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1. Steht Art. 20 AEUV einer Norm entgegen, die vorsieht, dass im Falle des freiwilligen Erwerbs einer (nicht privilegierten) Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verloren gehen, wenn eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts nur erfolgt, sofern der betroffene Ausländer zuvor einen Antrag auf Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung gestellt hat und dieser Antrag vor Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit positiv beschieden wird?2. Falls die Frage zu 1. zu verneinen ist: Ist Art. 20 AEUV dahingehend auszulegen, dass im Verfahren zur Erteilung der Beibehaltungsgenehmigung keine Voraussetzungen statuiert werden dürfen, die im Ergebnis dazu führen, dass eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie im Hinblick auf die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus nicht stattfindet oder überlagert wird?
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
Steht Art. 20 AEUV einer Norm entgegen, die vorsieht, dass im Falle des freiwilligen Erwerbs einer (nicht privilegierten) Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verloren gehen, wenn eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts nur erfolgt, sofern der betroffene Ausländer zuvor einen Antrag auf Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung gestellt hat und dieser Antrag vor Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit positiv beschieden wird?
Falls die Frage zu 1. zu verneinen ist: Ist Art. 20 AEUV dahingehend auszulegen, dass im Verfahren zur Erteilung der Beibehaltungsgenehmigung keine Voraussetzungen statuiert werden dürfen, die im Ergebnis dazu führen, dass eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie im Hinblick auf die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus nicht stattfindet oder überlagert wird?
Gründe
2I.
3(1) Die am 00.00.1959 und 00.00.1970 geborenen Kläger sind miteinander verheiratet. Sie reisten im Jahr 1974 in das Bundesgebiet ein.
4(2) Die Kläger erwarben am 27. August 1999 die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung, am 2. September 1999 wurden sie aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen.
5(3) Die Kläger teilten am 1. September 2005 im Rahmen einer Vorsprache bei der Beklagten mit, am 24. November 2000 erneut die türkische Staatsangehörigkeit erworben zu haben. Hierzu legten sie eine Bescheinigung des türkischen Generalkonsulats in E. vom 31. August 2005 vor, wonach sie am 2. September 1999 den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit beantragt und diese mit Beschluss Nr. 0000/0000 der Ministerratssitzung vom 24. November 2000 wieder erworben haben. Mit Schreiben vom 1. Dezember 2016 legten die Kläger der Beklagten einen türkischen Personenstandsregisterauszug vor, wonach der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit bereits aufgrund eines Beschlusses des Ministerrats vom 1. November 1999 erfolgt sein sollte.
6(4) Im August 2020 informierte die Beklagte die Kläger, dass auf dem Personenstandsregisterauszug mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Manipulation der Datumsangabe erfolgt sei und dem Auszug daher kein über den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit hinausgehender Beweiswert zukommen könne.
7(5) Nach Anhörung stellte die Beklagte mit Ordnungsverfügungen vom 24. Februar 2021 gemäß § 30 Abs. 1 StAG fest, dass die deutsche Staatsangehörigkeit der Kläger nicht mehr bestehe. Der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 24. November 2000 habe nach §§ 17 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StAG zu einem automatischen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit geführt. Etwas anderes könne nur gelten, wenn die Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit bis zum 31. Dezember 1999 erfolgt sei, weil § 25 Abs. 1 Satz 1 RuStAG in der bis zum 31. Dezember 1999 gültigen Fassung vorgesehen habe, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nur bei im Ausland wohnenden Deutschen eintrete. Die Kläger hätten einen Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit vor dem 1. Januar 2000 indes nicht darlegen können.
8(6) Dagegen haben die Kläger fristgerecht Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz ersucht.
9(7) Der Antrag auf einstweiligen Rechtschutz ist durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen rechtskräftig abgelehnt worden.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. April 2022 – 19 B 329/22 – ECLI:DE:OVGNRW:2022:0412.19B329.22.00.
11II.
121.
13(8) Den maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften:
14Unionsrecht
15Art. 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
16(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.
17(…)
18Art. 7 Charta der Europäischen Grundrechte
19Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.
20Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80)
21Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.
22Völkerrecht
23Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit vom 6. November 1997
24Art. 7
251 Ein Vertragsstaat darf in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen, außer in folgenden Fällen:
26a freiwilliger Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit
27(…)
28Art. 9
29Jeder Vertragsstaat erleichtert in den in seinem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fällen und unter den dort festgelegten Bedingungen den Wiedererwerb seiner Staatsangehörigkeit durch ehemalige Staatsangehörige, die sich rechtmäßig und gewöhnlich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten.
30(9) Das Übereinkommen vom 6. Mai 1963 über die Verringerung von Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern trat für Deutschland zum 18. Dezember 1969 in Kraft und aufgrund Kündigung mit Ablauf des 21. Dezember 2002 außer Kraft.
31Nationales Recht
32Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), vormals Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG), abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/stag/, in englischer Fassung unter https://www.gesetze-im-internet.de/englisch_stag.pdf
33§ 13
34Ein ehemaliger Deutscher und seine minderjährigen Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, können auf Antrag eingebürgert werden, wenn ihre Identität und Staatsangehörigkeit geklärt sind und sie die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nummer 1 und 2 erfüllen.
35§ 25 in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung:
36(1) Ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen dauernden Aufenthalt hat, verliert seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag oder auf den Antrag des gesetzlichen Vertreters erfolgt, der Vertretene jedoch nur, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 19 die Entlassung beantragt werden könnte.
37(…)
38§ 25 in der seit dem 1. Januar 2000 geltenden Fassung
39(1) Ein Deutscher verliert seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag oder auf den Antrag des gesetzlichen Vertreters erfolgt, der Vertretene jedoch nur, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 19 die Entlassung beantragt werden könnte. Der Verlust nach Satz 1 tritt nicht ein, wenn ein Deutscher die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, der Schweiz oder eines Staates erwirbt, mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag nach § 12 Abs. 3 abgeschlossen hat.
40(2) Die Staatsangehörigkeit verliert nicht, wer vor dem Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit auf seinen Antrag die schriftliche Genehmigung der zuständigen Behörde zur Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit erhalten hat. (…). Bei der Entscheidung über einen Antrag nach Satz 1 sind die öffentlichen und privaten Belange abzuwägen. Bei einem Antragsteller, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob er fortbestehende Bindungen an Deutschland glaubhaft machen kann.
41§ 30
42(1) Das Bestehen oder Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit wird bei Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses auf Antrag von der Staatsangehörigkeitsbehörde festgestellt. Die Feststellung ist in allen Angelegenheiten verbindlich, für die das Bestehen oder Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit rechtserheblich ist. Bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses kann die Feststellung auch von Amts wegen erfolgen.
43(…)
44Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG), https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/, in englischer Fassung unter https://www.gesetze-im-internet.de/englisch_aufenthg/index.html
45§ 38
46(1) Einem ehemaligen Deutschen ist
471. eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit fünf Jahren als Deutscher seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte,
482. eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn er bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit mindestens einem Jahr seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte.
49Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Satz 1 ist innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnis vom Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit zu stellen. (…)
50(2) Einem ehemaligen Deutschen, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.
51(3) In besonderen Fällen kann der Aufenthaltstitel nach Absatz 1 oder 2 abweichend von § 5 erteilt werden.
52(…)
532.
54(10) a) Der Rechtstreit ist – auch im Hinblick auf das beim Gerichtshof anhängige Verfahren X, C-689/21 – auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV. Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig.
55(11) Zwar fällt die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten. Dies schließt aber nicht aus, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen.
56Vgl. EuGH, Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, ECLI:EU:C:2010:104, Rn. 39, 41 und vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 30 und Beschluss vom 15. März 2022, WY, C-85/21, ECLI:EU:C:2022:192, Rn. 21.
57(12) Die Situation von Unionsbürgern, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaates besitzen und die aufgrund einer behördlichen Entscheidung eines Mitgliedstaates über die Rücknahme ihrer Einbürgerung oder einer gesetzlichen Regelung, die zum Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates führt, diese Staatsangehörigkeit und damit zugleich ihre Unionsbürgerschaft verlieren, fällt ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht.
58Vgl. EuGH, Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, ECLI:EU:C:2010:104, Rn. 42 und vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 32.
59(13) b) Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union.
60(14) Für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ordnungsverfügungen vom 24. Februar 2021 ist von entscheidender Bedeutung, ob der in § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG gesetzlich vorgesehene, automatisch eintretende Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit unionsrechtskonform ist.
61(15) Die Kammer ist in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen davon überzeugt, dass im vorliegenden Fall § 25 StAG in der seit dem 1. Januar 2000 geltenden Fassung zur Anwendung gelangt, da die Kläger die türkische Staatsangehörigkeit erst nach Inkrafttreten der Neufassung wiedererworben haben und den von den Klägern im Verwaltungsverfahren vorgelegten Personenstandsregisterauszügen kein Beweiswert im Hinblick auf das Datum der Wiedereinbürgerung zukommt.
62Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. April 2022 – 19 B 329/22 – ECLI:DE:OVGNRW:2022:0412.19B329.22.00 – Rn. 24; zu vergleichbaren Konstellationen OVG NRW, Beschlüsse vom 8. August 2018 – 19 A 1539/17 – ECLI:DE:OVGNRW:2018:0808.19A1539.17.0 – Rn. 6ff. und vom 31. Juli 2018 – 19 A 166/17 – ECLI:DE:OVGNRW:2018:0731.19A166.17.00 – Rn. 4ff., alle Entscheidungen unter justiz.nrw.de.
63(16) Ist der in § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG gesetzlich vorgesehene Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit unionsrechtskonform, haben die Kläger ihre deutsche Staatsangehörigkeit – und damit wegen des Akzessorietätsprinzips in Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV auch ihre Unionsbürgerschaft – mit dem Antragserwerb der türkischen Staatsangehörigkeit verloren. Eine Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 Satz 1 StAG hatten die Kläger zuvor nicht beantragt.
64(17) In der nationalen Rechtsprechung wird – soweit ersichtlich – davon ausgegangen, dass § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG unionsrechtskonform sei, weil der Betroffene eine Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 Satz 1 StAG beantragen könne, in deren Rahmen eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts für die Situation des Betroffenen ausdrücklich vorgeschrieben sei.
65Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. April 2022 – 19 B 329/22 – ECLI:DE:OVGNRW:2022:0412.19B329.22.00 – Rn. 12; VG Köln, Urteil vom 10. Juli 2019 – 10 K 8913/17 – ECLI:DE:VGK:2019:0710.10K8913.17.00 – Rn. 30, unter justiz.nrw.de.
66(18) Darüber hinaus bestünden keine vernünftigen Zweifel an der Vereinbarkeit der Neufassung des § 25 StAG mit assoziationsrechtlichen Bestimmungen, da die Frage der Staatsangehörigkeit von Art. 13 ARB 1/80 nicht betroffen sei und der Gesetzgeber durch die Änderungen des § 25 Abs. 1 StAG zum 1. Januar 2000 auch nicht mittelbar neue Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zum Arbeitsmarkt eingeführt habe.
67Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12 April 2022 – 19 B 329/22 – ECLI:DE:OVGNRW:2022:0412.19B329.22.00 – Rn. 28ff, unter justiz.nrw.de.
68(19) Die Kammer bezweifelt, dass § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG – auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit der Beantragung einer Beibehaltungsgenehmigung – den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Anforderungen an den Verlust der Unionsbürgerschaft gerecht wird.
69(20) Der Gerichtshof hat festgehalten, dass angesichts der Bedeutung, die das Primärrecht dem Unionsbürgerstatus beimisst, bei der Prüfung einer Entscheidung, die den Verlust der Unionsbürgerschaft nach sich zieht, die möglichen Folgen zu berücksichtigen sind, die diese Entscheidung für den Betroffenen und ggf. für seine Familienangehörigen in Bezug auf den Verlust der Rechte, die jeder Unionsbürger genießt, mit sich bringt.
70Vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, ECLI:EU:C:2010:104, Rn. 56ff.
71(21) Die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten haben danach insbesondere zu prüfen, ob der Verlust der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.
72Vgl. EuGH, Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 40 und vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, ECLI:EU:C:2010:104, Rn. 55.
73(22) Bei einem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates kraft Gesetzes liegt ein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insbesondere vor, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlauben.
74Vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 41.
75(23) Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG tritt der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit automatisch kraft Gesetzes ohne die Möglichkeit einer Einzelfallprüfung ein. Eine irgendwie geartete Einzelfall- oder Verhältnismäßigkeitsprüfung kann lediglich im Rahmen des zeitlich im Vorfeld angelegten Verfahrens zur Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 StAG erfolgen. Trotz dieser verfahrensrechtlichen Lösung tritt der Verlust der Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft automatisch und damit ohne jegliche Einzelfallprüfung ein, wenn ein Verfahren zur Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 StAG nicht stattfindet (weil der Betroffene keinen Antrag stellt) oder der Betroffene die ausländische Staatsangehörigkeit vor Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung erwirbt.
76(24) Damit stellt sich die Frage, ob das Ergebnis des automatischen Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft durch die vorgelagerte Möglichkeit der Durchführung eines Verfahrens zur Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 StAG oder weil es den Betroffenen in Fällen des Antragserwerbs immer möglich und zumutbar ist, eine Beibehaltungsgenehmigung zu beantragen und deren Erteilung abzuwarten, gerechtfertigt sein kann.
77(25) Der Gerichtshof ist in der Rechtssache Tjebbes entgegen den Erwägungen des Generalanwaltes, der im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der dort zu beurteilenden niederländischen Regelung ausgeführt hatte, der Betroffene hätte aus eigener Initiative den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit und gegebenenfalls der Unionsbürgerschaft abwenden können,
78vgl. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 12. Juli 2018, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2018:572, Rn. 94ff.
79(26) zu dem Ergebnis gekommen, dass auch in diesen Fällen zu irgendeinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung stattfinden müsse. Demnach könne es zwar zulässig sein, wenn der Verlust der Staatsangehörigkeit ohne Einzelfallprüfung eintritt. In diesen Fällen müssten aber die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein, bei Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und ggf. die Staatsangehörigkeit der betroffenen Person rückwirkend wiederherzustellen.
80Vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 42.
81(27) Die Kammer fragt sich, ob diese Erwägungen auf die vorliegende Konstellation zu übertragen sind.
82(28) Im nationalen Recht besteht jedenfalls keine Möglichkeit einer Inzidentprüfung der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit nach Verlust derselben. Den Betroffenen bleibt in solchen Fällen allein ein erneuter Antrag auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Zwar existiert mit § 13 StAG eine Regelung zur Einbürgerung ehemaliger Deutscher, die unter bestimmten Voraussetzungen eine erleichtere Einbürgerung – unter anderem, indem sie von der Sicherung des Lebensunterhaltes absieht – ermöglicht. Die Regelung greift allerdings nur in Fällen, in denen die Einbürgerungsbewerber ihren Wohnsitz im Ausland haben. Bei Wohnsitz im Inland ist die Regelung nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar.
83Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 1999 – 1 C 16/98 – juris Rn. 14ff.
84(29) In diesen Fällen kann eine Wiedereinbürgerung ausschließlich nach den üblichen Einbürgerungsregelungen erfolgen, eine Einbürgerung unter erleichterten Voraussetzungen ist für ehemalige Staatsangehörige insoweit nicht vorgesehen. Darüber hinaus kann eine Einbürgerung nach nationalem Recht nicht rückwirkend erfolgen, so dass selbst in den Fällen, in denen die Voraussetzungen für eine erneute Einbürgerung vorliegen, der Betroffene zumindest für die Dauer des Einbürgerungsverfahrens nicht die deutsche Staatsangehörigkeit innehat und damit zugleich nicht Unionsbürger ist.
85(30) Der Umgang mit ehemaligen Deutschen ist im nationalen Recht in § 38 AufenthG geregelt und sieht lediglich einen Anspruch der Betroffenen auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Aufenthaltserlaubnis vor. Der Anspruch besteht allerdings nur, wenn die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG vorliegen, also unter anderem der Lebensunterhalt sichergestellt ist. Werden die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht erfüllt, steht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38 Abs. 1 AufenthG bei Vorliegen eines besonderen Falles gemäß § 38 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Behörde. Sowohl die Aufenthalts- als auch die Niederlassungserlaubnis gewähren ehemaligen Deutschen das Recht zum Aufenthalt und zur Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet, bleiben aber im Hinblick auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten deutlich hinter dem Unionsbürgerstatus zurück. Dies gilt auch für die Kläger, die vor ihrer Einbürgerung Rechte nach dem ARB 1/80 erworben hatten, die mit der Einbürgerung nicht entfallen sind.
86Vgl. EuGH; Urteil vom 21. Oktober 2020, GR, C-720/19, ECLI:EU:C:2020:847.
87(31) c) Sofern die erste Frage zu verneinen ist, stellt sich dem vorlegenden Gericht die unter 2. benannte Frage nach dem notwendigen Prüfungsumfang im Verfahren zur Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung.
88(32) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie im Hinblick auf die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus auf die Entwicklung des Familien- und Berufslebens vorzunehmen.
89Vgl. EuGH, Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 44 und vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, ECLI:EU:C:2010:104, Rn. 56ff.
90(33) Außerdem müssen sich die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung Gewissheit darüber verschaffen, dass eine solche Entscheidung mit den Grundrechten in Einklang steht, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt, verbürgt sind.
91Vgl. EuGH, Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes, C-221/17, ECLI:EU:C:2019:189, Rn. 45 und vom 18. Januar 2022, JY, C-118/20, ECLI:EU:C:2022:34, Rn. 61.
92(34) Nach dem Wortlaut des § 25 Abs. 2 Satz 3 StAG kann diesen Anforderungen zwar Rechnung getragen werden, da hiernach bei der Entscheidung über die Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung die öffentlichen und privaten Belange abzuwägen sind. In der Praxis unterscheidet sich die Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 StAG aber grundlegend von der geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung: Die Beibehaltungsgenehmigung stellt eine vorgelagerte Verfahrensanforderung im Rahmen der Prüfung, ob es im Einzelfall gerechtfertigt erscheint, eine weitere Staatsangehörigkeit zu erwerben, dar.
93(35) Ausgehend hiervon wird eine Beibehaltungsgenehmigung in Auslegung nationalen Rechts nur erteilt, wenn ein besonderes Interesse am Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit unter Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit vorliegt.
94Vgl. zu den Anforderungen an die Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung OVG NRW, Urteil vom 18. August 2010 – 19 A 2607/07 – Rn. 33, unter justiz.nrw.de; Weber in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 01.01.2022, § 25 StAG Rn. 27.
95(36) Der Status als Unionsbürger bleibt so in der Praxis der Verwaltungsbehörden und in der nationalen Rechtsprechung unberücksichtigt.
96(37) Unionsrechtlich ist demgegenüber im Rahmen der nach Art. 20 AEUV erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung (nur) zu fragen, welche Folgen der Verlust der Unionsbürgerschaft für den Einzelnen hat.
97(38) Das Gericht geht davon aus, dass die vom Gerichtshof entwickelten Kriterien im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 StAG nicht zur Anwendung gelangen, weil die Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft im Rahmen des § 25 Abs. 2 StAG nicht betrachtet werden, sofern nicht ein besonderes Interesse am Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit unter Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit erkannt wird.
98(39) Das Gericht bezweifelt, dass eine derartige Prüfung den Anforderungen an eine Einzelfall- und Verhältnismäßigkeitsprüfung im Falle des Verlusts der Unionsbürgerschaft entspricht.
99(40) Der Beschluss ist unanfechtbar.