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Zu den Voraussetzungen einer Zuständigkeit gemäß Art. 10 Dublin-III-VO:
Es ist nicht erforderlich, dass die Betroffenen sich in verschiedenen Ländern aufhalten.Ebenfalls ist Art. 10 Dublin-III-VO nicht ausgeschlossen, wenn der Antragsteller und der Familienangehörige zeitgleich Asylanträge stellen.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 7856/24.A gegen Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.09.2024 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
2Der am 19.09.2024 sinngemäß wie tenoriert gestellte Antrag hat Erfolg.
3Der Antrag ist zulässig und begründet.
4Der Antrag ist nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG zulässig, insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe gewahrt, da diese am 12.09.2024 in der Aufnahmeeinrichtung erfolgt ist.
5Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt.
6Die danach vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller hat sich maßgeblich ‑ nicht ausschließlich ‑ an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Gunsten der Antragsteller aus, denn die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ist nach diesen Maßstäben zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung überwiegend wahrscheinlich sehr fraglich; gleiches gilt insofern für die Erfolgsaussichten der gegen Ziff. 3 des Bescheides gerichteten Klage 21 K 7856/24.A.
7Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
8Hier ist schon nicht feststellbar, dass tatsächlich ein Fall vorliegt, in dem die Asylanträge der Antragsteller gemäß § 27a AsylG unzulässig sind, weil ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Weiter steht nicht fest, dass es sich bei Polen um den tatsächlich nach der Dublin III-VO für die Asylverfahren der Antragsteller zuständigen Mitgliedstaat handelt.
9Zwar spricht in Bezug auf die am 16.07.2024 von den Antragstellern in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylanträge der vom Bundesamt am 06.06.2024 aufgefundene EURODAC-Treffer, der auf ein Schutzgesuch in Polen am 27.10.2023 hinweist, dafür, dass Polen gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller zuständig ist. Zudem hat die Antragstellerin zu 1. in ihrer Erstbefragung beim Bundesamt am 16.07.2024 angegeben, über Polen nach Deutschland gereist zu sein, sich dort ab dem 25.10.2023 für eine Woche aufgehalten zu haben und dort einen Asylantrag gestellt zu haben. Diesen Tatsachen entsprechend hat Polen am 29.07.2024 das Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts vom 23.07.2024 angenommen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Polen lag bei Stellung dieses Eilantrages am 19.09.2024 auch weniger als sechs Monate zurück, weshalb die Überstellungsfrist zu jenem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war (Art. 29 Dublin III-VO) und derzeit durch den rechtzeitigen Eilantrag unterbrochen ist.
10Jedoch ist hier der nach der Regel des Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO vorrangige Art. 10 Dublin III-VO mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einschlägig. Dies ergibt sich aus dem Verhältnis der Antragstellerin zu 2. zu dem türkischen Staatsangehörigen F., geb. 00.00.0000 (BAMF-Az. 10597316-163). Auf die Frage, welche Auswirkung die wohl nach religiösem Ritus geschlossene Ehe zwischen der Antragstellerin zu 1. und Herrn F. gemäß Art. 10 Dublin III-VO haben könnte, kommt es deshalb nicht an.
11Der Einzelrichter geht hier – entgegen der Auffassung des Bundesamtes, zuletzt im Schriftsatz vom 03.02.2025 – davon aus, dass Herr F. der biologische Vater der Antragstellerin zu 2. ist, und damit nach der Legaldefinition des Art. 2 3. Spiegelstrich Dublin III-VO ein Familienangehöriger i. S. v. Art. 10 Dublin III-VO. Das Bundesamt hält dies nicht für belegt, weil die türkische Identitätskarte der Antragstellerin zu 2. nur den Vornamen des Vaters (zutreffend) benennt, nicht aber den Nachnamen. Dies trifft zwar zu, aber der Einzelrichter geht mit für dieses Eilverfahren ausreichender Sicherheit von einer Vaterschaft des Herrn F. zur Antragstellerin zu 2. aus. Die Identitätskarte der Antragstellerin zu 2. (Bl. 18 f. von Beiakte 1) weist auf der Rückseite wohl die Eltern aus, jedoch für beide nur nach den Vornamen („Mother’s Name: NUR Y.; Father’s Name: F.“); anscheinend ist dies die im türkischen Recht übliche Praxis; auch bei der Antragstellerin zu 1. und bei Herrn F. ist dies anscheinend so gehandhabt (Beiakte 1, Bl. 14 – 17). Wenn man in Betracht zieht, dass die Antragstellerinnen und Herr F. nach zeitweiliger Trennung anscheinend in Polen zusammengefunden haben, am 30.05.2024 gemeinsam in einem – dem Anschein nach – Familienverband in das Bundesgebiet einreisten, registriert wurden, ein gemeinsames Aktenzeichen beim Bundesamt erhielten (Az. 10597316-163) und dann – wegen der fehlenden staatlichen Ehe zwischen der Antragstellerin zu 1. und Herrn F. in gesonderten Formularen zur Niederschrift – am 16.07.2024 Asylanträge beim Bundesamt im Ankunftszentrum (AZ) Bielefeld stellten, ist dies plausibel. Die Antragstellerin zu 1. und Herr F. sind beide türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit sunnitischen Glaubens. Die Antragstellerin zu 2. ist ebenfalls türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit sunnitischen Glaubens. Die Antragstellerinnen und Herr F. sind beim Bundesamt als – dem Anschein nach – Familiengemeinschaft in einer Akte geführt worden und erst bei der Antragsaufnahme nach Mitteilung der allein nach religiösem Ritus erfolgten Eheschließung in zwei Verfahren aufgesplittet worden.
12Weiter hat die Antragstellerin zu 1. Herrn F. als Lebensgefährten in ihrer Befragung zur Zulässigkeit am 16.07.2024 in Bielefeld benannt. Herr F. hat in seiner entsprechenden Befragung am selben Tage und Ort die Lebensgefährtin und die Antragstellerin zu 2. als seine Tochter benannt. Alle diese Umstände reichen dem Einzelrichter für die ausreichende Überzeugung von der Vaterschaft des Herrn F. in diesem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
13Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 03.02.2025 einwendet, es sei nicht bekannt, ob der Asylantrag des Herrn F. in Lettland in der Sache entschieden sei, ist dies unerheblich. Da mithin eine „Erstentscheidung in der Sache“ i. S. v. Art. 10 Dublin III-VO nicht feststeht, ist die Anwendung der Vorschrift nicht ausgeschlossen.
14Auch der Einwand der Antragsgegnerin im genannten Schriftsatz, Art. 10 Dublin III-VO sei nicht anwendbar, da die Antragstellerinnen und Herr F. gleichzeitig Asylanträge gestellt hätten, überzeugt nicht. Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich nicht entnehmen, dass dieser voraussetzt, dass es erforderlich ist, dass der Asylantrag des Familienangehörigen schon anhängig sein muss, bevor die Betroffenen ihren Antrag stellen. Dem Normzweck, die gemeinsame Prüfung von Asylanträgen von Angehörigen einer bestehenden und gelebten Familiengemeinschaft in einem Mitgliedstaat sicherzustellen, entspricht es, auch bei gleichzeitiger Antragstellung – wie hier – Art. 10 Dublin III-VO zur Anwendung zu bringen.
15Gänzlich unverständlich – und nach Auffassung des Gerichts unzutreffend – ist die Auffassung der Antragsgegnerin, Art. 10 Dublin III-VO solle – ausschließlich – Fälle erfassen, in denen sich die betroffenen Personen in unterschiedlichen Ländern aufhalten. Das Gegenteil ist der Fall. Die dem Einzelrichter bekannte Praxis ist vielmehr, dass Art. 10 Dublin III-VO eine Trennung von Familiengemeinschaften bei einem Aufenthalt im selben Mitgliedstaat durch eine Überstellung einzelner Mitglieder in nach Art. 12 oder 13 Dublin III-VO zuständige andere Mitgliedstaaten verhindern soll. Dies ist erkennbarer Normzweck.
16Bei allem ist zu berücksichtigen, dass Herr F. sich nicht mehr im „Dublin-Verfahren“ befindet, sondern das Bundesamt diesen nach der Ablehnung des Take Back-Ersuchens durch Lettland in das nationale Verfahren übernommen hat. Eine Entscheidung in der Sache steht hier nach Auskunft der BAMF-Hotline weiter aus.
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
18Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).