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Der bei der anzustellenden Rückkehrprognose gemeinsam mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen 11-jährigen Tochter nach Italien zurückkehrende Kläger und seine Kernfamilie werden in einem der SAI-Zentren familien- und kindgerecht untergebracht werden, wo die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sichergestellt sowie eine medizinische Grundversorgung gewährleistet ist (Anschluss an BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2024 - 1 C 3.24; 1 C 24.23).
Die Trennung des Klägers von seiner - noch im Dublin-Verfahren befindlichen - Kernfamilie ist für die Dauer der Durchführung des Verfahrens zur Familienzusammenführung nach der Familienzusammenführungs-Richtlinie zumutbar.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund dieser Entscheidung vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Der Kläger ist nach eigenen Angaben am 00. Mai 0000 in Q. geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Er ist verheiratet mit Frau W. und Vater eines am 0. April 0000 geborenen Kindes. Zudem ist er Vater von vier erwachsenen Kinder, die sich allesamt im Bundesgebiet aufhalten.
3Er reiste nach eigenen Angaben am 10. März 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 31. März 2023 einen förmlichen Asylantrag.
4Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ermittelte am 14. März 2022 einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Italien („IT1...“) vom 25. Februar 2022.
5Der Kläger gab bei seiner Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und persönlichen Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 31. März 2023 an, dass er am 18. Januar 2022 auf dem Luftweg nach Italien gereist sei und sich dort bis zum 10. März 2023 in Parma aufgehalten habe. Ihm sei im Februar 2022 internationaler Schutz zuerkannt worden.
6Auf das Übernahmeersuchen des Bundesamtes vom 12. April 2023 teilten die italienischen Behörden am 24. April 2023 mit, dass dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei (Bl. 203 BA).
7Das Bundesamt hörte den Kläger am 23. Mai 2023 zur Zulässigkeit seines Asylantrags an. Er gab an, dass sie ein Haus im Norden von Italien bekommen hätten. Man bekomme nicht alles, was man benötige. Ihre Kontaktperson in Italien sei unfreundlich gewesen und habe seine Familie nicht gut behandelt. Wenn sie Arzttermine gebraucht hätten, sei das nie oder selten für sie geregelt worden. Eines Tages habe sie sie vom Bezirk Bagansola zur Stadt Nucetto gebracht. Die Behörden hätten gesagt, dass sie alle anerkannten afghanischen Flüchtlinge in den Süden brächten. Für sie seien Bustickets gekauft worden. Für ihre Koffer hätten sie selbst zahlen müssen. Sie seien in ein Haus gebracht worden, das 30 km von Benevento entfernt gewesen sei. Dort hätten sie die letzten sechs Monate vor ihrer Ausreise gelebt. Die Menschen dort seien Landwirte und hätten kleine Häuser. Sie hätten dort wöchentlich Lebensmittel, aber kein Geld erhalten. Ihrem Wunsch nach einer zentraleren Wohnlage und der Zurverfügungstellung von Geld statt Lebensmitteln sei nicht entsprochen worden. Auch habe es dort sehr viele Insekten gegeben. Außerdem sei eine andere Frau für sie zuständig geworden und von morgens bis abends bei ihnen gewesen. Im Winter hätten sie eine Gasflasche zum Heizen und Kochen bekommen. Sie hätten nur sechs Stunden am Tag heizen dürfen. Die Temperatur habe nicht höher als 17/18 Grad sein dürfen. Sie hätten nur eine Decke pro Person gehabt und ihnen seien weitere Decken verwehrt worden. Seine Frau und Tochter hätten ständig Kopfschmerzen gehabt wegen der Kälte. Auch hätten sie keine Mülleimer vor der Tür gehabt. Mit ganz viel Druck habe er irgendwann einen Sprachkurs besuchen können. Er wäre nicht ausgereist, wenn er wenigstens das Minimum an Lebensmöglichkeiten erhalten hätte. Er habe seit 18 Jahren Diabetes, seit 15 Jahren Magenbeschwerden und seit 10 Jahren Prostatabeschwerden. Auch habe er ständige Rücken- und Knieschmerzen infolge eines Unfalls sowie eine Zyste an der rechten Niere. Seien Ehefrau und seine minderjährige Tochter seien in Deutschland. Außerdem habe er drei Söhne und eine weitere Tochter in Deutschland.
8Das Bundesamt lehnte den Asylantrag der Ehefrau des Klägers und seiner minderjährigen Tochter mit Bescheid vom 15. Juni 2023 nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Bl. 354 Heft 3 BA). Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ordnete mit Beschluss vom 7. August 2023 (1a L 1086/23.A) die aufschiebende Wirkung der gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 dieses Bescheids erhobenen Klage an (Bl. 471 ff. Heft 3 BA).
9Mit Bescheid vom 21. August 2023 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG (Ziffer 2), drohte unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung die Abschiebung nach Italien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an (Ziffer 3 Sätze 1 bis 3), stellte fest, dass der Kläger nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfe (Ziffer 3 Satz 4), und ordnete ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an (Ziffer 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
10Der Kläger hat am 31. August 2023 Klage erhoben und einen Eilantrag gestellt. Mit Beschluss vom 6. September 2023 hat die Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage in Bezug auf Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids angeordnet (22 L 2366/23.A).
11Zur Begründung trägt der Kläger vor, dass Italien die Auffassung vertrete, dass nach zwei Jahren die Zuständigkeit auf den Staat übergehe, wo sich die Flüchtlinge aufhielten. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Kläger zusammen mit seiner Frau und dem gemeinsamen minderjährigen Kind nach Italien gehe, sie also als Familie zu betrachten seien. Denn die Frau und das minderjährige Kind seien noch im Dublin-Verfahren. Insoweit sei eine völlig andere Entscheidung möglich. Auch sei zu berücksichtigen, dass er das in Italien vorliegende Renteneintrittsalter von 62 Jahren und 3 Monaten erreicht habe. Er werde also in Italien Rentner sein, aber keine Rente beziehen, da er keine Beiträge geleistet habe. Hinzu komme eine erhebliche Einschränkung in der Erwerbsfähigkeit auf Grund seiner gesundheitlichen Beschwerden. Das System in Italien sei auf eine vorübergehende Aufnahme in Zentren ausgelegt und darauf, dass im Anschluss eine Lebensunterhaltssicherung durch Arbeitstätigkeit vorliege. Das sei in seinem Falle auszuschließen, da er auf Grund seiner Erkrankung nicht in der Lage sein werde, körperlich anstrengende Tätigkeiten auszuüben. Auch könne er in Italien nicht in seinem erlernten Beruf als Polizist arbeiten. Wenn man von einer gemeinsamen Rückkehr ausgehe, sei auch seine Frau nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für die gesamte Familie zu sichern. Weiter trägt der Kläger vor, dass er in Italien zwar Medikamente bekommen habe. Er sei vorher aber nicht untersucht worden. Auf den Inhalt der in der mündlichen Verhandlung zur Gerichtsakte gereichten Unterlagen (d.h. eine Aufstellung über die Familienmitglieder des Klägers und deren Verfahrensstand, ein Bericht des A. über eine Notfallbehandlung vom 0. November 0000 sowie eine Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. K. vom 00. August 0000) wird Bezug genommen.
12Der Kläger beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. August 2023 mit Ausnahme der Feststellung, dass der Kläger nicht nach Afghanistan abgeschoben werden darf, aufzuheben; hilfsweise unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 21. August 2023 die Beklagte zu verpflichten, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
14Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
15die Klage abzuweisen.
16Sie bezieht sich zur Begründung auf den angegriffenen Bescheid.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
18Entscheidungsgründe:
19Die Einzelrichterin ist für die Entscheidung zuständig, nachdem der Rechtsstreit ihr durch Beschluss der Kammer gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung übertragen worden ist.
20Es konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden, dass sie in der Ladungsverfügung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
21Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist sowohl mit dem Haupantrag (dazu unter I.) als auch mit dem Hilfsantrag (dazu unter II.) unbegründet.
22I. Der Bescheid der Beklagten vom 21. August 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
231. Das Bundesamt hat den Asylantrag mit Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids zu Recht als unzulässig abgelehnt.
24Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gewährt hat. Dies ist vorliegend der Fall, da dem Kläger durch Italien internationaler Schutz gewährt wurde.
25Anlass zu einer abweichenden Beurteilung bietet auch nicht die durch nichts weiter substantiierte Behauptung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, Italien vertrete die Auffassung, dass nach zwei Jahren die Zuständigkeit auf den Staat übergehe, wo sich die Flüchtlinge aufhielten. Vielmehr haben die italienischen Behörden mit Schreiben vom 24. April 2023 selbst angegeben, dass dem Kläger – aufgrund seines Schutzstatus – eine bis zum 24. Februar 2028 gültige Aufenthaltserlaubnis ausgestellt worden ist. Anhaltspunkte dafür, dass das Aufenthaltsrecht – als auch der zuerkannte Schutzstatus – inzwischen durch Zeitablauf erloschen seien und Italien nicht mehr schutzbereit sei, liegen weder vor, noch werden sie hinreichend substantiiert geltend gemacht. Vielmehr wird der internationale Schutz von Unionsrechts wegen dauerhaft zuerkannt; das Erlöschen, die Aberkennung und die Beendigung des Schutzstatus richtet sich nach Art. 11 und 14 der Richtlinie 2011/95/EU. Da nach dem unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens davon auszugehen ist, dass Italien diese Bestimmungen beachtet, hätte es eines substantiierten Vortrags zu den Tatsachen bedurfte, die dem entgegen stehen könnten.
26So auch VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 17. Juni 2021 - 10 K 1087/17.A -, juris, Rn. 29.
27Es ist der Beklagten auch nicht aus Gründen höherrangigen Rechts verwehrt, den Asylantrag auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abzulehnen. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass die Ablehnung des Asylgesuchs als unzulässig gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCh) i. V. m. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 (Verfahrensrichtlinie) verstößt, dessen Umsetzung in deutsches Recht mit Inkrafttreten des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfolgt ist. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, wenn des Antragstellers keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh zu erfahren.
28Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Ausspruch zu 3., juris.
29Es ist insoweit darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten.
30Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 83, m.w.N., juris.
31Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Insoweit ist gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 85 ff., m.w.N., juris.
33Die genannten Schwachstellen fallen indes nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
34Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 89 ff., m.w.N., juris.
35Unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, hindern Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führen, die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie eingeräumte Befugnis auszuüben. Der Umstand, dass Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den oben genannten Kriterien entspricht.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 92 ff., m.w.N., juris.
37Dass der Kläger in Italien nach diesen Maßstäben der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh ausgesetzt wäre, ist nicht erkennbar.
38Bei dieser Prognoseentscheidung ist der Kläger zunächst nicht als Einzelperson zu betrachten. Vielmehr ist aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Abschiebungsverboten,
39vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris,
40die auf den vorliegenden Fall wegen der Interessengleichheit von Art. 4 EU-GRCh und Art. 3 EMRK übertragbar ist (vgl. Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh),
41vgl. BVerwG, Urteil vom 24. April 2024 - 1 C 8.23 -, juris, Rn. 12,
42zu folgern, dass auf die gelebte Kernfamilie abzustellen ist.
43Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach - obwohl das nationale Recht keinen "Familienabschiebungsschutz" kennt - für die Bildung der Prognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Prognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Annahme rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne "gelebte" Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der - nicht auf Kernfamilien beschränkte - Schutzbereich des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein, rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr. Diese ist andererseits der Prognose auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist
44Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. April 2024 - 1 C 8.23 -, juris, Rn. 13.
45Ausgehend hiervon ist von einer gemeinsamen Rückkehr des Klägers zusammen mit seiner Ehefrau und dem am 0. April 0000 geborenen gemeinsamen Kind auszugehen. Dabei bietet mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen insbesondere auch der Umstand, dass sich diese noch im Dublin-Verfahren befinden, keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung.
46Der Kläger ist mithin als Vater eines 2013 geborenen Kindes, mit dem er nach seinem glaubhaften Vorbringen in der mündlichen Verhandlung im Bundesgebiet tatsächlich eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaf lebt, der Gruppe der vulnerablen Personen zuzurechnen.
47Vgl. hierzu ausführlich Bay. VGH, Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris, Rn. 28 f. m.w.N.
48Nach der aktuellen Erkenntnislage ist jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass nach Italien zurückkehrende Schutzberechtigte, die wie der Kläger Elternteil eines minderjährigen Kindes sind, dort in eine extreme materielle Notlage geraten werden, die es ihnen nicht erlaubt, die elementarsten Grundbedürfnisse ihrer Familie hinsichtlich Unterkunft, Ernährung und Hygiene zu befriedigen.
49So auch im Falle einer alleinerziehenden Mutter mit einem Grundschuldkind und einem Kind unter drei Jahren BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2024 - 1 C 3.24; 1 C 24.23 -; Pressemitteilung abrufbar unter https://www.bverwg.de/pm/2024/68; Bay. VGH Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris, Rn. 31 ff. m.w.N.
50Zur Unterbringung von Schutzberechtigten ist das Zweitaufnahmesystem „Sistema Asilo Integrazione“ (SAI) vorgesehen. Bei den SAI handelt es sich um kleine Unterbringungsstrukturen, betrieben von lokalen Behörden, oft in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, die weiterechende Unterstützung bieten. Dort können Schutzberechtigte bis zu sechs Monaten, in Ausnahmefällen auch zwölf Monate oder länger untergebracht werden.
51Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 27. September 2024, S. 16; Bay. VGH Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris, Rn. 32 m.w.N. unter Bezugnahme auf AIDA, Country Report: Italy, Stand: Mai 2022, S. 236 f.
52Darüber hinaus lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass in den durch nichtstaatliche Hilfsorganisationen, Kirchen und privaten Initiativen zur Verfügung gestellten Schlafplätzen und betriebenen Notunterkünften gerade Familien mit kleinen Kindern bessere Chancen haben, untergebracht zu werden und gewisse Projekte nur für Frauen und Kinder zugänglich sind.
53Vgl. Bay. VGH Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris, Rn. 32 m.w.N. unter Bezugnahme auf Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 7
54Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger und seine Familie in einem der SAI-Zentren familien- und kindgerecht untergebracht werden und dort die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sichergestellt sowie eine medizinische Grundversorgung gewährleistet ist. Mit Blick auf die in dieser Einrichtung angebotenen Unterstützungsleistungen unter anderem bei der Suche nach einer Unterkunft, einer Arbeitsstelle sowie der Kinderbetreuung ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass dem Kläger und seiner Familie im Anschluss an diese Unterbringung eine Verelendung droht.
55So auch im Falle einer alleinerziehenden Mutter mit einem Grundschuldkind und einem Kind unter drei Jahren BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2024 - 1 C 3.24; 1 C 24.23 -; Pressemitteilung abrufbar unter https://www.bverwg.de/pm/2024/68.
56Vielmehr haben anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen im selben Maß wie italienische Staatsbürger.
57Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 27. September 2024, S. 17; so auch Bay. VGH, Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris, Rn. 39 f. m.w.N.
58Gleiches gilt auch in Bezug auf die medizinische Versorgung. Wie Asylbewerber müssen sich Personen mit einem Schutzstatus in Italien beim Nationalen Gesundheitsdienst registrieren und haben dann dieselben Rechte und Pflichten in Bezug auf medizinische Versorgung wie italienische Bürger. Die Registrierung gilt für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung.
59Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 27. September 2024, S. 17.
60Individuelle Umstände, die eine abweichende Betrachtung rechtfertigen könnten, werden weder im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Nach den Angaben des Klägers im Verwaltungsverfahren wurden die elementarsten Grundbedürfnisse seiner Familie durch die italienischen Behörden befriedigt, indem ihnen eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wurde und sie sind regelmäßig mit Lebensmitteln versorgt worden sind. Zusätzlich haben sie nach seinen eigenen Angaben monatlich jeweils 25 Euro für Kleidung erhalten. Die Ehefrau des Klägers hat in ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags vom 30. Mai 2023 zudem angegeben, dass sie monatlich 300 Euro für Lebensmittel sowie – trotz anfänglicher Schwierigkeiten – auch Medikamente bekommen hätten. Die in diesem Zusammenhang klägerseits geäußerten Beanstandungen vermögen eine Notlage im vorstehend dargestellte Sinne nicht zu begründen. Dies gilt auch in Bezug auf die klägerseits als unzureichend beanstandete medizinische Versorgung in Gestalt einer fehlenden richtigen Untersuchung. Denn der Kläger hat letztlich selbst eingeräumt, dass ihm die richtigen Medikamente verschrieben worden sind. Die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob er aufgrund seines Alters und bzw. oder seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch arbeitsfähig ist, kann demgegenüber dahingestellt bleiben. Selbst wenn er im Anschluss an die vorstehend dargestellte Unterbringung nicht in der Lage sein sollte, eine Arbeitstätigkeit aufzunehmen, ist er zum einen auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verweisen. Zum anderen ist seine am N01 geborene Ehefrau darauf zu verweisen, zur Existenzsicherung ihrer Familie eine berufliche Tätigkeit auszuüben. Dabei wird sie zum einen auf die während ihres mehr als einjährigen Aufenthalts in Italien gesammelten Erfahrungen sowie auf ihre Schulbildung und bisherige Berufserfahrung zurückgreifen können. Ausweislich ihrer Angaben bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 30. Mai 2023 (Bl. 330 ff. Heft 3 BA) ist die Ehefrau des Klägers in Afghanistan 12 Jahre lang zur Schule gegangen und war dort auch berufstätig. Schließlich stellt die Kammer selbstständig tragend darauf ab, dass der Kläger, seine Ehefrau und ihr jüngstes Kind von ihren weiteren vier – in der Bundesrepublik Deutschland lebenden – erwachsenen Kindern finanziell unterstützen werden können.
61Zur Berücksichtigung der möglichen Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 2001 - 1 B 185.01 -, juris, Rn. 2; VG Osnabrück, Urteil vom 2. September 2019 - 5 A 1163/18 -, juris, Rn. 56.
62Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass nach dem eigenen Vorbringen des Klägers seine Kinder über universitäre Abschlüsse verfügen, aus ihnen allen etwas geworden ist und er eine enge Beziehung zu ihnen pflegt (zwei seiner Söhne massieren ihm jeden Abend die Füße). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass zwei seiner Söhne in Deutschland einen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben und zumindest ein Sohn einer Berufstätigkeit bei der Deutschen Post nachgeht.
632. Auch die Feststellung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, wäre auf den im Hauptantrag der Klage enthalten statthaften isolierten Anfechtungsantrag,
64vgl. zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage, die gegen einen Asylbescheid mit Unzulässigkeitsentscheidung insgesamt gerichtet ist, im Einzelnen: BVerwG, Urteile vom 27. Oktober 2015 ‑ 1 C 32.14 ‑, juris Rn. 13 ff. und vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 16 f. (in Bezug auf eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG); OVG NRW, Urteile vom 7. März 2014 ‑ 1 A 21/12.A ‑, juris Rn. 28 ff., und vom 16. September 2015 ‑ 13 A 800/15.A ‑, juris Rn. 22 ff. m.w.N.,
65nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand nicht aufzuheben.
66Die Feststellung findet ihre Ermächtigungsgrundlage in § 31 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ist in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen. Aus den in Abschnitt 1. genannten Gründen ist das Bundesamt zu Recht davon ausgegangen, dass der Asylantrag des Klägers unzulässig ist.
67Im Übrigen liegen nach den obigen Ausführungen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Italien vorliegen könnte. Insbesondere folgt kein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG aus dem Umstand, dass sich die Ehefrau des Klägers und ihr gemeinsames minderjähriges Kind (gestattet) in Deutschland aufhalten. § 60 Abs. 5 AufenthG, wonach ein Ausländer nicht abgeschoben werden darf, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4 November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist, bezieht sich lediglich auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach der EMRK. Abschiebungshindernisse, die sich etwa aus Art. 8 EMRK ergeben, wenn mit einer Abschiebung eine Trennung des Betroffenen von seiner Familie droht, sind inlandsbezogen und daher von der Ausländerbehörde zu prüfen.
68Vgl. Koch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 39. Edition, Stand: 1. Juli 2020, § 60 Rn. 36 m. w. N.
69Zudem ist auch weder hinreichend substantiiert dargetan, noch sonst erkennbar, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund der Erkrankungen des Klägers vorliegt.
703. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides begegnet ebenfalls keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
71Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 34 Abs. 1, 35, 36 Abs. 1 AsylG. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer u.a. in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlässt das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn (1.) der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, (2.) dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, (2a.) dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird, (3.) die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist, (4.) der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen und (5.) der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
72Mit der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides hat das Bundesamt auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine negative Entscheidung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 2a AsylG getroffen. Die weiteren Voraussetzungen liegen ebenfalls vor.
73Die Abschiebungsandrohung steht auch im Einklang mit §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG. Dem vollziehbar ausreisepflichtigen Kläger ist die in § 36 Abs. 1 AsylG vorgesehene Ausreisefrist von einer Woche gesetzt worden. Der vorrangige Zielstaat der Abschiebung ist gemäß § 59 Abs. 2 AufenthG, § 35 AsylG benannt (Italien).
74Schließlich stehen in § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgeführten Belange der Abschiebungsandrohung nicht entgegen.
75Dies gilt zunächst in Bezug auf die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet.
76Durch die Regelung wollte der Gesetzgeber die Anforderungen der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) umsetzen. Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 6 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ist im nationalen Recht die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG.
77Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 -, juris, Rn. 41, 45 und 56, m.w.N., und EuGH-Vorlage vom 08. Juni 2022 - 1 C 24.21 -, juris Rn. 18, 21, Hess. VGH, Beschluss vom 18. März 2024 - 3 B 1784/23 -, juris Rn 22.
78Nunmehr setzt bereits der Erlass einer Abschiebungsandrohung voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Nach Art. 5 Rückführungsrichtlinie müssen bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden.
79Vgl. BT-Drs. 20/9463, S. 23; EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, juris Rn. 28, vgl. auch EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 - juris Rn. 60; EuGH, Urteil vom 8 Mai 2018 - C-82/16 -, juris Rn. 102.
80Es kann offen bleiben, ob die Rückführungsrichtlinie, die grundsätzlich für die Rückkehrentscheidung in Mitgliedstaaten nicht anwendbar ist (vgl. Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie), hier bereits unmittelbar Anwendung findet, weil der Kläger gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Rückführungsrichtlinie im Besitz einer gültigen Aufenthaltsberechtigung sein dürfte. Jedenfalls ist unzweifelhaft, dass der deutsche Gesetzgeber, durch die Regelung grundsätzlich die unionsrechtlichen Anforderungen an Rückkehrentscheidungen umsetzen wollte (möglicher Weise aber darüber hinaus gegangen ist), und daher die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung heranzuziehen ist.
81Vgl. zum Streitstand Bay. VGH, Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris Rn. 54.
82Das Bundesamt hat die in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht als nach § 35 AsylG für die Abschiebungsandrohung zuständige Behörde beim Erlass der Androhung zu prüfen. Im Rahmen der Kontrolle haben die Verwaltungsgerichte im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen. Insoweit müssen die Gerichte „durchentscheiden“.
83Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris Rn. 56; Hess. VGH, Beschluss vom 18. März 2024 - 3 B 1784/23 -, juris Rn 26.
84Dabei steht nicht jedes Bestehen eines Abschiebungshindernisses nach § 60a Abs. 2 AufenthG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegen. Vielmehr stehen einer Abschiebungsandrohung die in Art. 5 Rückführungsrichtlinie genannten Belange nur entgegen, wenn sie nicht vorübergehender Natur sind und Maßnahmen zur Regelung von Zeitpunkt und Art und Weise des Vollzugs ausschließen. Nur wenn feststeht, dass einer Rückkehrentscheidung auf unbestimmte Zeit keine Vollstreckungsmaßnahmen folgen dürfen, darf keine Abschiebungsandrohung ergehen.
85Vgl. BT-Drs. 20/9463, S. 45; Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 34 AsylVfGNG, Rn. 50; Hess. VGH, Beschluss vom 18. März 2024 - 3 B 1784/23 -, juris Rn. 28; VG Leipzig Beschluss vom 17. April 2024, 7 L 150/24; vgl. auch VGH Bad. Württ. vom 15. April 2021, - 12 S 2505/20 -, Rn. 151 zur Inlandsbezogenen Ausweisung; im Umkehrschluss auch Bay. VGH, Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris Rn. 70.
86Temporäre Abschiebungshindernisses führen vielmehr auch unionsrechtlich nur zu einer Aussetzung der Abschiebung nach Art. 9 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie.
87Zum Kriterium der Dauerhaftigkeit mit der Formulierung „auf unbestimmte Zeit“ zuletzt EuGH, Urteil vom 6.Juli 2023 - C-663/21-; juris Rn. 52; BVerwG, Beschluss vom 11. Dezember 2023 - 1 B 13.23 -, juris Rn. 4; Fleuß, jurisPR-BVerwG 3/2024 Anm. 2 b. juris; mit Überlegungen zur Differenzierung zwischen dem Refoulement-Verbot und den übrigen Belangen des Art. 5 Abs. Rückführungsrichtlinie Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 34 AsylVfGNG Rn. 53 f.
88Ausgehend hiervon stehen die bestehende tatsächliche Beziehung zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau sowie seiner minderjährigen Tochter dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen.
89Es handelt sich dabei – anders als in Bezug auf die Beziehung des Klägers zu seinen erwachsenen Kindern – zwar um eine im Sinne von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh geschützte Beziehung. Zudem würde der Vollzug der Abschiebungsandrohung zu einer zumindest vorübergehenden Trennung des Klägers von seiner Ehefrau und ihrem minderjährigen Kind und damit zu einem Eingriff in die durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte familiäre Lebensgemeinschaft führen. Denn das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat mit Beschluss vom 7. August 2023 (1a L 1086/23.A) die aufschiebende Wirkung der Klage seiner Ehefrau und Tochter gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts vom 15. Juni 2023 erfolgte Abschiebungsanordnung nach Italien angeordnet, sodass ihr Aufenthalt im Bundesgebiet im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt weiterhin gestattet ist.
90Allerdings ist eine Trennung des Klägers von seiner Kernfamilie mit Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK, Art. 7, 24 Abs. 2 GRCh vereinbar.
91Bei der insoweit vorzunehmenden Abwägung ist zu beurteilen, ob die festgestellten Beeinträchtigungen der familiären Bindungen in einem angemessenen Verhältnis zu den asyl- und einwanderungspolitischen Belangen, Sicherheits- oder sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stehen, denen durch die Abschiebungsandrohung Rechnung getragen werden soll, und sie deshalb zurückstehen können. So sind beispielsweise die Interessen eines betroffenen Ehepartners zu würdigen (oder zu beurteilen, ob erwartbare Trennungsphasen einem Kind oder dem Elternteil zugemutet werden können). Von Relevanz ist auch, ob, wann und in welchem Umfang es den anderen Familienangehörigen möglich und zumutbar ist, den Adressaten der Abschiebungsandrohung ins Ausland zu begleiten.
92Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 21. März 2024 - 24 B 23.30860 -, juris Rn. 63, vgl. zum Ganzen etwa VGH BW, Beschluss vom 4. Juli 2023 - 11 S 448/23 - juris Rn. 12; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - juris Rn. 17, BVerfG, Beschluss vom 9.Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21.
93Ausgehend hiervon stehen die ehelichen bzw. familiären Belange des Klägers und bzw. das Kindeswohl seiner Tochter dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Nach der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage haben die Ehefrau und das minderjährige Kind des Klägers kein gesichertes Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland, da über deren Asylantrag (materiell) noch nicht entschieden worden ist. Demgegenüber wurde dem Kläger in Italien bereits internationaler Schutz gewährt, sodass für diesen dort ein gesichertes Bleiberecht vorliegt. Insoweit sind der Kläger und seine Familie auf die Durchführung des Verfahrens zur Familienzusammenführung nach der Familienzusammenführungs-Richtlinie zu verweisen. Bis dahin kann der Kläger seine Frau und Tochter (für 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen) besuchen kommen und sie können auf die verfügbaren modernen Telekommunikationsmittel zurückgreifen. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass seine 11-jährige Tochter in einem Alter ist, indem sie den nur vorrübergehenden Charakter der Trennung begreifen kann und eine solche nicht als endgültigen Verlust erfahren wird.
94Ferner ist weder hinreichend substantiiert vorgetragen, noch sonst erkennbar, dass der Gesundheitszustand des Klägers seiner Abschiebung entgegensteht.
954. Schließlich erweist sich auch die Anordnung des auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbotes in Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheids als rechtmäßig.
96Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1, Abs. 2 Sätze 2 und 3 AufenthG. Gesichtspunkte, die einen gerichtlich feststellbaren Ermessensfehler im Sinne von § 40 VwVfG darstellen könnten, sind nicht vorgetragen oder sonst erkennbar.
97II. Der Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet.
98Aus den bereits genannten Gründen hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots.
99Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
100Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
101Rechtsmittelbelehrung
102Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen und die Zulassungsgründe im Sinne des § 78 Abs. 3 Asylgesetz darlegen.
103Der Antrag ist durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten zu stellen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.