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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Die Klägerin ist eigenen Angaben zufolge am 0. Dezember 0000 in Guinea geboren, guineische Staatsangehörige und zugehörig zur Volksgruppe der Malinke. Sie gibt an, im Oktober 2021 auf dem Luftweg nach Marokko ausgereist und unter anderem über Spanien im Januar 2022 auf dem Landweg in die Bundesrepublik eingereist zu sein.
3Ihren am 1. Februar 2022 gestellten Asylantrag begründete die Klägerin in ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) am 15. Februar 2022 im Wesentlichen wie folgt: Sie sei schon einmal in Europa gewesen, da der Vater ihrer Tochter, der sich derzeit (wieder) in Spanien aufhalte, versucht habe, sie nach Europa zu bringen. Sie sei gezwungen worden, ihn zu heiraten. Er habe es 2013 geschafft, sie nach Europa zu bringen, sie aber schlecht behandelt. Er habe sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Sie sei schwanger geworden. Auch nachdem die Tochter zur Welt gekommen sei, habe er sie weiter schlecht behandelt und zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Sie habe ihn bei der Polizei angezeigt, es sei aber nichts unternommen worden. Einmal sei sie weggelaufen und habe einer Gruppe von Malinken ihre Geschichte erzählt. Sie hätten ihren Ehemann zur Rede gestellt, der eine eigene Geschichte erzählt habe. Sie hätten ihm geglaubt, sodass sie zu ihm zurückgemusst hätte. Sie habe Angst vor ihm gehabt und auch gefährliche Gegenstände versteckt. Eines Tages sei er mit Benzin nach Hause gekommen, habe es in der Wohnung verteilt und sich selbst überschüttet. Er habe alles anzünden wollen. Erneut habe die Gruppe von Malinken ihr nicht geglaubt. Sie seien im Jahr 2016 zurück nach Guinea geflogen. Dort angekommen, seien ihr und ihrer Tochter die Dokumente mit Ausnahme ihres Reisepasses abgenommen worden. Auch die Familie des Mannes in Conakry habe sie nicht leiden können; seine Schwester habe sie, die Klägerin, einmal geschlagen. Sie habe dann eines nachts mit ihrer Tochter den Ort verlassen und sei zu ihrer Mutter nach G. gegangen. Dort habe auch der Vater ihres Mannes gelebt. Dessen Familie habe ihre Tochter beschneiden lassen wollen. Sie seien gesucht worden. Ihr Mann bedrohe sie ständig und wolle das Kind beschneiden lassen. Er wolle sie auch nicht mit einem anderen Mann sehen und suche weiter nach ihr. Sie habe eine Cousine in Deutschland.
4Mit Bescheid vom 21. Februar 2022, in der ZUE U. am 25. Februar 2022 eingegangen und der Klägerin am 7. März 2022 ausgehändigt, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab. Zudem stellte es fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegt. Der Klägerin wurde zudem unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung nach Guinea angedroht. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung stellte das Bundesamt im Wesentlichen darauf ab, dass es bereits an einer hinreichenden Verfolgungshandlung fehle. Die Klägerin habe seit Mitte 2016 faktisch unbehelligt von ihrem ehemaligen Ehemann und dessen Familie in G. leben können. Die Ehe sei offiziell geschieden und er lebe in Spanien. Der letzte Kontakt zu ihm habe 2016 bestanden. Demnach habe sie über fünf Jahre später Guinea unverfolgt verlassen. Gegen eine gegenwärtige Bedrohungslage spreche ferner, dass sie ihre Tochter in Guinea zurückgelassen habe. Auch ein Abschiebungsverbot komme nicht in Betracht. Die Klägerin sei gesund und voll erwerbsfähig. Sie habe sich selbst das Frisieren beigebracht. Ihren Lebensunterhalt habe sie maßgeblich durch die Unterstützung ihres Partners sowie Vater des zu erwartenden Kindes bestritten. Sie verfüge weiterhin über ein umfangreiches familiäres Netzwerk in Guinea.
5Am 16. März 2022 hat die Klägerin Klage erhoben.
6Am 16. Juli 2022 hat die Klägerin Zwillinge zur Welt gebracht (L., F. sowie L., O. B.). Aufgrund des Eingangs des Schreibens der ZAB Essen vom 29. Juli 2022 hat ihr Asylantrag aufgrund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt gegolten (BAMF-Gz.: 9458330-261). Mit Schreiben vom 22. August 2022 und 23. September 2022 hat sich ihr Bevollmächtigter auf die Gründe der Klägerin berufen. Darüber hinaus seien die Kinder alleine und auch zusammen mit der alleinerziehenden Klägerin in Guinea nicht überlebensfähig. Die wirtschaftliche Situation sei zu schlecht; Einkommen könne die Klägerin nicht erzielen. Auf familiäre Unterstützung könne sie nicht zählen. Mit Bescheid vom 18. Oktober 2022 hat das Bundesamt den Asylantrag der Zwillinge abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, eigene Asylgründe seien nicht geltend gemacht worden. Auch aus dem Asylvorbringen der Klägerin ergebe sich keine begründete Furcht vor Verfolgung oder ein drohender ernsthafter Schaden. Auch ein Abschiebungsverbot komme nicht in Betracht. Die Klägerin könne nach der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt Notwendige erlangen. Sie könne ihre Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere zusammen mit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen und Wiedereingliederungsprogrammen. Die Klägerin verfüge über ein umfangreiches familiäres Netzwerk in Guinea. Die hiergegen zum Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erhobene Klage (Az. 10a K 4485/22.A) ist (wegen nicht fristgerechter Klageerhebung) mit Schriftsatz vom 25. August 2023 zurückgenommen und das Verfahren daraufhin eingestellt worden.
7Zur Begründung der Klage trägt die Klägerin vor, ihr ehemaliger Ehemann stelle ihr in erheblichem Umfang nach. Auch drohe die Beschneidung der gemeinsamen Tochter. Als alleinstehende Frau sei ihr Lebensunterhalt in Guinea nicht gesichert. Mit Schriftsatz vom 19. Januar 2024 trägt sie ferner unter Vorlage eines ärztlichen Attestes über ihre Genitalbeschneidung (FGM) vom Typ Ia nach WHO vor, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass bei einer Genitalbeschneidung vom Typ I eine erneute Verstümmelung vorgenommen werde, oft z.B. als Hochzeitsvorbereitung oder als angeordnete Disziplinierungs- und/oder Subordinationsmaßnahme seitens des Zwangsehemannes oder eines männlichen Verwandten. Der Klägerin drohe auch eine erneute Zwangsverheiratung. Sie wäre im Falle der Rückkehr gezwungen, zu ihrer Mutter und Großfamilie zurückzukehren und als Mutter von drei Kindern auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Es stünde hierbei zu befürchten, dass die Familie zur finanziellen Entlastung versuche, sie erneut zu verheiraten. Hiervor könne sie auch ihre Mutter nicht schützen. Unabhängig von der Frage, ob diese überhaupt in der Lage wäre, sich gegen die Entscheidung männlicher Verwandter durchzusetzen, habe sie bereits in der Vergangenheit die Zwangsverheiratung der Klägerin unterstützt. Im Falle der Verweigerung der Zwangsehe oder Flucht bestünde zudem die Gefahr sozialer Missachtung und Ausgrenzung, körperlicher Misshandlungen oder gar der Tötung.
8Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört worden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom 29. Januar 2024 Bezug genommen.
9Die Klägerin beantragt,
10die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Februar 2022 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
11hilfsweise, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen,
12weiter hilfsweise, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Guinea vorliegt.
13Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
14die Klage abzuweisen.
15Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der Gerichtsakte 14 K 2347/22.A sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der Ausländerbehörde des Kreises Recklinghausen Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Das Gericht konnte durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm das Verfahren durch Beschluss der Kammer vom 8. Dezember 2023 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG).
19Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden. Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung formlos geladen und gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann. Die Ladung konnte formlos erfolgen, weil die Beklagte mit Prozesserklärung vom 18. März 2022 auf eine förmliche Ladung verzichtet hat.
20Die Klage ist zulässig (A.), aber unbegründet (B.).
21A.
22Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden.
23Die Klägerin muss sich nicht entgegenhalten lassen, dass der Bescheid am 25. Januar 2022 in der ZUE U. einging und damit prinzipiell am dritten Tag nach Eingang als zugestellt gilt, auch wenn er der Klägerin tatsächlich nicht bzw. erst später (hier am 7. März 2022) ausgehändigt wird (vgl. § 10 Abs. 4 Satz 4 Hs. 2 AsylG), sodass die am 16. März 2022 erhobene Klage verfristet wäre.
24Die Vorschrift des § 10 Abs. 4 Satz 4 Hs. 2 AsylG findet keine Anwendung, weil die Klägerin nicht ordnungsgemäß auf diese Zustellungsvorschrift hingewiesen worden ist. Nach § 10 Abs. 7 AsylG ist der Ausländer bei der Antragstellung schriftlich und gegen Empfangsbestätigung auf diese Zustellungsvorschriften hinzuweisen.
25Jedenfalls diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Die in dem nach Aktenlage einzig in Betracht kommenden Formular „Wichtige Mitteilung – Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und – Allgemeine Verfahrenshinweise“ (Bl. 17 ff. der Beiakte Heft 1; hier konkret Seite 2 der Belehrung) mit Stand vom 26. Januar 2022 enthaltenen Hinweise sind im vorliegenden Fall irreführend. Dort wird zur Postausgabe in einer Aufnahmeeinrichtung insbesondere ausgeführt, dass nicht abgeholte Post dort für drei Tage für den Adressanten bereitliege. Danach werde sie an die Behörde zurückgesandt. Die Behörde werde dann so verfahren, als ob der Adressat den Brief erhalten hätte. Diese Hinweise sind geeignet, die vom Gesetz abweichende Vorstellung hervorzurufen, es komme nur dann zur genannten Zustellungsfiktion, wenn die für den Ausländer gedachte Sendung an den Absender zurückgesandt wird.
26Vgl. so auch u.a. VG Bremen, Urteil vom 7. August 2023 – 4 K 2075/22 –, juris Rn. 20; VG Köln, Beschluss vom 20. Januar 2023 – 15 L 48/23.A –, juris Rn. 11; VG Aachen, Urteil vom 12. Januar 2022 – 4 K 1605/20.A –, juris Rn. 24; VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 8. Februar 2017 – 2 L 762/16.A –, juris Rn. 7 f.; VG München, Urteil vom 19. Oktober 2006 – M 24 K 06.50665 –, juris Rn. 19 f.; dazu tendierend auch OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2023 – 19 A 1974/22.A –, juris Rn. 5.
27B.
28Die Klage ist indes unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 21. Februar 2022 erweist sich im angefochtenen Umfang in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.). Darüber hinaus kann sie weder die Zuerkennung subsidiären Schutzes (II.) noch die Feststellung verlangen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt (III.), sodass auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung nicht zu beanstanden sind (IV.). Schließlich ist auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate rechtmäßig (V.).
29I.
30Der Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
31Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 b Abs. 1 AsylG) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
32Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU), nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen. Die einer bereits erlittenen Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss.
33Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris Rn. 77.
34Es ist dabei stets Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, so schildert, dass der behauptete Asylanspruch davon lückenlos getragen wird. Das Gericht muss beurteilen, ob eine solche Aussage des Asylbewerbers glaubhaft ist. Dies gehört zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts sind u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Asylbewerbers zu berücksichtigen.
35Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris Rn. 35.
36Dies setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkret Betroffenen nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit ‑ wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt ‑ eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
37Vgl. VGH BW, Urteil vom 3. November 2016 – A 9 S 303/15 –, juris Rn. 32ff. m.w.N.; Nds. OVG, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, juris Rn. 30 m.w.N.
38Der Ausländer hat dabei glaubhaft und unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung eine Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u. a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigen werden.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris Rn. 20ff. m.w.N., sowie Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45/90 –, juris Rn. 2 (zu Art. 16a GG); OVG NRW, Urteile vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris Rn. 35, und vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A –, juris Rn. 33; SächsOVG, Urteil vom 18. September 2014 – A 1 A 348/13 –, juris Rn. 40.
40An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Ausländer im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt.
41Vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Februar 1988 – 9 C 273/86 –, juris Rn. 11, und vom 8. Februar 1989 – 9 C 29/87 –, juris, Rn. 8, sowie Beschlüsse vom 12. September 1986 – 9 B 180/86 –, juris Rn. 5, und vom 23. Mai 1996 – 9 B 273/96 –, juris Rn. 2; VG München, Urteil vom 22. November 2016 – M 4 K 16.33356 –, juris Rn. 18 m.w.N.
42Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person der Klägerin nicht vor. Es steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Herkunftslandes aufhält, denn ihr Vorbringen erweist sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung als unglaubhaft. Die Klägerin ist nicht in der Lage gewesen, von sich aus einen zusammenhängenden Sachverhalt zu schildern, der die behauptete Misshandlung und Verfolgung durch ihren Zwangsehemann sowie dessen Familie und/oder die Gefahr einer Zwangsverheiratung und/oder erneuten Zwangsbeschneidung im Falle der Rückkehr lückenlos und widerspruchsfrei belegt.
43Ihr Vorbringen ist schon – wie bereits in der Anhörung beim Bundesamt – insgesamt detailarm und auch auf wiederholte Nachfrage kaum nachvollziehbar geworden. Die Klägerin hat sich vielmehr auf eine knappe Schilderung und Aneinanderreihung einzelner Ereignisse beschränkt, ohne dass hierbei zu irgendeinem Zeitpunkt der Eindruck entstanden wäre, sie berichte tatsächlich von selbst Erlebtem. Vielmehr hat das Vorbringen auswendig gelernt gewirkt. Hinsichtlich derart einschneidender Erlebnisse wie fortdauernder und über Jahre andauernder Misshandlungen und Vergewaltigungen durch verschiedene Personen sowie die damit einhergehende Trennung von der Tochter und Ungewissheit, ob sie vor einer Genitalbeschneidung geschützt werden kann wäre zumindest auf Nachfrage zu erwarten gewesen, dass die Klägerin in der Lage ist, den wesentlichen Hergang anschaulich zu schildern. Hierbei hat das Gericht auch nicht den Eindruck erlangt, die Klägerin wäre aufgrund einer angeblichen Traumatisierung oder aufgrund ihres Bildungsniveaus oder der Sensibilität der Thematik nicht in der Lage gewesen, sich beim Bundesamt oder vor Gericht nur bedingt auszudrücken. Vielmehr ist sie in der mündlichen Verhandlung offenbar in der Lage gewesen, auf sämtliche Fragen Antworten zu geben und nähere Ausführungen zu machen. Ebenso hat sie bereits beim Bundesamt Angaben zur Beschneidung sowie zur angeblichen Vergewaltigung gemacht und außerdem auch erklärt, kein Problem mit einem männlichen Anhörer und Dolmetscher zu haben.
44Die Klägerin hat die Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben noch weiter verstärkt, indem sie im Vergleich zu ihren Angaben beim Bundesamt ohne nachvollziehbare Erklärung widersprüchliche sowie neue Ausführungen gemacht hat. So hat sie erstmals auf den Vorhalt des Gerichts, dass der Zeitraum von 2016 bis 2021 nicht erklärbar sei angegeben, sie sei in diesem gesamten Zeitraum wie eine Gefangene bei der Familie ihres Ehemannes in Conakry gewesen und dort von seinen jüngeren Brüdern misshandelt sowie von ihm und seinem Zwillingsbruder vergewaltigt worden. Beim Bundesamt hatte sie demgegenüber lediglich pauschal angegeben, die Familie habe sie ebenfalls nicht leiden können, was sie (nur) damit erläutert hatte, dass ihre Schwägerin sie einmal geschlagen hätte. Dass insoweit eine eklatante Diskrepanz besteht, drängt sich ebenso auf wie bezogen auf die gesamte Chronologie, da sie beim Bundesamt noch angegeben hatte, Mitte 2016 nach G. geflohen zu sein, nicht erst 2021. Überdies ist auch nicht nachvollziehbar, wieso es ihr erst nach fünf Jahren gelungen sein sollte, einen Moment für die Flucht zu finden, warum die Familie trotz des angeblich von Beginn an bekundeten Willens, die Tochter zu beschneiden dies nicht getan hat und wie sie nach der Rückkehr nach Conakry, d.h. 2016, Kontakt mit „C.“ aufgenommen, aber erst in G. – fünf Jahre später – seine Kontaktdaten erhalten haben will. Hinzu kommen weitere Widersprüche und Ungereimtheiten: So hatte sie beim Bundesamt angegeben, zuletzt 2016 mit ihrem Zwangsehemann Kontakt gehabt zu haben, ferner, dass er zwischenzeitlich zurück nach Spanien gegangen und 2021 wiedergekommen sei, wohingegen sie vor Gericht angegeben hat, er sei die ganze Zeit in Conakry gewesen, sodass sie durchgängig bis zu ihrer Flucht 2021 Kontakt hatten. Ebenfalls hatte sie beim Bundesamt angegeben, sich in G. bei ihrer Mutter versteckt zu haben, bis ihr Ehemann nach Spanien zurückgekehrt war. Vor Gericht hat sie behauptet, er habe von ihrer Flucht nach G. sowie der Kontaktaufnahme mit „C.“ erfahren und sei ihr nach G. gefolgt, habe ihre Mutter kontaktiert und diese wiederum habe sie, die Klägerin, darüber informiert. Angaben hierzu fehlen beim Bundesamt ebenso wie zur angeblichen Bedrohung seiner Mutter und deren Flucht in ein anderes Dorf bzw. „Loch“, obwohl dies, den Angaben der Klägerin zufolge, zeitgleich mit ihrer eigenen Ausreise passiert sein soll. Weiterhin nicht nachvollziehbar ist auch, dass die Klägerin es offenbar mithilfe von „C.“ bewerkstelligen konnte, nach Marokko per Flugzeug in kürzester Zeit auszureisen, sie aber nicht in der Lage gewesen sein will, ihre Tochter, welcher eine Genitalbeschneidung konkret gedroht haben soll, mitzunehmen. Warum an ihrer Stelle „C.“ mitgereist ist, erscheint in einer solchen Notsituation ebenso wenig plausibel wie der Umstand, dass er anschließend ihren Angaben beim Bundesamt zufolge in Marokko aus Angst vor dem Zwangsehemann nicht weiter nach Europa gereist sei, was schlechterdings keinen Sinn ergibt und auch im Widerspruch zu ihrer Erklärung in der mündlichen Verhandlung steht, es habe für seine Weiterreise das Geld gefehlt. Dass, wie die Klägerin behauptet, sie dies nie beim Bundesamt angegeben habe, bleibt pauschal und vermag auch vor dem Hintergrund nicht zu überzeugen, dass ihr das Protokoll rückübersetzt worden ist und sie die Richtigkeit und die Vollständigkeit ihrer Angaben durch ihre Unterschrift auf dem Kontrollbogen bestätigt hat.
45Der Klägerin ist auch nicht der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, weil sie dem vorgelegten Attest vom 17. Januar 2024 zufolge bereits in der Vergangenheit Opfer einer Genitalbeschneidung bzw. FGM (hier vom Typ Ia) geworden ist.
46Eine Genitalverstümmelung kann als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG auch in Anknüpfung an die Zugehörigkeit der betroffenen Frau oder des betroffenen Mädchens zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG erfolgen, wonach eine Gruppe insbesondere auch als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gilt, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Vorliegend fehlt es indes an einem ernsthaften Hinweis darauf, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Guinea tatsächlich Gefahr liefe, eine geschlechtsspezifische Verfolgung zu erleiden. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist hier als widerlegt anzusehen, da stichhaltige Gründe der Annahme einer Wiederholungsträchtigkeit der von der Klägerin bereits erlittenen Genitalverstümmelung widerstreiten.
47Vgl. auch VG Stuttgart, Urteil vom 11. Februar 2020 – A 2 K 10116/18 –, juris Rn. 18 sowie zu Eritrea BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29/17 –, juris Rn. 38.
48Vorliegend spricht gegen eine erneute Genitalbeschneidung abgesehen vom unglaubhaften Vorbringen der Klägerin nicht nur, dass die Klägerin bereits 30 Jahre alt ist, sondern auch, dass sie im Falle der Rückkehr Zuflucht bei ihrer Mutter und engen Familie finden könnte.
49Vgl. auch u.a. die Unglaubhaftigkeit des Vorbringens, das Alter und die familiäre Situation bei der Frage einer Zweitbeschneidung hervorhebend bspw. EGMR, Entscheidung vom 19. Januar 2016 – Nr. 27081/13 (Sow/Belgien) –, Rn. 68, im französischen Original abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%2227081/13%22]}, englischsprachige Zusammenfassung abrufbar unter https://www.asylumlawdatabase.eu/en/content/sow-v-belgium-no-2708113-articles-3-13-echr-19-january-2016.
50Ihre Mutter aber lehnt ihren eigenen Angaben zufolge die Genitalbeschneidung ab und sie will auch deshalb ihre Tochter bei ihr zurückgelassen haben. Ihr Vater, der gemeinsam mit ihrem angeblichen Zwangsehemann die Genitalbeschneidung befürwortet haben soll, soll demgegenüber bereits verstorben sein. Auch hat die Klägerin beim Bundesamt zu keinem Zeitpunkt eine drohende erneute Genitalbeschneidung erwähnt, sondern diese erstmals kurz vor der mündlichen Verhandlung geltend gemacht und beiläufig im Rahmen der mündlichen Verhandlung behauptet, wobei ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge diese Thema der zweiten Beschneidung vom (bisherige) Zwangsehemann ausgegangen sein soll, wohingegen ihr ausweislich ihrer schriftlichen Klagebegründung eine erneute Zwangsverheiratung und (dadurch) Genitalbeschneidung drohen soll. Das Fehlen jeglicher Angaben zu diesem Thema gegenüber dem Bundesamt ist besonders auffällig, weil sie dort mehrfach gefragt worden ist, ob sie ihrem Vortrag etwas hinzuzufügen hat bzw. ob sie alles gesagt hat sowie, weil ihr mehrere Fragen zur Genitalbeschneidung in ihrer Familie und bezogen auf ihre Tochter gestellt worden sind. Es hätte sich bereits in diesem Zusammenhang aufdrängen müssen, die angeblich bereits angekündigte erneute Beschneidung durch den Zwangsehemann zu erwähnen.
51Eine Zweitbeschneidung bzw. erneute Beschneidung erscheint auch angesichts der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel höchst unwahrscheinlich. Aus dem Bericht des belgischen Generalkommissariats für Flüchtlinge und Staatenlose vom 6. Mai 2014 ergibt sich insoweit Folgendes (aus dem Französischen übersetzt; im Original: „double excision ou réexcision“):
52„Doppelte Beschneidung oder erneute Beschneidung
53Bezüglich eines Risikos einer erneuten oder doppelten Beschneidung stellte das Cedoca nach der Suche nach Literatur zu diesem Thema fest, dass es keine Berichte über diese Praxis gibt. Das Cedoca bezieht sich dann hauptsächlich auf Interviews mit guineischen Gesprächspartnern, denen die Frage gestellt wurde, ob es diese Praxis gibt und wenn ja, unter welchen Umständen.
54Im Juni 2009 behauptet Dr. Kouyaté in einer E-Mail, dass eine erneute Beschneidung nur während der Heilungs- oder Genesungsphase nach der Beschneidung vorgenommen wird, und zwar in zwei konkreten Fällen:
55‚1/ Als wir 1984 mit der Bekämpfung von FGM begannen, waren wir stark auf die medizinischen Folgen ausgerichtet. Um uns entgegenzuwirken, sagten die widerständigen Bevölkerungsgruppen, dass sie, um diese Folgen zu vermeiden, ihre Mädchen in Gesundheitszentren einschließlich Krankenhäusern beschneiden lassen würden. Wir kontaktierten das medizinische Personal und sagten ihnen, dass sie, wenn sie Mädchen zur Beschneidung bekommen, so tun sollten, als würden sie sie beschneiden, aber nichts abschneiden. So konnten die 'beschnittenen' Mädchen am selben Tag ihrer 'Beschneidung' mit dem Laufen beginnen und es kam vor, dass eine alte Frau protestierte und die Klitoris überprüfte. Sobald sie dies festgestellt hatte, verlangte sie, das Mädchen erneut zu beschneiden, und das oft bei einer traditionellen Beschneiderin.
562/ Eine angehende Beschneiderin schneidet vielleicht nicht tief in die Klitoris ein. Ihre ‚Lehrerin‘ kann ihre Arbeit überprüfen und oft feststellen, dass einige Mädchen nur oberflächlich beschnitten werden. Dann bittet sie darum, die Operation 'sauber' zu machen. Und das Mädchen wird entweder von der ‚Lehrerin‘ selbst oder von der angehenden Beschneiderin unter der Aufsicht der ‚Lehrerin‘ erneut beschnitten.‘
57Abgesehen von diesen beiden Fällen gibt es in Guinea keine weiteren Formen der erneuten Beschneidung.
58Der erste Fall wird in einem Bericht vom Dezember 1999 über ‚L'excision et la socialisation des adolescentes en Guiné‘ erwähnt, der die Ergebnisse einer von Macro International durchgeführten Feldstudie wiedergibt. Laut diesem Dokument kann es zu einer erneuten Beschneidung kommen, wenn ein Mädchen zunächst im Krankenhaus beschnitten wird; wenn die Familie nach einer Überprüfung nicht zufrieden ist, kann das Mädchen anschließend im Busch von traditionellen Beschneiderinnen beschnitten werden.
59Auf die Frage, was er mit ‚oberflächlich beschnitten‘ meint, erklärte Dr. Kouyaté in einer E-Mail vom 8. Mai 2012, dass ‚die Klitoris nach der Operation noch sichtbar ist‘.
60Während der gemeinsamen Mission 2011 erklärten Schülerinnen und Lehrärzte einer Hebammenschule in Conakry sowie der leitende Arzt der Gynäkologie und Geburtshilfe der Entbindungsstation des Donka-Krankenhauses, dass die erneute Beschneidung nur dann durchgeführt wird, wenn die Familie im Dorf die medizinisch unterstützte Beschneidung als nicht ausreichend erachtet und dann eine traditionelle Beschneidung verlangt.
61Einem Gynäkologen und Geburtshelfer, der eine Poliklinik in Conakry leitet, zufolge, der am 3. Mai 2012 telefonisch befragt wurde, wird die zweite Beschneidung in Guinea nicht praktiziert. Seiner Meinung nach ist es unmöglich, eine bereits beschnittene Frau des Typs II erneut zu beschneiden, da nichts mehr vom weiblichen Genital entfernt werden kann.
62Dr. Kouyaté stellt in einer E-Mail vom 8. Mai 2012 klar, dass eine Frau, die nach Typ I oder II beschnitten wurde, nicht nachbeschnitten wird. Der Arzt, der für die Gynäkologie und Geburtshilfe in der Entbindungsstation des Donka-Krankenhauses zuständig ist, hat noch nie von einem Fall gehört, in dem eine Frau, die nach Typ I oder II beschnitten wurde, erneut beschnitten wurde. Dies behauptet er in einer E-Mail vom 8. Mai 2012.
63Madeleine Tolno, Koordinatorin von AFAF, sagte in einer E-Mail vom 25. Januar 2014, dass die erneute Beschneidung in Guinea vor Beginn der Anti-Beschneidungsprogramme praktiziert wurde, aber heute dank der Aufklärungsarbeit vor Ort nicht mehr praktiziert wird. Als sie am 27. Januar 2014 telefonisch um weitere Informationen gebeten wurde, erklärte sie, dass früher, d. h. vor den Sensibilisierungskampagnen, eine Frau, die eine Typ-I- oder Typ-II-Beschneidung hatte und bei der Geburt noch kleine Schamlippen hatte, zur Wiederholung der Beschneidung gezwungen werden konnte. Madeleine Tolno fügt hinzu, dass sie als Hebamme diese Praxis nie beobachtet habe.
64Die Frage nach der erneuten Beschneidung wurde auch Michèle Sona Koundouno gestellt, Forscherin in der Abteilung für Soziologie an der Universität Sonfonia in Conakry und Vorsitzende des Zentrums für Frauen, Bürgerrechte und Frieden (FECPA). In einer E-Mail an Cedoca vom 5. Februar 2014 erklärt sie, dass die erneute Beschneidung in Guinea nicht üblich ist, und präzisiert:
65‚Die einzigen Momente, in denen die erneute Beschneidung praktiziert wird, sind, wenn das beschnittene Mädchen schlecht genäht ist, es am Tag ihrer Hochzeitsnacht für sie schwierig ist, zum Geschlechtsakt überzugehen, nur in diesem Moment ist die Familie oder der Bräutigam verpflichtet [sic], sie einer Operation zu unterziehen, um die Öffnung freizulegen. Dies ist sehr schmerzhaft, da vom Neuvermählten verlangt wird, den Akt sofort zu vollziehen, da er sonst riskiert, dass sich die Öffnung seiner Braut wieder schließt.‘
66In einem Telefoninterview am 14. Februar 2014 fragte Cedoca Michèle Sona Koundouno, was sie genau unter einer Wiederholung der Beschneidung versteht. Sie erklärt, dass dies ein Fall höherer Gewalt ist, der auftritt, wenn die Vaginalöffnung zu klein ist, um den Geschlechtsakt zu vollziehen, dann muss ihrer Meinung nach eine Operation durchgeführt werden, und direkt danach muss der Mann in die Frau eindringen, damit sie sich nicht wieder verschließt. Cedoca fragt sie dann, wie es ist, wenn die Frau bereits vollständig oder teilweise nach der WHO-Klassifikation Typ I oder II beschnitten ist, und ob ihr eine zweite Beschneidung als Strafe und/oder im Rahmen einer Zwangsheirat droht. Michèle Sona Koundouno antwortet kategorisch, dass es keine zweite Beschneidung gibt und dass niemand kommen wird, um das zu überprüfen. Die Beschneidung ermöglicht soziale Anerkennung und wenn sie einmal stattgefunden hat, gibt es keine weitere.
67Der Direktor des Regionalkrankenhauses von Kindia und lokale Vertreter von CPTAFE behauptet seinerseits in einer E-Mail vom 17. Februar 2014, dass, wenn es nach einer Beschneidung vom Typ I oder II zu einer erneuten Beschneidung kommt, dies darauf zurückzuführen ist, dass die Eltern der Ansicht sind, dass das Mädchen nach der ersten Beschneidung nicht ‚sauber‘ ist und dass, um es ‚sauber‘ zu machen, alles abgeschnitten werden muss. Während des Telefoninterviews mit diesem Gesprächspartner am 21. Februar 2014 fragte Cedoca ihn, ob dies in Guinea eine häufige Praxis sei. Er antwortete, dass dies nicht der Fall sei und dass es in der Stadt sogar selten vorkomme. Die Leiterin der Entbindungs- und Gynäkologieabteilung dieses Krankenhauses, die ebenfalls Ärztin ist und mit der Cedoca während desselben Telefongesprächs sprach, sagt ebenfalls, dass dies in Guinea nicht häufig vorkommt. Wenn ein Stumpf nach der Überprüfung oder manchmal auch bei der Entbindung übrigbleibt, kann er entfernt werden. Das hängt ihrer Meinung nach von den Gemeinden, Traditionen und Bräuchen ab. Es wird vor allem in der Basse-Côte (untere Küstenregion) und in Haute Guinée (Oberguinea) gemacht. Jede Familie hat ihre eigene Tradition und ist darüber hinaus von den Regeln ihrer Gemeinschaft abhängig.
68In einem Artikel, der am 10. Februar 2014 auf Afrik erschien, berichtet eine Frau aus Guinea, die im Alter von sechs Jahren zweimal verstümmelt wurde, Folgendes:
69‚Ich wurde von mehreren Tanten bewegungsunfähig gemacht, mit dem Kopf auf dem Boden, unter dem Lendenschurz versteckt, ich wurde verstümmelt. Es gibt keine Worte, um den Schmerz zu beschreiben, den man dabei empfindet. Es ist, als würde man einen Finger bei lebendigem Leib abbeißen. Nach diesem barbarischen Akt dient ein Lendenschurz als Verband. Nur dass eine meiner Tanten bei der Überprüfung feststellte, dass die Arbeit nicht gut ausgeführt worden war. Sie wies die Beschneiderin darauf hin, woraufhin sie mich ein zweites Mal verstümmelte. Als die Beschneiderin zum zweiten Mal kam, bat ich sie [sic] und fragte, ob es noch nicht fertig sei. Als Antwort lachten sie. Die Beschneiderin überprüfte erneut, ob die Verstümmelung perfekt war‘.
70Auf die Frage, ob die erneute Beschneidung als Strafe angesehen werden kann, bat das Cedoca eine NGO, die im Bereich der Bekämpfung der weiblichen Genitalverstümmelung tätig ist und anonym bleiben möchte, um ihre Meinung. In einer E-Mail vom 9. Mai 2012 erklärte sie, dass die erneute Beschneidung weder eine Strafe noch eine Sanktion sei, sondern ein Wunsch der Konservativen, sich an die Tradition zu halten. Als sie am 24. Mai 2012 in einem Telefoninterview aufgefordert wurde, den letzten Punkt zu erläutern, erklärte sie, dass die Beschneidung gut durchgeführt worden sein müsse. Ihrer Meinung nach entsprechen die beiden einzigen Fälle, in denen eine erneute Beschneidung stattfand, den von Dr. Kouyaté erwähnten Fällen.
71Laut einer Aussage, die in der oben erwähnten Umfrage von 1999 wiedergegeben wurde, würde eine Frau angesichts der körperlichen Schmerzen, die eine Beschneidung mit sich bringt, nur schwer einer erneuten Beschneidung zustimmen:
72‚Die Beschneidung hat keine physische Bedeutung für die Frau, sie ist vielmehr großen Schmerzen ausgesetzt. Wenn man die Beschneidung wieder aufnehmen müsste, würde keine Frau das zweite Mal akzeptieren [sic], so sehr tut es weh; die Bedeutung der Beschneidung für die Frau ist eher sozial, d.h., um nicht als nicht beschnitten bezeichnet zu werden‘.
73Das Cedoca befragte die verschiedenen Quellen auch zu der Frage, ob die erneute Beschneidung vom Ehemann verlangt werden kann. Aus den erhaltenen Antworten geht hervor, dass der Ehemann nicht darum bittet, dass seine Frau erneut beschnitten wird, außer in bestimmten radikal-islamistischen Kreisen.
74So behauptet Dr. Kouyaté in einer E-Mail vom 16. Juni 2009, dass der Ehemann aus verschiedenen Gründen, insbesondere aus Unkenntnis der Anatomie seiner Frau, nicht um die erneute Beschneidung seiner Frau bittet. Dies geht auch aus den Informationen hervor, die während der gemeinsamen Mission im November 2011 von Ärzten, die an einer Hebammenschule in Conakry unterrichten, gesammelt wurden. Diese und der auf Familiensoziologie spezialisierte Professor Alpha Amadou Bano Barry teilten den Mitgliedern der Mission ihre Verwunderung mit und erklärten, dass die meisten Männer nicht verlangen, dass ihre Frauen beschnitten werden, geschweige denn, dass sie erneut beschnitten werden.
75Der Leiter einer Poliklinik in Conakry, dem die Frage ebenfalls gestellt wurde, behauptet in einem Telefoninterview am 4. Mai 2012, dass die Unkenntnis des weiblichen Körpers der Grund dafür sei, dass der Ehemann nicht die Beschneidung seiner Frau verlange.
76Die im Bereich der Bekämpfung der weiblichen Genitalbeschneidung tätige und oben erwähnte NGO gibt in einer E-Mail vom 9. Mai 2012 an, dass ihr kein Fall bekannt sei, in dem der Ehemann eine erneute Beschneidung verlangt habe. Auch der Arzt, der für die Gynäkologie und Geburtshilfe in der Entbindungsstation des Donka-Krankenhauses zuständig ist, hat noch nie von dieser Praxis der vom Ehemann verlangten erneuten Beschneidung gehört, dies erklärt er in einer E-Mail vom 9. Mai 2012.
77In Bezug auf radikal-islamistische Kreise und insbesondere auf minderjährige Mädchen antwortete Dr. Kouyaté im November 2010 zunächst, dass es vorkomme, dass der Ehemann (oder ein Onkel oder Schwiegervater) eine zweite Beschneidung verlange. Als er später kontaktiert wurde, um weitere Informationen zu erhalten, behauptete er in einer E-Mail vom 8. Mai 2012, dass religiöse Extremisten die Frau als Objekt betrachten und daher versucht sind, zu überprüfen, ob sie den Normen entspricht. Wenn sie einen ‚vorstehenden Klitorisstumpf‘ feststellen, wie der Arzt es ausdrückt, verlangen sie eine erneute Beschneidung.“
78Commissariat Général aux Réfugiés et aux Apatrides (CGRA), COI Focus: Guinée – Les mutilations génitales féminines, vom 6. Mai 2014, S. 10-14.
79Im Bericht des belgischen Generalkommissariats für Flüchtlinge und Staatenlose vom 25. Juni 2020 wird ergänzend ausgeführt:
80„Im OFPRA-Bericht von 2018 heißt es dazu, dass:
81‚Laut den befragten Ärzten und Vereinsaktivistinnen ist die erneute Beschneidung keine allgemein übliche Praxis, vor allem nicht, wenn die Frau ein bestimmtes Alter überschritten hat. Dennoch kann es vorkommen, dass eine junge Frau bereits am Tag nach ihrer Beschneidung erneut beschnitten wird, wenn die Beschneiderin der Meinung ist, dass der Eingriff nicht korrekt durchgeführt wurde.‘
82Während der Mission in Conakry im November 2019 befragte Cedoca Binta Nabe, die Präsidentin von CONAG/DCF, zur Praxis der erneuten Beschneidung. Sie war kategorisch der Meinung, dass es in Guinea keine erneute Beschneidung gebe.
83Im Bericht der Niederlande vom Mai 2020 heißt es, dass bereits beschnittene Frauen nicht Gefahr laufen, ein zweites Mal beschnitten zu werden, außer in Fällen, in denen ein Familienmitglied feststellt, dass die erste Beschneidung nicht vollständig war. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Fälle, in denen Mädchen in Conakry beschnitten werden. Dann kann eine zweite Beschneidung stattfinden, aber nicht über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren zwischen den beiden Beschneidungen hinaus und nicht bei Mädchen, die älter als sechzehn Jahre sind. Eltern, die sich für eine leichte Form der Beschneidung entschieden haben, sind aus diesem Grund weniger geneigt, ihre Töchter zu Verwandten auf dem Land zu schicken. Es ist jedoch nicht üblich, dass Großmütter oder andere Familienmitglieder überprüfen, ob ein Mädchen richtig beschnitten wurde.“
84CGRA, COI Focus: Guinée – Les mutilations génitales féminines (MGF), vom 25. Juni 2020, S. 16 f.
85Ausweislich einer älteren Auskunft der kanadischen Asylbehörde von 2002 zur Frage der Möglichkeit einer weiteren Beschneidung anlässlich der Ehe wird von einem Vertreter der gegen Genitalbeschneidung kämpfenden NGO Cellule de coordination sur les pratiques traditionnelles affectant la santé des femmes et des enfants (CPTAFE) ausgeführt, es sei möglich („believes it is possible“), dass, obwohl viele städtische Familien sich heute für den (bloß) symbolischen Schnitt entscheiden, eine Frau gezwungen sein könnte, sich einer vollständigen Beschneidung zu unterziehen, wenn sich die familiären Verhältnisse ändern (z.B. ein anderer Vormund seit der Kindheit) oder wenn die Familie des zukünftigen Ehemanns dies verlangt.
86Vgl. Refugee Documentation Centre (Irland), Auskunft vom 23. Mai 2011, S. 2.
87Den Erkenntnissen lässt sich zusammengefasst entnehmen, dass die erneute Beschneidung höchst selten vorkommt, regelmäßig zeitnah nach der ersten Beschneidung sowie auf Veranlassung der Familie erfolgt und meist nicht auf Veranlassung eines (Zwangs-)Ehemannes bzw. dessen Familie, wenngleich auch dies – zumindest anhand älterer Quellen – vereinzelt vorgekommen und denkbar sein soll. Dass eine erneute Beschneidung die Ausnahme darstellt, entspricht auch dem der Beschneidung zugeschriebenen Zweck als „Initiationsritus“ sowie der hiermit vermeintlich gewährleisteten „Reinheit“ der Frau sowie der Reduzierung ihres Sexualtriebes vor der Ehe. Eine erneute Beschneidung – zumal im höheren Alter – trägt hierzu regelmäßig nichts weiter bei.
88Auch der zitierte Gastbeitrag auf „proasyl.de“ vom 11. Februar 2021 (der im Übrigen nicht von Amnesty International stammt),
89vgl. Ronte u.a., Weibliche Genitalverstümmelung ist ein Asylgrund!, vom 11. Februar 2021, abrufbar unter https://www.proasyl.de/news/weibliche-genitalverstuemmelung-ist-ein-asylgrund/,
90führt zu keiner anderen Einschätzung, da er sich, ebenso wie die dort in Bezug genommene Stellungnahme des UNHCR aus Mai 2009,
91vgl. UNHCR, Guidance Note on Refugee Claims Relating to Female Genital Mutilation, Mai 2009, S. 5, abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/4a0c28492.html; siehe auch z.B. UNHCR, Too much Pain – Female Genital Mutilation & Asylum in the European Union, Februar 2013, S. 33, abrufbar unter https://www.unhcr.org/sites/default/files/legacy-pdf/531880249.pdf,
92lediglich allgemein mit dem Thema (Zweit-)Beschneidung und damit weder speziell hinsichtlich Guinea noch hinsichtlich der Frage der (beachtlichen) Wahrscheinlichkeit noch hinsichtlich der konkreten Faktoren, welche Einfluss auf diese Gefahr im jeweiligen Einzelfall haben, befasst. Abgesehen davon werden dort, wie auch in sonstigen vergleichbaren Stellungnahmen,
93vgl. z.B. Zerm, Weibliche Genitalverstümmelung. Was müssen Kinder- und Jugendärzte über die genitale Beschneidung von Mädchen wissen?, pädiat. prax 82 (2014), S. 59 (62) und unverändert ders., pädiat. prax. 89 (2018), S. 618 (622), abrufbar unter https://www.caritasnet.de/export/sites/dicv/fgm/.content/.galleries/downloads/Dokumentation_female_genital_mutilation-2.pdf, sowie hierauf bezugnehmend VG Münster, Urteil vom 24. Januar 2020 – 4 K 534/18.A –, juris Rn. 36 f.,
94auch keinerlei Quellen oder Anknüpfungspunkte benannt, aufgrund derer tatsächlich valide Rückschlüsse hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Beschneidung möglich wären. Des Weiteren bezieht sich der Passus im zitierten Beitrag auf „proasyl.de“ hinsichtlich der „Hochzeitsvorbereitung“ a.a.O. schon ausdrücklich überwiegend („meist“) auf „halbwüchsige Mädchen“, womit ein gewisser Einklang mit o.g. Erkenntnissen festzustellen ist, wonach – am ehesten – noch jungen Mädchen (zeitnah) eine erneute Beschneidung droht, nicht aber einer Frau, die wie die Klägerin 30 Jahre alt ist und in ein Umfeld zurückkehren würde, in dem die Genitalbeschneidung abgelehnt wird.
95Abgesehen davon fehlt es bereits an der drohenden Zwangsverheiratung als Vorbedingung für eine erneut drohende Zwangsbeschneidung, selbst wenn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Zwangsehemann oder dessen Familie auf eine erneute Beschneidung bestehen würde. Da, wie ausgeführt, das Vorbringen der Klägerin hinsichtlich ihrer Fluchtgründe unglaubhaft ist und zugleich sie ausdrücklich angegeben hat, dass ihr Vater verstorben ist und ihre Mutter gegen eine Zwangsheirat war (und ist), stünde jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass sie im Falle der Rückkehr zwangsweise verheiratet wird.
96II.
97Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes.
98Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist derjenige Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, der stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
99Wie ausgeführt ist das Vorbringen der Klägerin zu ihrem individuellen Verfolgungsschicksal unglaubhaft. Insofern konnte sie auch nicht glaubhaft darlegen, vor ihrer Ausreise einen ernsthaften Schaden erlitten zu haben oder davon zumindest unmittelbar bedroht gewesen zu sein bzw. (insbesondere bezogen auf die Gefahr einer erneuten Beschneidung), dass ihr ein Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr drohen wird.
100III.
101Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
102Anhaltspunkte für ein gesundheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen nicht.
103Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt nicht in Betracht.
104Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist, insbesondere dem Ausländer im Falle einer Abschiebung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Wegen zu befürchtender unmenschlicher Behandlung durch die schlechte wirtschaftliche Lage im Zielstaat kommt ein Abschiebungsverbot nur ausnahmsweise in Betracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geht davon aus, dass Ausländer kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen können, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen.
105Vgl. EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008 – Nr. 26565/05 (N ./. Vereinigtes Königreich) –, NVwZ 2008, S. 1334 (1336, Rn. 42); BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 23.
106In seiner jüngeren Rechtsprechung stellen der EGMR und ihm folgend das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“. Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen. Für die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können (beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Bausektor), selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann.
107Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10/21 –, juris Rn. 16 f. m.w.N.
108Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist dabei eine – zwar notwendig hypothetische, aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen.
109Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, juris Rn. 16.
110Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die entsprechende gerichtliche Prognose zur Frage, ob das wirtschaftliche Existenzminimum bei der Rückkehr eines Asylbewerbers gefährdet ist, mit einzubeziehen.
111Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 2001 – 1 B 185/01 –, juris Rn. 2 m.w.N.; BayVGH, Beschluss vom 15. April 2021 – 19 CE 15.1300 –, juris Rn. 50; OVG NRW, Urteil vom 27. Januar 2015 – 13 A 1201/12.A –, juris Rn. 34; VG Düsseldorf, Urteil vom 28. November 2023 – 3 K 5557/21.A –, juris Rn. 57 f.; Haderlein, in: Heusch u.a., Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, Rn. 161.
112Die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts ist nicht schon dann gegeben, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
113Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10/21 –, juris Rn. 25.
114Die Lage in Guinea stellt sich nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden sowie allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln zusammengefasst wie folgt dar:
115Guinea ist eines der ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Seine Rangstelle im Human Development Report der Vereinten Nationen ist 178 (von 189 Ländern). Guinea hat einen relativ geringen Gini-Koeffizienten, der eine moderate Einkommensungleichheit indiziert. Ein sehr großer Prozentsatz der Guineer lebt in Armut. Die Lebenserwartung ist in den Jahren 2008 bis 2018 kontinuierlich gestiegen und lag bei 61,2 Jahren im Jahr 2018.
116Vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI Country Report 2022: Guinea, S. 15 ff.
117Trotz deutlicher allgemeiner positiver Wirtschaftswachstumszahlen Guineas in den letzten Jahren blieb ein Breitenwachstum für die Bevölkerung bisher aus. Deshalb lebt ein Großteil der Bevölkerung weiterhin unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen. Gewinne aus dem enormen Reichtum an Rohstoffen (v.a. Bauxit, Gold, Diamanten,) kamen bislang nur zu einem Bruchteil der Infrastruktur des Landes sowie der Bevölkerung zugute. Möglichkeiten verstärkter wirtschaftlicher Dynamik sind freilich gegeben (mineralische Ressourcen, gute Böden, Wasserreichtum). Entscheidend wird sein, ob es gelingt, Maßnahmen zum Ausbau der Basisinfrastruktur und zur guten Regierungsführung umzusetzen. Derzeit reicht das Wachstum nicht aus, um die im Land verbreitete Armut (ca. 50% der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsschwelle) zurückzudrängen. Staatliche Unterstützung für bedürftige Personen ist nicht gegeben. Es sind vereinzelt Kinderheime vorhanden, die jedoch von karitativen Organisationen oder Privatpersonen betrieben werden. Spezielle Einrichtungen für Rückkehrer befinden sich erst seit kurzem im Rahmen eines Programms von IOM im Aufbau. Wie sich im Rahmen der Covid-19-Pandemie erneut gezeigt hat, ist das staatliche Gesundheitswesen – trotz Verbesserungen und internationaler Hilfe im Zuge der Ebola-Epidemie 2014 – unzureichend. Ärzte sind oftmals schlecht ausgebildet, Patienten müssen ihre Medikamente, Operationen und Krankenhausaufenthalte selbst finanzieren. Dies gilt sowohl für die staatlichen als auch die privaten Krankenhäuser, deren Ausstattung mangelhaft ist. Insbesondere im Falle chronisch Kranker steht im Regelfall die gesamte erweiterte Familie in der Pflicht, für die Behandlungskosten aufzukommen. Das Angebot an meist aus Frankreich importierten Medikamenten ist für die verbreitetsten Krankheiten ausreichend, allerdings übersteigen die Preise die Kaufkraft der großen Bevölkerungsmehrheit erheblich. Auf dem Schwarzmarkt zirkuliert daher eine Vielzahl gefälschter und meist unsauber hergestellter Generika. Die Frage, ob und in welchem Umfang langwierige Behandlungen oder komplizierte Operationen in Guinea durchgeführt werden können, muss im Einzelfall beantwortet werden. Grundsätzlich gilt, dass eine umfangreiche medizinische Behandlung mit relativ hohen Kosten und langen Wartezeiten verbunden ist. Rückgeführte guineische Staatsangehörige haben bei ihrer Rückkehr keine aus dem Auslandsaufenthalt resultierenden Nachteile zu befürchten und werden auch wegen einer Asylantragstellung in Deutschland keinen Repressionen ausgesetzt. Es sind keine Fälle bekannt, in denen solche Personen festgenommen oder misshandelt wurden.
118Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea (Stand: Januar 2021), S. 16.
119Das Bruttonationaleinkommen (Atlas-Methode) in Guinea ist niedrig und lag im Jahr 2021 bei ca. 1.106 US-Dollar je Einwohner, 2022 bei ca. 1.395 US-Dollar und bei Bereinigung von Wechselkursschwankungen durch Berücksichtigung der tatsächlichen landesspezifischen Konsumkaufkraft im Jahr 2022 bei ca. 3.187 US-Dollar. Im Jahr 2020 hatten 71,5% der Gesamtbevölkerung Zugang zu sauberem Wasser.
120Vgl. WKO, Länderprofil Guinea, Stand Oktober 2023, abrufbar unter https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-guinea.pdf; ähnlich auch World Bank, Data: Guinea, abrufbar unter https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.PP.CD?locations=GN sowie International Monetary Fund (IMF), Guinea Datasets, abrufbar unter https://www.imf.org/external/datamapper/profile/GIN.
121Die Kosten für Wohnung, Strom und sauberes Wasser sind für Haushalte mit niedrigem Einkommen und Haushalte der Mittelschicht vergleichsweise hoch. Die Kosten für die Miete hängen von vielen Faktoren ab, einschließlich der geografischen Lage und Art der Unterkunft. In Conakry kostet ein Zimmer ohne Dusche zwischen 100.000 GNF und 2.000.000 GNF pro Monat (also zwischen ungefähr 10,50 Euro und 210 Euro pro Monat). Für eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer, einem Duschbad und einem Esszimmer liegt der Betrag zwischen 500.000 GNF und 2.000.000 GNF pro Monat (also zwischen ungefähr 53 Euro und 210 Euro pro Monat). Ein Vier-Zimmer-Apartment in Matoto (Stadtteil Conakrys) kostet ca. 150 Dollar im Monat. Die Kosten für Strom liegen umgerechnet zwischen 2,50 und 10 Euro pro Monat und für Wasser zwischen 1,50 und 8 Euro pro Monat. Ländliche Gebiete haben keinen Zugang zu Elektrizität und fließendem Wasser. Einige lokale NGOs können vorübergehende Unterkünfte für gefährdete Rückkehrende bereitstellen. Rückkehrende sollten sich an ein örtliches Immobilienbüro wenden, wenn sie dringend eine Unterkunft benötigen. Die Hauptmethode, eine Unterkunft in Guinea zu finden, ist der Rückgriff auf private Immobilienagenturen. Diese sind in formelle und informelle Immobilienbüros unterteilt, wobei beide Gruppen Provisionen verlangen.
122Vgl. dazu IOM, Guinea Country Fact Sheet 2022 (Dezember 2022), S. 8 f.; VG Berlin, Urteil vom 2. Mai 2023 – 31 K 226/20 A –, juris Rn. 29.
123Sowohl der formelle als auch der informelle Arbeitsmarkt Guineas bieten Rückkehrern ohne erwerbsmindernde Erkrankungen auch ohne familiäre Anbindung erreichbare und zugängliche Arbeitschancen. Auf dem informellen Arbeitsmarkt Guineas sind (auch) körperliche Arbeiten und körperliche Hilfstätigkeiten zugänglich; denn er umfasst verschiedene Arten von Beschäftigten, darunter Landarbeiter, Landwirte, Selbständige und Angestellte nicht registrierter Unternehmen. Die formellen Arbeitssuchenden gehen über die öffentlichen oder privaten Arbeitsvermittlungsagenturen oder nehmen direkt Kontakt mit den Unternehmen oder Organisationen auf; eine Arbeitssuche über Familie oder Freunde ist demnach nicht zwingend nötig, wenn doch (natürlich auch) üblich. Die staatliche Arbeitsagentur (AGUIPE) unterstützt die registrierten Arbeitssuchenden durch Informationen und einige Schulungen, nicht jedoch durch finanzielle Leistungen. Die freien Stellen werden über verschiedene Kanäle ausgeschrieben, wie zum Beispiel über die Zentrale der Staatlichen Arbeitsagentur und ihre sieben Zweigstellen in Kindia, Boké, Mamou, Labé, Faranah und Nzérékoré, über Zeitungen und über die Online-Presse.
124Vgl. IOM, Guinea Country Fact Sheet 2022 (Dezember 2022), S. 6 f.
1252021 lag die Inflation bei etwa 12,6%, die Arbeitslosenquote bei 6,3%. 2019 arbeiteten etwa 60% im Landwirtschafts-, 34% im Dienstleistungs- und 6% im Industriesektor.
126Vgl. World Bank, Data: Guinea, abrufbar unter https://data.worldbank.org/country/GN.
127Für 2022 wird die Arbeitslosenquote mit 5,7% angegeben,
128vgl. WKO, Länderprofil Guinea, Stand Oktober 2023, abrufbar unter https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-guinea.pdf,
129wobei zu bedenken ist, dass sie in städtischen Regionen höher ist, als im ländlichen Raum.
130Vgl. dazu IOM, Guinea Country Fact Sheet 2022 (Dezember 2022), S. 7.
131Soziale Sicherheitsnetze sind unzureichend bzw. kaum vorhanden und decken nur eine begrenzte Anzahl von Risiken für relativ wenige Begünstigte ab. Zur Existenzsicherung müssen Bedürftige daher häufig auf familiäre Netzwerke oder private Wohlfahrtsorganisationen zurückgreifen.
132Vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI Country Report 2022: Guinea, S. 20; siehe auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea (Stand: Januar 2021), S. 15 f.
133Hinsichtlich der Stellung von (alleinstehenden) Frauen in Guinea ist ergänzend auf folgende Erkenntnisse hinzuweisen:
134Die Verfassung gewährleistet in Artikel 8 der Verfassung die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau. Erfolgen im Bereich rechtlicher Gleichstellung stehen jedoch anhaltende diskriminatorische Praktiken und erhebliche kulturelle und gesellschaftliche Widerstände gegenüber. Eine faktische Benachteiligung der Frauen ergibt sich zum einen aus der mangelnden Ausbildung (weit überproportionale Analphabetenquote von über 70 %) und einer auf die Rolle als Hausfrau beschränkten Erziehung. Zudem sind Frauen weit häufiger als Männer Opfer von sexueller und häuslicher Gewalt, 92 % der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren waren mindestens einmal davon betroffen, die Rate häuslicher Gewalt liegt bei 63 %. Die steigende Anzahl von Vergewaltigungen minderjähriger Mädchen ist alarmierend, mehr als die Hälfte aller angezeigten Vergewaltigungen 2019 betrafen Mädchen im Alter zwischen 11 und 15 Jahren. Sexuell motivierte Taten, von Belästigungstatbeständen bis hin zur Vergewaltigung, werden den guineischen Strafverfolgungsbehörden kaum angezeigt und dann dort nur in Einzelfällen weiterverfolgt. Durch die Novellierung des Zivilgesetzbuches in 2019 wird auch in diesem Bereich die rechtliche Gleichstellung der Frau weitestgehend hergestellt und bisher bestehende gravierende Benachteiligung z. B. beim Erbrecht und in der elterlichen Sorge beendet.
135Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea (Stand: Januar 2021), S. 10 f.
136Der Staat nimmt Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie Fälle einer Diskriminierung von LGBTI Personen durch Dritte regelmäßig hin.
137Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea (Stand: Januar 2021), S. 12.
138Insgesamt ist der Zugang zur Gerichtsbarkeit in Guinea begrenzt – vor allem für einfache Bürger und insbesondere für Frauen – und die Gesetze werden nicht durchgesetzt.
139Vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI Country Report 2022: Guinea, S. 8; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Österreichs zu Guinea, Stand August 2021, S. 10, 20.
140Viele Guineer gehören bürgerlichen und kulturellen Organisationen an. Vor allem Frauen organisieren sich in wirtschaftlichen Spar- und Selbsthilfegruppen.
141Vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI Country Report 2022: Guinea, S. 15.
142Frauen sind in der formellen und informellen Arbeitswelt relativ stark vertreten. Allerdings erwirtschaften sie ihr Einkommen hauptsächlich im Alltag. Quantitative Daten zur Geschlechterungleichheit liegen nicht vor. Offiziell ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen garantiert, doch Frauen sind aufgrund traditioneller oder religiöser Einstellungen in der Bevölkerung nach wie vor in verschiedener Hinsicht benachteiligt. Während ihrer Kindheit und Jugend müssen Mädchen ihren Vätern gehorchen; sobald sie verheiratet sind, unterstehen die Frauen der Autorität ihrer Ehemänner. Dennoch ist die weibliche Handlungsfähigkeit vielfältig, auch wenn dies für Außenstehende oft schwer zu erkennen ist.
143Vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI Country Report 2022: Guinea, S. 15 f.
144Während Frauen zu 80 % die Grundschule besuchen, sinkt dieses Verhältnis im tertiären Bereich auf 40 %. Es ist jedoch wichtig, dies zu kontextualisieren, denn weniger als 11,6 % der Guineer besuchen tertiäre Bildungseinrichtungen. Neben diesen Ungleichheiten im Bildungsbereich liegt der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen bei 54 %.
145Vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI Country Report 2022: Guinea, S. 20.
146Obwohl das Gesetz gleiches Entgelt für gleiche Arbeit vorschreibt, erhalten Frauen für vergleichbare Arbeit ein geringeres Entgelt, und es gibt gesetzliche Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen in einigen Berufen wie im Bergbau und auf Baustellen. Traditionelle Praktiken diskriminieren Frauen und haben manchmal Vorrang vor dem Gesetz, insbesondere in ländlichen Gebieten.
147Vgl. US Department of State, Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2022 – Guinea; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Österreichs zu Guinea, Stand August 2021, S. 20.
148Die Initiative des Ministeriums für Soziales, Frauen und Kindheit zur Einrichtung eines Fonds für soziale Entwicklung und Solidarität für Frauen, Jugendliche, ältere Menschen und Behinderte ist noch nicht in Kraft getreten.
149Vgl. IOM, Guinea Country Fact Sheet 2022 (Dezember 2022), S. 10.
150Einem Bericht der Weltbank von 2013/2014 zufolge werden unverheiratete Frauen im Vergleich zu Männern in Bereichen wie dem Zugang zu Beschäftigung, der Gründung eines Unternehmens, dem Zugang zu einem Bankkonto, der Wahl des Wohnortes und der Rolle des Familienoberhaupts sowie im Bereich der Eigentumsrechte rechtlich nicht diskriminiert. Auf der Grundlage derselben Kriterien ist eine verheiratete Frau jedoch mit rechtlichen Ungleichheiten konfrontiert, wenn es um den Zugang zur Beschäftigung, die Wahl des Wohnorts und die Möglichkeit, Familienoberhaupt zu sein, geht.
151Vgl. Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Guinea: Single women without family support; their ability to live on their own and find housing and employment without requiring a man's approval (2013-March 2015), vom 24. April 2015.
152Auch in einem Bericht aus dem Jahr 2021 stellte die Weltbank keine negativen Aspekte in Bezug auf Themen wie „Einschränkungen der Freizügigkeit, Gesetze, die sich auf die Entscheidung von Frauen, zu arbeiten, auswirken, Einschränkungen für Frauen bei der Gründung und Führung eines Unternehmens und Gesetze, die sich auf die Höhe der Rente einer Frau auswirken“ fest. In derselben Quelle wird jedoch auch hervorgehoben, dass Guinea Reformen zur Verbesserung der rechtlichen Gleichstellung von Frauen in Betracht ziehen könnte, wenn es um Gesetze geht, die sich auf die Entlohnung von Frauen auswirken, um Beschränkungen im Zusammenhang mit der Heirat, um Gesetze, die sich auf die Arbeit von Frauen nach der Geburt von Kindern auswirken, und um geschlechtsspezifische Unterschiede bei Eigentum und Erbschaft. Die Weltbank stellte auch fest, dass Frauen in Guinea, die einer formellen Beschäftigung nachgehen, 38 % weniger verdienen als Männer. Außerdem haben verheiratete Frauen, die einer Beschäftigung nachgehen, „einen erheblichen Einkommensnachteil“. Dies könnte auf gesetzliche Beschränkungen zurückzuführen sein, die besagen, dass eine Frau keine Arbeit finden oder einen Beruf ausüben kann, wenn ihr Ehemann aus Gründen der Familie dagegen ist.
153Vgl. EASO, COI Query Guinea: Access to services for (single) women, vom 10. Dezember 2021, S. 2 f.
154Einem Vertreter der International Federation for Human Rights (Fédération internationale des ligues desdroits de l'homme; FIDH) zufolge haben alleinstehende Frauen in Conakry keine besonderen Probleme, außer dem sozialen Druck, zu heiraten, und dass sie als alleinstehende Frauen nur wenig soziale Anerkennung erhalten. Ein Vertreter der guineischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte (Organisation guinéenne de défense des droits de l'homme, OGDH) erklärte, Frauen könnten allein leben, dass es aber mit der Wahrnehmung der Gemeinschaft verbundene Risiken gebe. Aufgrund der sozioökonomischen Bedingungen neigten Human Rights Watch zufolge Frauen dazu, innerhalb der Familie zu leben. Dem Programmdirektor von Wafrica Guinée, einer vor Ort tätigen NGO, zufolge leben unverheiratete Frauen selten allein, weil es für ihre Familie inakzeptabel, oft aus Gründen der Ehre, und in der Gemeinschaft verpönt sei, als Frau allein zu leben. Sie verliere auch ihre Chancen auf eine Heirat, weil sie als schlecht angesehen werden könnte: Sie stamme aus einer schlechten Familie oder sei zu freizügig. Ihm zufolge ist es für eine alleinstehende Frau einfacher, eine Wohnung zu finden, wenn sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügt. Die Unterstützung eines Mannes kann die Wohnungssuche für eine alleinstehende Frau erleichtern, da einige Vermieter sie aufgrund ihres sozialen Status nur ungern als Mieterin aufnehmen, weil sie der Meinung sind, dass sie nicht für sich selbst sorgen können. Der Programmdirektor erklärte auch, dass Vermieter sich aus Sicherheitsgründen weigern könnten, an eine alleinstehende Frau zu vermieten, um Probleme für sich selbst oder für die Frau zu vermeiden. Der OGDH-Vertreter erklärte zu diesem Thema am 14. April 2015, dass in vielen Fällen alleinstehende Frauen nur dann eine Wohnung finden, wenn sie von einem männlichen Familienmitglied begleitet werden, das ebenfalls einen Nachweis über die familiäre Beziehung erbringen muss. In Situationen, in denen es für sie einfach ist, eine Wohnung ohne Bedingungen zu bekommen, kann sie entweder vom Vermieter oder von der Person, die ihr bei der Wohnungssuche geholfen hat, belästigt werden. Der FIDH-Vertreter erklärte, dass eine alleinstehende Frau in Guinea ohne die Unterstützung eines Mannes oder ohne die Vertretung durch einen Mann eine Beschäftigung finden kann. Auch nach Angaben des Programmdirektors ist die Unterstützung oder Vertretung durch einen Mann für eine alleinstehende Frau bei der Arbeitssuche nicht unerlässlich. Ein Doktorand des Anthropologischen Instituts der Universität Basel, der von 2011 bis 2013 Feldforschung in Guinea betrieben hat und regelmäßig mit seinen Quellen im Land in Kontakt steht, bestätigte diese Informationen und stellte fest, dass eine guineische Frau zwar auch ohne die Hilfe eines Mannes eine Beschäftigung finden kann, aber Netzwerke wichtig sind und es in der Regel eine gegenseitige Unterstützung durch weibliche Freunde oder Familienmitglieder gibt. Dem Programmdirektor zufolge sind Frauen oft auf minderwertige informelle Tätigkeiten, handwerkliche Arbeiten, Näharbeiten, Stickereien oder untergeordnete Tätigkeiten in der Verwaltung oder im Dienstleistungssektor angewiesen. Darüber hinaus sind die Tatsache, dass sie niemanden finden, der sich um die Kinder kümmert, und die Diskriminierung bei der Einstellung ein Hindernis für die Beschäftigung von alleinstehenden Frauen mit Kindern.
155Vgl. IRB, Guinea: Single women without family support; their ability to live on their own and find housing and employment without requiring a man's approval (2013-March 2015), vom 24. April 2015; hierauf bezugnehmend auch EASO, COI Query Guinea: Access to services for (single) women, vom 10. Dezember 2021, S. 4.
156Trotz dieser geschilderten und durchaus schwierigen Bedingungen geht das Gericht im vorliegenden Einzelfall davon aus, dass die Klägerin nicht mit extrem schlechten materiellen Lebensverhältnissen konfrontiert werden würde, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen.
157Die Klägerin ist in Guinea aufgewachsen und mit Malinke mit einer der am meisten gesprochenen Landessprachen vertraut. Auch die Amtssprache Französisch beherrscht sie ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge (sowie auch z.B. ausweislich Bl. 16, 45, 51 der Beiakte Heft 1) mindestens in Grundzügen. Ungeachtet der Frage, ob die Klägerin tatsächlich nie die Schule besucht hat, sondern – angeblich – bis zu ihrer Zwangsverheiratung mit ca. 19 nichts gemacht haben will, außer Wasser zu verkaufen und gelegentlich als Hobby Menschen die Haare zu frisieren, ist nicht davon auszugehen, dass sie im Falle der Rückkehr nicht in der Lage wäre, ihr Existenzminimum zu sichern. Das Gericht verkennt hierbei weder, dass sie bei realitätsnaher Betrachtung mit ihren beiden sehr jungen Söhnen zurückkehrt noch, dass diese Form der Existenzsicherung mit erheblichem Aufwand verbunden ist und die Klägerin als derzeit alleinerziehende Frau in der guineischen Gesellschaft wenig Unterstützung erwarten kann. Gleichzeitig ist den Erkenntnissen zu entnehmen und darf bezogen auf Guinea auch als allgemein bekannt gelten, dass familiären und sozialen Netzwerke sowie privaten Wohlfahrtsorganisationen bei der Frage der Existenzsicherung eine besondere Bedeutung zukommt. Vorliegend geht das Gericht nicht davon aus, dass der Klägerin keinerlei Unterstützung durch Familie und/oder Freunde im Falle der Rückkehr zuteilwürde. Schon nach ihrem eigenen Vorbringen unterstützte sie bis zuletzt ihre Mutter, bei der sich auch weiterhin ihr 14 oder 15 Jahre alter Bruder sowie ihre 9 Jahre alte Tochter aufhalten sollen. Zu dieser könnte sie ohne Weiteres zurückkehren. Auch wenn diese, wie die Klägerin nunmehr in der mündlichen Verhandlung behauptet hat, krank wäre, ist nicht ersichtlich, warum sie nicht im Falle der Rückkehr auf die Zwillinge aufpassen können und damit der Klägerin die Möglichkeit geben sollte, einer (Vollzeit-)Beschäftigung nachzugehen. Dass der Arbeitsmarkt, trotz nicht zu verkennender Diskriminierungen von Frauen, grundsätzlich auch Frauen offensteht, ergibt sich aus den o.g. Erkenntnissen, speziell bezogen auf Gelegenheitsarbeit bzw. Subsistenzwirtschaft. Ferner war die Klägerin eigenen Angaben zufolge bereits in der Vergangenheit in der Lage, ohne fremde Hilfe allein für sich, ihre angeblich alten bzw. kranken Eltern, ihren jungen Bruder und ihre junge Tochter zu sorgen. Auch im Falle der Rückkehr könnte sie erneut eine Beschäftigung aufnehmen und ihre drei Kinder für diese Zeiträume von ihrer Mutter oder sonstigen Familienangehörigen wie ihrem Bruder beaufsichtigten lassen. Zudem ist zu bedenken, dass nicht wenige Berufe durchaus die Möglichkeit bieten, Kinder mit zur Arbeit zu nehmen, sodass allein das junge Alter einer Erwerbstätigkeit nicht zwangsläufig entgegensteht. Warum die Klägerin beispielsweise nicht wieder Wasser(-eis) verkaufen oder Haare frisieren oder sonst eine einfache Arbeit aufnehmen können sollte, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Jedenfalls mithilfe ihrer Familie ist ihr dies ohne Weiteres zumutbar.
158Unabhängig davon geht das Gericht angesichts der unglaubhaften Angaben der Klägerin zu ihrem Verfolgungsschicksal auch nicht davon aus, dass ihre Mutter und sonstige Familie vor ihrem Zwangsehemann in ein „Loch“ fliehen bzw. sich verstecken musste. Die angeblich besonders prekäre aktuelle Situation ist insoweit untrennbar mit ihren unglaubhaften Angaben verknüpft. Gleiches gilt für den Kontakt zur sonstigen Großfamilie, die die Klägerin auch eigens noch beim Bundesamt erwähnt hat. Dass dieser Kontakt 2021 aufgrund der „Probleme“ mit dem Zwangsehemann und dessen Familie durch die Familie der Klägerin beendet worden sein soll, erschließt sich für sich genommen schon nicht, erweist sich aber jedenfalls auch im Lichte der Unglaubhaftigkeit der Verfolgung durch den Zwangsehemann als ebenfalls unglaubhaft. Sie verfügte offenbar selbst über genug Geld oder hat dies zur Verfügung gestellt bekommen, um den Reiseweg nach Europa zu finanzieren. Unabhängig davon, ob es die Person „C.“ tatsächlich gibt, er sich in Marokko befindet und der Kontakt zu ihm wirklich zufällig kurz vor der mündlichen Verhandlung abgebrochen ist, ist insgesamt nicht ersichtlich, dass die Klägerin im Falle der Rückkehr nicht auf sonstige familiäre oder soziale Unterstützung zählen könnte.
159Darüber hinaus könnte die Klägerin jedenfalls für den Zeitraum unmittelbar nach der Wiedereinreise auch Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen und dadurch diesen Zeitraum, der ggfs. benötigt wird, um den Weg vom Flughafen zu Angehörigen zu finanzieren, eine Arbeit zu finden sowie sich mit den Kindern vor Ort zurecht zu finden, überbrücken. Das von der IOM betreute REAG/GARP-Programm sieht eine Reisebeihilfe von 200 Euro pro Person (100 Euro pro Person unter 18 Jahren vor), eine medizinische Unterstützung während der Reise und im Zielland (maximal 2.000 Euro für bis zu drei Monate nach der Ankunft) sowie eine einmalige Förderung in Höhe von 1.000 Euro pro Person (500 Euro pro Person unter 18 Jahren; pro Familie maximal 4.000 Euro). Hierauf aufbauend sieht das Förderprogramm StarthilfePlus eine Reintegrationsunterstützung in Höhe von 800 Euro pro Familie (im Falle besonderer Vulnerabilität: 2.000 Euro) vor. Die IOM hat in Zusammenarbeit mit der guineischen Regierung, Kinderschutz- und Ausbildungsorganisationen seit April 2017 rund 7.000 Rückkehrer betreut (Stand: Dezember 2018), von denen rund 2.500 soziökonomische und 500 psychosoziale Rückkehrhilfen erhielten. Seit April 2019 verfügt die IOM über ein Aufnahme-, Transit- und Orientierungszentrum mit einer Kapazität von 300 Plätzen. Freiwillige Rückkehrer erhalten eine Unterbringung für zwei Tage, finanzielle Soforthilfen und ein Telefon sowie Beratung über die soziale und wirtschaftliche Wiedereingliederung und Unternehmensgründung; sie können sich zudem vorab über ihre Wiedereingliederung beraten lassen. Vulnerable Personen können länger untergebracht werden, für sie wird ein individueller Wiedereingliederungsplan erarbeitet.
160Vgl. auch zur IOM für Guinea: VG Würzburg, Urteil vom 2. Juni 2022 – W 5 K 22.30059 –, juris Rn. 32; VG Kassel, Urteil vom 22. März 2022 – 2 K 1720/19.KS.A –, juris Rn. 60; VG Berlin, Urteil vom 19. September 2019 – 31 K 397/19.A –, juris Rn. 35; vgl. zudem allgemein hinsichtlich der Rückkehr- und Reintegrationsprogramme für Guinea: https://www.returningfromgermany.de/de/countries/guinea sowie VG Berlin, Urteile vom 7. September 2022 – 31 K 424.19 A –, juris Rn. 35 und vom 2. Mai 2023 – 31 K 226/20 A –, juris Rn. 28 f.
161Das von Frontex 2022 initiierte JRS-Programm bietet Kurzzeit- und Langzeit-Unterstützung, letztere bis zu 12 Monate nach der Ausreise und nur in Form von Sachleistung, welche bei freiwilliger Rückkehr 2.000 Euro pro Person und für jedes weitere Familienmitglied 1.000 Euro beträgt.
162Vgl. zum JRS-Programm auch https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs/.
163Es kann der Klägerin zugemutet werden, vor einer (freiwilligen) Rückkehr nach Guinea mit der IOM oder einer anderen Rückkehrhilfen anbietenden Organisation Kontakt aufzunehmen, um sich über die Rahmenbedingungen einer Rückkehr zu informieren, um deren Eingliederungshilfe in Anspruch zu nehmen und es der IOM erforderlichenfalls zu ermöglichen, ihren Hilfsbedarf mit dem anderer Rückkehrer zu koordinieren. Insbesondere Startschwierigkeiten könnte so zusätzlich begegnet werden.
164IV.
165Nach all dem hat das Bundesamt die Klägerin, der keinen Aufenthaltstitel besitzt, zu Recht zur Ausreise aufgefordert und ihr nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG die Abschiebung nach Guinea angedroht; der Hinweis auf die Möglichkeit der Abschiebung in einen anderen Staat beruht auf § 59 Abs. 2 AufenthG. Die gesetzte Frist ergibt sich aus § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
166Auch familiäre Bindungen stehen der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen, da eine Rückführung nur gemeinsam mit ihren Kindern erfolgen würde und diese aufgrund der bestandskräftigen Ablehnung ihres Asylantrages ebenfalls ausreisepflichtig sind.
167V.
168Die Anordnung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
169Die Ermessensentscheidung der Beklagten, die von Amts wegen vorzunehmende Befristung in der Mitte des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG – auch in seiner ab dem 21. August 2019 geltenden Fassung – für den Regelfall aufgezeigten Rahmens von bis zu fünf Jahren anzusiedeln, begegnet keinen Bedenken. Insbesondere sind ihre Kinder aufgrund der bestandskräftigen Ablehnung ihres Asylantrages ebenfalls ausreisepflichtig. Zur Cousine in Deutschland besteht offenkundig keine derart enge Verbindung, die eine kürzere Frist gebieten würde. Einwände werden von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Entsprechend dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt das Einreise- und Aufenthaltsverbot unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung.
170Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
171Rechtsmittelbelehrung:
172Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.
173Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1741. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
1752. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1763. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
177Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
178Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
179In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
180Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
181Die Antragsschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.