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Die Belehrung gemäß § 33 Abs. 4 AsylG muss einen Hinweis auf die Möglichkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge enthalten, gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 AsylG den Asylantrag nach angemessener Prüfung abzulehnen.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Februar 2023 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Am 19. Februar 2020 stellte er förmlich einen Asylantrag. An diesem Tag wurde ihm das Formular "WICHTIGE MITTEILUNG - Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und - Allgemeine Verfahrenshinweise" - in Übersetzung in die arabische Sprache - ausgehändigt. In der deutschen Ursprungsversion finden sich unter anderem die folgenden Ausführungen:
3"Nichtbetreiben des Verfahrens
4Wenn Sie Ihr Asylverfahren nicht betreiben, gilt Ihr Asylantrag als zurückgenommen. Es wird vermutet, dass Sie Ihr Asylverfahren nicht betreiben, wenn Sie (...) den Anhörungstermin nicht wahrnehmen. (...)
5Die Vermutung des Nichtbetreibens gilt nicht, wenn Sie dem Bundesamt unverzüglich nachweisen, dass Ihr Versäumnis (...) auf Umstände zurückzuführen ist, auf die Sie keinen Einfluss hatten.
6Gilt der Asylantrag als zurückgenommen, stellt das Bundesamt das Verfahren ein und entscheidet ohne weitere Anhörung nach Aktenlage, ob ein Abschiebungsverbot vorliegt."
7Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. März 2020 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen und drohte ihm die Abschiebung nach Griechenland an. Mit Urteil vom 23. Februar 2021 hob das Verwaltungsgericht Münster den Bescheid auf.
8Mit Schreiben vom 11. Januar 2023 teilte das Bundesamt dem Kläger über seine Prozessbevollmächtigte mit, dass am 8. Februar 2023 der Termin zur persönlichen Anhörung anberaumt worden sei. Das Schreiben enthielt Hinweise zu § 33 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) in deutscher Sprache. Der Kläger erschien zur Anhörung nicht.
9Mit Bescheid des Bundesamts vom 15. Februar 2023 stellte die Beklagte das Asylverfahren ein (1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und drohte dem Kläger die Abschiebung in den Irak an (3.). Ferner ordnete sie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (4.). Die den Bescheid enthaltende Sendung sandte sie an die Prozessbevollmächtigte des Klägers. Ausweislich eines Aktenvermerks "gemäß § 4 Abs. 2 VwZG" gab sie den Bescheid als Einschreiben am 17. Februar 2023 zur Post. Auf dem Begleitschreiben findet sich - offenbar als Aufdruck/Aufkleber - die Eintragung "RJ 41 000 000 0XX".
10Am 7. März 2023 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben und zugleich einen einstweiligen Rechtschutzantrag (4 L 193/23.A) gestellt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, die Klage sei zulässig, insbesondere habe er sie fristgerecht erhoben, da die den Bescheid enthaltende Sendung nach dem Eingangsstempel der Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten dort am 21. Februar 2023 eingegangen sei. Sie sei auch begründet. Der Bescheid sei rechtswidrig, da er nicht hinreichend i. S. d. § 33 Abs. 4 AsylG belehrt worden sei. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot seien daher verfrüht ergangen. Außerdem lägen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vor. Schiitische Milizen würden im Irak für Gräueltaten verantwortlich gemacht. Der irakische Staat könne keine vollständige Kontrolle gewährleisten. Der Irak müsse als "failed state" gelten. Es müsse ein allgemeines Abschiebungsverbot angenommen werden. Es sei nicht anzunehmen, dass er im Irak über dem Existenzminimum leben werde.
11Der Kläger beantragt - schriftsätzlich sinngemäß -,
121. den Bescheid des Bundesamts vom 15. Februar 2023 aufzuheben,
132. die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
14Die Beklagte beantragt - schriftsätzlich -,
15die Klage abzuweisen.
16Sie verweist auf die Begründung des angegriffenen Bescheids.
17Die Deutsche Post hat auf telefonische Nachfrage durch den Einzelrichter am 21. März 2023 mitgeteilt, dass es sich bei dem Einschreiben, dem die Sendungsnummer " RJ 41 000 000 0XX" zugeordnet wurde, um ein Einwurf-Einschreiben gehandelt habe.
18Mit Beschluss des Einzelrichters vom 22. März 2023 (4 L 193/23.A) hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
19Mit Verfügung vom 5. April 2023 - jeweils zugestellt am selben Tag - hat das Gericht den Beteiligten Gelegenheit gegeben, zur Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, binnen einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung der Verfügung Stellung zu nehmen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe:
21Das Gericht kann gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.
22Die Klage hat nur hinsichtlich des Klageantrags zu 1. Erfolg.
23Der Klageantrag zu 2. ist unzulässig. Stellt das Bundesamt - wie im vorliegenden Fall - das Asylverfahren unter Verweis auf § 33 Abs. 1 AsylG ein, kann der Kläger die Aufhebung dieses Bescheids erreichen, was die Fortführung des Verfahrens und eine erneute Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten zur Folge hat. Die darüber hinausgehende Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots ist - jedenfalls soweit es sich wie im vorliegenden Fall nicht um einen Hilfsantrag handelt - nicht statthaft.
24Vgl. Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, in: Funke-Kaiser (Hrsg.), GK-AsylG, § 33 AsylG Rn. 122, Stand: 1. März 2021.
25Demgegenüber hat die Anfechtungsklage (Klageantrag zu 1.) Erfolg. Sie ist zulässig, insbesondere hat der Kläger die Klagefrist des § 74 Abs. 1 HS 1 AsylG gewahrt. Danach muss die Klage gegen Entscheidungen nach dem AsylG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden. Der Kläger hat diese Frist durch die Erhebung der Klage am 7. März 2023 gewahrt, da der streitgegenständliche Bescheid seiner Prozessbevollmächtigten ausweislich des entsprechenden auf dem eingereichten Bescheid aufgebrachten Eingangstempels der Kanzlei am 21. Februar 2023 zugegangen ist.
26Der Bescheid gilt nicht gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) zu einem früheren Zeitpunkt als zugestellt. Nach § 4 Abs. 1 VwZG kann ein Dokument durch die Post mittels Einschreiben durch Übergabe oder mittels Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden. Nach § 4 Abs. 2 VwZG genügt zum Nachweis der Zustellung der Rückschein. Im Übrigen gilt das Dokument am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, dass es nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang und dessen Zeitpunkt nachzuweisen. Der Tag der Aufgabe zur Post ist in den Akten zu vermerken. Nur die in § 4 Abs. 1 VwZG genannten Zustellungsarten (Übergabeeinschreiben, Einschreiben mit Rückschein) können die Zustellungsfiktion auslösen. Die Übersendung mittels Einwurf-Einschreiben vermag dies nicht.
27Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 19. September 2000 - 9 C 7.00 -, juris, Rn. 8; Verwaltungsgerichtshof (VGH) München, Beschluss vom 4. Oktober 2022 - 15 ZB 22.30627 -, juris, Rn. 25.
28Unter Berücksichtigung dieser Kriterien greift die Zustellungsfiktion des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG im vorliegenden Fall nicht ein, da es sich nach telefonischer Auskunft der Deutschen Post vom 21. März 2023 bei der Sendung, die den streitgegenständlichen Bescheid enthielt und der die Sendungsnummer "RJ 41 000 000 0XX" zugeordnet ist, um ein Einwurf-Einschreiben handelte.
29Die Klage ist auch begründet. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) erweist sich der Einstellungsbescheid als rechtswidrig; er verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Beklagte beruft sich hinsichtlich der Feststellung in Ziffer 1 auf § 33 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG sowie darauf, der Kläger habe das Asylverfahren nicht betrieben, da er einer Aufforderung zur Anhörung nicht nachgekommen sei (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG).
30Die Rücknahmefiktion tritt jedoch nur ein, wenn der Ausländer auf die nach den Absätzen 1 und 3 eintretenden Rechtsfolgen schriftlich und gegen Empfangsbestätigung hingewiesen wurde, § 33 Abs. 4 AsylG.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2019 - 1 C 46.18 -, juris, Rn. 30; Heusch, in: Kluth/ders. (Hrsg.), BeckOK AuslR, § 33 AsylG Rn. 9, Stand: 1. Januar 2023.
32Die Beklagte ist ihrer Hinweispflicht nicht hinreichend nachgekommen. Dies gilt zum einen mit Blick auf die im Formular "Wichtige Mitteilung - Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und - Allgemeine Verfahrenshinweise" enthaltenen Ausführungen, die dem Kläger in arabischer Übersetzung bereits am 19. Februar 2020 gegen Empfangsbekenntnis übergeben worden waren. Die dortigen - zum Zeitpunkt der Übergabe der Übersetzung korrekten - Ausführungen entsprechen nicht mehr der zum Zeitpunkt der avisierten Anhörung des Antragstellers am 8. Februar 2023 geltenden Rechtslage. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der seit dem 1. Januar 2023 geltenden Fassung hat das Bundesamt im Falle des Nichtbetreibens erstmals die Wahl zwischen der Einstellung des Verfahrens und der Ablehnung des Asylantrags nach angemessener Prüfung.
33Vgl. zur fehlerhaften Belehrung zum Wahlrecht nach der alten Rechtslage: BVerwG, Urteil vom 15. April 2019 - 1 C 46.18 -, juris, Rn. 31; Allgemein zur Erforderlichkeit einer erneuten Belehrung nach Änderung der Rechtslage: Heusch, in: Kluth/ders. (Hrsg.), BeckOK AuslR, § 33 AsylG Rn. 7, Stand: 1. Januar 2023.
34Ein Hinweis auf die Möglichkeit, gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 AsylG den Asylantrag nach angemessener Prüfung abzulehnen, fehlt. Auf die Frage, ob die ebenfalls überholte Belehrung zur Frist nach § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG zur Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Einstellungsbescheids führt,
35vgl. VG Berlin, Beschluss vom 20. Februar 2023 - 5 L 83/23 A -, juris, Rn. 12,
36kommt es daher nicht entscheidend an.
37Die weiteren mit dem Ladungsschreiben erfolgten Hinweise vermögen eventuelle Unklarheiten nicht auszuräumen, da sie lediglich in deutscher Sprache und damit nicht in einer für den Kläger verständlichen Sprache vorlagen.
38Vgl. zur Problematik: VGH Mannheim, Urteil vom 23. Januar 2018 - A 9 S 350/17 - juris, Rn. 25 ff., 23 m. w. N.; umstritten bei anwaltlicher Vertretung im Asylverfahren; wie hier: OVG Greifswald, Beschluss vom 18. Mai 2020 - 4 LB 7/17 -, juris, Rn. 23.
39Vor diesem Hintergrund sind auch die Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben, da diese aufgrund der voraussichtlich fehlerhaften Einstellung des Verfahrens jedenfalls verfrüht ergangen sind.
40Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.