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Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Ausländerbehörde des Kreises P. mitzuteilen, dass der Antragsteller auf der Grundlage der Abschiebungsandrohungen aus den Bescheiden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Februar 2017 vorläufig nicht abgeschoben werden darf.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtsgebührenfreien Verfahrens.
Gründe
2Der am 08. Januar 2025 sinngemäß gestellte Antrag,
3die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Ausländerbehörde des Kreises P. mitzuteilen, dass der Antragsteller auf der Grundlage der Abschiebungsandrohungen aus den Bescheiden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Februar 2017 vorläufig nicht abgeschoben werden darf,
4hat Erfolg.
5Der auf Sicherung des hilfsweise geltend gemachten Anspruchs auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zielende Antrag ist zulässig (a)) und begründet (b)).
6a)
7Der Antrag ist insofern zulässig nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
8Soweit der Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz unter Berufung auf das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG begehrt, ist sein Antrag als Antrag auf Erlass einer Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft. Danach kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Dies entspricht dem Begehren des Antragstellers. Dieser macht geltend, dass ihm infolge des Bundesamtsbescheides vom 18. Dezember 2024 eine Beendigung seines Aufenthalts im Bundesgebiet drohe und hierdurch ihm aus § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zustehende Rechte verletzt würde.
9Der Statthaftigkeit des Antrags nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht nicht § 123 Abs. 5 VwGO entgegen. Im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG liegt keine § 80 VwGO unterfallende Anfechtungssituation vor.
10b)
11Der auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bezogene Antrag auf Erlass einer Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist auch begründet.
12Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist, dass aufgrund der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren feststellbaren, erforderlichenfalls gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO vom Antragsteller glaubhaft zu machenden Tatsachen ein Anordnungsanspruch, also der im Hauptsacheverfahren geltend gemachte bzw. geltend zu machende materiell-rechtliche Anspruch, sowie ein Anordnungsgrund, also eine besondere Eilbedürftigkeit bzw. Dringlichkeit, bestehen. Diese Voraussetzungen liegen vor.
13aa) Dem Antragsteller steht ein Anordnungsanspruch in der Form des Anspruches auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu.
14Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Wie § 60 AufenthG insgesamt erfasst auch dessen Absatz 5 (nur) Abschiebungsverbote, die an die Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung anknüpfen,
15vgl. BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 35.
16Das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbots hat der Antragsteller glaubhaft gemacht.
17Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr („real risk“) der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre
18vgl. hierzu EGMR, Urteile vom 23. März 2016, F.G. gegen Schweden, Nr. 43611/11, Rn. 110 m.w.N. und vom 28. Juni 2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u.a., Rn. 212.
19Um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, muss die Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ und hängt von allen Umständen des Einzelfalls ab, wie die Dauer der Behandlung und ihre physischen und psychischen Wirkungen sowie manchmal von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers
20EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel gegen Schweiz, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127, Rn. 94.
21Das Gericht ist in diesem speziellen, nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfall davon überzeugt (vgl. § 108 Abs. 1 VwGO), dass dem Antragsteller Derartiges im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation drohte. Eine solche Gefahr ergibt sich aufgrund einer dem Kläger drohenden Zwangerekrutierung für den Ukrainekrieg
22Im Zwang zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, wie er derzeit von der russischen Föderation gegen die Ukraine geführt wird, liegt ein drohender ernsthafter Schaden i.S.d. Art. 3 EMRK in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
23vgl. VG Bayreuth, U.v. 20. Januar 2023 – B 9 K 21.30615 – juris Rn. 35; VG Berlin, U.v. 6. Juli 2023 – 33 K 312.19 A – juris Rn. 36, VG Bremen, B.v. 26. Mai 2023 – 6 V 24/23 – juris Rn. 17 f.; U.v. 16. Januar 2024 – 6 K 2587/20 – juris Rn. 26.
24Diese Auslegung des Art. 3 EMRK wird durch die Wertung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unterstrichen. Denn der Militärdienst im Ukrainekrieg würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen und deren Ächtung und Verhinderung wiederum eines der Ziele von Art. 3 EMRK ist
25vgl. VG Bremen, B.v. 26. Mai 2023 – 6 V 24/23 – juris Rn. 18.
26Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann auch daraus resultieren kann, dass eine Person bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation geraten wird, in der sie entweder ihrerseits andere Menschen in ihren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzen muss oder strafrechtlich sanktioniert werden wird.
27Der Prognosemaßstab für die erforderliche Gefahrenprognose des § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK erfordert nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine tatsächliche Gefahr
28„real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008, Saadi gegen Italien, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330,
29und entspricht dem Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ im Rahmen von §§ 3 und 4 AsylG
30st. Rspr. des BVerwG, vgl. Urteil vom 4. Juli 2019 - BVerwG 1 C 37.18 - juris Rn. 13 m.w.N.; Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 60 AufenthG Rn. 34.
31Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine unmenschliche Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor einer unmenschlichen Behandlung hervorgerufen werden kann
32vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, a.a.O., juris Rn. 13.
33Dieser Prognosegrad ist in dem speziellen Falle des Antragsstellers erreicht. Es bestehen unter Berücksichtigung der individuellen Umstände hinreichend gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass seine Einberufung und Entsendung in die Ukraine im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) beachtlich wahrscheinlich ist.
34Die russischen Streitkräfte haben in der Ukraine viele Taten begangen, die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet werden können, insbesondere zahlreiche Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Es ist wahrscheinlich, dass in die Ukraine entsendete Soldaten in solche Verbrechen verwickelt werden
35Home-Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023, S. 5; Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20. Juli 2023, Az. 21068674 Rn. 12; Amnesty International, Europe: The point of no return, 2024, S. 3, 10; EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 03. Oktober 2023, S. 4.
36Dem Antragsteller droht bei Rückkehr in die russische Föderation zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsrekrutierung und anschließend die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine (1). Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht insofern nicht (2).
37(1) Auf der Basis des oben dargelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstabs geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger bei Rückkehr in die russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsrekrutierung droht.
38In der aktuellen Länderinformation der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur Russischen Föderation, veröffentlicht am 16.12.2024 heißt es:
39„(…) In Tschetschenien finden Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen (EUAA 16.12.2022a; vgl. KR 8.6.2023). Auf Einzelpersonen in Tschetschenien wird Druck ausgeübt (ÖB Moskau 25.1.2023). Kadyrow betreibt in Bezug auf den Ukraine-Krieg eine intensive mediale Propaganda (VQ RUSS2 23.1.2024). Oft ruft er die Bewohner Tschetscheniens zur Teilnahme am Ukraine-Krieg auf (KK 14.12.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der ’Hölle’ (KK 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KK 25.8.2022). Kadyrow und Beamte beleidigen offen Personen, die nicht an die Front wollen (KR 19.2.2023). Beamten, Imamen und Kommandanten in Tschetschenien sind Rekrutierungsquoten für den Ukraine-Krieg auferlegt. Um diese normativen Vorgaben erfüllen zu können, werden Tschetschenen in Geheimgefängnissen rechtswidrig festgehalten. So sie einen Kriegseinsatz ablehnen, werden Repressalien gegen ihre Verwandten angedroht (KR 7.8.2023). Häufig werden Einwohner Tschetscheniens von Behördenmitarbeitern (Silowiki) entführt, um ihre Kriegsteilnahme zu erzwingen (KR 7.8.2023; vgl. EUAA 17.2.2023). Einige der Entführten werden vor die Wahl gestellt, entweder in den Krieg zu ziehen (KR 7.8.2023; vgl. AI 28.3.2023, EUAA 17.2.2023) oder Lösegeld zu bezahlen (EUAA 17.2.2023), Folter über sich ergehen zu lassen und wegen fingierter Straftaten gerichtlich verurteilt zu werden (KR 7.8.2023; vgl. AI 28.3.2023, EUAA 17.2.2023). Gedroht wird außerdem mit der Entführung von Familienmitgliedern sowie der Demütigung weiblicher Verwandter. Die Entführten sind meistens junge Männer, welche bereits zuvor im Visier der Behörden waren (EUAA 17.2.2023). Die meisten tschetschenischen Kriegsteilnehmer entstammen dem ländlichen Raum und leben mit ihren Familien in bescheidenen Verhältnissen. Die versprochenen hohen Geldsummen verleiten sie zu einem Kriegseinsatz. Weiter nehmen am Ukraine-Krieg tschetschenische Berufs- bzw. Vertragssoldaten teil. Diesen machte Kadyrow ein schlechtes Gewissen und erklärte ihnen, es sei nun an der Zeit, ihren in Friedenszeiten empfangenen ’hohen’ Sold abzuarbeiten. Außerdem nehmen (noch nicht gerichtlich verurteilte) Gesetzesbrecher am Krieg teil, welchen man einen Kriegseinsatz als ’Freiwillige’ nahelegt. Besonders betroffen davon sind Personen, welche sich des Drogenmissbrauchs und Alkoholismus schuldig machten, sowie Diebe (VQ RUSS2 23.1.2024). Ebenfalls unter den unfreiwillig Rekrutierten befinden sich Strafgefangene (EUAA 16.12.2022a). Gemäß Berichten kommt es im Zuge von Verkehrskontrollen und Streitigkeiten zwischen Verkehrspolizisten und Autofahrern zur Aushändigung von Einberufungsbefehlen (KK 24.11.2023). Tschetschenen, welchen eine homosexuelle Orientierung unterstellt wird, sind ebenfalls Zielgruppe von Kriegsentsendungen. Gleich ergeht es Personen, die spezielle politische Ansichten vertreten (VQ RUSS2 23.1.2024). Rekrutiert werden hauptsächlich Menschen, welche ihre Unzufriedenheit mit der tschetschenischen Führung oder dem Ukraine Krieg ausdrückten, und auch Personen, die auf irgendeine Art und Weise in Ungnade gefallen sind (DIS 9.12.2022). In der Praxis kommt es zur Kriegsentsendung von Familienangehörigen illoyaler Tschetschenen (KR 9.8.2023). In Tschetschenien ist die Praxis der kollektiven Verantwortung weitverbreitet (KR 2.3.2023). Es wird über tschetschenische Frauen berichtet, welche als medizinisches Personal in die Ukraine entsandt werden (OFPRA 25.8.2023). Die Zwangsrekrutierungsmaßnahmen der tschetschenischen Behörden sind von einem hohen Grad an Unberechenbarkeit sowie Willkür gekennzeichnet und stellen ein Bestrafungsinstrument dar. Das Ausmaß der Zwangsrekrutierung ist schwer einzuschätzen. Fälle von Zwangsrekrutierungen von Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation sind nicht bekannt, mit Ausnahme von Tschetschenen, die in Dagestan leben (DIS/Migrationsverket 4.2024). (…)“
40Vgl. Länderinformation der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS, Version 15, veröffentlicht am 16. Dezember 2024, Seiten 50 und52.
41Diese Einschätzung wird von der EU Agency for Asylum,
42COI Query Q37-2023 v. 17. Februar 2023, S. 19 f.
43und die Cour nationale du droit d’asile,
44U.v. 20. Juli 2023, Az. 21068674 Rn. 17
45geteilt.
46Dieser Einschätzung schließt sich das Gereicht an.
47Vor diesem Hintergrund ist es auch unerheblich, ob der Antragsteller bislang einen echten Musterungs/Einberufungsbescheid erhalten hat oder nicht
48vgl. VG Berlin, U.v. 20. März 2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 78.
49Nachdem die Teilnahme am Krieg gegen die Ukraine auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfasst (siehe unter a), steht es der Annahme subsidiären Schutzes auch nicht entgegen, dass der künftige militärische Einsatzbereich des Klägers derzeit nicht konkret absehbar ist. Die entsprechende Wertung des Europäischen Gerichtshofs
50U.v. 19. November 2020, C-238/19 – ECLI:EU:C:2020:945 – EZ Rn. 37 f.,
51wonach in einem solchen Fall eine hohe Wahrscheinlichkeit der individuellen Verwicklung in solche Verbrechen bestehe, ist nicht auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkt, sondern ist in einem Fall, in dem die Gewährung von Flüchtlingsschutz mangels Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund ausscheidet (dazu unten), auch auf die Prüfung des subsidiären Schutzes übertragbar.
52(2) Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller in seinem speziellen Einzelfall nach § 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG internen Schutz innerhalb der russischen Föderation erlangen könnte. Nach § 3e AsylG wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn der Antragssteller in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (interner Schutz bzw. innerstaatliche Fluchtalternative). Angesichts des starken Interesses des tschetschenischen Machthabers Kadyrow an der Heranziehung von “freiwilligen“ Kämpfern für den Krieg gegen die Ukraine und der hierzu angewandten aggressiven Vorgehensweise in anderen Teilen der Russischen Föderation kann nach der gegenwärtigen Erkenntnislage nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich der Zwangsrekrutierung durch Niederlassen in einem anderen Landesteil entziehen kann.
53Vgl. Danish Immigration Service, Russia, An update on military service since July 2022 vom Dezember 2022 unter „12. Methods of recruitment“, „12.2.2 Exodus from Chechnya“, Seite 34 und Danish Immigration Service, Russia, Recruitment of Chechens to the war in Ukraine, vom April 2024.
54In Tschetschenien wurden Listen aller ins Ausland ausgereisten Männer erstellt
55vgl. Länderinformation der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS, Version 15, veröffentlicht am 16. Dezember 2024 Seite 49 ff.
56Die tschetschenischen Behörden verfügen über Zugriff auf die Datenbanken der Russischen Föderation und können ihn auf diesem Wege ausfindig machen, wenn er sich an einem anderen Ort innerhalb der Russischen Föderation registriert. Eine solche Registrierung wiederum ist gesetzlich vorgeschrieben und für den Erhalt von Sozialleistungen, aber auch anderen Leistungen der Behörden unverzichtbar
57vgl. Länderinformation der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS, Version 15, veröffentlicht am 16. Dezember 2024, Seite 100 ff.
58Die russischen Behörden arbeiten daran, verschiedene Regierungsdatenbanken zu integrieren, um ihre Mobilisierungsanstrengungen zu verstärken und gegenüber Zugverweigerern hart durchzugreifen
59vgl. The Moscow Times, Russian Authorities Resort to Raiding Hotels to Catch Draft Dodgers vom 13. Oktober 2022.
60Kennen die tschetschenischen Behörden den Aufenthaltsort des Antragstellers, kann auf diesen zumindest Druck ausgeübt werden, nach Tschetschenien zurückzukehren. Zwar spricht Erhebliches aus den Erkenntnismitteln dafür, dass andere Behörden der Russischen Föderation, sowohl die nationalen, als auch die der verschiedenen Teilrepubliken, Anforderungen tschetschenischer Behörden nur im Falle rechtskräftiger Urteile ordnungsgemäß bearbeiten. In den übrigen Fällen kann eine Umsetzung schlicht unterbleiben. Das kann aber nicht sichergestellt werden, weil die zuständigen Behörden rechtlich zu einem anderen Vorgehen verpflichtet sind. Von größerer Bedeutung ist allerdings, dass die tschetschenischen Behörden und andere für Ramsan Kadyrow Tätige überall in der Russischen Föderation Druck auf Exil-Tschetschenen ausüben können, ohne daran von den sonstigen lokalen Behörden gehindert zu werden. Es ist deshalb mit einem erheblichen Risiko verbunden, der Aufforderung solcher Personen, nach Tschetschenien zurückzukehren, nicht zu folgen. Die tschetschenische Polizei entführt Rückkehrer häufig nach ihrer Ankunft am Moskauer Flughafen.
61Vgl. SFH, Russland/Tschetschenien: Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung – 31. August 2023, S.16.
62Kein Ort in Russland ist sicher für eine Person, die von den tschetschenischen Behörden gesucht wird, da die lokale tschetschenische Regierung eine Person außerhalb der Republik leicht ins Visier nehmen kann.
63Vgl. SFH, Russland/Tschetschenien: Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung – 31. August 2023, S. 16.
64bb) Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung vom 20. Februar 2017.
65Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Absatz 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Absatz 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG).
66Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).