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Das belgische Aufnahmesystem für Asylantragsteller weist hinsichtlich der Personengruppe der alleinstehenden Männer derzeit systemische Schwachstellen auf.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 29 K 1796/24.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. März 2024 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
2Der am 13. März 2024 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 29 K 1796/24.A gegen die Abschiebungsanordnung unter Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. März 2024 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der zulässige Antrag ist begründet. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsakts überwiegt. Für die vorzunehmende Interessenabwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren maßgeblich. Das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung überwiegt regelmäßig, sofern der angegriffene Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Ist der Bescheid hingegen offensichtlich rechtmäßig, überwiegt grundsätzlich das Interesse der Allgemeinheit an seiner Vollziehung. Wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind, hat eine weitere Interessenabwägung im Sinne einer Folgenbetrachtung stattzufinden.
6Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die vorzunehmende Interessenabwägung im gegebenen Fall zu Gunsten des Antragstellers aus. Denn die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids vom 1. März 2024 begegnet bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
7Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 Var. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
8Die Zuständigkeit richtet sich vorliegend nach den Regelungen über das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 ff. Dublin III-VO. Im Wiederaufnahmeverfahren ist der zuständige Staat – anders als im Aufnahmeverfahren – nicht nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zu bestimmen, sondern es ist ausreichend, dass der betreffende andere Mitgliedstaat den Erfordernissen nach Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO genügt.
9Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris Rn. 58 ff.
10Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO finden Anwendung, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem zuvor ein Antrag gestellt wurde, das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats bereits in einer die Zuständigkeit dieses Staats begründenden Weise abgeschlossen ist, jedoch unabhängig davon, ob dieser Staat mit der Prüfung des Antrags nach der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) bereits begonnen hat.
11Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris Rn. 51 ff.
12Da in einem solchen Fall die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags bereits feststeht, erübrigt sich eine erneute Anwendung der Regeln über das Verfahren zur Bestimmung dieser Zuständigkeit, darunter in erster Linie der in Kapitel III der Dublin III-VO niedergelegten Kriterien.
13Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris Rn. 67.
14Hiernach war zunächst Belgien gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig. Nach dieser Norm ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen.
15So liegt der Fall hier. Belgien hat dem Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts vom 29. Januar 2024 (Beiakte Heft 1 Bl. 87 ff.) mit Schreiben vom 1. Februar 2024 unter Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO stattgegeben und damit zum Ausdruck gebracht, dass der Antragsteller dort als Drittstaatsangehöriger einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und während der Prüfung seines Antrags ausgereist ist (Beiakte Heft 1 Bl. 96). Zudem hat der Antragsteller selbst unter anderem im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt am 23. Januar 2024 angegeben, dass er in Belgien einen Asylantrag gestellt, aber vor seiner Ausreise keine schriftliche Entscheidung erhalten habe (Beiakte Heft 1 Bl. 78). Ferner hat der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in Deutschland, einen weiteren Asylantrag gestellt.
16Die damit nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III‑VO für Belgien grundsätzlich anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht aufgrund Fristablaufs entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO genannten Frist von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung vom 10. Januar 2024 (Beiakte Heft 1 Bl. 6) am 29. Januar 2024 ein Wiederaufnahmegesuch an Belgien gerichtet (Beiakte Heft 1 Bl. 87 ff.).
17Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Belgien liegt weniger als sechs Monate zurück und die Überstellungsfrist wurde durch die Stellung des vorliegenden, fristgerecht gestellten Eilantrages unterbrochen.
18Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 – 1 C 15.15 –, juris Rn. 11.
19Jedoch ist die Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung des Antragstellers nach Belgien nicht vorgenommen werden kann. Die Antragsgegnerin ist nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO daran gehindert, den Antragsteller nach Belgien zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen.
20Für die Anwendung von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ist es dabei gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss, das heißt im Falle der Gewährung internationalen Schutzes, dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
21Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 88.
22Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 90 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-404/15 und C-659/15 –, juris Rn. 89.
24Bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen können dabei systemischen Schwachstellen gleichgesetzt werden.
25Vgl. EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 – C-392/22 –, juris Rn. 60.
26Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.
27Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, juris Rn. 253 f.
28Denn im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, gilt die Vermutung, dass die Behandlung dieser Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GR-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.
29Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris Rn. 78 bis 80.
30Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
31Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 92 ff. unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, juris Rn. 252 bis 263.
32Dabei ist die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen, insbesondere ist zwischen gesunden und arbeitsfähigen Personen sowie besonders vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit (zum Beispiel Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.) zu unterscheiden. Bei Letzteren ist der Schutzbedarf naturgemäß höher.
33Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn. 41; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Juli 2019 – 4 LB 12/17 –, juris Rn. 66 f.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26. Februar 2020 – 1a K 887/18.A –, juris Rn. 54 f.
34Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nichtvulnerablen Personen wie dem Antragsteller – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B 66.21 –, juris Rn. 20.
36Unter Anwendung der genannten Maßstäbe bestehen im Fall des Antragstellers wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in Belgien für die Personengruppe der alleinstehenden Männer systemische Schwachstellen aufweisen (1.) und hieraus für den Antragsteller die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK folgt (2.).
371. Das belgische Aufnahmesystem weist hinsichtlich der Personengruppe der alleinstehenden Männer derzeit systemische Schwachstellen auf.
38Nach aktuellen Erkenntnissen wird der Personengruppe der alleinstehenden Männer derzeit systematisch der Zugang zum Aufnahmesystem verweigert. In der damit einhergehenden Gefahr der längeren Obdachlosigkeit und des fehlenden Zugriffs auf sanitäre Einrichtungen liegt für diese Personengruppe nach den dargelegten Maßstäben eine Schwachstelle des belgischen Aufnahmesystems. Denn es droht alleinstehenden Männern aufgrund der Gleichgültigkeit der belgischen Behörden unabhängig von ihrem Willen eine Situation extremer Not, in der es ihnen nicht möglich ist, ihre elementarsten Bedürfnisse nach Unterkunft und dem Zugang zu sanitären Einrichtungen zu befriedigen.
39Vgl. im Ergebnis ebenso: VG Ansbach, Beschluss vom 2. Januar 2024 – AN 14 S 23.50884 –, juris Rn. 24 ff.; VG Arnsberg, Beschluss vom 9. Februar 2024 – 6 L 1243/23.A –, n. v.; a. A. VG Augsburg, Beschluss vom 15. November 2023 – Au 8 S 23.50409 –, juris Rn. 22 ff.; VG München, Beschluss vom 19. Oktober 2023 – M 10 S 23.51033 –, juris Rn. 23.
40Belgien befindet sich seit Mitte Oktober 2021 in einer sogenannten „Aufnahmekrise“, die den Zugang zum Asylverfahren beeinträchtigt. Wegen mangelnder Unterbringungsplätze im Ankunftszentrum Petit Château/Klein Kasteeltje konnten bereits in der Vergangenheit immer wieder Asylsuchende keine Asylanträge stellen. In der Folge galten diese nicht als Asylbewerber und konnten bestimmte mit diesem Status verbundene Grundrechte, wie das Recht auf Unterbringung, nicht in Anspruch nehmen. Den Betroffenen wurde lediglich die Registrierung auf einer Warteliste angeboten.
41Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 7.
42Die Unterbringungskrise hat sich insbesondere durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine und die Aufnahme von rund 70.000 Menschen aus der Ukraine erheblich verschärft.
43Vgl. UNHCR, „Reception crisis in Belgium is concerning, but solutions are at hand“, Artikel vom 30. November 2023, abrufbar unter: https://www.unhcr.org/be/98821-unhcr-reception-crisis-in-belgiumisconcerning-but-solutions-are-at-hand-2.html, zuletzt abgerufen am 08.04.2024; Neue Züricher Zeitung, In Brüssel schlafen viele Migranten selbst in kalten Nächten auf der Strasse, 13.03.2023, https://www.nzz.ch/international/asylkrise-in-belgien-migranten-schlafen-trotz-kaelte-im-freien-ld.1729953, zuletzt geprüft: 08.04.2024.
44Ende August 2023 erklärte die belgische Regierung, dass sie asylsuchende alleinstehende Männer – im Jahr 2022 machte diese Personengruppe 71 % der Asylanträge in Belgien aus – nicht mehr unterbringen kann, da die Aufnahmekapazitäten vorrangig für Familien, Frauen und Kinder genutzt werden sollen. Mitte September 2023 hob das oberste belgische Verwaltungsgericht diese Entscheidung der Regierung zwar auf. Nichtsdestotrotz hält die belgische Regierung an dieser Politik fest und verweist auf die Warteliste für die Unterbringung, da es keine überschüssigen Plätze in den Unterkünften gebe.
45Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 7 m.w.N.; vgl. BRF (Belgisches Rundfunk- und Fernsehzentrum der Deutschsprachigen Gemeinschaft (BRF)), Unterbringungskrise: Ein Drittel der Asylbewerber bekam 2023 keine Unterkunft zugewiesen, 23.02.2024, https://brf.be/national/1806362/, zuletzt geprüft: 08.04.2024; Politico, Belgiums’s eternal asylum crisis, 19.09.2023, https://www.politico.eu/article/belgium-asylum-crisis-nicole-de-moor/, zuletzt geprüft: 08.04.2024.
46Dublin-Rückkehrer sind von dem Aufnahmestopp in gleicher Weise betroffen wie andere Asylbewerber. Nach der Registrierung des Asylantrags oder wenn ein Antragsteller mit noch laufendem Verfahren nach Belgien überstellt wird, kann Fedasil, die staatliche Aufnahmeagentur, aufgrund des großen Drucks auf sein Aufnahmesystem derzeit keine sofortige individuelle Unterbringung garantieren. Es wird unbegleiteten Minderjährigen, Familien mit Kinder und Frauen Vorrang eingeräumt. Falls kein Platz verfügbar ist, wird die Person aufgefordert, sich in eine Warteliste einzutragen und wird zu einem späteren Zeitpunkt in das Registrierungszentrum eingeladen.
47Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 19; AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 110.
48Da Obdachlosenunterkünfte in Brüssel vollständig ausgelastet sind, haben die Abgewiesenen keine andere Möglichkeit, als im Freien zu übernachten.
49Vgl. AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 100 f.
50Im Jahr 2022 waren 3.888 Personen auf der Warteliste von Fedasil eingetragen, von denen 2.826 eine Einladung für einen Aufnahmeplatz erhielten. 2.722 Personen haben auf diese Einladung reagiert und einen Aufnahmeplatz erhalten. Zum April 2023 standen 1.200 Personen auf der Warteliste und die durchschnittliche Wartezeit betrug 4 Monate. Im November 2023 waren etwa 2.500 Asylbewerber auf der Warteliste verzeichnet.
51Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 16.
52Die Eintragung auf der Warteliste garantiert nicht, in einem absehbaren Zeitraum einen Unterkunftsplatz zu erhalten. Registrieren sich im Aufnahmezentrum Personen, die von den belgischen Behörden einer vulnerableren Gruppe zugeordnet werden, haben diese Personen Vorrang vor allen auf der Warteliste stehenden Personen niedrigerer Vulnerabilität. Alleinstehende Männer stellen nach der belgischen Kategorisierung nach unbegleiteten Minderjährigen und alleinstehenden Frauen, Familien mit Kindern und Familien ohne Kinder die am wenigsten vulnerable Personengruppe dar.
53Vgl. AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 101, zu den Vulnerabilitätskategorien S. 100.
54Die belgischen Behörden konnten nach eigenen Angaben im Jahr 2023 von 30.000 Asylbewerbern, die eingereist sind, lediglich 9.000 eine Unterkunft zuweisen. Viele dieser Personen leben nun auf der Straße.
55Vgl. BRF (Belgisches Rundfunk- und Fernsehzentrum der Deutschsprachigen Gemeinschaft (BRF)), Unterbringungskrise: Ein Drittel der Asylbewerber bekam 2023 keine Unterkunft zugewiesen, 23.02.2024, https://brf.be/national/1806362/, zuletzt geprüft: 08.04.2024; Süddeutsche Zeitung, Warum Belgien systematisch gegen das Recht von Migranten verstößt, 04.09.2023, https://www.sueddeutsche.de/politik/belgien-migranten-rechtsbruch-obdachlosigkeit-1.6193777, zuletzt geprüft: 08.04.2024.
56Allein in Brüssel sollen rund 2.000 alleinstehende männliche Asylbewerber obdachlos und zumeist mittellos auf der Straße leben, im gesamten Land gab es im Herbst 2023 rund 3.000 obdachlose Asylbewerber.
57Vgl. AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 101; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 16.
58Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zeigt sich besorgt darüber, dass Asylbewerber gezwungen sind, auf der Straße zu schlafen und dadurch keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben und bezeichnet deren Lage – auch mit Blick auf den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung – als prekär.
59Vgl. UNHCR, Reception crisis in Belgium is concerning, but solutions are at hand, 30.11.2023, abrufbar unter: https://www.unhcr.org/be/98821-unhcr-reception-crisis-in-belgiumisconcerning-but-solutions-are-at-hand-2.html, zuletzt geprüft: 08.04.2024.
60Zivilgesellschaftliche Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ kritisieren die unzureichende medizinische Versorgung obdachloser Asylbewerber. „Ärzte ohne Grenzen“ zählte bereits im Herbst 2022 innerhalb eines Monats 40 Fälle von kutaner Diphtherie und 99 Fälle von Krätze im direkten Zusammenhang mit den schlechten Lebensbedingungen auf der Straße. Im Winter 2022 warnte die Organisation „Doctors of the World“ vor der Gefahr der Unterkühlung von mittellosen Asylbewerbern.
61Vgl. AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 101 f.
62Alleinstehende männliche Asylbewerber können nach den aktuellen Erkenntnissen zur Unterbringungssituation in Belgien auch nicht auf informelle Siedlungen oder Behelfsunterkünfte verweisen werden.
63Im Rahmen der Aufnahmekrise kam es bereits seit Herbst 2022 zu verschiedenen Hausbesetzungen in Brüssel. Im Frühjahr 2023 lebten rund 2.000 Menschen in besetzten Häusern.
64Vgl. AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 102.
65Besetzte Häuser oder inoffizielle Behelfsunterkünfte – regelmäßig in Form von Zelten auf der Straße oder unter Brücken – werden von den Behörden in der Regel schnell geräumt.
66Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 14 f.; Neue Züricher Zeitung, In Brüssel schlafen viele Migranten selbst in kalten Nächten auf der Strasse, 13.03.2023, https://www.nzz.ch/international/asylkrise-in-belgien-migranten-schlafen-trotz-kaelte-im-freien-ld.1729953, zuletzt geprüft: 08.04.2024; AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 101 f.
67Nach Angaben von medizinischen Organisationen verbreiten sich in den besetzten Häusern aufgrund der schlechten hygienischen Situation Krankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie und Krätze, im Februar 2023 kam es zu einem Todesfall in einem der besetzten Häuser, welches daraufhin geräumt wurde.
68Vgl. Neue Züricher Zeitung, In Brüssel schlafen viele Migranten selbst in kalten Nächten auf der Strasse, 13.03.2023, https://www.nzz.ch/international/asylkrise-in-belgien-migranten-schlafen-trotz-kaelte-im-freien-ld.1729953, zuletzt geprüft: 08.04.2024; vgl. auch AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 101 f.
69Die Betroffenen können auch nicht auf die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes verwiesen werden, um eine Unterkunft zu erhalten. Denn gerichtliche Entscheidungen werden durch die zuständigen Behörden systematisch nicht umgesetzt.
70Im Januar 2023 eröffnete die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien wegen nicht ordnungsgemäßer und nicht vollständiger Umsetzung der Richtlinie zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Richtlinie 2013/33/EU).
71Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 7.
72Im Laufe der Aufnahmekrise wurde die belgische Unterbringungsagentur Fedasil bis zum Frühjahr 2023 bereits mehr als 8.000-mal auf nationaler Ebene wegen Verletzung des Rechts auf Unterbringung verurteilt, mehr als 1.100 einstweilige Anordnungen erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
73Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 7; vgl. auch AIDA, Country Report Belgium, 2022 Update, 21.04.2023, S. 102.
74Im Juli 2023 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Camara gegen Belgien (Az.: 49255/22), dass Belgien das Recht auf ein faires Verfahren verletzte, indem die Behörde den Beschwerdeführer trotz einer dahingehenden Entscheidung eines nationalen Gerichtes nicht unterbrachte. Der EGMR stellte fest, dass es sich um ein systematisches Versäumnis der belgischen Behörden handelt, die rechtskräftigen Gerichtsurteile bezüglich der Unterbringung von Asylbewerbern umzusetzen.
75Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation Belgien, 19.12.2023, S. 7. vgl. EGMR, Urteil vom 18.7.2023 – Camara v. Belgien, Nr. 49255/22, Rn. 81, 118.
76Die vorstehenden Erkenntnisse lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die Mängel im Aufnahmesystem auch aufgrund der Gleichgültigkeit der belgischen Behörden bestehen. Trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben die belgischen Behörden im August 2023 offiziell erklärt, alleinstehende Männer nicht mehr unterzubringen und hiermit zu erkennen gegeben, auch dieser gerichtlichen Entscheidung nicht Folge leisten zu wollen. Auch nationale gerichtliche Entscheidungen werden systematisch nicht umgesetzt.
77Keine andere Bewertung ergibt sich aus den im Bescheid des Bundesamtes genannten Erkenntnismitteln. Denn die dem Bescheid zugrunde gelegten Erkenntnisse stammen aus den Jahren 2013 bis 2017 und sind damit für die Beschreibung der 2021 begonnenen Aufnahmekrise veraltet.
78Vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 2. Januar 2024 – AN 14 S 23.50884 –, juris Rn. 40; VG Arnsberg, Beschluss vom 9. Februar 2024 – 6 L 1243/23.A –, n. v.
792. Dem Antragsteller droht auf Grundlage der dargestellten Schwachstellen im Falle der Rückkehr nach Belgien die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK.
80Der Antragsteller ist als alleinstehender Mann Teil der Personengruppe, welche den unter 1. genannten Schwachstellen ausgesetzt ist. Es ist aufgrund der dargestellten Erkenntnisse hinreichend wahrscheinlich, dass er weder einen Zugang zum belgischen Aufnahmesystem erhalten wird noch in vertretbarer Zeit Zugriff auf eine Unterkunft haben wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er während der zu erwartenden Wartezeit von mehreren Monaten obdachlos sein wird. In dieser Zeit wird er sich in einer Situation extremer materieller Not befinden, in der er seine grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, insbesondere was Unterkunft und den Zugang zu sanitären Einrichtungen angeht, nicht wird decken können.
81Individuelle Umstände, die im Falle des Antragstellers eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich. Zwar hat der Antragsteller nach seinem Vortrag im Verwaltungsverfahren in der Zeit von März 2023 bis Januar 2024 in Brüssel in einer Unterkunft mit einer Gruppe anderer Asylbewerber gelebt (Beiakte Heft 1 Bl. 79). Diese Unterkunft ist ihm nach seinem gerichtlichen Vortrag auch durch die belgischen Behörden vermittelt und bezahlt worden (Bl. 40 der Gerichtsakte im Verfahren 29 K 1796/24.A).
82Hieraus ergibt sich indes kein greifbarer Anhaltspunkt, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nicht der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Denn die Aufnahmesituation in Belgien hat sich im Vergleich zu seiner Ersteinreise im März 2023 (Beiakte Heft 1 Bl. 6, 53, 78) erheblich verschlechtert: Zum einen liegt der durch die Regierung verkündete Aufnahmestopp für alleinstehende männliche Asylbewerber im August 2023 zeitlich nach der erstmaligen Unterbringung des Antragstellers, zum anderen ist auch anhand der Länge der Warteliste ersichtlich, dass eine Verschlechterung der Situation erfolgt ist. Denn während im April 2023 die Warteliste noch 1.200 Personen bei einer Wartezeit von vier bis fünf Monaten zählte, dürfte sich diese Zeit bei der – Stand November 2023 – 2.500 Personen umfassenden und damit mehr als doppelt so viele Personen umfassenden Warteliste nicht verkürzt haben.
83Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
84Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
85Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.