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Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juni 2019 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist für die Klägerin wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
2Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren.
3Die Klägerin ist die im Jahr 2019 geborene Tochter der Klägerin in dem vor dem erkennenden Gericht anhängigen Verfahren 9 K 958/19.A. Wegen der Einzelheiten zum Verfahren der Kindsmutter wird auf das Urteil vom heutigen Tage in deren Verfahren Bezug genommen, welches den Beteiligten vorliegt.
4Nach Mitteilung der Geburt des Kindes an die zuständige italienische Dublin-Kontaktstelle lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 20. Juni 2019 den gemäß § 14a AsylG als gestellt geltenden Asylantrag der Klägerin ab, stellte das Nichtvorliegen komplementärer zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote fest, drohte ihre Abschiebung nach Italien mit einer 30-tägigen Ausreisefrist an und „befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot“ auf sechs Monate. Wegen der Begründung wird auf diesen Bescheid Bezug genommen.
5Für die Klägerin ist beim erkennenden Gericht am 8. Juli 2019 die vorliegende Klage erhoben worden. Wegen der Begründung wird auf ihre Schriftsätze Bezug genommen.
6Die Klägerin beantragt,
7die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 20. Juni 2019 zu verpflichten, betreffend die Person der Klägerin ein Asylverfahren durchzuführen,
8festzustellen, dass in der Person der Klägerin Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen,
9Ziffer 3 des Bescheids vom 20. Juni 2019 aufzuheben,
10Ziffer 4 des Bescheids vom 20. Juni 2019 aufzuheben.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und bezieht sich zur Begründung auf den verfahrensgegenständlichen Bescheid.
14Mit Beschluss vom 10. Januar 2023 hat die Kammer das Verfahren dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen. Das Gericht hat prozessleitend einen Hinweis gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG erteilt.
15Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die elektronisch beigezogene Behördenakte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe
171. Zur Entscheidung ist der Einzelrichter berufen, dem der Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG). Gründe für eine Rückübertragung auf die Kammer sind nicht ersichtlich (§ 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG kann das Gericht außer in den Fällen des § 38 Abs. 1 und des § 73b Abs. 7 AsylG bei Klagen gegen Entscheidungen nach dem AsylG im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Insbesondere liegt keine Entscheidung nach § 38 Abs. 1 AsylG, sondern nach §§ 29 Abs. 1, 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG vor. Denn entschieden wurde mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid nicht über eine (Nicht-)Anerkennung der Klägerin als Asyl- oder sonst Schutzberechtigte im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG, sondern – dem vorgelagert – über die Zulässigkeit des Asylantrags. Für diese Fälle ist der Anwendungsbereich des § 77 Abs. 2 AsylG nicht im Gesetz beschränkt. Ausweislich dieser Vorschrift und der Gesetzesbegründung sollen von dieser Beschränkung Fälle, in denen der Schutzanspruch – vorbehaltlich einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet etwa gemäß §§ 29a, 36 AsylG – in der Sache in Rede steht, erfasst sein.
18Vgl. hierzu die Gesetzesbegründung in Bundestags-Drucksache (BT-Drs.) 20/4327, S. 42.
19Dieses Ergebnis für die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig gemäß §§ 29 Abs. 1 Nr. 1, 34a Abs. 1 AsylG entspricht auch dem Gesetzeszweck der Verfahrensbeschleunigung; insbesondere mit Blick auf den sog. „Dublin-Beschleunigungsgrundsatz“.
20Vgl. zu letzterem: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH Bad.-Württ.), Beschluss vom 2. Mai 2017 – A 4 S 1001/17 –, juris Rn. 13.
21Eine mündliche Verhandlung ist nicht beantragt worden. Ein Hinweis gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG wurde erteilt.
222. Die zulässige Klage ist begründet. Dabei legt das Gericht den Klageantrag als einheitlichen Anfechtungs- und hilfsweisen Verpflichtungsantrag aus, da eine Entscheidung über zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote im vorliegenden Einzelfall erkennbar lediglich für die Fall der Abweisung des Hauptantrags begehrt wird.
23Der verfahrensgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt die Klägerin ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ob die Zuständigkeit der Italienischen Republik für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin weiterhin vorliegt und ob systemische Mängel in den italienischen Aufnahmebedingungen bestehen, die eine Zuständigkeit der Beklagten vermitteln würden, kann offenbleiben. Denn der nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) zuständige Mitgliedstaat darf einen Schutzsuchenden dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen Mitgliedstaat verweisen, wenn dessen (Wieder-)Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht.
24Dies ergibt sich als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal aus Sinn und Zweck des Dublin-Systems und der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, welche die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) Schutzsuchenden einräumt. Danach kann sich ein Schutzsuchender den für die Prüfung seines Schutzbegehrens zuständigen Mitgliedstaat zwar nicht selbst aussuchen, er hat aber einen Anspruch darauf, dass ein von ihm innerhalb des Unionsgebiets gestellter Antrag auf internationalen Schutz innerhalb der Union geprüft wird. Könnte sich der Schutzsuchende auch bei fehlender (Wieder-)Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats nicht auf die Zuständigkeit der Beklagten berufen, entstünde die Situation eines „refugee in orbit“, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Dies würde dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwiderlaufen, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.
25Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 9. August 2016 – 1 C 6.16 –, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2016, 1492 <1495> Rn. 23.
26Der 5. Erwägungsgrund der Dublin III-VO betont dabei das Zeitmoment, indem er im Sinne eines effektiven Zugangs zu einer Sachprüfung eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats anführt.
27Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht selbst festgestellt, dass diese Rechtsprechung zum Zeitpunkt ihres Ergehens bereits im Hinblick auf die zwischenzeitlich unionsgerichtlich anerkannte drittschützende Wirkung des Dublin-Fristenregimes für Fälle, in denen die Überstellungsfristen abgelaufen sind, überholt sei.
28BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 – 1 C 6.16 –, a. a. O. Rn. 23.
29Für Fälle wie den vorliegenden, in welchen zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) positiv feststeht, dass der an sich zuständige Mitgliedstaat Überstellungen ablehnt, verbleibt insoweit ein Anwendungsbereich. Denn die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene ungeschriebene Voraussetzung ist nicht an das Dublin-Fristenregime geknüpft, sondern an den Anspruch eines Asylsuchenden auf eine einmalige Prüfung seines Asylantrags durch einen Mitgliedstaat.
30Vorliegend steht sowohl anhand der aktuellen Erkenntnislage,
31Basler Zeitung, Rücknahme-Stopp wegen Überlastung: Schweiz kann 184 Flüchtlinge vorerst nicht nach Italien ausschaffen, vom 25. Dezember 2022 (abrufbar unter: https://www.bazonline.ch/schweiz-kann-184-fluechtlingevorerst-nicht-nach-italien-ausschaffen-109654720302) und De Carli, Überlastetes Asylsystem: Italien stoppt Rücknahme von Flüchtlingen - Schweiz ächzt noch mehr, vom 26. Dezember 2022, aktualisiert am 27. Dezember 2022 (abrufbar unter: https://www.bazonline.ch/italien-stopptruecknahme-von-fluechtlingen-schweiz-aechzt-noch-mehr-925864640038),
32als auch der im Rahmen des allgemeinen Informationsaustauschs zwischen den Verwaltungsgerichten und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgten Mitteilung zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) fest, dass das italienische Innenministerium mit Schreiben vom 5. Dezember und 7. Dezember 2022 alle Dublin-Einheiten einschließlich des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge darüber informiert hat, dass aufgrund der derzeit hohen Zahl von in Italien ankommenden Flüchtlingen die dortigen Aufnahmekapazitäten ausgereizt seien und deshalb derzeit und bis auf Weiteres keine aus anderen Mitgliedstaaten überstellten sogenannten „Dublin-Flüchtlinge“ aufgenommen würden.
33Damit liegt eine Unmöglichkeit der Überstellung aufgrund einer Verweigerung des an sich zuständigen Mitgliedstaats vor, die nach der genannten bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht nur die Rechtswidrigkeit einer – bzw. im Streitfall aus anderen Gründen nicht ergangenen – Abschiebungsanordnung begründet, sondern auch auf die Unzulässigkeitsentscheidung durchschlägt.
34Der verfahrensgegenständliche Bescheid ist damit einschließlich der in der Befristungsentscheidung enthaltenen Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aufzuheben.
353. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
364. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).
37Rechtsmittelbelehrung:
38Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zugelassen wird. Die Zulassung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht Arnsberg (Jägerstraße 1, 59821 Arnsberg) zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
39Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
401. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
412. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
423. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
43Der Antrag auf Zulassung der Berufung kann in schriftlicher Form oder auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV) eingereicht werden. Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der ERVV wird hingewiesen.
44Vor dem Oberverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte und Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, sowie die ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG).
45L.