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Es wird festgestellt, dass die an den Kläger gerichtete Äußerung des Beklagten „Hier möchte mit Ihnen niemand gemeinsam Politik machen“ in der Sitzung des Rates der Stadt V. vom 0. Februar 0000 zu Tagesordnungspunkt N01 rechtswidrig war. Es wird ferner festgestellt, dass die von dem Beklagten in der Ratssitzung vorgenommene Bewertung des Redebeitrages des Klägers als „Frechheit“ rechtswidrig war.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit zweier Äußerungen des Beklagten in der Ratssitzung vom 0. Februar 0000.
3Der Kläger ist Ratsmitglied und zugleich Vorsitzender der Fraktion Alternative für Deutschland (AfD) im Rat der Stadt V..
4In der Ratssitzung vom 0. Februar 0000 wurde unter dem Tagesordnungspunkt N01 der gemeinsame Antrag „V. schützt und braucht Menschen mit Migrationshintergrund“ der Ratsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU, FDP, der Ratsgruppe Freie Wähler sowie den Einzelvertretern von DIE PARTEI, „Wir V.“ und der „Klimaliste Deutschland“ behandelt. Die Beschlussvorlage sah im Wesentlichen vor, sich zu Schutz und Bedeutung von Menschen mit Migrationshintergrund zu bekennen sowie die Verwaltung zu beauftragen, Maßnahmen zu erarbeiten für den Erhalt und die Stärkung von Menschenrechten, des demokratischen Rechtsstaates und der vielfältigen Gesellschaft.
5Der Beklagte leitete den Tagesordnungspunkt wie folgt ein:
6„[…], dass ich das sehr schön finde, dass es einen solchen gemeinsamen Vorschlag von Ihnen gibt, weil er aus meiner Sicht sehr gut an das anschließt, was wir am vergangenen Samstag in der Ver. Innenstadt, am Bahnhof und dann am H.-straße erleben konnten, wo ganz viele von Ihnen ja auch waren, wo die Ver. bei schlechtestem Wetter und gleichzeitig trotzdem guter Laune und festem Eintreten für unsere Demokratie auf die Straße gegangen sind. Und wenn der Rat sich dann auch in einer solchen Resolution dieser Idee nochmal anschließt, dann passt das, wie ich finde, sehr sehr gut zusammen und ich freue mich jetzt, soweit das gewünscht ist, auf Ihre Redebeiträge.“
7In den folgenden Redebeiträgen bezogen die Ratsmitglieder K. (CDU-Fraktion), C. (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), D. (SPD-Fraktion), F. (Einzelvertreterin „Klimaliste Deutschland“), X. (Einzelvertreter „Wir V.“), P. (FDP-Fraktion), W. (Ratsgruppe Freie Wähler) und Z. (Ratsgruppe DIE LINKE) Stellung gegen die AfD und richteten ihre Kritik teilweise auch an den Kläger selbst. Thematisch knüpften die Reden u.a. an das politische Treffen in Potsdam vom 25. November 2023, die diesbezügliche Berichterstattung der Plattform „Correctiv“ sowie die Demonstration „V. verteidigt rote Linie der Demokratie“ vom 3. Februar 2024 an.
8Der Kläger erhielt anschließend das Wort und nahm auf die vorherigen Redebeiträge Bezug. Er kritisierte eine Gleichsetzung des Potsdamer Treffens mit der Wannseekonferenz und bezeichnete dies als „Instrumentalisierung“. Sodann verwies er darauf, dass er schon „auf der ein oder anderen Todesliste gestanden habe“, und hinterfragte, wie die Vorwürfe der Vorredner mit der Bilingualität seiner Kinder vereinbar seien. Im weitere Verlauf der Rede führte der Kläger u.a. aus, dass es demokratisch sei, sich auch mal mit Menschen zusammenzusetzen und offen auszutauschen, selbst wenn man nicht deren Meinung sei. Auch wenn man die AfD-Fraktion – wie heute im Rat – beschimpfe, gehöre dies zur Demokratie dazu. Wenn man sich privat mit Menschen treffe, sei dies kein Bekenntnis, dass man deren Äußerungen vollständig übernehme. Problematisch sei vielmehr der Schulterschluss der Demonstranten mit Linksextremisten. Denn dort finde keine Abgrenzung statt. Es handele sich um eine „Kampagne“. Die „Form der Polarisation“ führe nicht dazu, dass man zusammen gute Politik machen könne. Der Kläger bemängelte zum Ende seiner Rede, dass die „Zuschreibungen“, „Fingerzeige“, „Anwürfe“ und „Vergleiche mit einigen der größten Menschheitsverbrechern“ des Rates nicht würdig seien. Er appellierte an die Anwesenden zu überdenken, ob dies „der Debatte, der Sache und vor allem V.“ guttue.
9Im unmittelbaren Anschluss an den Redebeitrag des Klägers ergriff der Beklagte das Wort und führte Folgendes aus:
10„Wissen Sie, Herr Q., wir können ja mal die Todeslisten, auf denen wir beide stehen, miteinander austauschen. Deswegen fühle ich mich auch gerne berufen, Ihnen den ein oder anderen Satz zu sagen.
11Also zum einen haben Sie ja gerade gesagt, dann gäbe es keine Grundlage, um mit Ihnen gemeinsam Politik zu machen. Ich verrate Ihnen mal was: Hier möchte auch niemand mit Ihnen gemeinsam Politik machen. Um dies in aller Deutlichkeit zu sagen.
12Und ich finde es auch wunderbar, wie Sie sich mit einer Empörung gegen die vermeintliche Instrumentalisierung des Holocaust und dessen Opfer hier generieren. Erstens wäre es ja schön gewesen, wenn wir uns mal beim 9. November beim Gedenken gesehen hätten oder am 27. Januar beim Holocaust-Gedenktag in V.. Seit vielen Jahren – alle Fraktionen sind da. Raten Sie mal, welche regelmäßig fehlt, wenn es darum geht, an die Verbrechen des Nationalsozialismus in V. zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Und dann, wenn Sie als Vertreter einer Partei, die ... deren hochrangigste Vertreter von der Zeit des Nationalsozialismus in unserer glorreichen tausendjährigen Geschichte von einem Vogelschiss sprechen, dann sollten Sie vielleicht beim Thema des Gedenkens der Opfer des Holocaust einen Gang zurückschalten.
13Und das Gleiche gilt für, ich darf Sie gerne mal erinnern, dass Sie einen Fraktionsvorsitzenden in Thüringen haben, der mit einer derartigen Reihe von Äußerungen auffällig geworden ist, dass Sie sich nun wirklich nicht wundern brauchen, dass Ihnen niemand abnimmt, dass Ihre Leute zu dem Treffen gefahren sind, um als aufrechte Demokraten mal mit den Nazis zu diskutieren. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. Ich darf Sie gerne erinnern: Björn Höcke: ‚Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp. Ich will, dass Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit hat, ich will, dass Deutschland auch eine tausendjährige Zukunft hat. Thüringer, Deutsche, 3000 Jahre Europa, 1000 Jahre Deutschland, ich gebe euch nicht her‘; und ich könnte jetzt noch eine ganze Weile so weitermachen.
14Das ist der Boden, auf dem Ihre Saat aufgeht und Sie versuchen das hier zu dekontextualisieren, in einen anderen Zusammenhang zu stellen und haben tatsächlich auch noch die Frechheit, anders kann ich das gar nicht sagen, auf diejenigen zu zeigen, die das kritisieren, und sich selber als Opfer darzustellen, so wie Sie das die ganze Zeit tun. Und ich wünsche Ihnen viel Spaß, wenn Sie die menschenverachtenden Zitate, Kommentare unter Facebook, Instagram, Twitter und was weiß ich für Posts von Ihren Funktionärinnen und Funktionären sehen. Was sich da zusammenbraut und was Sie mit großer Lust – Sie als AfD – herbeiführen, heraufbeschwören, was so weit geht, dass man vor einigen Jahren sogar das Schießen auf Kinder an der deutschen Grenze aus Ihrer Partei gefordert hat. All das sind Dinge, für die die AfD in den letzten Jahren gestanden hat und dann brauchen Sie sich nicht eine Sekunde wundern, wenn dieser Rat sich an dieser Stelle zusammenschließt mit Tausenden von Krefelderinnen und Krefeldern, die sagen: Das machen wir auf gar keinen Fall mit.“
15Hiernach erfolgten weitere Redebeiträge der Ratsmitglieder Y. (Einzelvertreter DIE PARTEI), U. (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), T. (Ratsgruppe DIE LINKE) und F. (Einzelvertreterin „Klimaliste Deutschland“). Der Antrag „V. schützt und braucht Menschen mit Migrationshintergrund“ wurde sodann einstimmig bei Stimmenenthaltung der AfD-Fraktion beschlossen. In der Folgezeit berichtete die Lokalpresse, dass der Beklagte den Kläger in der Ratssitzung „scharf“ kritisiert habe.
16Der Kläger machte mit anwaltlichem Schreiben vom 4. April 2024 gegenüber dem Beklagten geltend, dass dessen Äußerungen in der Ratssitzung nicht mit dem Amt und der Würde eines Oberbürgermeisters zu vereinbaren und als „Entgleisung“ zu kritisieren seien. Dem Beklagten stehe nicht das Recht zu, sich durch seine Stellungnahme an die Spitze der Konfrontation im Rat zu setzen. Zugleich forderte der Kläger den Beklagten auf, das inkriminierte Verhalten nicht nochmals zu wiederholen und dies nicht nur gegenüber ihm, sondern auch gegenüber den Ratsmitgliedern in der nächsten Ratssitzung zu erklären.
17Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 9. April 2024, dass es ihm als Oberbürgermeister zustehe, sich in Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft offensiv zu positionieren. Sein Redebeitrag knüpfe an bekannte Wortbeiträge von AfD-Funktionären an und gehe damit auf einen zutreffenden Tatsachenkern zurück.
18Der Kläger hat am 7. Mai 2024 Klage erhoben. Er trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Ein organschaftliches Abwehrrecht eines Ratsmitglieds gegenüber Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Ratssitzung könne sich aus § 43 Abs. 1 GO NRW i.V.m. dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue ergeben, wenn eine Verletzung des Sachlichkeits- und Neutralitätsgebot vorliege. Der Sitzungsleiter könne nicht in einem rechtsfreien Raum agieren, nur weil die Gemeindeordnung einen formalen Ordnungsruf gegen den Sitzungsleiter selbst nicht vorsehe. Durch die Äußerungen des Beklagten liege ein Eingriff in die Rechtsstellung des Klägers als Ratsmitglied vor, insbesondere in das ihm zustehende Rederecht. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse ergebe sich aus Rehabilitationsgesichtspunkten. Die Äußerungen des Beklagten, dass niemand mit dem Kläger im Rat zusammenarbeiten wolle und dass es sich bei der Wortmeldung des Klägers um eine „Frechheit“ handele, seien rechtswidrig. Der Beklagte habe als Sitzungsleiter des Rates gehandelt, da die Äußerungen nicht vom allgemeinen Rednerpult, sondern vom Sitzplatz des Oberbürgermeisters, unter Ausnutzung der dort vorhandenen Ausstattung und unter Übergehung der vorhandenen Rednerliste erfolgt seien. Seine Stellungnahme sei weder von der allgemeinen Ordnungsgewalt des Sitzungsleiters noch vom Recht zu politisierten Reden im Rahmen einer Debatte gedeckt. Der Beklagte habe gegen die Verpflichtung zur Neutralität und Sachlichkeit verstoßen. Mit dem Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot sei es nicht vereinbar, dass der Beklagte einem Ratsmitglied für dessen rechtmäßige Ausübung des Rederechtes eine „Frechheit“ attestiere und den Kläger mit der Erklärung ausgrenze, dass niemand mit ihm zusammenarbeiten wolle. Die Äußerungen seien weit über den Rahmen hinausgegangen, der üblicherweise für eine moderierende Tätigkeit gesetzt sei. Es sei darum gegangen, einem Mitbewerber am politischen Prozess allein aufgrund der Parteizugehörigkeit eine gesellschaftliche Berechtigung auf Teilnahme abzusprechen. Das Rederecht sei nach der Geschäftsordnung ungehindert zu gewähren. Dem Beklagten stehe im Fall einer sich aus seiner Sicht als „unerwünscht“ darstellenden Rechteausübung kein Recht zur Positionierung bzw. auf Kommentierung im Sinne eines „Gegenschlags“ und schon gar nicht im Sinne eines gouvernantenhaften Abkanzelns zu. Der Beklagte habe eine emotional aufgewühlte Situation genutzt, um weiter „Stimmung“ gegen den Kläger zu machen. Hierfür habe der Kläger keinen Anlass gegeben. Er – der Kläger – habe vielmehr zu Mäßigung aufgerufen. Die Vorwürfe, der Kläger und seine Fraktion würden nicht an den Gedenkveranstaltungen am 9. November und 27. Januar teilnehmen, seien falsch. Soweit der Beklagte dem Kläger Äußerungen von anderen Parteifunktionären vorgehalten habe, sei dies ebenfalls als unsachlich zu qualifizieren. Die Wortmeldung des Klägers sei für den Beklagten zudem nur der äußere Anlass für eine vom äußeren Geschehen losgelöste Art der Generalabrechnung mit der Bundespartei und den Spitzenfunktionären der AfD gewesen, also anderen Personen als der Person des Klägers. Der in Rede stehende Vorgang sei im Kontext eines mittels der „Potsdam-Kampagne“ bundesweit in Szene gesetzten Vorgehens gegen die AfD und deren Vertreter, also auch den Kläger, zu verorten. Der Beklagte habe in der Ratssitzung vom 0. Februar 0000 versucht, sich als selbsterklärter Vorkämpfer einer von ihm selbst kreierten freiheitlichen demokratischen Grundordnung darzustellen.
19Der Kläger beantragt,
20festzustellen, dass die in der Sitzung des Rates der Stadt V. vom 0. Februar 0000 zu Tagesordnungspunkt N01 ihm gegenüber getätigte Äußerung des Beklagten „Hier möchte mit Ihnen niemand gemeinsam Politik machen“ sowie die Bewertung seines Redebeitrages als „Frechheit“ rechtswidrig waren.
21Der Beklagte beantragt,
22die Klage abzuweisen.
23Er führt im Wesentlichen aus: Die Klage sei bereits unzulässig. Ein wehrfähiges Organrecht habe der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht. Es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger in seinem Rederecht verletzt sei. Denn er habe unbeeinflusst, unbenachteiligt und ohne Störungen reden können. Die streitgegenständlichen Äußerungen zielten nicht auf die Mitwirkungsrechte des Klägers ab, sondern würden im Wesentlichen dessen Partei, deren Inhalte und führende Parteivertreter betreffen. Der Redebeitrag des Beklagten habe auch nicht die Entscheidungsfindung der übrigen Ratsmitglieder zulasten des Klägers beeinflussen können, da letzterer keinen eigenen Antrag gestellt habe. Es fehle an einem berechtigten (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse. Da der Kläger sich in seiner organschaftlichen Funktion als Ratsmitglied nicht auf Grundrechte berufen könne, stehe ihm kein Rehabilitationsinteresse aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu. Zudem habe der Kläger seiner vorprozessualen Rügeobliegenheit nicht genügt. Das anwaltliche Schreiben vom 4. April 2024 sei erst knapp zwei Monate nach der maßgeblichen Ratssitzung erfolgt und diesem sei nicht nachvollziehbar zu entnehmen, worin die Rechtsverletzung durch den Beklagten gelegen habe.
24In der Sache stehe dem Beklagten als gewähltem Stadtoberhaupt eine kommunikative Äußerungsbefugnis zu, sich zu Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft auch offensiv politisch zu positionieren. Gegen die Grenzen des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots habe er nicht verstoßen. Das Neutralitätsgebot finde schon keine Anwendung, da es nur im Verhältnis zu politischen Parteien, nicht hingegen gegenüber dem Kläger in seiner Funktion als Ratsmitglied gelte. Der Kläger sei in der hier relevanten Funktion nicht Wahlbewerber und habe in keinem politischen Wettbewerb zum Beklagten im Hinblick auf Wahlen gestanden.
25Ungeachtet dessen seien sowohl das Sachlichkeitsgebot als auch das Neutralitätsgebot vorliegend nicht anwendbar, da der Kläger sich nicht in Wahrnehmung der Leitungsfunktion geäußert, sondern nur von seinem Rederecht als Ratsmitglied Gebrauch gemacht habe. Schon durch die einleitenden Worte sei deutlich, dass der Beklagte in Reaktion auf den vorherigen Redebeitrag des Klägers zu einer inhaltlichen Gegenrede angesetzt habe. Der Redebeitrag des Beklagten enthalte keinerlei Bezugspunkte zur Sitzungsleitung; jedes andere Ratsmitglied habe die Rede genauso halten können. Insbesondere habe der Beklagte keine mit dem Amt verbundenen Ressourcen in Anspruch genommen, sondern vielmehr nicht einmal auf sein Amt selbst Bezug genommen. Im Rat der Stadt V. sei es jahrelange Übung, dass der Oberbürgermeister seine Redebeiträge – ungeachtet seiner konkreten Funktion – stets von seinem Sitzplatz halte. Er habe ferner nicht die Rednerliste umgangen, denn er habe gemäß § 12 Abs. 3 Satz 3 der Geschäftsordnung des Rates jederzeit das Wort ergreifen dürfen. Von einer moderierenden Tätigkeit des Beklagten könne keine Rede sein, da seine streitgegenständlichen Äußerungen im Rahmen einer reinen Sachdebatte erfolgt seien. Gegen die für alle Ratsmitglieder geltenden allgemeinen Einschränkungen habe der Beklagte nicht verstoßen. Seine Äußerungen hätten nicht den Sitzungsablauf gestört und seien auch nicht als Formalbeleidigung oder Schmähkritik zu qualifizieren. Er habe die Auseinandersetzung in der Sache nicht verlassen, sondern sich nur in scharfer, aber erlaubter Weise mit den vorangegangenen Äußerungen des Klägers auseinandergesetzt und sie in einen größeren Kontext eingeordnet.
26Unabhängig hiervon habe der Beklagte auch nicht gegen das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot verstoßen. In seiner Äußerung, dass mit dem Kläger und seiner Fraktion im Rat niemand zusammenarbeiten wolle, liege keine staatliche Bevorzugung der anderen politischen Gruppierungen oder eine Benachteiligung des Klägers. Es habe sich um keinen Aufruf gegen eine Zusammenarbeit mit dem Kläger und seiner Fraktion gehandelt, sondern um eine inhaltliche, wenn auch zugespitzte und leidenschaftlich vorgetragene Feststellung, die sich auf den zugrundeliegenden Antrag und damit wahre Tatsachen bezogen habe. Im vorliegenden Gesamtkontext sei es auch zulässig, dass der Beklagte den Redebeitrag des Klägers im Rahmen einer Stegreifrede als „Frechheit“ bezeichnet habe. Diese Wertung beruhe auf dem wahren Tatsachenkern der vom Beklagten aufgegriffenen Äußerungen führender Parteifunktionäre der AfD und deren inhaltlichen Schwerpunkten in Diskrepanz zum Gebaren des Klägers. Der Beklagte habe sich nicht auf die Person des Klägers oder dessen Rederecht, sondern die Äußerungen in der Debatte und den größeren überregionalen Zusammenhang bezogen. Jedenfalls seien die Äußerungen des Beklagten zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt. Der Beklagte dürfe sich kraft Amtes von einer Partei abgrenzen, bei der hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche, sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtende Bestrebungen vorlägen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen.
28Entscheidungsgründe
29Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig (I.) und begründet (II.).
30I. Die Klage ist zulässig.
31Sie ist als Feststellungklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO statthaft. Die Frage der rechtlichen Zulässigkeit von Äußerungen eines Bürgermeisters gegenüber einem Ratsmitglied in einer Ratssitzung ist ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO. An einem solchen Rechtsverhältnis können nicht nur natürliche oder juristische Personen beteiligt sein, sondern auch kommunale Organe oder Organteile als Träger organisationsinterner Rechte. Der Begriff des Rechtsverhältnisses ist nicht auf Außenrechtsverhältnisse beschränkt. Er umfasst ebenso die Rechtsbeziehungen innerhalb von Organen einer juristischen Person, also auch einer kommunalen Vertretungskörperschaft.
32Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. September 2017 – 15 A 2785/15 –, juris Rn. 30, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris Rn. 23, jeweils zu Ordnungsrufen.
33Der Kläger ist zudem klagebefugt. Eine Klage auf Feststellung des Bestehens eines organschaftlichen Rechtsverhältnisses innerhalb kommunaler Organe („kommunalverfassungsrechtliche Feststellungsklage“) ist in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO nur zulässig, wenn es sich bei der geltend gemachten Rechtsposition um ein durch das Innenrecht eingeräumtes, dem klagenden Organ oder Organteil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes wehrfähiges Organrecht handelt. Die Klagebefugnis setzt dementsprechend voraus, dass die streitgegenständliche Maßnahme ein wehrfähiges Organrecht des klagenden Organs oder Organteils nachteilig betrifft. Denn das gerichtliche Verfahren dient nicht der Feststellung der objektiven Rechtswidrigkeit einer Maßnahme, sondern dem Schutz der dem klagenden Organ oder Organteil durch das Innenrecht zugewiesenen Rechtsposition.
34Vgl. OVG NRW, Urteile vom 14. September 2017 – 15 A 2785/15 –, juris Rn. 33 f., vom 17. Februar 2017 – 15 A 1676/15 –, juris Rn. 57 und vom 8. Oktober 2002 – 15 A 3691/01 –, juris Rn. 26 m.w.N.
35Daran gemessen ist die Klagebefugnis hier zu bejahen. Der Kläger kann geltend machen, möglicherweise in seinem aus § 43 Abs. 1 GO NRW i.V.m. § 242 BGB analog sowie dem verfassungsrechtlichen Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme folgenden organschaftlichen Statusrecht auf Intraorgantreue verletzt zu sein. Der Grundsatz der Organtreue verpflichtet sämtliche Organe und Organteile, sich loyal zu verhalten, gegenseitig Rücksicht zu nehmen und die jeweiligen Kompetenzen so auszuüben, dass der rechtliche Status der anderen Organe bzw. Organteile geachtet wird. Aus der Organtreue folgt ferner das Verbot widersprüchlichen Verhaltens und der Blockade bzw. Behinderung anderer Organe und Organteile.
36Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. Mai 2022 – 1 K 1296/21 –, juris Rn. 59, 68; VG Trier, Beschluss vom 10. November 2010 – 1 L 1246/10.TR –, juris Rn. 11; siehe auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 32, 36.
37Vorliegend besteht eine hinreichende Möglichkeit, dass die streitbefangenen Äußerungen des Beklagten in dessen Funktion als Vorsitzender des Rates erfolgten, die gleichberechtigte und effektive Mandatsausübung des Klägers beeinträchtigten und damit die Intraorgantreue verletzten.
38Der Kläger hat ferner ein berechtigtes Feststellungsinteresse im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO. Streiten die Beteiligten – wie hier – um ein vergangenes Rechtsverhältnis, bedarf es in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eines spezifischen (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresses. Anerkannte Fallgruppen eines solchen Feststellungsinteresses im Rahmen des Kommunalverfassungsstreits sind das Bestehen einer konkreten Wiederholungsgefahr, ein Rehabilitationsinteresse zur Beseitigung einer fortbestehenden Diskriminierung sowie typischerweise sich kurzfristig erledigende, indes hinreichend gewichtige Beeinträchtigungen von Organrechten.
39Vgl. OVG NRW, Urteile vom 11. November 2024 – 15 A 1404/23 –, juris Rn. 64 ff. und vom 17. November 2020 – 15 A 3460/18 –, juris Rn. 145 ff. m.w.N.
40Hiervon ausgehend kann der Kläger sich jedenfalls auf ein Rehabilitationsinteresse berufen. Denn seine Klage ist darauf gerichtet, die im Kreis seiner Ratskollegen verbleibende diskriminierende Wirkung der streitbefangenen Aussagen des Beklagten abzuwenden, um eine effektive Mandatsausübung auch zukünftig abzusichern.
41Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. September 2023 – 15 A 1968/22 –, juris Rn. 1 und vom 16. Mai 2013 – 15 A 784/12 –, juris Rn. 51; VG Düsseldorf, Urteil vom 6. November 2015 – 1 K 7540/14 –, juris Rn 20 ff.; jeweils zu Ordnungsrufen; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 32.
42Ein dahingehendes schutzwürdiges Rehabilitationsinteresse besteht auch dann, wenn das betroffene Ratsmitglied – wie vorliegend – keine Verletzung von Grundrechten, sondern nur von Organrechten geltend machen kann.
43Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. September 2023 – 15 A 1968/22 –, juris Rn. 9, Urteil vom 17. November 2020 – 15 A 3460/18 –, juris Rn. 149.
44Die Klage ist zutreffend gegen den Oberbürgermeister gerichtet. Klagen im Kommunalverfassungsstreit sind gegen den intrapersonalen Funktionsträger zu richten, dem gegenüber die beanspruchte Innenrechtsposition bestehen soll.
45Vgl. OVG NRW, Urteile vom 17. Februar 2017 – 15 A 1676/15 – juris Rn. 62 und vom 8. Oktober 2002 – 15 A 3691/01 –, juris Rn. 29.
46Dies ist vorliegend der Oberbürgermeister als dasjenige Organ, das die angegriffenen Äußerungen getätigt hat.
47Schließlich steht der Zulässigkeit der Klage nicht der Grundsatz der Organtreue entgegen. Dieser begründet die Obliegenheit, rechtliche Bedenken gegen (erfolgte oder anstehende) Maßnahmen/Beschlussfassungen in der verfahrensrechtlich gebotenen Form rechtzeitig geltend zu machen. Die rechtzeitige Rüge hat grundsätzlich gegenüber dem Organ selbst zu erfolgen. Unterbleibt diese rechtzeitige Rüge, kann die vermeintliche Rechtswidrigkeit der fraglichen Verfahrensweise später nicht mehr im Rahmen einer Feststellungsklage mit Erfolg geltend gemacht werden. Denn durch die unterlassene Rüge ist dem Organ die Möglichkeit genommen worden, die Einwände eines seiner Mitglieder zu prüfen und gegebenenfalls für Abhilfe Sorge zu tragen.
48Vgl. OVG NRW, Urteile vom 12. Mai 2021 – 15 A 2079/19 –, juris Rn. 58 f. m.w.N. und vom 14. September 2017 – 15 A 2785/15 –, juris Rn. 43.
49Ob es für die geforderte Rechtzeitigkeit der Rüge notwendig ist, diese im Vorfeld der beanstandeten Maßnahme zu erheben oder ob es ausreicht, sie zeitnah im Nachhinein vorzubringen, hängt von der Art des Streitgegenstands und den insoweit bestehenden tatsächlichen Möglichkeiten des Betroffenen ab. Besteht im Vorfeld keine Gelegenheit zur Rüge, so ist diese zeitnah im Anschluss zu erheben, um die Möglichkeit zur Selbstkorrektur einzuräumen. "Zeitnah" bedeutet insofern, dass das betroffene Organ innerhalb kurzer Frist Klarheit darüber haben muss, ob eine Maßnahme/Beschlussfassung als rechtswidrig betrachtet oder aber akzeptiert wird. Da die in kommunalrechtlichen Intraorganstreitigkeiten regelmäßig statthafte Feststellungsklage nicht an eine Frist gebunden ist, könnte andernfalls der Bestand der Maßnahme/Beschlussfassung für Monate in der Schwebe bleiben. Dies würde – was im Interesse einer effektiven Funktionswahrnehmung zu vermeiden ist – das für die Zusammenarbeit und die Funktionsfähigkeit der Organe einer Gemeinde erforderliche Vertrauensverhältnis erheblich belasten.
50Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Mai 2021 – 15 A 2079/19 –, juris Rn. 60 ff. m.w.N.
51Der Zeitraum, der dem Organ für eine rechtzeitige Rüge der Maßnahme/Beschlussfassung einzuräumen ist, lässt sich nicht allgemeingültig festlegen, wenn – wie hier – keine weitere Konkretisierung in der Geschäftsordnung des Rates erfolgt. Die Rüge gegen einen Ratsbeschluss ist jedenfalls dann nicht mehr zeitnah, wenn mehr als ein halbes Jahr verstrichen ist, die Regelungen des Ratsbeschlusses bereits im laufenden Geschäftsbetrieb umgesetzt bzw. vollzogen worden sind und eine unverzügliche Beanstandung ohne Weiteres möglich gewesen wäre.
52Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Mai 2021 – 15 A 2079/19 –, juris Rn. 64 ff., 75.
53Nach diesen Maßstäben hat der Kläger dem Grundsatz der Organtreue genügt. Er hat mit anwaltlichem Schreiben vom 4. April 2024 gegenüber dem Beklagten die streitgegenständlichen Äußerungen gerügt und diesen zu einer Unterlassungserklärung aufgefordert. Im vorgenannten Schreiben wird – entgegen der Ansicht des Beklagten – hinreichend deutlich die geltend gemachte Rechtsverletzung dargelegt. Denn der Kläger verweist darauf, dass der Beklagte durch die Äußerungen seine Leitungsfunktion im Rat überschritten habe („Keineswegs steht Ihnen dabei [als Sitzungsleiter] das Recht zu, sich im dargelegten Umfang selbst an die Spitze der Konfrontation zu setzen“). Damit wurde dem Beklagten eine ausreichende Möglichkeit zur Selbstkorrektur eröffnet.
54Der Kläger hat seine rechtlichen Bedenken zudem rechtzeitig geltend gemacht. Seine vorprozessuale Rüge vom 4. April 2024 erfolgte innerhalb eines Zeitraums von unter zwei Monaten nach der Ratssitzung vom 0. Februar 0000. Dies ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände des Einzelfalls noch als hinreichend zeitnah anzusehen.
55Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris Rn. 39 ff. zu einem Zeitraum von knapp sieben Wochen zwischen Ratssitzung und vorprozessualer Rüge; a.A. VG Schwerin, Gerichtsbescheid vom 9. Dezember 2021 – 3 A 740/21 SN –, juris Rn. 40 ff.; wohl auch OVG Bremen, Beschluss vom 10. Mai 2023 – 1 B 59/23 –, juris Rn. 15.
56Eine frühere Rüge war insbesondere deshalb nicht erforderlich, da die streitgegenständlichen Äußerungen des Beklagten – im Gegensatz zu Ratsbeschlüssen – keiner Umsetzungs- oder Vollzugsakte bedurften und daher keine Rechtsunsicherheit hinsichtlich deren Rückabwicklung drohte.
57Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 12. Mai 2021 – 15 A 2079/19 –, juris Rn. 62.
58Für den Beklagten bestand zum Zeitpunkt der vorprozessualen Rüge – knapp acht Wochen nach der Ratssitzung – noch die hinreichende Möglichkeit einer effektiven Abhilfe, zumal in der Zwischenzeit lediglich eine weitere Ratssitzung am 7. März 2024 stattgefunden hatte.
59II. Die Klage ist auch begründet.
60Die Äußerungen des Beklagten in der Ratssitzung vom 0. Februar 0000, dass niemand mit dem Kläger und dessen Ratsfraktion gemeinsam Politik machen wolle und der vorangegangene Redebeitrag des Klägers eine „Frechheit“ sei, sind rechtswidrig.
61Der Beklagte hat die streitgegenständlichen Ausführungen in Ausübung seiner Leitungsfunktion im Rat getätigt (1.), damit seinen Kompetenzrahmen überschritten (2.) und dadurch gegen das aus § 43 Abs. 1 GO NRW i.V.m. § 242 BGB analog sowie dem verfassungsrechtlichen Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme folgende Statusrecht des Klägers auf Intraorgantreue verstoßen (3.).
621. Die streitbefangenen Äußerungen des Beklagten erfolgten in Wahrnehmung der Sitzungsleitung im Rat.
63Im Rahmen von Ratssitzungen kommen dem Bürgermeister im innergemeindlichen Kompetenzgefüge drei Rollen zu.
64Vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 39; VG Freiburg, Urteil vom 25. März 2021 – 4 K 3145/20 –, juris Rn. 46; die jedoch nur von einer „Doppelrolle“ sprechen.
65Der Bürgermeister ist – erstens – gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 und 3 GO NRW verantwortlich für die Leitung und Beaufsichtigung des Geschäftsgangs der gesamten Verwaltung, d.h. Leiter der Gemeindeverwaltung. In dieser Funktion nimmt er gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 GO NRW an Sitzungen des Rates teil und ist gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 GO NRW berechtigt sowie auf Verlangen eines Ratsmitgliedes verpflichtet, zu Tagesordnungspunkten vor dem Rat Stellung zu nehmen. Dies beinhaltet auch das Recht, sich wertend und pointiert zu Anfragen und Beratungen im Rat zu äußern. Denn als Hauptverwaltungsbeamter nimmt der Bürgermeister die Perspektive der Gemeindeverwaltung ein.
66Vgl. hierzu auch VG Hannover, Urteil vom 22. Januar 2025 – 1 A 2765/22 –, juris Rn. 49.
67Die Äußerungsbefugnis in Ratssitzungen als Leiter der Gemeindeverwaltung erfährt jedoch Grenzen durch das parteipolitische Neutralitätsgebot sowie das Sachlichkeitsgebot.
68A.A. wohl VG Freiburg, Urteil vom 25. März 2021 – 4 K 3145/20 –, juris Rn. 47.
69Das aus dem Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) folgende Neutralitätsgebot verbietet es, dass der Bürgermeister in seiner Eigenschaft als Hauptverwaltungsbeamter durch besondere Maßnahmen zugunsten oder zulasten einer politischen Partei auf die gemeindliche Willensbildung einwirkt.
70Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2017 – 10 C 6/16 –, juris Rn. 24.
71Das Sachlichkeitsgebot erfordert, dass mitgeteilte Tatsachen zutreffend wiedergegeben werden und Werteurteile nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, dass sie den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten sowie auf einem im Wesentlichen zutreffenden und zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigtem Tatsachenkern beruhen. Ferner darf der Amtsträger Vertreter anderer Meinungen weder ausgrenzen noch gezielt diskreditieren, solange deren Positionen die für alle geltenden rechtlichen Grenzen nicht überschreiten.
72Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2017 – 10 C 6/16 –, juris Rn. 27 ff. m.w.N.
73Neben der Funktion als Hauptverwaltungsbeamter ist der Bürgermeister – zweitens –gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 GO NRW als direkt gewählter Vertreter der Bürgerschaft kraft Gesetzes Mitglied des Rates mit einem kommunalpolitischen Mandat. Insoweit nimmt eine originär politische Funktion wahr.
74Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2017 – 10 C 6/16 –, juris Rn. 18.
75Als Mitglied des Rates steht dem Bürgermeister – ebenso wie den übrigen Ratsmitgliedern – ein Rederecht zu, welches es erlaubt, sich offensiv und parteiisch zu positionieren. Spiegelbildlich hierzu unterliegt der Bürgermeister bei Wahrnehmung des Rederechts denselben Pflichten wie alle anderen Ratsmitglieder. Er hat solche Äußerungen zu unterlassen, die den ordnungsgemäßen Sitzungsablauf stören, wozu auf die im Zusammenhang mit Ordnungsrufen entwickelten Maßstäbe der Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann. Sein Redebeitrag darf nicht den Tatbestand der groben Ungebühr erfüllen, als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sein. Er darf keine unsachlichen Äußerungen gegenüber einem Ratsmitglied abgeben, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören.
76Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 36.
77Insofern ist die Äußerungsbefugnis des Bürgermeisters als Mitglied des Rates nur einem eingeschränkten Sachlichkeitsgebot unterworfen.
78Schließlich ist der Bürgermeister – drittens – Vorsitzender des Rates (vgl. § 40 Abs. 2 Satz 4 GO NRW), sodass ihm gemäß § 51 Abs. 1 GO NRW die Leitung der Ratssitzungen obliegt. In dieser Funktion ist der Bürgermeister verantwortlich für die Einhaltung der Redeordnung, die Worterteilung, die Entgegennahme und Behandlung von Anträgen und Anfragen sowie die Leitung der Diskussion und der Abstimmung.
79Vgl. Rohe, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, Stand: 1. Januar 2025, § 51 GO Rn. 9; Paal, in: Rehn/Cronauge/von Lennep/Knirsch, Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, Stand: Februar 2023, § 51 GO Rn. 5; Plückhahn/Faber, in: Held/Winkel/Wansleben, Kommunalverfassungsrecht NRW, Band I, Stand: Juli 2022, § 51 Rn. 2.2.
80Er hat mithin für ein ordnungsgemäße Beratungs- und Abstimmungsverfahren zu sorgen.
81Vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 23. Dezember 1974 – III A 42/73 –, juris Rn. 22; Rohe, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, Stand: 1. Januar 2025, § 51 GO Rn. 8.
82Dabei muss er sich unparteiisch verhalten und insbesondere jedweder Teilnahme am politischen Meinungskampf enthalten. Denn die Leitungsfunktion und Ordnungsgewalt des Ratsvorsitzenden ist kein Instrument zur Bewertung bzw. Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der Debatte. Sie dient nicht der Sicherstellung der „Richtigkeit“ oder „Korrektheit“ bestimmter inhaltlicher Positionen oder der Sicherung eines gesellschaftlichen Konsenses.
83Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2020 – 15 A 3382/18 –, juris Rn. 10, Urteil vom 14. September 2017 – 15 A 2785/15 –, juris Rn. 57.
84Dies folgt nicht erst aus dem Sachlichkeitsgebot oder parteipolitischen Neutralitätsgebot, sondern ist der Leitungsfunktion aus § 51 Abs. 1 GO NRW immanent.
85In welcher Funktion der Bürgermeister in der Ratssitzung tätig wird, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Maßgeblich sind dabei der konkrete Inhalt der Aussage und ihr Gesamtkontext. Zu berücksichtigen sind unter anderem der äußere Rahmen der Aussage, eine etwaige Inanspruchnahme der Autorität des Amtes und der Einsatz von mit dem Amt verbundenen Ressourcen.
86Vgl. BVerfG, Urteile vom 15. Juni 2022 – 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20 –, juris Rn. 125, vom 9. Juni 2020 – 2 BvE 1/19 –, juris Rn. 58 f. und vom 27. Februar 2018 – 2 BvE 1/16 –, juris Rn. 66; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 40; VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21. Mai 2014 – VGH A 39/14 –, juris Rn. 25.
87Leitet der Bürgermeister die Ratssitzung, muss er aus dieser Funktion heraustreten, um als Mitglied des Rates oder Leiter der Gemeindeverwaltung tätig zu werden. Denn im Zweifel wird der Bürgermeister weiterhin als Sitzungsleiter wahrgenommen. Nur wenn nach außen hinreichend deutlich erkennbar ist, dass der Bürgermeister bei einer Äußerung nicht in Wahrnehmung seiner Leitungskompetenz im Rat handelt, liegt eine davon zu unterscheidende Stellungnahme als Ratsmitglied oder Leiter der Gemeindeverwaltung vor.
88Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 40.
89Andernfalls hätte es der Bürgermeister in der Hand, seine Rolle als Sitzungsleiter, Hauptverwaltungsbeamter oder Mitglied des Rates nachträglich festzulegen und dadurch die mit den unterschiedlichen Funktionen einhergehenden Rechte und Pflichten nach Belieben auszutauschen sowie Kompetenzüberschreitungen zu kaschieren.
90Nach diesen Maßstäben hat der Beklagte die streitgegenständlichen Ausführungen in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion im Rat getätigt.
91Zwar folgt dies – entgegen dem Vorbringen des Klägers – nicht aus dem Umstand, dass der Beklagte seine Rede vom Sitzplatz des Sitzungsleiters hielt und auf die dort vorhandenen technischen Mittel (Mikrofon, Tablet) zurückgriff. Denn der Beklagte gibt Erklärungen im Rat stets in dieser Form ab und zwar ungeachtet seiner konkreten Funktion. Ebenso unergiebig ist das Schreiben vom 9. April 2024, in dem der Beklagte geltend machte, er könne sich „als Oberbürgermeister“ offensiv positionieren. Derartige nachträglichen Erwägungen geben keinen Aufschluss über die in der Ratssitzung ausgeübte Funktion, zumal die Amtsbezeichnung Oberbürgermeister alle drei Rollen erfasst.
92Die sitzungsleitende Tätigkeit des Beklagten zeigt sich jedoch darin, dass er im Anschluss an den Redebeitrag des Klägers außerhalb der Redereihenfolge das Wort ergriff. Ausweislich des Videomitschnitts der Ratssitzung teilte der Beklagte im Anschluss an die Ausführungen des Ratsherrn X. mit, dass nach dem Redebeitrag des Klägers die Reden der Ratsherren Y. und U. folgen würden.
93Vgl. den Videomitschnitt der 00. Ratssitzung der Stadt V. am 0. Februar 0000 ab 2:23:16, abrufbar unter https://www.youtube.com[...].
94Abweichend hiervon nahm sich der Beklagte nach dem Redebeitrag des Klägers spontan selbst das Wort, um die streitgegenständlichen Erklärungen abzugeben. Insofern handelte er in sitzungsleitender Funktion, da er – worauf der Beklagte selbst verweist – von der Befugnis aus § 12 Abs. 3 Satz 3 der Geschäftsordnung für den Rat, die Bezirksvertretungen und die Ausschüsse der Stadt V. vom 3. Juli 2023 (im Folgenden: GO Rat) Gebrauch machte. Nach dieser Vorschrift kann der Vorsitzende jederzeit das Wort ergreifen. Dieses Recht steht schon ausweislich des klaren Wortlauts der Regelung ausschließlich dem Ratsvorsitzenden (§ 8 GO Rat), d.h. dem Oberbürgermeister als Sitzungsleiter zu. Hierfür spricht auch, dass § 12 GO Rat die Worterteilung in der Ratssitzung, mithin den rechtlichen Rahmen der Verhandlungsleitung im Sine von § 51 Abs. 1 GO NRW regelt. Dies zeigt ferner der systematische Vergleich zu § 15 Abs. 3 Nr. 3 GO Rat, der eine Regelung zu Wortmeldungen des „Oberbürgermeisters“ vorsieht. Dadurch wird deutlich, dass die Geschäftsordnung des Rates zur Ratsvorsitzenden-Rolle des Oberbürgermeisters differenziert, folglich in § 12 Abs. 3 Satz 3 GO Rat explizit eine sitzungsleitende Funktion zugrunde gelegt wird.
95Aus dieser sitzungsleitenden Funktion ist der Beklagte auch nicht erkennbar herausgetreten, nachdem er gemäß § 12 Abs. 3 Satz 3 GO Rat das Wort ergriffen hatte, sodass die anschließenden streitgegenständlichen Äußerungen nach den obengenannten Maßstäben in sitzungsleitender Funktion erfolgten. Der Beklagte hat in seinem Redebeitrag nicht kenntlich gemacht, dass sein Redebeitrag als Mitglied des Rates erfolgen sollte. Letzteres ergibt sich insbesondere nicht aus der Einleitung seiner Stellungnahme („[…] wir können ja mal die Todeslisten, auf denen wir beide stehen, miteinander austauschen. Deswegen fühle ich mich auch gerne berufen, Ihnen den ein oder anderen Satz zu sagen.“). Im Gegenteil: Der Redebeitrag des Beklagten enthielt weder eine einleitende Ansprache an den Rat noch einen formalen Abschluss, etwa durch eine Dankesformel. Damit entsprach er nicht den üblichen Gepflogenheiten bei Reden von Ratsmitgliedern in Ratssitzungen, was gegen eine Äußerung des Beklagten als Mitglied des Rates spricht. Stattdessen erteilte der Beklagte im unmittelbaren Anschluss an seine Ausführungen dem nächsten Ratsmitglied der Rednerliste das Wort, womit er wiederum in Ausübung seiner Leitungsfunktion als Ratsvorsitzender handelte.
96Allein der Umstand, dass der Beklagte eine politische Gegenrede zum vorangegangenen Redebeitrag des Klägers hielt, rechtfertigt – entgegen der Ansicht des Beklagten – nicht die Annahme, dass die streitgegenständlichen Aussagen als Mitglied des Rates getätigt wurden. Denn aus dem Recht des Beklagten, sich als Mitglied des Rates offensiv politisch zu positionieren, lässt sich nicht dessen konkrete Funktion in der Ratssitzung herleiten. Vielmehr ist – genau andersherum – in einem ersten Schritt die konkret wahrgenommene Rolle des Beklagten (als Mitglied des Rates, Sitzungsleiter oder Leiter der Gemeindeverwaltung) zu bestimmen, bevor in einem zweiten Schritt die damit einhergehenden Rechte bzw. rechtlichen Grenzen definiert werden können. Würde hingegen anhand der – je nach Rolle – unterschiedlichen Reichweite der Äußerungsbefugnis die jeweilige Funktion des Beklagten in der Sitzung festgelegt, wäre eine rechtliche Überprüfung der Äußerungen im Wesentlichen obsolet.
972. Mit den streitgegenständlichen Äußerungen hat der Beklagte seinen Kompetenzrahmen als Ratsvorsitzender überschritten. Einem Bürgermeister ist – wie zuvor dargelegt – in Wahrnehmung der Leitungsfunktion im Rat jedwede Teilnahme am politischen Wettstreit verwehrt. Er hat sich unparteiisch zu verhalten. Diesen Anforderungen werden die Erklärungen des Beklagten, dass niemand mit dem Kläger und dessen Ratsfraktion gemeinsam Politik machen wolle und der Kläger die „Frechheit“ habe, sich als Opfer darzustellen, nicht gerecht. Denn dergestalt gab der Beklagte eine politische Stellungnahme ab, die keineswegs neutral war, sondern den vorangegangenen Redebeitrag des Klägers offen missbilligte.
98Die Annahme des Beklagten, dass diese Kompetenzüberschreitung zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt sei, da die AfD verfassungsfeindliche Bestrebungen aufweise, geht fehl. Der Beklagte darf nicht seine Leitungsfunktion im Rat missbrauchen, um Ratsmitglieder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nichtverbotenen Partei zu diskreditieren.
99Schließlich kommt es nicht darauf an, ob der Kläger sich auf das parteipolitische Neutralitätsgebot berufen kann. Denn die Pflicht des Beklagten, sich als Sitzungsleiter gegenüber allen Ratsmitgliedern politisch neutral zu verhalten, folgt bereits aus der in § 51 Abs. 1 GO NRW normierten Leitungsfunktion selbst.
1003. Auf eine Überschreitung der Leitungsfunktion kann der Kläger sich vorliegend auch berufen. Durch die Kompetenzüberschreitung hat der Beklagte das Statusrecht des Klägers auf Intraorgantreue verletzt.
101Der ungeschriebene Grundsatz der Organtreue wurzelt in dem verfassungsrechtlichen Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme sowie in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB analog). Er trägt dem Gedanken Rechnung, dass ein Organ im innerorganschaftlichen Zusammenwirken zwingend auf (rechts-)treues Verhalten seiner Mitglieder angewiesen ist, um seine Kompetenzen wirkungsvoll im Interesse der Funktionserfüllung der Verwaltungseinheit, für die das Organ tätig wird, durch eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit wahrnehmen zu können. Der Grundsatz der Organtreue verlangt danach, dass ein Organ das ihm in dem durch Rechtsvorschriften gebildeten Rahmen Mögliche und Zumutbare unternimmt, um die Willensbildung eines anderen Organs bzw. Organteils zur Entfaltung zu bringen.
102Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Mai 2021 – 15 A 2079/19 –, juris Rn. 56 f. m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 36; VG Düsseldorf, Urteil vom 16. Mai 2022 – 1 K 1296/21 –, juris Rn. 49 ff.; VG Hannover, Urteil vom 22. Januar 2025 – 1 A 2614/23 –, juris Rn. 28.
103Sämtliche Organe und Organteile der Gemeinde sind daher verpflichtet, sich loyal zu verhalten, gegenseitig Rücksicht zu nehmen und die jeweiligen Kompetenzen so auszuüben, dass der rechtliche Status der anderen Organe bzw. Organteile geachtet wird. Der Grundsatz der Organtreue verbietet eine Blockade bzw. Behinderung oder gar Ausgrenzung anderer Organe und Organteile.
104Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. Mai 2022 – 1 K 1296/21 –, juris Rn. 59, 68; VG Trier, Beschluss vom 10. November 2010 – 1 L 1246/10.TR –, juris Rn. 11; siehe auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 32, 36.
105Dies gilt auch im Verhältnis zwischen den Ratsmitgliedern und dem die Ratssitzung leitenden Bürgermeister. Insoweit vermittelt der Grundsatz der Organtreue dem Ratsmitglied einen Abwehranspruch gegen Kompetenzüberschreitungen des Sitzungsleiters, welche die Mandatsausübung beeinträchtigen.
106Eine solche Beeinträchtigung der Mandatsausübung des Klägers war vorliegend gegeben. Durch die streitgegenständlichen Äußerungen und die darin zum Ausdruck kommende unbefugte politische Betätigung des sitzungsleitenden Beklagten wurde die gleichberechtigte und effektive Mitwirkung des Klägers an der Beratung und Entscheidung im Rat untergraben.
107Da der Beklagte im Rahmen der Aussprache zu Tagesordnungspunkt N01 nur den Redebeitrag des Klägers öffentlichkeitswirksam politisch missbilligte, hat er den Kläger in sitzungsleitender Funktion rechtswidrig ungleich behandelt, nämlich gegenüber den übrigen Ratsmitgliedern schlechter gestellt.
108Ferner relativierte die politische Stellungnahme des Beklagten eine wirkungsvolle Wahrnehmung des klägerischen Rederechts. Zwar konnte der Kläger ohne Einschränkungen das Wort ergreifen. Denn die Äußerungen des Beklagten erfolgten erst im Anschluss an den Redebeitrag des Klägers. Das den Ratsmitgliedern zustehende Rederecht aus § 43 Abs. 1 GO NRW gewährleistet indes – vergleichbar mit der Meinungsfreiheit – nicht nur die Abgabe einer Erklärung, sondern auch deren bezweckte Wirkung auf andere.
109Vgl. zur Meinungsfreiheit: BVerfG, Urteil vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51 –, juris Rn. 37.
110Der Rat ist ebenso wie ein Landtag oder der Bundestag Ort von Rede und Gegenrede, der Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen, d.h. ein Forum für den Widerstreit politischer Positionen.
111Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2020 – 15 A 3382/18 –, juris Rn. 9; Heusch, NWVBl. 2016, 353.
112Dies setzt voraus, dass den Ratsmitgliedern die Möglichkeit eingeräumt wird, im Rahmen einer freien und offenen Debatte für den eigenen Standpunkt zu werben. Das Rederecht kann folglich nur dann seine volle Wirkung entfalten, wenn die Ratsmitglieder auch vor einer unbefugten politischen Missbilligung ihrer Redebeiträge durch den Sitzungsleiter – wie im konkreten Fall – geschützt werden.
113Die streitgegenständlichen Äußerungen des Beklagten, dass niemand mit dem Kläger und dessen Ratsfraktion gemeinsam Politik machen wolle und der Kläger die „Frechheit“ habe, sich als Opfer darzustellen, waren geeignet, die mit der Rede des Klägers bezweckte Wirkung auf die gemeindliche Willensbildung zu konterkarieren. Denn die Aussagen des Beklagten würdigen den vorangegangenen Redebeitrag des Klägers herab. Mit der Titulierung als „Frechheit“ attestiert der Beklagte dem Kläger eine despektierliche sowie unaufrichtige Darstellung. Die Äußerung, dass niemand mit dem Kläger und dessen Ratsfraktion gemeinsam Politik machen wolle, nimmt ebenfalls Bezug auf den Redebeitrag des Klägers und erzeugt eine ausgrenzende Wirkung, selbst wenn sich die Aussage – wie vom Beklagten vorgetragen – nur auf den zugrundeliegenden Tagesordnungspunkt beziehen sollte. Denn insoweit stellt der Beklagte als Ratsvorsitzender und damit für das Kollegialorgan Rat während der laufenden Debatte eine Zusammenarbeit mit dem Kläger infrage. Dies zeigen auch die späteren Ausführungen des Beklagten, der Kläger brauche sich nicht wundern, wenn „dieser Rat sich an dieser Stelle zusammenschließt“. Die streitgegenständlichen Ausführungen des Beklagten rücken den Kläger daher im Kreise seiner Ratskollegen in ein schlechtes Licht,
114vgl. hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2022 – 1 S 2686/21 –, juris Rn. 32; VG Hannover, Urteil vom 22. Januar 2025 – 1 A 2614/23 –, juris Rn. 24,
115und schmälern damit zugleich dessen Achtungsanspruch als Ratsmitglied. Der Kläger wird durch die Kompetenzüberschreitung des Beklagten nach außen wahrnehmbar in seinem Statusrecht als Ratsmitglied herabgesetzt und ausgegrenzt.
116Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. Mai 2022 – 1 K 1296/21 –, juris Rn. 72.
117Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
118Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 Sätze 1 und 2 ZPO.
119Gründe für eine Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO lagen nicht vor.
120Rechtsmittelbelehrung
121Innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils kann bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf schriftlich beantragt werden, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster die Berufung zulässt. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
122Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster schriftlich einzureichen.
123Der Antrag ist zu stellen und zu begründen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder eine diesen gleichgestellte Person als Bevollmächtigten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Auf die besonderen Regelungen in § 67 Abs. 4 Sätze 7 und 8 VwGO wird hingewiesen.
124Beschluss
125Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
12610.000,00 Euro
127festgesetzt.
128Gründe
129Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 22.7 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
130Rechtsmittelbelehrung
131Gegen diesen Beschluss kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls das Verwaltungsgericht ihr nicht abhilft. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf der genannten Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden. Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes zweihundert Euro übersteigt. Die Beschwerde findet auch statt, wenn sie das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zulässt.