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Zur Auslegung des Begriffs der "erheblichen Wahrscheinlichkeit" in § 71 Abs 1 Satz 1 AsylG
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25. April 2024 - 28 L 714/24.A - wird abgeändert und die aufschiebende Wirkung der Klage - 28 K 2158/24.A - gegen die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig in Ziffer 1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 00. März 2024 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
2Der sinngemäße Antrag der Antragstellerin,
3den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25. März 2024 - 28 L 714/24.A - abzuändern und die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen - 28 K 2158/24.A - beim Verwaltungsgericht Düsseldorf anhängigen Klage gegen die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrages in Ziffer 1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 00. März 2024 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Abs. 5 jederzeit ändern oder aufheben. Nach Satz 2 der genannten Bestimmung kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
6Gegenstand des Abänderungsverfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO ist die Prüfung, ob eine zuvor im einstweiligen Rechtsschutzverfahren getroffene gerichtliche Entscheidung ganz oder teilweise geändert oder aufgehoben werden soll. Dabei geht es nicht um die ursprüngliche Richtigkeit der im vorangegangenen Verfahren getroffenen Entscheidung, sondern allein um die Fortdauer dieser Entscheidung. Das Abänderungsverfahren ist demzufolge kein Rechtsmittelverfahren, sondern ein gegenüber dem Ausgangsverfahren selbstständiges und neues Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem eine abweichende Entscheidung (nur) mit Wirkung für die Zukunft getroffen werden kann.
7Vgl. VGH BW, Beschluss vom 8. November 1995 - 13 S 494/95 -, juris, m.w.N.
8Dieses Verfahren trägt somit dem Umstand Rechnung, dass im manchen Fällen Veränderungen während des Hauptsacheverfahrens eintreten, auf die trotz formeller Rechtskraft und der damit verbundenen Bindungswirkung eines abgeschlossenen Eilverfahrens mit Wirkung für die Zukunft reagiert werden muss. Ein Anspruch eines Beteiligten auf eine erneute gerichtliche Sachentscheidung soll dabei nur unter den Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO bestehen; danach ist ein Abänderungsantrag eines Beteiligten nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO nur zulässig, wenn veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände vorgetragen werden, die geeignet sind, eine Änderung der Entscheidung herbeizuführen,
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Januar 1999 - 11 VR 13/98 -, juris Rn. 2; VGH BW, Beschluss vom 6. Dezember 2001 - 13 S 1824/01 -, juris Rn. 5.
10In Anwendung dieser Grundsätze hält der Einzelrichter eine Abänderung der gerichtlichen Eilentscheidung für geboten.
11Dass das von der Antragstellerin verfolgte Begehren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sich bei sinngemäßer Auslegung gegen die Ablehnung ihres (Asylfolge-) Antrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG richtet und der in diesem Sinne verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO im Lichte der Änderungen durch das am 27. Februar 2024 in Kraft getretene Rückführungsverbesserungsgesetz zur vorläufigen Abwehr der Abschiebung statthaft, zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes ausreichend und auch ansonsten zulässig ist, ergibt sich bereits aus dem vorangegangenen Beschluss vom 25. April 2024 - 28 L 714/24.A -, juris und steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte und Teilen der Literatur,
12Vgl. z.B. VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 17. Juni 2024 - A 10 K 2227/24 -, juris Rn. 5, m.w.N.; BeckOK AuslR/Dickten, 41. Ed. 1.4.2024, AsylG § 71 Rn. 35-37;
13Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erweist sich nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand auch als begründet, weil nunmehr Umstände vorgetragen sind, die zu ernstlichen Zweifeln im Sinne von § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes führen.
14Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält,
15vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99,
16wobei an Stelle der Prüfung, ob dem Antragsteller voraussichtlich Schutz in Form von Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zu gewähren ist, die Prüfung tritt, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, mithin ob die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylG vorliegen, vgl. § 71 Abs. 4 AsylG („entsprechend“). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG.
17Im vorliegenden Fall sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die Ablehnung des Asylfolgeantrags als unzulässig rechtswidrig ist, weil die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegen, so dass voraussichtlich von der Antragsgegnerin ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist.
18Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der seit 27. Februar 2024 maßgeblichen Fassung ist ein weiteres Asylverfahren nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags auf einen erneuten Asylantrag hin nur durchzuführen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen, oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind und der Ausländer ohne eigenes Verschulden außerstande war, die Gründe für den Folgeantrag im früheren Asylverfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
19Vgl. zum Verständnis und zur Auslegung der Neufassung des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG bereits VG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2024 - 28 L 714/24.A -, juris Rn. 45.
20Hiernach ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die zutage getretenen oder vorgebrachten neuen Elemente und Erkenntnisse mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen.
21Vgl. Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/9463, S. 64.
22Der Begriff der „erheblichen Wahrscheinlichkeit“, den der Gesetzgeber aus Art. 40 Abs. 3 Satz 1 der sog. Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2023, die er mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz umsetzten wollte (Begr. RegE zu § 71 AsylG, BR-Drs. 563/23, S. 64), entnommen hat, setzt schon vom Wortlaut her voraus, dass das Element oder die Erkenntnis die Möglichkeit einer positiven Bescheidung im Rahmen eines erneuten Asylverfahrens beträchtlich steigert, ohne dass schon eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss.
23Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 11. Juni 2024 - 10 A 4694/21 -, juris Rn. 21.
24Dies ist mit anderen Worten der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht nur geringfügig ist, sondern ins Gewicht fällt, d.h. beachtlich ist. Die Wahrscheinlichkeit muss sich sowohl auf das tatsächliche Vorliegen des Umstands – also die Wahrhaftigkeit des neuen Vortrags – beziehen als auch auf die Möglichkeit der Entscheidungserheblichkeit.
25Dieses Verständnis folgt sowohl aus Art. 40 Abs. 2 RL 2013/32/EU und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dieser Vorschrift,
26vgl. EUGH, Urteile vom 8. Februar 2024 - C-216/22 -, juris, vom 9. September 2021 - C-18/20 - Rn. 42; und vom. 10. Juni 2021 - C-921/19 - Rn. 50 f.,
27als auch aus dem EASO Practical Guide on Subsequent Applications (Stand: Dezember 2021), S. 30 ff.,
28https://euaa.europa.eu/sites/default/files/practical-guide-subsequent-applications.pdf,
29auf den die Gesetzesbegründung zur Änderung des § 71 AsylG Bezug nimmt (BT-Drs. 20/9463 S. 59), und in dem darauf abgestellt wird, ob es sich um eine für die Schutzgewährung neue glaubhafte Tatsache mit unmittelbarem Bezug zu den Voraussetzungen der Schutzansprüche handelt, die von entscheidender Bedeutung für die Risikobewertung im Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland sein könnte.
30Vgl. VG München, Beschluss vom 12. Juni 2024 - M 13 E 24.30922 -, juris Rn. 10 ff.
31Dabei ist zu fragen, ob das das neue Element nach einer ersten Prüfung glaubwürdig oder überzeugend ist, um die Beweiskraft des neuen Sachverhalts zu beurteilen.
32Vgl. EASO Practical Guide on Subsequent Applications (Stand: Dezember 2021), S. 31.
33Eine Pflicht des Bundesamtes bzw. der Gerichte, den Sachverhalt insofern umfassend aufzuklären und die erforderlichen Beweise zu erheben (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG) besteht allerdings erst in dem wiederaufgenommenen Asylverfahren.
34Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 11. Juni 2024 - 10 A 4694/21 -, juris Rn. 21.
35Die von der Antragstellerin nunmehr vorgelegten neuen Unterlagen, welche im vorangegangenen, bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahren nicht berücksichtigt wurden, tragen im oben dargestellten Sinn mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für die Antragstellerin günstigeren Entscheidung bei.
36Die – unverfolgt am 00. November 2021 ausgereiste – Antragstellerin, die im Asylerstverfahren ihre Ausreise allein damit erklärt hat, dass sie wegen der beabsichtigten Familienzusammenführung in das Bundesgebiet gekommen sei, und sich wegen der vermeintlich drohenden Rückkehrgefährdung ausschließlich auf familiäre Gründe, nämlich auf eine Bedrohung durch ihren Vater und ihre Brüder berufen hat, und die mit ihrem Asylfolgeantrag zunächst vorgetragen hat, gegen sie sei in der Türkei wegen Beleidigung des Staatspräsidenten Erdogan ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, weshalb sie in das Visier des türkischen Staates geraten sei, hat nunmehr unter Vorlage weiterer Dokumente in türkischer Sprache nebst jeweiliger Übersetzung in die deutsche Sprache, u.a. einer Anklageschrift, ergänzend geltend gemacht, es sei aufgrund eines Trennungsbeschlusses ein weiteres Ermittlungsverfahren – wegen öffentlicher Herabwürdigung der türkischen Nation und Staatsorgane – eröffnet worden, in dessen Zuge bereits Anklage gegen sie erhoben und die Verhandlung für den 00.12.2024 vor dem Antalya 11. Asliye Ceza Mahkemesi (11. Strafabteilung des Amtsgerichts Antalya) angesetzt worden sei. Diese neuen Erkenntnisse und die anstehende strafrechtliche Verfolgung aufgrund regimekritischer Äußerungen und öffentlicher Kritik an staatlichen Institutionen und dem Präsidenten würden die Voraussetzungen für eine ernsthafte politische Verfolgung erfüllen. Die Verfolgung aufgrund von regimekritischen Äußerungen und öffentlicher Kritik an staatlichen Institutionen stelle eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte dar, insbesondere des Rechts auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK. Diese Verfolgung sei politisch motiviert und somit flüchtlingsrelevant. Die neue Anklage verdeutlicht die reale Gefahr, der die Antragstellerin bei einer Rückkehr in die Türkei ausgesetzt wäre.
37Mit Blick auf die mit dem Abänderungsantrag vorgelegten weiteren Dokumente in türkischer Sprache nebst deutschen Übersetzungen (letztere allerdings zum Teil schlechter Qualität) liegen nunmehr Umstände vor, die ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des von der Antragstellerin gestellten Folgeantrags als unzulässig durch das Bundesamt begründen. Diese Elemente sind nämlich geeignet, mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung für sie beizutragen.
38Bei einer ersten, summarischen Prüfung finden sich keine Anhaltspunkte für eine Fälschung jener Dokumente und die Antragstellerin trägt hierzu vor, die neuen Beweismittel seien aus dem offiziellen türkischen e-devlet-System und dem UYAP-Portal bezogen worden und daher als authentisch anzusehen. Sie könne diese Dokumente direkt aus ihrem e-devlet-Konto vorzeigen, um deren Echtheit zu bestätigen.
39Soweit es die im Beschluss vom 25. April 2024 (28 L 714/24.A) aufgezeigten Unstimmigkeiten betrifft, handelt es sich – ebenso wie bei einer fehlerhaften Datumsangabe in der nun als Anlage A9 vorgelegten Anklageschrift – zum Teil um Übersetzungsfehler (fehlerhafte Bezeichnung des falschen Straftatbestands im Festnahmeantrag und -befehl in Anlage A4 / A6) bzw. muss diese Unstimmigkeit (unschlüssige Datenangabe im Antrag auf Strafverfolgungserlaubnis, vgl. Anlage A3) in Anbetracht der Vielzahl weiterer Dokumente schlüssigen Inhalts der abschließenden Beurteilung im Hauptsacheverfahren, ob die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vorliegen, und der weiteren Aufklärung in einem ggf. nachfolgend durchzuführenden Asylverfahren vorbehalten bleiben.
40Inhaltlich geht aus der nun vorgelegten Anklageschrift vom 00. Mai 2024 bzw. ihrer Übersetzung in die deutsche Sprache (Anlage A15) hervor, dass der Antragstellerin aufgrund ihrer Äußerungen im socialmedia Netzwerk „facebook“ nunmehr nicht mehr („nur“) eine Präsidentenbeleidigung, sondern zusätzlich die Verwirklichung des Straftatbestands des Art. 301 Abs. 1 und 2 TStGB vorgeworfen wird, welche Gegenstand eines abgetrennten zweiten Strafverfahrens ist. Sie habe am 00. Januar 2021 durch die Veröffentlichung eines Posts auf „facebook“ die Republik Türkei und die türkische Nation herabgewürdigt. Laut Anklageschrift soll die Antragstellerin sinngemäß u.a. ausgeführt haben, der Staat könne die eigenen Kinder nicht vor Perversen schützen, es gebe ein ehrenloses Polizeipräsidium der faschistischen Republik Türkei, in der das Polizeipräsidium und ein Staatsanwalt die von der F. gemachte Korruption schützen würde. Sie schäme sich, dass sie in dieses Land geboren und dessen Staatsbürger sei. Sie verabscheue dieses Land und hoffe, dass die faschistischen Mörder an ihrer Hässlichkeit ersticken würden. Die diebische, grausame F. zerstöre die Justiz und mache sie zu einem Ort, an dem die Richter ihre Jacken vor der Polizei zuknöpfen würden. Die Frauen würden weiterhin sterben und zu Kinderbräuten werden.
41Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält.
42Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3. Juni 2021, S. 4, 9 f.; SFH, Türkei: Teilen und „Liken“ von „kritischen“ Inhalten auf Facebook, Auskunft vom 29.10.2020, S. 5 ff..
43Die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung ist eher willkürlich und nicht prognostizierbar, wenngleich Bezüge zur E. eher strafverfolgungsrelevant werden als bloß zur C..
44Vgl. VG Augsburg, Urteil vom 23. Februar 2022 - Au 6 K 21.31131 -, juis Rn. 39, unter Berufung auf. SFH, Türkei: Teilen und „Liken“ von „kritischen“ Inhalten auf Facebook, Auskunft vom 29.10.2020, S. 5 ff..
45Im Jahr 2019 wurden nach Medienangaben insgesamt 36.066 Strafverfahren wegen Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB eingeleitet. Zusammen mit Verfahren nach Art. 300 tStGB (Verunglimpfung staatlicher Hoheitszeichen) und Art. 301 tStGB (Herabsetzung der türkischen Nation, der Republik Türkei, der staatlichen Institutionen und Organe) wurden im Jahr 2019 in 12.474 Fällen Entscheidungen gefällt (davon 4.291 Verurteilungen, 1.970 Freisprüche, 4.394 Aufschiebungen der Urteilsverkündung und 1.819 sonstige Beschlüsse, so BT-Drs. 19/23548 S. 8).
46Vgl. VG Augsburg, Urteil vom 29. Juni 2022 - Au 3 K 20.31411 -, juris Rn.
47Aktuelle Zahlen sind dem Gericht zwar nicht bekannt. Aus dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergibt sich jedoch, dass zur politischen Verfolgung unliebsamer Äußerungen die Tatbestände der „Herabsetzung der türkischen Nation, des Staats der Republik Türkei, der Institutionen des Staates und seiner Organe“ (Art. 301 tStGB) und der „Beleidigung des Präsidenten der Republik“ (Art. 299 tStGB) extensiv genutzt werden. Betroffen sind vor allem Journalistinnen/Journalisten, Menschenrechtsverteidigende sowie links-kurdische Kreise. Die Anklageschriften enthalten häufig äußerst fragwürdige Anschuldigungen.
48Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024 (Stand: Januar 2024), S. 9
49Die Einhaltung von rechtsstaatlichen Grundsätzen sowie von Verfahrens- und Beschuldigtenrechten bleibt in der Türkei im Bereich Terrorismus/Staatsschutz stark beeinträchtigt und nicht durchgehend gewährleistet. Zügige, faire und rechtsstaatliche Verfahren mit unabhängigen und unvoreingenommenen Gerichten, in denen Grund- und Menschenrechte hinreichend gewahrt werden, können in diesem Deliktsbereich nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Bei Fällen aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität ist daher stets anhand des Einzelfalls zu prüfen, ob gegebenenfalls nicht auch ein politischer Hintergrund vorliegt. Belastbare Erkenntnisse, inwieweit in konkreten Einzelfällen - über öffentliche Vorverurteilungen hinaus - im Vorfeld eine tatsächliche Beeinflussung justizieller Entscheidungen stattgefunden hat, lassen sich dabei kaum gewinnen.
50Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024 (Stand: Januar 2024), S. 10
51Zwar kann allein aus dem Akt der Strafverfolgung noch nicht darauf geschlossen werden, dass eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts vorliegt. Jedoch können gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG als Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Dieses in der Vorschrift genannte Regelbeispiel betrifft die Verfolgung Unschuldiger bzw. die überharte Strafverfolgung aufgrund eines sog. Politmalus. Der Begriff der Strafverfolgung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG umfasst neben dem eigentlichen Strafverfahren insbesondere auch polizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Festnahme des Beschuldigten. Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG meint die Verhängung der Strafe einschließlich der Umstände ihrer tatsächlichen Vollstreckung. Diskriminierend ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung, wenn sie sich gegen Angehörige spezifischer sozialer Gruppen wendet oder das eigentlich legitime staatliche Sanktionsinteresse mit sachfremden, gruppenfeindlichen Erwägungen vermengt. Unverhältnismäßig ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung im Fall des staatlichen Strafexzesses. Wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise meinungsbildend auf andere einwirkt, wird die politische Überzeugung in erheblicher Weise unterdrückt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn der Betroffene eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher - nichtpolitischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sog. Politmalus). Demgegenüber liegt keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Insbesondere gewährt der Flüchtlingsschutz keinen Schutz vor Strafverfolgungsmaßnahmen, die allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dienen. Solche Maßnahmen begründen nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Furcht vor Verfolgung, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen seiner politischen Überzeugung – oder auch eines sonstigen asyl- bzw. flüchtlingsschutzerheblichen Merkmals – treffen sollen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein.
52Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09 -, juris Rn. 24 m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 22 m. w. N.; Sächsisches OVG, Urteil vom 7. Februar 2024 - 5 A 234/19.A -, juris Rn. 45 ff.
53Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) müssen sich die deutschen Verwaltungsgerichte mit dem Einzelfall auseinandersetzen, um festzustellen, ob in der Anwendung der Strafgesetze gegenüber dem Betroffenen eine Verfolgung liegt. Sie haben zu erwägen und darzulegen, weshalb die Strafvorschrift als solche und nach der Strafverfolgungspraxis keinen Verfolgungscharakter aufweist, und sie müssen Feststellungen dazu treffen, dass die dem Betroffenen drohende Strafverfolgung oder Bestrafung keine an asylerhebliche Merkmale bzw. Verfolgungsgründe anknüpfende unverhältnismäßige oder diskriminierende Sanktion ist. Diese Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung gelten nicht nur für das Asylgrundrecht, sondern auch für Verfahren, die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtet sind.
54Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09 -, juris Rn. 26 und 33; BVerwG, Urteil vom 3. August 2006 - 1 B 20.06 -, juris Rn. 2 f.; Sächsisches OVG, Urteil vom 7. Februar 2024 - 5 A 234/19.A -, juris Rn. 48, juris.
55Ob ein solcher Politmalus bei der Verfolgung von Straftaten, in denen der Straftatbestand des Art. 301 TStGB Gegenstand des Anklagevorwurfs bildet, allgemein gegeben ist, ob der Antragstellerin insbesondere eine härtere Bestrafung droht als sonst üblich, zumal die in der Anklageschrift aufgeführte Äußerung der Antragstellerin gegenüber der Partei des Staatspräsidenten den Vorwurf beinhaltet, die F. sei diebisch, grausam und für Korruption verantwortlich, entzieht sich einer verlässlichen und abschließenden Prüfung in einem Eilverfahren, welches die Beurteilung der Zulässigkeit eines Asylfolgeantrags zum Gegenstand hat.
56Hat demnach der vorrangig verfolgte Hauptantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen Ziff. 1 des angefochtenen Bescheides Erfolg, so bedarf es keiner Entscheidung mehr über die mit dem Abänderungsantrag hilfsweise begehrte einstweilige Anordnung, der Antragsgegnerin aufzugeben, gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde zu erklären, dass die Abschiebung der Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht vollzogen werden darf.
57Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
58Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).