufrechterhalten werden kann.
Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 14.02.2023 wird hinsichtlich Ziffer 1 für den Zeitraum vom 01.03.2023 bis zum 30.06.2023 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
2Die am 00.00.0000 in X. geborene Klägerin ist rumänische Staatsangehörige.
3Nach Lage der Akten reiste sie erstmals zum 05.02.2018 in das Bundesgebiet ein, nahm bei der Beklagten Wohnsitz und zeigte ihren Aufenthalt mit dem Zweck der Arbeitsplatzsuche an. Für die Folgezeit ist mehrfach ihre Abmeldung und ihr erneuter Zuzug aktenkundig.
4Zuletzt zeigte die Klägerin unter dem 18.03.2022 ihren Aufenthalt an und bekam von der Beklagten ein Begrüßungsschreiben ausgehändigt, wonach sie mit dem Ablauf von sechs Monaten gehalten sei, ein Freizügigkeitsrecht nachzuweisen.
5Mit Schreiben vom 18.10.2022 hörte die Ausländerbehörde der Beklagten die Klägerin zur beabsichtigten Verlustverstellung/Nichtbestehensfeststellung eines Freizügigkeits-rechtes nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU an.
6Unter dem 10.11.2022 teilte die Deutsche Rentenversicherung der Beklagten auf ihre Anfrage mit, dass für die Klägerin kein Arbeitgeber oder Beschäftigungszeiten gemeldet seien. Auch die Minijobzentrale konnte keine gemeldeten Daten übermitteln.
7Mit Ordnungsverfügung vom 14.02.2023 – zugestellt am 15.02.2023 - stellte die Beklagte unter Ziffer 1. den Verlust eines Freizügigkeitsrechtes fest und forderte die Klägerin unter Ziffer 2. zur Ausreise binnen eines Monats auf und drohte anderenfalls die Abschiebung nach Rumänien an. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Klägerin weder auf das Begrüßungsschreiben, noch auf die entsprechende Anhörung Stellung genommen habe. Ermittlungen der Ausländerbehörde hätten nicht auf das Bestehen eines Freizügigkeitsrechtes geführt, sodass sie die in ihr Ermessen gestellte Entscheidung wie tenoriert getroffen habe. Dabei seien auch die Mitteilungen über Straftaten berücksichtigt worden, wobei fehlende Verurteilungen kein sicheres Indiz dafür seien, dass die Taten nicht begangen worden seien.
8Die Klägerin ist wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten: Strafbefehl vom 27.06.2023 (rechtskräftig) wegen Urkundenfälschung zu 60 Tagessätzen a` 30 €. Nach dem Anklagevorwurf hat sich die Klägerin mit einem gefälschten slowakischen Führerschein beim Führen eines Kraftfahrzeugs ausgewiesen. Mit Beschluss vom 16.08.2023 hat das Amtsgericht L. den Tagessatz auf zehn Euro reduziert. Weitere Strafverfahren, etwa wegen Urkundenfälschung (eingestellt gemäß § 153 Abs. 1 StPO) und Ausübung der verbotenen Prostitution (eingestellt nach § 170 Abs. 2 StPO) führten nicht zur Verurteilungen.
9Hiergegen hat die Klägerin am 15.03.2023 Klage erhoben. Sie macht geltend, dass sie sich stets um Arbeit bemüht habe. Seit dem 01.03.2023 sei sie bei dem „F.“ zu 15 Stunden pro Woche und einen Lohn von zwölf Euro pro Stunde beschäftigt. Einen entsprechenden Arbeitsvertrag lege sie insoweit vor. Hierzu reiche sie auch Abrechnung der Brutto/Nettobezüge für März 2023 (600,- €) und April 2023 (700,-€) sowie Mai (700,- €) und Juni (700,-€) zur Akte, bei der „O.“ (R.-straße. 0 in 00000 Y.) als Arbeitgeberin genannt wird. Auf der letzten Lohnbescheinigung ist der Austritt aus dem Arbeitsverhältnis zum 30.06.2023 vermerkt.
10Seit dem 01.11.2023 sei sie bei der W., D.-straße 000, in 00000 U. tätig, seit dem 01.02.2025 sei sie bei Herrn V. tätig.
11Die Klägerin ist zu ihren angeblichen Arbeitsverhältnissen in Deutschland in der mündlichen Verhandlung befragt worden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
12Die Klägerin beantragt,
13die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 14.02.2023 aufzuheben.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen,
16und verweist zur Begründung auf die streitgegenständliche Ordnungsverfügung. Stetige Bemühungen der Klägerin um Arbeit, etwa durch Bewerbungsschreiben und/ oder Antworten potenzieller Arbeitgeber, seien nicht nachgewiesen.
17Der nunmehr im Klageverfahren vorgelegte Arbeitsvertrag sei auf den 01.03.2023 datiert und somit erst nach Erlass der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung geschlossen. Dies lasse auf ein verfahrensangepasstes Verhalten schließen. Es falle auf, dass dieser Vertrag nach dem Einleitungssatz zum einen auf Grundlage von § 14 Abs. 2 TzBfG geschlossen worden sein soll, zum anderen jedoch als unbefristet abgeschlossen werden soll. In der Vergütungsabrede fehle die Angabe der Kontoverbindung der Klägerin. Ein tatsächliches und nachhaltiges Beschäftigungsverhältnis sei deswegen durch die Vorlage von Gehaltsabrechnungen und Zahlungsnachweisen mindestens für die Monate März bis Mai darzutun.
18Auch für das vorgetragene Arbeitsverhältnis bei der H. sei die Vorlage von Gehaltsabrechnungen und Zahlungsnachweisen für die Monate November 2023 bis Januar 2024 erforderlich.
19Der Rentenversicherungsverlauf vom 27.06.2024 weise keine Eintragungen seit dem 30.06.2023 auf. Das Arbeitsverhältnis sei vom 01.03.2023 an für „B., G.-straße 0 in 00000 Y.“ gemeldet gewesen.
20Mit Beschluss vom 02.04.2024 hat die Kammer den Rechtsstreit den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
22Entscheidungsgründe
23Die Klage hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.
24Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 14.02.2023 ist hinsichtlich Ziffer 1 für den Zeitraum vom 01.03.2023 bis zum 30.06.2023 rechtswidrig und unterliegt insoweit der Aufhebung. Hinsichtlich der Zeiträume vom 15.02.2023 bis zum 28.02.2023 und ab dem 01.07.2023 ist die Regelung zu Ziffer 1 nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO (I.). Die Regelung zu Ziffer 2 der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung (Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung) ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO (II.).
25I. Die Ordnungsverfügung der Beklagten zu Ziffer 1. kann für den Zeitraum vom 01.03.2023 bis zum 30.06.2023 nicht auf die hier allein in Betracht kommende Vorschrift des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU gestützt werden. Im Übrigen begegnet sie keinen Bedenken.
26Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Beklagte die von ihr getroffene Feststellung, dass die Klägerin ihr Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, auf den Zeitraum ab der Wirksamkeit der Ordnungsverfügung in die Zukunft bis zur Ausreise erstreckt wissen will. Denn zum einen enthält die Regelung keine vor den Zeitpunkt des Wirksamwerdens in die Vergangenheit reichende zeitliche Bestimmung der Gültigkeit der getroffenen Feststellung auf einer gedachten Zeitachse. Und zum anderen ist die Feststellungswirkung nicht auf den Erlass- oder Wirksamkeitszeitpunkt der Ordnungsverfügung begrenzt, sondern in die Zukunft gerichtet. Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer regelt eine solche Ordnungsverfügung mit einer Feststellung zu § 5 Abs. 4 FreizügG/EU den aktuellen Aufenthalt des Verfügungsadressaten, bis er endgültig beendet ist.
27Urteil der Kammer vom 05.07.2024 – 7 K 6592/23 – zum Regelungszeitraum ab der Wirksamkeit der Ordnungsverfügung in die Zukunft, Urteilsabdruck S. 12, n.v.; so auch schon Beschluss vom 12.05.2021, - 7 L 243/21 -, n.v..
28Auch nach der Rechtsprechung des EuGH behält eine „Ausweisungsverfügung“ gegen einen Unionsbürger durch den Aufnahmemitgliedstaat ihre Wirksamkeit, bis der Unionsbürger seinen vorübergehenden Aufenthalt „tatsächlich und wirksam beendet hat“.
29EuGH, Urteil vom 22. Juni 2021, - C-719/19 -, juris Rz. 115.
30Hat der Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat nur physisch verlassen, ist der Aufnahmemitgliedstaat bei einer Rückkehr des Unionsbürgers auf der Grundlage desselben Sachverhalts, der zu der gegen den Unionsbürger ergangenen Ausweisungsverfügung geführt hat, nicht verpflichtet eine neuerliche Ausweisungsverfügung zu erlassen, sondern er kann sich auf die bereits ergangene Entscheidung stützen, um ihn zu verpflichten, sein Hoheitsgebiet zu verlassen. Damit erstreckt eine ohne zeitlich einschränkende Bestimmungen erlassene Verlust- oder Nichtbestehensfeststellung ihre Gültigkeit ab dem Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens
31wobei eine Erstreckung auch auf Zeiträume vor ihrer Wirksamkeit - ähnlich einer Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz für die Vergangenheit nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG - durchaus denkbar wäre,
32bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen und wirksamen Beendigung des Aufenthalts.
33Ausgehend von diesem Grundverständnis hält die Kammer in ständiger Rechtsprechung das Bestehen oder Nichtbestehen von Freizügigkeitstatbeständen auf der Zeitachse eines ununterbrochenen Aufenthalts für zeitabschnittsweise feststellbar und damit teilbar.
34Im Urteil vom 11.09.2019 - 1 C 48.18 -, juris Rn. 13 „neigt“ der für Ausländerrecht zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungs-gerichts dazu, einen Verwaltungsakt nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU auch als auf der Zeitachse teilbar anzusehen; ausgehend hiervon darf für die Rechtmäßigkeit der Nichtbestehensfeststellung insgesamt vom Zeitpunkt des Wirsamwerdens bis zur Entscheidung des Gerichts kein Zeitraum, in dem ein Freizügigkeitstatbestand verwirklicht wird, vorliegen; für eine Teilbarkeit bis zur Entstehung eines Freizügigkeitsrechts: VG Y., Urteil vom 11.05.2023, - 8 K 4561/22 -, juris Rz 151ff.
35Diese Sicht ist nicht nur für die retrospektive Beurteilung, ob ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU entstanden ist, von maßgeblicher Bedeutung. Dieses Verständnis wird auch der Systematik der Entstehung von Freizügigkeitsrechten von Gesetzes wegen gerecht, die keiner konstitutiven behördlichen Entscheidung für ihr Entstehen und ihren Fortbestand bedürfen. Spiegelbildlich bedarf es auch nicht der Aufhebung einer Verlust- oder Nichtbestehensfeststellung, um vom Entstehen eines Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU ausgehen zu können. Allein die Verwirklichung des Freizügigkeitstatbestands durch den Unionsbürger und/oder seine Familienangehörigen bewirkt die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. Eine entgegenstehende Ordnungsverfügung wird entsprechend des Umfangs der Gültigkeit mangels des sie deckenden Tatbestands rechtswidrig und unterliegt insoweit der behördlichen (§§ 48, 51 VwVfG) oder gerichtlichen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) Aufhebung.
36Für dieses Verständnis spricht auch die Systematik des Freizügigkeitsgesetzes im Übrigen. Denn ist der Aufenthalt eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen im Wege der Verlustfeststellung beendet worden, ist damit in der Regel der Zweck des Gesetzes – die Regelung von Einreise und Aufenthalt (§ 1 Abs. 1, 1. Hs FreizügG/EU) – erreicht. Nur in besonderen Lagen, wenn vom Unionsbürger und seinen Familienangehörigen auch in Zukunft eine Gefahr ausgeht, eröffnet das Freizügigkeitsgesetz mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot die Möglichkeit, auch über die Aufenthaltsbeendigung hinaus gefahrenabwehrrechtliche Regelungen zu treffen. So gibt etwa im Falle der Täuschung über ein Recht nach § 2 Abs. 1 FreiztügG/EU, das zur Nichtbestehensfeststellung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU geführt hat, § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU die Möglichkeit, für die Zukunft ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu verhängen. Im Falle der Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU soll, d. h. wird im Regelfall, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und befristet (§ 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Hieraus ergibt sich, dass das Freizügigkeitsgesetz nur für Personen, von denen besondere Gefahren ausgehen können, Regelungen über den Zeitpunkt der Beendigung des Aufenthalts hinaus in die Zukunft vorsieht. Im Normalfall sieht der Gesetzgeber kein Bedürfnis einer behördlichen Regelung über den beendeten Aufenthalt hinaus.
37Abzustellen ist im Hinblick auf die Voraussetzungen der Verlustfeststellungen dann aus Gründen des vorstehend dargestellten materiellen Rechts maßgeblich auf den Zeitpunkt, den die Feststellung regelt.
38Offenlassend noch BVerwG, Urteil vom 11.09.2019 - 1 C 48.18 -, juris Rn. 10.
39Unter Berücksichtigung dieses Verständnisses und der so zu Grunde gelegten Systematik des Freizügigkeitsgesetzes kann die ab dem 15.02.2023 durch Zustellung wirksam gewordene und bis zur Ausreise der Klägerin für ihren Aufenthalt Geltung beanspruchende Feststellung des Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts auf Grundlage des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU für den Zeitraum vom 01.03.2023 bis zum 30.06.2023 in der Ordnungsverfügung vom 23.01.2023 keinen Bestand haben.
40a) Die Ordnungsverfügung begegnet jedoch insgesamt nicht schon formellen Bedenken. Sie ist schriftlich und mit einer Begründung versehen erlassen worden (§ 11 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 77 Abs. 1 AufenthG, § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU „in dem Bescheid“). Die Ordnungsverfügung ist ihrem Inhalt nach, die Teilbarkeit der Nichtbestehens- bzw. Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts und die vorstehende Gesetzessystematik zu Grunde gelegt, auch entsprechend § 37 Abs. 1 VwVfG inhaltlich hinreichend bestimmt. Denn ausgehend vom Wortlaut des Tenors der Ordnungsverfügung lässt sich mit der Systematik des Gesetzes der beabsichtigte Geltungszeitraum der Verlustfeststellung ohne Einschränkungen in aller Deutlichkeit ermitteln. Die Feststellung umfasst damit den Zeitraum ab der Wirksamkeit der Ordnungsverfügung,
41das ist gem. § 43 Abs. 1 VwVfG der Zeitpunkt der Bekanntgabe,
42bis zur Ausreise (tatsächliche und wirksame Beendigung des Aufenthalts) des Verfügungsadressaten.Soweit man die Vorschrift des § 5 Abs. 3 FreizügG/EU als formelle und/oder materielle Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU verstehen will,
43vgl. insoweit möglicherweise VG Y., Urteil vom 11.05.2023, - 8 K 4561/22 -, juris, Rz. 24ff,
44liegt diese vorliegend auch vor. Nach dieser Vorschrift kann das Vorliegen oder der Fortbestand der Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 aus besonderem Anlass überprüft werden. Ein besonderer Anlass kann vorliegend in den mehrfachen Aufenthaltsanzeigen seit dem Erstzuzug am 05.02.2018 zu unterschiedlichen Aufenthaltszwecken (Arbeitsplatzsuche, unselbständige Erwerbstätigkeit), jedenfalls aber in den Mitteilungen der Staatsanwaltschaft L. vom 21.04.2021 und 22.02.2022 zu strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gesehen werden. Die Ausländerbehörde der Beklagten hat hierauf mit Anhörungsschreiben vom 18.10.2022 eine Überprüfung des Bestehens eines Freizügigkeitsrechts in Lauf gesetzt, die in den Erlass der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung mündete.
45b) Die Ordnungsverfügung der Beklagten ist dem Zeitraum vom 01.03.2023 bis zum 30.06.2023 materiell nicht rechtmäßig, im Übrigen nicht rechtswidrig.
46Nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 festgestellt und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, die Aufenthaltskarte eingezogen werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese nicht vorliegen.
47Die Klägerin kann nicht auf einen fünf Jahre währenden ständigen rechtmäßigen Aufenthalt zurückblicken. Eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ist nach der Vorschrift ausgeschlossen, wenn ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU zugunsten des Betroffenen entstanden ist. Dies ergibt sich auch schon daraus, dass Inhaber eines Daueraufenthaltsrechts gem. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind und diese Rechtsstellung nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 4a Abs. 7 oder § 6 Abs. 4 FreizügG/EU verlieren können.
48Im Falle der Klägerin ist schon - ohne Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeits-voraussetzungen – kein ununterbrochener fünfjähriger Aufenthalt feststellbar. Zwar ist ein erster Zuzug der Klägerin ins Bundesgebiet für den 05.02.2018 aktenkundig, ein weiterer Zuzug erfolgte nach der Abmeldung zum 19.03.2018 für den 08.06.2018. Ohne dass hierzu ein Abmeldedatum ersichtlich wäre, ist ein erneuter Zuzug für den 04.04.2019 dokumentiert. Und schließlich ist ein erneuter und letzter Zuzug für den 18.03.2022 aktenkundig, ohne dass zuvor eine Abmeldung erfolgt wäre. Ausgehend hiervon währte der derzeitige Aufenthalt – nach Lage der Akten - ununterbrochen allenfalls seit dem 18.03.2022 und damit auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Verfügung am 15.02.2023 insgesamt nicht einmal ein Jahr. Auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (21.02.2025) ergeben sich so keine fünf Jahre ununterbrochenen Aufenthalt. Offenbleiben kann vor diesem Hintergrund, wie lange und welcher Art die erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Reisen zu ihrem Vater nach Rumänien waren.
49Letztlich kann die Frage nach einem fünfjährigen Aufenthalt aber ohne weitere Aufklärung dahinstehen, weil die Klägerin für den gesamten Aufenthalt vor Erlass der Ordnungsverfügung jedenfalls keinen Freizügigkeitstatbestand geltend gemacht hat und ein solcher auch nicht von Amts wegen feststellbar ist. So hat die Deutsche Rentenversicherung der Beklagten unter dem 10.11.2022 mitgeteilt, dass zu diesem Zeitpunkt für die Klägerin keinerlei Beschäftigungszeiten oder Arbeitgeber gemeldet seien. Auch die Knappschaft-Bahn-See (Minijob-Zentrale) konnte keine Daten vor dem 18.10.2022 ermitteln. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin die Angabe bei der Aufenthaltsanzeige „Arbeitsplatzsuche“ als Geltendmachung eines Freizügigkeitsrechts unterstellen wollte, wäre der den Tatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU möglicherweise vom 18.03.2022 nur bis zum zunächst längstmöglichen Zeitpunkt am 17.09.2022 ausfüllende Zeitraum ein halben Jahres zur erstmaligen Arbeitsplatzsuche abgelaufen.
50aa) Hinsichtlich des Zeitraums vom 15.02.2023 bis zum 28.02.2023 liegen die Voraussetzungen für die Verlustfeststellung vor.
51Die Klägerin kann sich für den Zeitraum vom 15.02.2023 bis zum 28.02.2023 auf keinen Freizügigkeitstatbestand berufen. Unstreitig war sie in diesem Zeitraum mangels eines wirksamen Arbeitsverhältnisses nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmerin im Bundesgebiet aufhältig. Soweit sie mit der Klagebegründung geltend macht, sie habe „sich stets um Arbeit bemüht“, begründet dies kein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU. Nach dieser Vorschrift sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt solche Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche aufhalten für bis zu sechs Monate, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Wenn man zugunsten der Klägerin die letzte Aufenthaltsanzeige vom 18.03.2022 als Beginn eines neuen Aufenthalts zur Arbeitsplatzsuche zu Grunde legt, ist – wie bereits vorstehend ausgeführt - am 15.02.2023 der sechsmonatige Zeitraum zur Arbeitsplatzsuche längst abgelaufen gewesen, ohne dass sie auch nur ansatzweise den Nachweis angetreten hätte, dass sie weiterhin Arbeit gesucht hätte und begründete Aussicht hatte, eingestellt zu werden. Die bloße Behauptung, „sie habe sich stets um Arbeit bemüht“ reicht für den vom Gesetzgeber geforderten Nachweis ersichtlich nicht aus.
52Auch eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU kann für diesen Zeitraum nicht festgestellt werden. Nach dieser Vorschrift sind nichterwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Die Klägerin hat weder auf die entsprechenden Hinweise der Beklagten im Begrüßungsschreiben vom 18.03.2022 noch auf das Anhörungsschreiben vom 18.10.2022 oder zur Begründung der Klage in Kenntnis der Ordnungsverfügung einen (ausreichenden) Krankenversicherungsschutz dargetan oder gar nachgewiesen. Auch genügende Existenzmittel sind nicht ersichtlich. Nach ihrem eigenen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung wird sie, wenn sie über keine Arbeitsstelle verfügt, in Deutschland von ihrer Tante und in Rumänien von ihrem Vater unterstützt. Sie verfügt mithin auch nicht über genügende Existenzmittel.
53bb) Im Zeitraum vom 01.03.2023 bis 30.06.2023 war die Klägerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt.
54Sie hat in diesem Zeitraum für die Firma „K., Z.-straße. 106, 4469 E.“ als Reinigungskraft im Umfang von 15 Stunden/Woche und einem Stundenlohn von 12,- Euro gearbeitet. Hierzu hat sie nicht nur einen dies bestätigenden Arbeitsvertrag (Bl. 83ff Beiakte Heft 2) vom 01.03.2023 vorgelegt, sondern auch entsprechende Lohnbescheinigungen. Nach der Bescheinigung zum März 2023 (Gerichtsakte Bl. 37) hat sie bei einem Bruttobetrag von 632,63 Euro einen Betrag von 600,- Euro zur Auszahlung erhalten. Die Abrechnung für April 2023 lautet auf ein Bruttogehalt von 771,23 Euro und einem Auszahlungsbetrag von 700,- Euro (Gerichtsakte Bl. 38). Die Mai-Abrechnung lautet über denselben Betrag (Gerichtsakte Bl. 46), wie auch die Juni-Abrechnung (Gerichtsakte Bl. 47). Alle Abrechnungen tragen als Eintrittsdatum den 01.03.2023 und die Juni-Abrechnung zusätzlich das Austrittsdatum 30.06.2023.
55Für diesen Zeitraum bestätigt die Deutsche Rentenversicherung – Bund – mit Schreiben vom 27.06.2024 an die Beklagte (Beiakte Heft 2, Bl. 174) ein Beschäftigungsverhältnis, das hinsichtlich des in der Zukunft liegenden Enddatums (30.06.2026) offensichtlich einem Schreibfehler unterliegt (richtig wohl 30.06.2023), das dem von der Klägerin dargelegten Beschäftigungsverhältnis auch entspricht. Dieses Beschäftigungsverhältnis wird von der Deutschen Rentenversicherung der Firma „B., 45899 Y., I.-straße 3“ zugeordnet. Der mitübersandte Gesamtkontospiegel (Beiakte Heft 2, Bl. 177ff) weist auf Seite 3 für diesen Zeitraum eine Beschäftigung zu einem Entgelt von 2.946,- Euro und einem beitragspflichtigen Entgelt von 2.400,- Euro aus.
56Soweit die Beklagte insoweit vorträgt, die Bezeichnung des Arbeitgebers weiche im Arbeitsvertrag von der in den Abrechnungen ab, trifft dies zu, stellt aber ein tatsächliches Arbeitsverhältnis nicht in Frage. Denn die Abrechnungen sind für eine Frau O., I.-straße 0 in 00000 Y. als Arbeitgeberin ausgestellt, die auch als Anschrift des Arbeitgebers (P.) bei der Deutschen Rentenversicherung geführt wird. Dass demgegenüber im Arbeitsvertrag die Firma „K., Z.-straße. 000, 00000 E.“ als Arbeitgeber genannt wird, mag ebenso wie die dort als Rechtsgrundlage benannte Vorschrift des § 14 Abs. 2 TzBfG als eine im Geringbeschäftigtensektor nicht unübliche Ungenauigkeit anzusehen sein. Auch eine fehlende Kontoverbindung und insoweit nicht vorgelegte Auszahlungsbelege vermögen dieses Arbeitsverhältnis hinsichtlich seiner Wirksamkeit durchgreifend in Frage zu stellen. Denn der Entgeltbetrag, den die Deutsche Rentenversicherung bestätigt, entspricht dem Bruttoentgeldbetrag, den auch die Lohnabrechnungen ausweisen, auf den Cent. Der Einwand der Beklagten, es könne durch Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung der Bestand eines Arbeitsverhältnisses vorgetäuscht werden, trifft theoretisch zu. Hiernach aber in steter Salamitaktik immer höhere Anforderungen an den Nachweis eines wirksamen Arbeitsverhältnisses von den betroffenen Unionsbürgern zu fordern, überspannt deren Nachweispflichten. Der Gesetzgeber hat diese Nachweispflichten in § 5a Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU dahingehend beschränkt, dass eine „Einstellungsbestätigung oder eine Beschäftigungsbescheinigung des Arbeitgebers verlangt werden dürfen. Dies hat Klägerin für den vorliegenden Zeitraum erfüllt. Mithin war sie in diesem Zeitraum als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt.
57cc) Hinsichtlich des Zeitraums ab dem 01.07.2023 liegen die Voraussetzungen für die Verlustfeststellung (wiederum) vor. Dass die Gültigkeit der Regelung in Ziffer 1 der Ordnungsverfügung, die Verlustfeststellung, dabei zeitlich über den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hinaus reicht, ist dabei allenfalls ein Problem der belastbaren Prognose. Der maßgebliche Zeitpunkt bleibt der der mündlichen Verhandlung.
58Eine Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmerin auf das zum 30.06.2023 beendete Arbeitsverhältnis (vgl. die vorstehenden Ausführungen zu bb)) lässt sich nicht feststellen. Zum einen scheidet schon eine Nachwirkung wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit aus, weil die Klägerin nicht gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU nach weniger als einem Jahr Beschäftigung durch die zuständige Agentur für Arbeit eine Bestätigung für unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorgelegt hat. Sie hat auch nicht einmal vorgetragen, das Arbeitsverhältnis sei für sie unfreiwillig beendet worden.
59Aber auch ein wirksames Arbeitsverhältnis nach diesem Zeitpunkt hat sie nicht dargetan. Zwar hat sie einen Arbeitsvertrag mit der W. Horsterstr. 384, in 46240 U. ab dem 01.11.2023 zu 10,8 StD/Woche und 770,-Euro als „Büroassisitenten“ vorgelegt (Beiakte Heft 2, Bl. 152ff). Eine weitere Bestätigung, dass dieses Beschäftigungsverhältnis jemals aufgenommen wurde, ist jedoch nicht vorgetragen oder sonst aktenkundig geworden. Vielmehr hat sie in der mündlichen Verhandlung jede Erinnerung an diese Arbeitsstelle geleugnet und auch später sich nur in ungefähren und schwammigen Angaben hierzu verloren. Weder konnte sie klare Angaben zu Zeit und Ort machen, noch liegen widerspruchsfreie Angaben zum Inhalt der angeblichen Arbeit vor. Ist im Arbeitsvertrag noch von „Büroassisitenten“ die Rede, was bei den nur marginalen Deutschkenntnissen der Klägerin schon unrealistisch anmutet, so hat sie in der mündlichen Verhandlung von Reinigungsarbeiten gesprochen. Um ein sozialversicherungspflichtiges wirksames Arbeitsverhältnis kann es sich jedenfalls nicht gehandelt haben, weil die Auskunft der Deutschen Rentenversicherung vom Juni 2024 kein weiteres Arbeitsverhältnis, als das unter bb) behandelte, enthält. Der fehlende Nachweis geht zu ihren Lasten.
60Und schließlich ist auch mit dem angeblich seit dem 01.02.2025 bestehenden Arbeitsverhältnis bei dem Arbeitgeber Herrn N. V. (in der M.-straße 00 in 00000 L.) kein wirksames Beschäftigungsverhältnis dargetan. Nach dem Text des Arbeitsvertrages, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erstmals vorlegt, wurde die Klägerin dort ab dem 1. Februar für die Tätigkeit als Reinigungskraft in L. eingestellt, auf unbestimmte Zeit und ohne Probezeit. Als Gehalt wird hier ein Bruttolohn in Höhe von 600,00 Euro versprochen. Die regelmäßige Arbeitszeit soll 8 bis 12 Stunden wöchentlich betragen. Nach ihren weiteren Angaben sei sie bisher dreimal eingesetzt worden, ohne bislang einen Lohn bekommen zu haben.
61Die anwaltlich vertretene Klägerin ist mit diesem Vorbringen nach § 87b Abs. 3 VwGO zurückzuweisen, weil ihr mit der Terminladung eine Frist zum weiteren Vortrag bis zum 14.02.2025 gesetzt wurde und sie nicht dargetan hat, dass sie diese Frist nicht ohne ihr Verschulden verletzt hat. Es ist unerfindlich, was der Vorlage dieses Arbeitsvertrages entgegengestanden haben sollte. Weitere Ermittlungen durch die Beklagte etwa zu diesem angeblichen Arbeitgeber, die möglicherweise zu entscheidungserheblichen Ergebnissen geführt hätten, wurden so unmöglich gemacht. Sie hat auch keine präsenten Zeugen für dieses Vorbringen gestellt,
62was ihr unproblematisch hätte möglich sein müssen, da sie nach ihrem Vorbringen jeweils mit dem Auto und anderen Frauen zur Arbeitsstätte abgeholt worden sein will und ein wirksames Arbeitsverhältnis eine Person auf Arbeitgeberseite voraussetzt, die entsprechende Arbeitsanweisungen erteilt,
63so dass weitere Ermittlungen des Gerichts die Entscheidung des Rechtsstreits verzögern würden. Andere Nachweise für die Wirksamkeit dieses Arbeitsverhältnis – auf die in Anbetracht der bisherigen Erwerbsbiographie in Deutschland, die nach den vorstehenden Erwägungen nur ein viermonatiges Beschäftigungsverhältnis aufweist, unabdingbar sind, hat sie nicht beigebracht. Die in der mündlichen Verhandlung hierzu vorgezeigten Handyfotos sind mangels Angaben und Nachweises über Ort und Zeit sowie nähere Umstände der Aufnahmen als Nachweismittel völlig substanzlos.
64Damit liegen auch keine Anhaltspunkte auf den Bestand eines über den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hinausreichenden Freizügigkeitstatbestands vor.
65dd) Der Klägerin kann – entgegen der Anregung der Beklagten - für den Zeitraum vom 01.03.2023 bis 30.06.2023 die Berufung auf eine Freizügigkeit als Arbeitnehmerin, nicht etwa deswegen abgesprochen werden, weil sie die unionsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen missbrauche und das Unionsrecht nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes bei rechtsmissbräuchlichen Praktiken keine Anwendung findet. Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden,
66vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2014 – C-456/12 –, juris, Rn. 58; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 28. März 2017 – 18 B 274/17 –, juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 27. November 2018 – 10 CS 18.2181 -, juris Rn. 9.
67Vorliegend ergibt die Gesamtwürdigung der objektiven Umstände nicht mit der erforderlichen Sicherheit das Vorliegen eines Missbrauchstatbestandes. Mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit zum 01.03.2023 liegt nicht nur formal eine Erfüllung der Mindestvoraussetzungen der Freizügigkeit vor, die dem Sinn und Zweck der Unionsbürgerrichtlinie,
68vgl. Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004, Amtsblatt der Europäischen Union L 158/77 ff., Erwägungsgründe 10 und 16: keine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats, Erwägungsgrund 18: Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats,
69jedoch auch entspricht. Es lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin das Ziel verfolgt, sich dadurch soziale Vorteile zu verschaffen. Das seit ihrer Einreise gezeigte (Erwerbs-)Verhalten der Klägerin lässt nicht zweifelsfrei erkennen, dass der Aufenthalt nicht auf eine ernsthafte erwerbswirtschaftliche Betätigung ausgerichtet war und von Anfang an das Ziel verfolgt wurde und wird, den Bedarf der Klägerin zumindest größtenteils durch staatliche Sozialleistungen zu decken. Eine Inanspruchnahme von beitragsunabhängigen Sozialleistungen ist den Verwaltungsvorgängen der Beklagten nicht zu entnehmen. Auch die Beklagte hat keinen Anhaltspunkt dafür gesehen, dass insoweit Ermittlungen aufgenommen worden wären. Hinsichtlich der zu würdigenden Gesamtumstände kann zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die vorstehenden Erörterungen verwiesen werden.
70ee) Die Beklagte hat das ihr danach für die Zeiträume vom 15.02.2023 bis zum 28.02.2023 und ab dem 01.07.2023 eröffnete Ermessen hinsichtlich der Verlust-/Nichtbestehensfeststellung erkannt und innerhalb der gesetzlichen Grenzen und in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Zwar ging sie dabei von dem nichtzutreffenden Sachverhalt aus, dass die Klägerin zu keinem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt gewesen ist, hierauf hat sie indes erkennbar nicht maßgeblich abgestellt. Vielmehr hat sie den erst seit Anfang März 2022 währenden ununterbrochenen Aufenthalt als noch nicht zur Verwurzelung geeignet betrachtet und auf fehlende familiäre Bindungen im Bundesgebiet abgestellt. Die der Beklagten bislang nicht bekannte Bindung zur Tante, bei der sie derzeit wohnt, begründet für die volljährige Klägerin keine besonders geschützte familiäre Beziehung, die nicht hinreichend beachtet worden wäre. Berücksichtigung fand noch die fehlende wirtschaftliche und soziale Bindung ins Bundesgebiet. Soweit die Ordnungsverfügung noch Mitteilungen über Straftaten (05.02.2018 Urkundenfälschung und 17.-18.09.2021 Ausübung verbotener Prostitution) nennt, hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass nicht zur Verurteilung hinreichende Straftaten insoweit nicht berücksichtigt würden und damit die Ermessenserwägungen jedenfalls korrigiert. Die noch benannte fehlende kulturelle Bindung hat sich in der mündlichen Verhandlung in Form von fehlenden deutschen Sprachkenntnissen bestätigt. Dieser fehlenden Verwurzelung im Bundesgebiet steht auch spiegelbildlich die noch bestehende Verwurzelung im Heimatland gegenüber. So hat sie davon berichtet mehrfach in den zurückliegenden Zeiträumen wieder ins Heimatland gereist zu sein, um dem erkrankten Vater beizustehen, der sie bei diesen Aufenthalten dann auch finanziell unterstützt haben soll.
71II. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, erweisen sich die (noch nicht vollzogene) Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 der Ordnungsverfügung,
72bei ausländerrechtlichen Entscheidungen, die Grundlage einer Aufenthaltsbeendigung sein können, ist grundsätzlich der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich, es sei denn, aus Gründen des materiellen Rechts ist dies ausnahmsweise ein anderer Zeitpunkt; st. Rspr. des BVerwG, Urteil vom 11.09.2019, - 1 C 48.18 -, juris Rz. 9 mit zahlr. weiteren Nachw.
73als nicht rechtswidrig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Wegen des aus Gründen des materiellen Rechts nicht notwendig anderen maßgeblichen Zeitpunkts berührt die zwischenzeitliche Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin (01.03.-30.06.2023) nicht die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
74Die verfügte Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von einem Monat und die Abschiebungsandrohung nach Rumänien ist nach § 59 AufenthG unter Beachtung der Vorgaben aus § 7 Abs. 1 FreizügG/EU (Mindestfrist von einem Monat) erfolgt. Der Abschiebungsandrohung entgegenstehende Abschiebungsverbote und Umstände, die der Abschiebung wegen des Kindeswohls und familiärer Bindungen oder wegen des Gesundheitszustands der Klägerin entgegenstehen, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
75Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, weil der der Aufhebung unterliegende Teil der Ordnungsverfügung in zeitlicher Hinsicht vergleichsweise (vier Monate zu bislang unbeendeter Geltung bis zur Ausreise) nur einen geringen Anteil an der Geltungsdauer hat und somit das Unterliegen der Beklagten auch nur zu einem geringen Teil erfolgt.
76Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO, §§ 708. 711 ZPO.
77Die Berufung war nach §§ 124a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3. VwGO zuzulassen. Die mit der Teilbarkeit einer Verlus-/Nichtbestehensfeststellung verbunden Fragen sind von grundsätzlicher Bedeutung.
78Rechtsmittelbelehrung
79Innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
80Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster schriftlich einzureichen.
81Der Antrag ist zu stellen und zu begründen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.
82Beschluss
83Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
845.000,- Euro
85festgesetzt.
86Gründe
87Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2 GKG. Der festgesetzte Wert entspricht dem Auffangstreitwert.
88Rechtsmittelbelehrung
89Gegen diesen Beschluss kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls das Verwaltungsgericht ihr nicht abhilft. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf der genannten Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden. Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes zweihundert Euro übersteigt. Die Beschwerde findet auch statt, wenn sie das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zulässt.