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Die aufschiebende Wirkung der Klage 7 K 4045/24.A gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 00. 00 0000 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
2Der am 31. Mai 2024 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 7 K 4045/24.A gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 00. 00 0000 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Er ist zulässig. Insbesondere wird davon ausgegangen, dass die einwöchige Frist des § 36 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 AsylG gewahrt ist, da der Bescheid nach den Akten des Bundesamtes am 00. 00 0000 zugestellt worden ist.
6Der Antrag ist auch begründet.
7Im Fall einer durch das Bundesamt verfügten Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ordnet das Gericht gemäß § 36 Abs. 1 und 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die – sofort vollziehbare (vgl. §§ 36, 75 AsylG) – Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylbewerbers, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung überwiegt. Die Aussetzung der Abschiebung darf gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur dann angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Solche Zweifel liegen nur dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, die angegriffene Maßnahme hielte einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht stand, wobei sich diese Prognose gerade auch auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erstrecken muss.
8Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 –, juris, Rn. 99.
9So verhält es sich hier.
10Die Antragsgegnerin hat den Schutzantrag unter Hinweis auf das Vorliegen eines nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n.F.
11das heißt in der Fassung des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21. Februar 2024, BGBl. I Nr. 54, in Kraft seit dem 27. Februar 2024 (Artikel 11 Abs. 1),
12offensichtlich unbegründeten Schutzbegehrens abgelehnt.
13Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich abzulehnen, wenn der Ausländer eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, sodass die Begründung für seinen Asylantrag offensichtlich nicht überzeugend ist. Die Vorschrift entnimmt ihre Voraussetzungen ersichtlich dem Art. 31 Abs. 8 lit. e) der Asylverfahrensrichtlinie
14Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung),
15dessen Umsetzung sie dient,
16vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT Drs. 20/9463, S. 23, 56; BR DRs 563/23, S. 60.
17Ein unsubstantiiertes Vorbringen fällt danach nicht unter den Tatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Der Begriff „unstimmig“ ist mit dem Begriff „unsubstantiiert“ nicht gleichzusetzen. Als unsubstantiiert anzusehen sind oberflächliche und pauschale Angaben, die nicht ausreichend detailliert und konkretisiert sind. Hingegen erfordert die Unstimmigkeit eine gewisse Widersprüchlichkeit, Inkohärenz oder Unschlüssigkeit des Vortrags. Ein Vortrag ist nur dann unstimmig, wenn er unvereinbare Gegensätze bzw. eine Widersprüchlichkeit in sich trägt, also entweder in sich oder mit anderen, objektiven Gegebenheiten nicht zusammenpasst. Diese Auslegung ergibt sich außer aus dem Wortsinn auch aus der verschärfenden Formulierung „eindeutig unstimmig“ in § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und der Verbindung der „eindeutig unstimmige[n]“ mit den „widersprüchliche[n]“ Angaben durch ein „und“, während die anderen Alternativen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG durch ein „oder“ miteinander verbunden sind.
18Vgl. VG Minden, Beschluss vom 30. Oktober 2023 – 2 L 930/23.A –, juris, Rn. 28; VG Ansbach, Beschluss vom 18. Juli 2023 – AN 17 S 23.30555 –, juris, Rn. 15; beide im Hinblick auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG a.F., aber unter Berücksichtigung von Art. 31 Abs. 8 lit. e) der Asylverfahrensrichtlinie und einer europarechtskonformen Auslegung, vgl. Beschluss der Kammer vom 2. April 2024 – 7 L 692/24.A -, n.v..
19Darüber hinaus ist zu fordern, dass es sich nicht nur um vereinzelte Angaben der beschriebenen Art handelt, sondern dass damit die gesamte Begründung für den Asylantrag offensichtlich nicht überzeugend ist. Unabhängig von der weiteren Frage, ob alle der im ersten Halbsatz genannten Angaben im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen müssen, wie dies die Verknüpfung der Satzteile nahelegt, dürfte aber der letzte Halbsatz („sodass die Begründung für seinen Asylantrag offensichtlich nicht überzeugend ist“) für alle Tatbestandsalternativen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gelten. Dann drängt sich aber das Verständnis, dass die defizitären Angaben alle relevanten Begründungselemente erfassen müssen, geradezu auf, aber nicht in dem Sinne, dass die Widersprüchlichkeit hinsichtlich eines Begründungselements auch andere Elemente infiziert. Vielmehr müssen sich die Defizite in allen zur Begründung des Asylantrags dienenden Elementen wiederfinden.
20Es lässt sich indes schon nicht feststellen, dass der Antragsteller eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat. In der Anhörung schildert der Antragsteller grob gesagt drei verschiedene Lebenssachverhalte aus seiner Biographie, aus denen er eine Verfolgungsfurcht für sich bei einer Rückkehr in die Türkei ableitet. Zum einen werde er wegen seines Engagements für die HDP als Angehöriger der PKK betrachtet, weil er seinen Bruder T., der Vorsitzender der Jugendorganisation der HDP in B. war, unterstützt habe. Zum anderen hätten bei ihm oftmals Hausdurchsuchungen wegen seiner Brüder bei ihm stattgefunden. Und zum Dritten befürchte er Opfer von Blutrache zu werden, weil sein Bruder D. zwei Menschen zu Tode gebracht habe und deren Angehörige auf Rache aus wären.Zwar ist dem Bundesamt zu Zugeben, dass das Vorbringen sprunghaft, großspurig und oftmals vage bleibt. Auch sind die aufgezeigten Widersprüche wahrscheinlich nicht in Gänze aufklärbar bzw. auflösbar, aber ganz überwiegend lässt das Anhörungsprotokoll erkennen, dass der Anhörende, der mit dem Entscheider nicht identisch ist, nicht viel Energie in Klärung der oftmals mehrdeutigen Antworten gelegt hat. Hierbei scheint aus dem Blick geraten zu sein, dass der Antragsteller die Grundschule nur bis zur 5. Klasse besucht hat und als Kleinhändler möglicherweise andere kommunikative Kernkompetenzen erworben hat, als einen strukturierten chronologischen Vortrag zu pflegen.Ferner muss nach dem Wortlaut der Vorschrift das Ergebnis – das heißt, dass die Begründung des Asylantrags offensichtlich nicht überzeugend ist – darauf zurückzuführen sein, dass die Angaben einer bestimmten Qualität auch noch im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen. Hiermit setzt sich der Bundesamtsbescheid nicht einmal ansatzweise auseinander.Diese Voraussetzung ist vorliegend zu verneinen. Denn die vorgetragene befürchtete Verfolgung als PKK-Unterstützer steht nicht im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen. Es kann insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden, eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung drohen.
21Die türkische Regierung sieht die Sicherheit des Staates auf vielfache Weise gefährdet, unter anderem durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete „Arbeiterpartei Kurdistan“ (PKK) und die aus türkischer Sicht mit der PKK verbundenen Organisationen, wie die YPG in Syrien. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ nimmt daher ein sehr hohes Ausmaß ein, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch in Bereichen zivilgesellschaftlichen Engagements ohne erkennbaren Terrorbezug. Nach dem Putschversuch 2016 hat die türkische Regierung sog. „Säuberungsmaßnahmen“ gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet oder denen eine Nähe zur PKK oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen wird. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden bislang nach Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums gegen ca. 600.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bereits vor dem Putschversuch war innenpolitisch ein zunehmend autoritärer Weg eingeschlagen worden, der die Türkei sukzessive von europäischen Rechtsstandards und Werten entfernt hatte. Zu beobachten sind bis heute eine weiter zunehmende Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, Missbrauch der Justiz für persönliche Machtinteressen, eine kaum kaschierte politische Einflussnahme auf Wissenschaft und Universitäten und eine deutliche Eskalation im Kurdenkonflikt nach dem Scheitern der Gespräche der Regierung mit der PKK im Jahre 2015.
22Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juli 2022, S. 4 ff.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 47 Türkei, Die Entwicklung des Kurdenkonflikts, der PKK und der HDP, Stand 12/2021, S. 23 ff.
23Daneben ist zu berücksichtigen, dass die Türkei seit Sommer 2015 Ziel terroristischer Anschläge war, welche seitens der türkischen Regierung unter anderem der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef I. zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um kurdische Autonomie erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen.
24Zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK siehe: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 47 Türkei, Die Entwicklung des Kurdenkonflikts, der PKK und der HDP, Stand 12/2021; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei, 29. Juni 2023, S. 40 ff. m.w.N.
25Die Türkei geht bedingungslos gegen die PKK sowie deren vermeintliche Unterstützer vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Personen, die für die PKK oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind oder waren oder denen diese Eigenschaft zugeschrieben wird, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen.
26Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei, 29. Juni 2023, S. 247.
27Ferner besteht für Personen, denen eine Verbindung zur PKK nachgesagt wird, ein erhebliches Risiko, in Polizeigewahrsam oder Haft durch Sicherheitskräfte misshandelt zu werden.
28Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juli 2022, S. 17 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand April 2021, S. 12, 18; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 24. August 2020, S. 21; Amnesty International, Auskunft an VG Karlsruhe vom 23. April 2020, S. 2 f.
29Nach alledem liegen die Voraussetzungen einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG voraussichtlich nicht vor.
30Ungeachtet der Frage, ob das Gericht die Begründung der Antragsgegnerin auswechseln könnte,
31in diesem Sinne der Beschluss der Kammer – 7 L 845/23.A – vom 20. April 2023 (n.v.); vgl. auch VG Minden, Beschluss vom 30. Oktober 2023 – 2 L 930/23.A –, juris, Rn. 18, m.w.N.,
32liegen die Voraussetzungen keines weiteren Tatbestandes des § 30 Abs. 1 AsylG vor. Anderweitige Umstände, die eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet zu tragen vermöchten, sind auch weder dargetan noch sonst ersichtlich.
33Auf die Frage, ob sich der Asylantrag im Hauptsacheverfahren möglicherweise als unbegründet erweisen wird, kommt es bei der Beurteilung der hier allein in Rede stehenden offensichtlichen Unbegründetheit nicht an.
34Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
35Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.