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1. Hängt das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV davon ab, ob ein Visumsverfahren, welches von Gesetzes wegen für die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels erforderlich ist, in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzendem Zeitraum nachgeholt werden kann?2. Entsteht das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV kraft Unionsrecht, so dass dieses durch die nationalen Behörden nur noch zu bescheinigen ist, oder ist ein solches Aufenthaltsrecht durch die nationalen Behörden konstitutiv zu gewähren?3. Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht kraft Unionsrecht automatisch entsteht: zu welchem Zeitpunkt entsteht das Recht?4. Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht durch nationale Behörden zu gewähren ist: zu welchem Zeitpunkt ist dieses rückwirkend zu gewähren?
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
Hängt das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV davon ab, ob ein Visumsverfahren, welches von Gesetzes wegen für die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels erforderlich ist, in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzendem Zeitraum nachgeholt werden kann?
Entsteht das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV kraft Unionsrecht, so dass dieses durch die nationalen Behörden nur noch zu bescheinigen ist, oder ist ein solches Aufenthaltsrecht durch die nationalen Behörden konstitutiv zu gewähren?
Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht kraft Unionsrecht automatisch entsteht: zu welchem Zeitpunkt entsteht das Recht?
Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht durch nationale Behörden zu gewähren ist: zu welchem Zeitpunkt ist dieses rückwirkend zu gewähren?
Gründe
2I.
3(1) Die am 0. Februar 0000 geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Kamerun. Sie ist Inhaberin eines bis zum 23. März 2028 gültigen Reisepasses.
4(2) Der Klägerin wurde am 25. September 2019 von der polnischen Auslandsvertretung zu Studienzwecken ein nationales, bis zum 23. September 2020 gültiges Visum (Visumkategorie D) erteilt. Mit diesem reiste sie am 28. September 2019 in den Schengenraum ein und nahm in Polen ein Studium auf.
5(3) Danach reiste die Klägerin von Polen aus in das Bundesgebiet ein und meldete sich am 1. August 2020 im Zuständigkeitsbereich der Beklagten (Ausländerbehörde) an. Sie beabsichtigte, zum 1. Oktober 2020 eine Beschäftigung im Bundesfreiwilligendienst aufzunehmen und fragte die Möglichkeiten hierfür bei der Beklagten fernmündlich an.
6(4) Die Beklagte forderte die Klägerin zur Ausreise auf und erteilte ihr eine Grenzübertrittsbescheinigung, nachdem die Klägerin angegeben hatte, freiwillig ausreisen zu wollen. Unter dem 6. November 2020 wurde die Klägerin schriftlich zur unverzüglichen Ausreise aufgefordert.
7(5) Die Klägerin verließ das Bundesgebiet nicht. Sie war für die Behörden unter der angegebenen Meldeanschrift aber auch nicht mehr erreichbar. Erst am 23. Juni 2021 nahm die Klägerin wieder Kontakt mit der Beklagten auf.
8(6) Am 00. September 0000 kam das Kind der Klägerin zur Welt, welches abgeleitet von seinem Vater die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
9(7) Die Klägerin lebt mit ihrem Kind in einem Haushalt zusammen. Der Kindsvater hat wenig Kontakt zu seinem Kind. Er besucht es lediglich an Wochenenden und zahlt Kindesunterhalt in Höhe von monatlich 200,00 Euro. Der Kindsvater ist zudem aus beruflichen Gründen nicht in der Lage, sich für mehrere Wochen um sein Kind zu kümmern. Das Sorgerecht steht der Klägerin alleine zu.
10(8) Unter dem 12. April 2022 beantragte die Klägerin, ihr zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
11(9) Diesen Antrag beschied die Beklagte nicht. Am 13. Dezember 2022 hat die Klägerin deshalb Klage erhoben.
12(10) Im gerichtlichen Verfahren trägt die Beklagte vor, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen. Die Klägerin sei zwischen Dezember 2020 und Ende Juni 2021 untergetaucht gewesen. Sie erfülle damit den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Daraus folge ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, welches der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehe und von dem nicht abgewichen werden könne. Auch setze die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die Einreise mit dem erforderlichen Visum voraus. Daran fehle es. Die Nachholung des Visumsverfahrens, welches weniger als einen Monat in Anspruch nehme, sei der Klägerin zumutbar. Sie könne gemeinsam mit ihrem deutschen Kind ausreisen und das Visumsverfahren in Kamerun nachholen. Das Kindeswohl sei dadurch nicht gefährdet. Die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV lägen zudem nicht vor. Bei einer gemeinsamen Ausreise zur Nachholung des Visumsverfahrens müsse die deutsche Staatsangehörige, welche nicht schulpflichtig sei, das Unionsgebiet nur kurzfristig verlassen, so dass der Kernbestand des Rechts dadurch nicht beeinträchtigt sei. Eine Unterbrechung des Kontakts zum Kindsvater für weniger als einen Monat sei hinnehmbar.
13(11) Mit (nicht rechtskräftigem) Teilurteil vom 23. November 2023 wurde die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ab dem Datum des Urteils zu erteilen.
14(12) Damit ist der Rechtstreit weiter beim vorlegenden Gericht anhängig mit dem Begehren, dass der Klägerin auch ein Aufenthaltsrecht für die Zeit vor dem 23. November 2023 zustehe. Nach nationalem Recht scheidet die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Zeitraum vor dem 23. November 2023 aus.
15II.
161.
17(13) Den maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtstreits bilden die folgenden Vorschriften:
18Unionsrecht
19Art. 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
20(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.
21(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
22a) das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
23b) in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;
24c) im Hoheitsgebiet eines Drittlands, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht vertreten ist, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses Staates;
25d) das Recht, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten und sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden, sowie das Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe und die beratenden Einrichtungen der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten.
26Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.
27Nationales Recht
28Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG), abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/AufenthG.pdf/, in englischer Fassung unter https://www.gesetze-im-internet.de/englisch_aufenthg/englisch_aufenthg.pdf.
29§ 5 AufenthG - Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
30(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass
311. der Lebensunterhalt gesichert ist,
321a. die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt ist,
332. kein Ausweisungsinteresse besteht,
343. soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet und
354. die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird.
36(2) Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer ICT-Karte, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU voraus, dass der Ausländer
371. mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
382. die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
39Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. […]
40§ 27 AufenthG - Grundsatz des Familiennachzugs
41(1) Die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) wird zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.
42[…]
43(3) Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs kann versagt werden, wenn derjenige, zu dem der Familiennachzug stattfindet, für den Unterhalt von anderen Familienangehörigen oder anderen Haushaltsangehörigen auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch angewiesen ist. Von § 5 Abs. 1 Nr. 2 kann abgesehen werden.
44§ 25 AufenthG - Aufenthalts aus humanitären Gründen
45[…]
46(5) Einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. […]
47§ 28 AufenthG - Familiennachzug zu Deutschen
48(1) Die Aufenthaltserlaubnis ist dem ausländischen
491. Ehegatten eines Deutschen,
502. minderjährigen ledigen Kind eines Deutschen,
513. Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge
52zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Sie ist abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 in den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 zu erteilen. Sie soll in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 in den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 erteilt werden.
53§ 54 AufenthG - Ausweisungsinteresse
54[…]
55(2) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer
56[…]
579. einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.
58§ 95 AufenthG - Strafvorschriften
59(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
60[…]
612. ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1 sich im Bundesgebiet aufhält, wenn
62a) er vollziehbar ausreisepflichtig ist,
63b) ihm eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist und
64c) dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist,
65[…].
662.
67(14) Der Rechtstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV. Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig.
68(15) Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen der Klärung durch den Gerichtshof.
69(16) Für die rechtliche Beurteilung des weiterhin anhängigen Streitgegenstands, ob der Klägerin auch für die Zeit vor dem 23. November 2023 (Datum des Teilurteils) ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist von entscheidender Bedeutung, ob ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entstanden ist, ob dieses kraft Unionsrecht automatisch entsteht und ab welchem Zeitpunkt es entstanden ist.
70(17) Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass nationales Recht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz vor dem 23. November 2023 entgegensteht. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand aufgrund des verwirklichten Straftatbestands des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Dieses war bis zum 23. November 2023 aktuell, so dass die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt war. Erst ab dem 23. November 2023 konnte hiervon zur Überzeugung des Gerichts abgewichen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG war aus diesem Grund ebenfalls ausgeschlossen.
71Zu Frage 1:
72(18) Die nationale Rechtsprechung geht in Teilen davon aus, dass die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV erst vorliegen, wenn ein Visumsverfahren nicht in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum nachgeholt werden kann,
73BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 -, ECLI:DE:BVerwG:2018:120718U1C16.17.0 (= juris, Rn. 35); ebenso etwa OVG Magdeburg, Beschluss vom 21. September 2022 - 3 M 68/22 -, ECLI:DE:OVGST:2022:0921.2M68.22.00 (= juris, Rn. 12): Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV scheidet aus, wenn der Ausländer das Unionsgebiet nur für einen kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum zur Durchführung des Visumverfahrens verlassen muss.
74(19) Zur Begründung wird auf die Rechtsache K.A. verwiesen. Dort hatte der Gerichtshof ausgeführt, dass es dem mit Art. 20 AEUV verfolgten Ziel zuwiderlaufe, den Drittstaatsangehörigen zu zwingen, das Unionsgebiet für unbestimmte Zeit zu verlassen,
75EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 (K.A.) -, ECLI:EU:C:2018:308 (= curia.eu, Rn. 57).
76(20) Daraus wird - so auch von der Beklagten - in einem Umkehrschluss gefolgert, dass ein Verlassen des Gebietes der Union für einen kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum das Recht aus Art. 20 AEUV nicht beeinträchtige, der Kernbestand des Rechts nicht tangiert sei.
77(21) Das vorlegende Gericht hegt daran Zweifel. Sie begründen sich zum einen darin, dass der Gerichtshof in der genannten Rechtsache K.A. die vierte Vorlagefrage (4. lit. d) unbeantwortet ließ, der von der Ausländerbehörde und teilweise in der nationalen Rechtsprechung gezogene Umkehrschluss damit nicht zwingend ist. Dort war ausdrücklich gefragt worden, ob die Verpflichtung, einen Antrag […] im Herkunftsland zu stellen mit der Folge, dass der Unionsbürger gegebenenfalls für eine begrenzte Zeit das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes verlassen muss, ein relevanter Aspekt sei. Auch erging die Entscheidung in einer Fallkonstellation zu einem bestehenden Einreiseverbot entsprechend Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger.
78(22) Demgegenüber scheint der Gerichtshof in der Rechtsache XU zu betonen, dass für ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht allein die Feststellung genügt, dass einem Drittstaatsangehörigen, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, kein Aufenthaltsrecht nach innerstaatlichem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht gewährt werden kann, sofern die Tatsache hinzukommt, dass zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger im Fall der Abschiebung seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen,
79EuGH, Urteil vom 5. Mai 2022 - C-451/19 (XU und QP) -, ECLI:EU:C:2022:354 (= curia.eu, Rn. 48).
80(23) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum Zwecke der Familienzusammenführung setzt nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zwingend voraus, dass der Drittstaatsangehörige zuvor mit dem erforderlichen Visum eingereist ist, also einem Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung. Eine Ausnahme besteht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dann, wenn die Nachholung des Visumsverfahrens auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist. Kommt daher die Behörde zu der Auffassung, die Nachholung des Visumsverfahren sei zumutbar, insbesondere weil dieses in kurzer Zeit verlässlich nachholbar sei, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht ausgeschlossen. Damit ist grundsätzlich der Anwendungsbereich von Art. 20 AEUV eröffnet.
81(24) In diesem Zusammenhang ist zudem festzustellen, dass Art. 20 AEUV anknüpfend an den Status des Unionsbürgers ein elementares, persönliches Recht gewährt, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten zu dürfen. Dieses Recht ist ohne ein Recht auf Einreise in das Unionsgebiet wertlos,
82EuGH, Urteil vom 27. April 2023 - C-528/21 (M.D.) -, ECLI:EU:C:2023:341 (= curia.eu, Rn. 59), und vom 22. Juni 2023 - C-459/20 (X) -, ECLI:EU:C:2023:499 (= curia.eu, Rn. 30).
83(25) Zudem darf ein Mitgliedstaat nach völkerrechtlichen Grundsätzen, die das Unionsrecht nicht verletzen darf, seinen eigenen Staatsangehörigen das Recht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und dort zu bleiben, nicht verwehren; diese Staatsangehörigen verfügen dort folglich über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht,
84EuGH, Urteil vom 22. Juni 2023 - C-459/20 (X) -, ECLI:EU:C:2023:499 (= curia.eu, Rn. 41).
85Zu Frage 2:
86(26) Die nationale Rechtsprechung geht überwiegend davon aus, dass das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV unmittelbar kraft Unionsrecht entsteht, es von den nationalen Behörden somit lediglich zu bescheinigen sei,
87BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 -, ECLI:DE:BVerwG:2018:120718U1C16.17.0 (= juris, Rn. 34): Aufenthaltsrecht „sui generis“; OVG Koblenz, Beschlüsse vom 13. Januar 2021 - 7 D 11208/20 -, ECLI:DE:OVGRLP:2021:0113.7D11208.20.00 (= juris, Rn. 24) und vom 23. September 2021 - 7 A 10337/21 -, ECLI:DE:OVGRLP:2021:0923.7A10337.21.00 (= juris, Rn. 9); VG Bremen, Urteil vom 30. Mai 2022 - 4 K 2202/19 -, ECLI:DE:VGHB:2022:0530.4K2202.19.00 (= juris, Rn. 36); Fleuß, Unionsbürgerschaft und Freizügigkeit, in: VerwArch 2022, 201 (243); ebenso für Österreich Österr. Oberster Gerichtshof, Erkenntnis vom 13. September 2017 - 10 ObS 64/17k -, und vom 21. Jänner 2020 - 10 ObS 178/19k -, unter: ris.bka.gv.at.
88(27) Das vorlegende Gericht hegt daran Zweifel. Es neigt zu der Auffassung, dass das Recht aus Art. 20 AEUV nicht unmittelbar kraft Unionsrecht entsteht, sondern erst durch die nationalen Behörden konstitutiv zu verleihen, bzw. zu gewähren ist.
89VG Düsseldorf, Urteil vom 29. Oktober 2020 - 8 K 5234/19 -, ECLI:DE:VGD:2020:1029.8K5234.19.00 (= juris, Rn. 85); ähnlich VG München, Urteil vom 12. Oktober 2021 - M 4 K 20.2386 -, ECLI:DE:VGMUENC:2021:1012.M4K20.2386.00 (= juris, Rn. 102).
90(28) Das vorlegende Gericht meint insofern, in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Unterscheidungen festgestellt zu haben, wie unionsrechtliche Aufenthaltsrechte zur Entstehung gelangen.
91(29) Zum Assoziationsrecht und zu den Rechten aus Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80 betont der Gerichtshof, dass dem türkischen Arbeitnehmer „zumindest zu diesem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht“, dass eben die gewährten sozialen Rechte dieses zwangsläufig „implizieren“,
92EuGH, Urteil vom 20. September 1990 - C-192/89 (Sevince), ECLI:EU:C:1990:322 (= curia.eu, Rn. 29), zu Art. 6 ARB 1/80: im Englischen „the existence […] of a right of residence“; im Französischen: „l’existance […] d’un droit de séjour“;
93(30) In diesem Sinne besteht das Recht auch bei Art. 7 ARB 1/80 kraft Unionsrecht. So heißt es etwa in der Rechtsache Bekleyen: „setzen zwangsläufig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraus“,
94EuGH; Urteil vom 21. Januar 2010 - C-462/08 (Bekleyen), ECLI:EU:C:2010:30 (= curia.eu, Rn. 17): im Französischen: „l’existence d’un droit corrélatif de séjour“, im Englischen: „necessarily imply the existence of a concomitant right of residence“.
95(31) Auch in der Rechtsache Baumbast, in der es um Aufenthaltsrechte aus Art. 12 der vormaligen VO (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ging, führt der Gerichtshof aus, dass Art. 12 VO (EWG) Nr. 1612/68 „dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt“,
96EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - C-413/99 (Baumbast und R), ECLI:EU:C:2002:493 (= curia.eu, Rn. 75).
97(32) Ähnlich verhält es sich in der Rechtsache Chen, in der es um einen Sachverhalt mit grenzüberschreitendem Bezug ging. Zum alten Art. 18 EGV und der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht führt der Gerichtshof aus: Wenn Unionsrecht dem Kind das Aufenthaltsrecht verleiht, dann sind es „dieselben Vorschriften“, die es dem Elternteil „erlauben, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten“,
98EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 (Zhu und Chen) -, ECLI:EU:C:2004:639 (= curia.eu, Rn. 46), im Französischen: „ces mêmes dispositions permettent au parent“, im Englisch: „those same provisions allow a parent“.
99(33) Demgegenüber stellt der Gerichtshof in der Rechtsache Zambrano zunächst ein negatives Kriterium auf. Dort ist es den Mitgliedstaaten „verwehrt“, Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis zu verweigern. Das hat nach Auffassung des vorlegenden Gerichts gegenüber den zuvor aufgezeigten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechten etwa aus Art. 6 und 7 ARB 1/80 einen anderen Ductus. Offensichtlich entsteht dieses Recht nicht automatisch, es ist nicht impliziert, es erlaubt den Aufenthalt nicht unmittelbar, da die Mitgliedstaaten das Recht haben könnten, den Aufenthalt zu verwehren,
100EuGH, Urteil vom 8. März 2011 - C-34/09 (Ruiz Zambrnao) -, ECLI:EU:C:2011:124 (= curia.eu, Rn. 45).
101(34) In der Rechtsache Chavez-Vilchez stellt der Gerichtshof ebenfalls auf die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts ab,
102EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15 (Chavez-Vilchez), ECLI:EU:C:2017:354 (= curia.eu, Rn. 72): im Englischen „a refusal of a right of residence“; im Französischen; „dans le cas d’un tel refus“.
103(35) Zugleich wird positiv formuliert zur Kompetenz der Mitgliedstaaten („es einem Mitgliedstaat verwehrt“): „die Gewährung des Rechts zum Aufenthalt“,
104EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15 (Chavez-Vilchez), ECLI:EU:C:2017:354 (= curia.eu, Rn. 73, 78); ähnlich EuGH, Urteil vom 5. Mai 2022 - C-451/19 (XU und QP) -, ECLI:EU:C:2022:354 (= curia.eu, Rn. 48): den betreffenden Mitgliedstaat grundsätzlich verpflichtet, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen.
105(36) Entsprechend bezieht sich die zweite Frage darauf, ob es in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt, ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV „gewähren“ zu müssen, dieses Recht also nicht kraft Unionsrecht bereits entstanden ist.
106Zu Frage 3 und 4:
107(37) Sollte das Aufenthaltsrecht kraft Unionsrecht entstehen, stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, ab welchem Zeitpunkt dieses entsteht.
108(38) Dabei stellt sich zum einen die Frage, ob die Entstehung des Rechts einen Antrag voraussetzt. Auf einen solchen Antrag scheint der Gerichtshof in der Rechtsache K.A. Bezug zu nehmen,
109EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 (K.A.) -, ECLI:EU:C:2018:308 (= curia.eu, Rn. 57): „vielmehr verpflichtet, den Antrag zu prüfen und zu beurteilen, ob zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem betreffenden Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht“.
110(39) Denkbar ist aber auch, dass das Aufenthaltsrecht der Klägerin bereits mit der Geburt des Kindes entstanden ist. Möglich erscheint auch, dass das Recht erst entsteht, wenn feststeht, dass ein Aufenthaltsrecht nach nationalem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht nicht gewährt werden darf, etwa durch eine vorherige, gegebenenfalls zuvor zwingend zu ergehende Entscheidung der nationalen Behörden.
111(40) Diese Fragen stellen sich letztlich auch, wenn das Recht nicht kraft Unionsrecht entsteht, sondern erst durch eine nationale Entscheidung zur Entstehung des Rechts aus Art. 20 AEUV. Auch hier ist die Frage zu beantworten, ab welchem Zeitpunkt das Recht rückwirkend zu gewähren ist.
112(41) Der Beschluss ist unanfechtbar.