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1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
2. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,-- € festgesetzt.
Gründe:
2A. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen nicht die erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).
3B. Der – sinngemäße – Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 1494/22 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2022 hinsichtlich der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts wiederherzustellen und hinsichtlich der Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie der Abschiebungsandrohung anzuordnen,
5hat keinen Erfolg.
6I. Soweit die Antragstellerin die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in der Ordnungsverfügung vom 2. Juni 2022 getroffene Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts begehrt, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft, weil die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung dieser Regelung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gesondert angeordnet hat, und auch im Übrigen zulässig.
7Der Aussetzungsantrag ist jedoch unbegründet.
8Zunächst ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts ordnungsgemäß schriftlich begründet worden (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Die Antragsgegnerin hat einzelfallbezogen und nicht nur formelhaft dargelegt, dass ein Abwarten des rechtskräftigen Abschlusses des Hauptsacheverfahrens wegen der nicht gerechtfertigten Belastung des öffentlichen Haushalts infolge des Bezugs öffentlicher Leistungen durch die Antragstellerin und ihres Ehemannes nicht hingenommen werden könne. Ob diese Begründung auch in der Sache trägt, ist im Rahmen des Begründungserfordernisses, das lediglich eine formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Sofortvollzugsanordnung darstellt, unerheblich.
9Vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Februar 2016 – 3 S 2225/15 –, juris, Rn. 8; OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. Juni 2021 – 13 ME 243/21 –, juris, Rn. 23.
10Die im Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vom Gericht vorzunehmende Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des aufenthaltsbeendenden Verwaltungsakts und dem privaten Interesse der Antragstellerin, bis zu der Entscheidung des Gerichts im Hauptsacheverfahren von einer Vollziehung verschont zu bleiben, fällt zulasten der Antragstellerin aus. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts überwiegt das private Interesse der Antragstellerin an einem einstweiligen Aufschub der Vollziehung.
11Die Verlustfeststellung in Ziffer I. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung erweist sich nämlich als offensichtlich rechtmäßig.
121. Die Antragsgegnerin konnte die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts auf die hier allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU stützen. Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (Freizügigkeitsrecht) innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht mehr vorliegen.
13a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen im insofern grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts,
14vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22.14 –, juris, Rn. 11,
15im Fall der Antragstellerin vor.
16aa) Die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts ist nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nur innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet möglich. Insofern wurde diese Vorschrift mit den Voraussetzungen für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU vollständig synchronisiert (vgl. BT-Drs. 18/2581, 16).
17Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Juli 2013 – 8 LA 148/12 –, juris, Rn. 15 ff.; Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 34. Edition, Stand: 01.01.2021, § 5 FreizügG/EU Rn. 14.
18Die Verlustfeststellung scheidet nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU aus, sobald der Betroffene ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat.
19Der Erwerb eines solchen Daueraufenthaltsrechts, das aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG folgt, setzt unionsrechtlich voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG (oder § 2 Abs. 1 FreizügG/EU) erfüllt hat.
20Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-424/10 und C-425/10 –, Ziolkowski und Szeja, Rn. 31 ff.; BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2012 – 10 C 8.12 –, juris, Rn. 16.
21Für den Ablauf der in § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU genannten Fünfjahresfrist, nach deren Ablauf ein Unionsbürger ein Daueraufenthaltsrecht erwirbt und die Möglichkeit einer Feststellungsentscheidung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU erlischt, kommt es ausnahmsweise auf die Sach- und Rechtslage im Erlasszeitpunkt der Verlustfeststellung an und nicht, wie sonst üblich, im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts. Denn § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist zu entnehmen, dass ein einmal entstandenes Daueraufenthaltsrecht durch einen späteren Wegfall der Voraussetzungen nicht mehr berührt wird.
22Vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Dezember 2017 – 1 B 142.17 –, juris, Rn. 5; BayVGH, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – 10 ZB 19.2131 –, juris, Rn. 7.
23bb) Ausgehend davon waren die Voraussetzungen für das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin jedenfalls am 1. Februar 2019 – und somit vor dem Erlass der Verlustfeststellung am 2. Juni 2022 – entfallen (1), ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits ein die Verlustfeststellung ausschließendes Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU entstanden war (2), und liegen seitdem auch nicht wieder vor (3).
24(1) (a) Zunächst bestand für die Antragstellerin als niederländische Staatsangehörige ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG (voraussetzungslose Freizügigkeit für die ersten drei Monate des Aufenthalts) für den Zeitraum vom 12. bis 14. August 2016 sowie – daran anschließend – nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG (Arbeitnehmerfreizügigkeit) für den Zeitraum vom 15. August bis 30. November 2016. Die Antragstellerin reiste am 12. August 2016 mit einem gültigen niederländischen Reisepass in die Bundesrepublik ein und nahm ausweislich des Auszugs aus dem Melderegister der Stadt Q. vom 16. September 2016 ihren Wohnsitz in Q. . Ihre Erwerbstätigkeit (als Geschäftsführerin der Pizzeria E. H. in Q. ) ist durch den Arbeitsvertrag vom 12. August 2016 sowie die vorgelegten Gehaltsabrechnungen nachgewiesen.
25(b) Für den Zeitraum vom 1. Dezember 2016 bis 6. Januar 2017 kann das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts für die Antragstellerin dahinstehen, da – wie nachfolgend aufzuzeigen ist – jedenfalls zu einem späteren Zeitpunkt ein Entfallen der Freizügigkeitsvoraussetzungen gegeben ist.
26In diesem Zeitraum stand der Antragstellerin aber jedenfalls die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG nicht mehr zu, weil sie ihrem eigenen Vortrag nach und auch nachgewiesen durch die vorgelegte Gehaltsabrechnung für den Monat November 2016, aus der sich ein Austritt zum 30. November 2016 ergibt, während dieses Zeitraums nicht erwerbstätig war.
27Die vorige Arbeitnehmerfreizügigkeit konnte für den vorgenannten Zeitraum auch nicht nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG wegen vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall nachwirken. Zwar hat die Antragstellerin vorgetragen, im genannten Zeitraum erkrankt gewesen zu sein, jedoch hat sie hierfür keinerlei Nachweis vorgelegt und darüber hinaus auch vorgetragen, dass hierüber keine Nachweise (mehr) existierten; für eine aus der behaupteten Erkrankung folgende vorübergehende Erwerbsminderung gilt dies erst recht.
28Vgl. zur Erforderlichkeit eines Nachweises behaupteter Erwerbsminderung im Rahmen von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG OVG NRW, Beschluss vom 9. März 2016 – 18 B 59/16 –, juris, Rn. 2.
29Auch liegen weder die Voraussetzungen für ein Fortwirken der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. c) der Richtlinie 2004/38/EG wegen ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit im Laufe der ersten zwölf Monate der Beschäftigung noch für ein Freizügigkeitsrecht für nicht erwerbstätige Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 4 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG vor. Insofern hat die Antragstellerin weder eine Arbeitslosenmeldung bei der zuständigen Agentur für Arbeit noch das Bestehen ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel vorgetragen.
30(c) Im Zeitraum vom 7. Januar 2017 bis 30. September 2017 bestand für die Antragstellerin allerdings erneut Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG, da sie mit Arbeitsvertrag vom 8. Januar 2017 erneut in der Pizzeria E. H. in Q. – nunmehr als Köchin – beschäftigt war. Insofern hat die Antragstellerin den Arbeitsvertrag sowie Gehaltsabrechnungen für den genannten Zeitraum vorgelegt.
31(d) Diese Arbeitnehmerfreizügigkeit wirkte zugunsten der Antragstellerin im Zeitraum vom 1. Oktober 2017 bis 31. März 2018 – also für eine Dauer von sechs Monaten – gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. c) der Richtlinie 2004/38/EG fort.
32Ein grundsätzlich zeitlich unbeschränktes Fortwirken der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG,
33vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 11. April 2019 – C-438/17 –, Tarola, Rn. 27,
34ab dem 1. Oktober 2017 scheidet hingegen aus. Denn die Erwerbstätigkeit der Antragstellerin war im Zeitraum vom 1. Dezember 2016 bis einschließlich 6. Januar 2017 – wie oben festgestellt – wegen Arbeitslosigkeit unterbrochen.
35Es spricht Vieles dafür, die Voraussetzungen für die Fortwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG bereits aufgrund des Vorliegens einer solchen Unterbrechung zu verneinen, also im Zusammenhang der mehr als einjährigen Erwerbstätigkeit eine ununterbrochene Beschäftigungsdauer zu fordern. Denn einerseits entspricht nur eine solche Auslegung dem Sinn und Zweck der Vorschrift des Art. 7 Abs. 3 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG, einem bereits hinreichend in den Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer das Freizügigkeitsrecht bei Eintritt unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu erhalten. Die Hinnahme von Lücken zwischen mehreren Beschäftigungen während eines längeren Zeitraums, die erst zusammengenommen eine Dauer von einem Jahr überschreiten, wird dieser Zielsetzung nicht gerecht.
36Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Mai 2015 – 12 B 312/15 –, juris, Rn. 20.
37Überdies sprechen Wortlaut des Art. 7 Abs. 3 lit. c) der Richtlinie 2004/38/EG – "nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit" – und systematischer Zusammenhang dieser Vorschrift mit dem in Rede stehenden lit. b) für die Forderung einer ununterbrochenen Beschäftigungsdauer von mehr als einem Jahr. Die Vorschrift des lit. c) stellt ausdrücklich auf ein einziges Arbeitsverhältnis ab, indem sie von der Befristung "seines" – Singular – Arbeitsvertrags auf weniger als ein Jahr spricht. Auch hinsichtlich der zweiten Variante verlangt die Vorschrift ausdrücklich einen zusammenhängenden Zeitraum, nämlich "im Laufe der ersten zwölf Monate". Nach systematischer Betrachtung kann dies für die Vorschrift des in Rede stehenden Art. 7 Abs. 3 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG nicht ohne Bedeutung sein. Denn beide Vorschriften beziehen sich inhaltlich aufeinander, indem lit. b) bei "mehr als einjähriger Beschäftigung" und lit. c) bei weniger als beziehungsweise genau einem Jahr Beschäftigung greift.
38Auch der Umstand, dass für den Erwerb eines voraussetzungslosen Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG regelmäßig der fünfjährige nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG ununterbrochen rechtmäßige Aufenthalt gefordert wird,
39vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-424/10 und C-425/10 –, Ziolkowski und Szeja, Rn. 31 ff.; BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2012 – 10 C 8.12 –, juris, Rn. 16,
40spricht für die Forderung einer ununterbrochenen Beschäftigungsdauer. Denn dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts und der grundsätzlich unbeschränkten Fortwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist gemein, dass hierdurch eine zuvor bestehende Rechtsposition verfestigt wird. Dann aber erscheint es systemwidrig, im einen Fall (Erwerb des Daueraufenthaltsrechts) eine ununterbrochene Dauer zu fordern und im anderen Fall (grundsätzlich unbeschränkte Fortwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit) nicht.
41Selbst wenn man aber mit der sozialgerichtlichen Rechtsprechung keine ununterbrochene Beschäftigungsdauer von mehr als einem Jahr fordern würde,
42vgl. hierzu BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R –, juris, Rn. 22 ff.,
43hat das Sozialgericht D dennoch im Fall der Antragstellerin festgestellt, dass die hier im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigungsdauer fast 10 % betragende Unterbrechung von 37 Tagen der Annahme der Fortwirkung nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU entgegenstehe, weil es sich hierbei nicht mehr um eine bloß kurzfristige Unterbrechung handele.
44Vgl. SG Aachen, Beschluss vom 05.09.2019 – S 19 SO 115/19 ER –, n. v.
45Diese Entscheidung hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 5. November 2019 – L 12 SO 379/19 B ER – bestätigt.
46Aufgrund der (schädlichen) Unterbrechung beider Beschäftigungszeiträume kommt nur die sechsmonatige Fortwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. c) der Richtlinie 2004/38/EG für die Antragstellerin in Betracht. Denn weder der Beschäftigungszeitraum vom 15. August bis zum 30. November 2016 noch der vom 7. Januar 2017 bis zum 30. September 2017 beträgt für sich betrachtet mehr als 12 Monate.
47(e) Es kann offen bleiben, ob der für die Zeiträume vom 3. April 2018 – im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I – bis zum 31. Oktober 2018 – Umzug der Antragstellerin in den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin – und vom 1. November 2018 bis zum 31. Januar 2019 nachgewiesene Bezug von Leistungen nach dem SGB II durch die Antragstellerin als unangemessen und daher schädlich für das Freizügigkeitsrecht als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin anzusehen ist.
48Vgl. EuGH Urteile vom 20. September 2001 – C-184/99 –, Grzelczyk, Rn. 42 ff.; vom 17. September 2002 – C-413/99 –, Baumbast, Rn. 90 ff. und vom 7. September 2004 – C-456/02 –, Trojani, Rn. 45 f.; BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22.14 –, juris, Rn. 21.
49(f) Spätestens ab dem 1. Februar 2019 lagen für die Antragstellerin die Voraussetzungen eines Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 FreizügG/EU nicht mehr vor. Ab diesem Zeitpunkt kommt für die Antragstellerin – abgesehen von einem Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 der Richtlinie 2004/38/EG, hierzu unter (2) – nur noch ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG für nicht erwerbstätige Unionsbürger in Betracht. Die Voraussetzungen hierfür liegen jedoch nicht vor.
50Jedenfalls ab dem 1. Februar 2019 verfügte die Antragstellerin (gemeinsam mit ihrem Ehemann) nicht über ausreichende Existenzmittel i.S.d. § 4 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG. Für diesen Zeitpunkt ist das Vorliegen ausreichender Existenzmittel für die Antragstellerin und ihren Ehemann als Familienangehörigen i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 3 lit. a) FreizügG/EU i.V.m. Art. 2 Nr. 2 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG nicht festzustellen.
51Ausreichende Existenzmittel können nicht aus dem Vortrag der Antragstellerin, ihre beiden Söhne bzw. jedenfalls ihr in Kanada lebender Sohn zahlten ihr monatlich etwa 600 € Unterhalt, geschlossen werden.
52Es ist bereits unklar, ob die Antragstellerin diesen Umstand auch für den hier betrachteten Zeitpunkt ab dem 1. Februar 2019 behauptet. Die behaupteten Unterhaltszahlungen der Söhne finden im Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin nämlich erstmals in einem Schreiben vom 12. Mai 2021 Erwähnung, mit dem die Antragsgegnerin Nachweise über die Unterhaltsgewährung durch die Söhne der Antragstellerin gefordert hat.
53Darüber hinaus sind die behaupteten Unterhaltszahlungen durch die Söhne der Antragstellerin auch in keiner Weise nachgewiesen. Aus den von der Antragstellerin vorgelegten Kontoauszügen ergeben sich im Zeitraum von Januar 2019 bis einschließlich März 2019 – und damit auch im hier betrachteten Zeitpunkt ab dem 1. Februar 2019 – lediglich Bargeldeinzahlungen in der Höhe zwischen 20 und 470 €. Es ist völlig unklar, welchen Ursprungs diese sind. Dass es sich hierbei um Unterhaltszahlungen der Söhne handelt, hat die Antragstellerin schon nicht geltend gemacht. Insofern würde sich auch die Frage aufdrängen, wieso die Antragstellerin die Unterhaltszahlungen durch ihre in den Niederlanden und Kanada lebenden Söhne bar erhalten haben soll. Andere Unterlagen hat die Antragstellerin nicht vorgelegt.
54Dagegen, dass der Antragstellerin und ihrem Ehemann ab dem 1. Februar 2019 ausreichende Existenzmittel zur Verfügung standen, spricht auch, dass sie am 30. Juli 2019 den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Stadt C. bezüglich ihres Antrags auf Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit nach dem Vierten Kapitel des SGB XII vom 14. Dezember 2018 beim Sozialgericht Aachen – S 4 AS 968/18 ER – beantragt hat. Auch der Vortrag der Antragstellerin im Rahmen dieses sozialgerichtlichen Eilverfahrens steht dem Vorhandensein ausreichender Existenzmittel entgegen. So hat sie bei Antragstellung vorgetragen, mittellos zu sein, da sie seit Februar 2019 keinerlei Leistungen mehr erhalte, und um schnelle Hilfe gebeten. Zudem hatte bereits ihr Ehemann in einem (nicht unterzeichneten) Schreiben vom 21. Mai 2019 an die Stadt C. angegeben, dass die Antragstellerin seit dem 31. Januar 2019 keinerlei Leistungen und Einnahmen mehr erzielt habe, da sie aufgrund ihrer Erkrankungen auch nicht mehr in der Lage sei, einer Beschäftigung nachzugehen. Sie hätten sich daher Geld bei Freunden und Verwandten aus den Niederlanden leihen müssen – inzwischen über 3.000 € –, das sie in Raten zurückzahlen müssten.
55Auch die vorgetragenen Darlehen von Freunden und Verwandten stellen ersichtlich keine ausreichenden Existenzmittel i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG dar, da diese wieder zurückgezahlt werden müssen.
56(2) Das Entfallen der Freizügigkeitsvoraussetzungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 FreizügG/EU ab dem 1. Februar 2019 war auch nicht deshalb unschädlich, weil die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt bereits ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat. Die Voraussetzungen des § 4a FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs.1 und Art. 17 der Richtlinie 2004/38/EG lagen nämlich zu diesem Zeitpunkt für die Antragstellerin nicht vor.
57(a) § 4a Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG (Daueraufenthaltsrecht nach fünfjährigem ununterbrochen im unionsrechtlichen Sinne rechtmäßigen Aufenthalt) scheitert bereits daran, dass sich die Antragstellerin am 1. Februar 2019 noch nicht fünf Jahre im Bundesgebiet aufgehalten hat.
58(b) Ein ausnahmsweise früher entstandenes Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 der Richtlinie 2004/38/EG kommt für sie bis zum 1. Februar 2019 ebenfalls nicht in Betracht.
59(aa) § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 Satz 1 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG (Ausnahmen bei mindestens dreijährigem ständigen Aufenthalt) scheidet insofern aus, weil sich die Antragstellerin am 1. Februar 2019 noch nicht drei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
60(bb) § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 Satz 1 lit. c) der Richtlinie 2004/38/EG (Ausnahme bei dreijähriger ständiger Erwerbstätigkeit) scheidet aus, weil die Antragstellerin am 1. Februar 2019 noch nicht drei Jahre ununterbrochen im Bundesgebiet erwerbstätig war.
61(cc) Auch die Ausnahme nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 Satz 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG liegt bei der Antragstellerin nicht vor.
62Sie scheitert in der Alternative des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 lit. a) FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 Satz 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG (Ausnahme bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit) daran, dass hinsichtlich der vorgetragenen Erkrankungen der Antragstellerin keine Berufskrankheit oder ein Arbeitsunfall festzustellen ist. Dies hat die Antragstellerin auch nicht behauptet.
63Die Alternative des Buchstaben b) (Ausnahme bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung nach mindestens zweijährigem ständigen Aufenthalt) liegt ebenfalls nicht vor, weil die Antragstellerin sich im – insoweit maßgeblichen – Zeitpunkt des Verlusts der Beschäftigung,
64vgl. Tewocht, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 34. Edition, Stand: 01.10.2021, § 4a FreizügG/EU, Rn. 31,
65am 30. September 2017 noch keine zwei Jahre im Bundesgebiet aufgehalten hat. Sie ist nämlich erst am 12. August 2016 erstmals in die Bundesrepublik eingereicht.
66Darüber hinaus fehlt es für diese Ausnahme auch an der erforderlichen Kausalität zwischen der Aufgabe der Erwerbstätigkeit einerseits und dem Eintritt der vollen Erwerbsminderung andererseits. Die Antragstellerin hat nicht wegen einer im Zeitpunkt der Beschäftigungsbeendigung vorliegenden Arbeitsunfähigkeit ihre Beschäftigung aufgegeben. Das Daueraufenthaltsrecht entsteht nicht, wenn die Beschäftigung zunächst unfreiwillig endet und erst später während der Arbeitslosigkeit, insbesondere auch erst während eines weiteren Aufenthalts, die Arbeitsunfähigkeit eintritt.
67Vgl. EuGH, Urteil vom 26.05.1993 – C-171/91 –, BeckRS 2004, 74657, Rn. 19; Tewocht, a. a. O.; Berlit, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Lfg. 70, 1. Juli 2013, § 4a FreizügG/EU, Seite 16, Rn. 36.
68Das war hier aber der Fall. Der Antragstellerin wurde zwar aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung zum 30. September 2017 gekündigt. Jedoch ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt auch eine Arbeits- oder gar Erwerbsunfähigkeit bei der Antragstellerin vorlag.
69Dem steht die Feststellung der vollen Erwerbsminderung vom 1. Januar 2018 durch die Agentur für Arbeit C1. nicht entgegen. Denn zum einen erfolgte diese nur voraussichtlich und zum anderen wurde die Antragstellerin im Dezember 2018 (erneut) medizinisch von der Deutschen Rentenversicherung Rheinland begutachtet und in diesem Zusammenhang die voraussichtlich dauerhafte volle Erwerbsminderung erst für mindestens ab dem 17. Dezember 2018 – und damit über ein Jahr nach dem Beschäftigungsende im September 2017 – festgestellt. Einer erneuten Begutachtung hätte es nicht bedurft, wenn die Feststellung der Agentur für Arbeit C1. aus Januar 2018 bereits als endgültig und abschließend angesehen worden wäre.
70(c) An diesem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn man zugunsten der Antragstellerin annähme, dass sie auch im unter 1. a) bb) (1) (b) betrachteten Zeitraum vom 1. Dezember 2016 bis 6. Januar 2017 freizügigkeitsberechtigt gewesen ist. Denn auch unter dieser Annahme würde aus den vorgenannten Gründen keiner der Ausnahmetatbestände des § 4a Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 der Richtlinie 2004/38/EG vorliegen.
71(3) Die Antragstellerin erfüllt im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts auch nicht wieder die Voraussetzungen für ein – einzig in Betracht kommendes – Freizügigkeitsrecht für nicht erwerbstätige Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG.
72Ein solches ist insbesondere nicht aufgrund ihres Vortrags anzunehmen, ihr in den Niederlanden lebender volljähriger Sohn, der dort als Taxifahrer arbeite, werde fortan monatlich 1.200 € an die Antragstellerin und ihren Ehemann zahlen. Zwar hat die Antragstellerin eine entsprechende schriftliche Erklärung dieses Sohnes vom 23. September 2022 ohne darüberhinausgehende Angaben vorgelegt.
73Hiermit ist jedoch der Erhalt der behaupteten Unterhaltszahlungen nicht ausreichend nachgewiesen.
74Zunächst dürfen im vorliegenden Einzelfall überhaupt Nachweise zum Vorliegen ausreichender Existenzmittel gefordert werden. Hierzu war bereits die Antragsgegnerin nach § 5a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 FreizügG/EU berechtigt. Demnach darf die zuständige Behörde – mit Unionsrecht vereinbar –,
75vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 5a FreizügG/EU Rn. 7,
76im Fall des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU einen Nachweis über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verlangen. Nachweise über das Vorliegen von ausreichenden Existenzmitteln dürfen jedenfalls dann gefordert werden, wenn der Betroffene einen Antrag auf Sozialleistungen gestellt hat, weil er bereits durch die Antragstellung zu erkennen gibt, nicht über ausreichende Existenzmittel zu verfügen.
77Vgl. hierzu Sächsisches OVG, Beschluss vom 7. August 2014 – 3 B 507/13 –, juris, Rn. 14.
78Dies war bei der Antragstellerin und ihrem Ehemann, die in der Vergangenheit mehrfach Sozialleistungsanträge gestellt und teilweise solche Leistungen auch erhalten haben bzw. noch erhalten, der Fall.
79So hat die Antragstellerin am 10. September 2018 beim Jobcenter der Antragsgegnerin einen Leistungsantrag auf Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II und am 14. Dezember 2018 bei der Stadt C. einen Leistungsantrag auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gestellt und in beiden Fällen auch um gerichtlichen (Eil)Rechtsschutz nachgesucht. Im Zeitraum vom 1. November 2018 bis zum 31. Januar 2019 erhielt sie vorläufig Leistungen nach dem SGB II. Ihr Ehemann bezieht jedenfalls seit dem 1. März 2019 bis heute fortlaufend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel SGB XII.
80Vor diesem Hintergrund können auch jetzt weiterhin Nachweise der behaupteten ausreichenden Existenzmittel gefordert werden.
81Ein entsprechender Nachweis ist jedoch bisher nicht erbracht. Der Nachweis des Vorhandenseins ausreichender Existenzmittel nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG kann mit jedem geeigneten Mittel geführt werden.
82Vgl. EuGH, Urteil vom 9. Januar 2007 – C 1/05 –, Jia, Rn. 41.
83Die schriftliche Erklärung desjenigen Familienangehörigen, der dem nicht erwerbstätigen Unionsbürger Unterhaltsleistungen erbringt, erscheint im Grundsatz geeignet, um ausreichende Existenzmittel nachzuweisen. Die schriftliche Erklärung des Sohnes der Antragstellerin B. vom 23. September 2022 kann aber unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falls nicht als geeignet angesehen werden. Aus der Erklärung wird nämlich nicht ausreichend ersichtlich, dass der in den Niederlanden lebende Sohn auch tatsächlich dauerhaft und zuverlässig die Antragstellerin und ihren Ehemann finanziell unterstützen wird.
84So ist bereits völlig unklar, ob der Sohn B. zu einer solchen Unterstützung finanziell überhaupt in der Lage ist. Es ist nicht ansatzweise dargetan, über welches Einkommen dieser Sohn tatsächlich verfügt und welche sonstigen Belastungen ihn treffen. Dabei ist vor allem auch zu berücksichtigen, dass der in der Erklärung genannte Betrag von 1.200 € monatlich nahezu einem vollen monatlichen Nettoeinkommen im Niedriglohnsektor entspricht.
85Vorliegend bestehen auch nicht unerhebliche Zweifel daran, dass der Sohn tatsächlich über eine derartige finanzielle Leistungsfähigkeit verfügt. Denn mit Schreiben vom 27. April 2022 trug die Antragstellerin noch vor, zwischenzeitlich tatsächlich Probleme mit der Sicherung ihres Lebensunterhalts gehabt zu haben, weil ihr in den Niederlanden lebender Sohn auf Grund der Corona-Pandemie erhebliche Einbußen als Taxifahrer habe erleiden müssen und sie daher nicht mehr regelmäßig habe unterstützen können; es habe sich dann jedoch ihr in Kanada lebender Sohn N. bereit erklärt, sie monatlich mit 600 € – also der Hälfte dessen, was nun der Sohn B. zahlen will – zu unterstützen.
86Zudem hat die Antragstellerin die in der Vergangenheit behaupteten Unterhaltsleistungen durch ihren in den Niederlanden bzw. ihren in Kanada lebenden Sohn trotz entsprechender – berechtigter – Aufforderung durch die Antragsgegnerin nicht ansatzweise – auch nicht durch eine entsprechende Erklärung des jeweils betroffenen Sohnes – nachgewiesen. Ihre Angaben im Rahmen der sozialgerichtlichen Verfahren gegen die Antragsgegnerin bzw. die Stadt C. widersprechen der Annahme des Erhalts solcher Unterhaltsleistungen vielmehr.
87Außerdem hat die Antragstellerin über den aktuell weiteren Bezug der niederländischen Rente durch ihren Ehemann keinerlei Nachweise mehr erbracht. Insofern liegen der Kammer lediglich entsprechende Schreiben aus Februar 2018 und Juni 2021 vor.
882. Der Antragsgegnerin war vorliegend nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU Ermessen bezüglich der Entscheidung über die Verlustfeststellung eingeräumt. Insofern darf das Gericht nur das Vorliegen etwaiger Ermessenfehler i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO überprüfen. Solche sind hier nicht ersichtlich.
89Zunächst hat die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen bei der Entscheidung erkannt.
90Sie hat es auch ordnungsgemäß ausgeübt, insbesondere hat sie bei ihren Erwägungen auch etwaige familiäre Bindungen der Antragstellerin (zu ihrem Ehemann) sowie unter das Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK fallende sonstige persönliche Bindungen und Umstände ausreichend berücksichtigt. So hat sie auf Seiten der Antragstellerin in Rechnung gestellt, dass für ihren Ehemann ebenfalls mit Ordnungsverfügung vom 2. Juni 2022 der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt wurde, die Antragstellerin sich nur für einen kurzen Zeitraum im Bundesgebiet aufgehalten hat und erst im hohen Lebensalter eingereist ist und ausreichende familiäre – durch den in den Niederlanden lebenden Sohn – und wirtschaftliche – durch die niederländische Rente ihres Ehemannes – Verwurzelungen in den Niederlanden bestehen, die der Antragstellerin ein Leben dort ermöglichen.
91Dagegen hat die Antragsgegnerin in nicht zu beanstandender Weise abgewogen, dass in Ermangelung der Aussicht auf die eigenständige Existenzsicherung die Antragstellerin und ihr Ehemann bis zu ihrem Lebensende überwiegend auf öffentliche Leistungen angewiesen sein würden.
92II. Soweit die Antragstellerin sich gegen die in Ziffer II. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung enthaltene Erlaubnisablehnung nach dem Aufenthaltsgesetz wendet, ist der Antrag – unabhängig von der Frage, ob er nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zulässig ist – jedenfalls unbegründet. Denn Ziffer II. stellt sich im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung als offensichtlich rechtmäßig dar.
931. Zunächst ist das Aufenthaltsgesetz wegen der erfolgten Verlustfeststellung auf die Antragstellerin als Unionsbürgerin nach § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU ergänzend anwendbar.
942. Die Erlaubnisversagung in Ziffer II. ist auch formell rechtmäßig, obwohl die Antragstellerin insofern nicht nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW angehört worden ist.
95Die Anhörung war zwar nicht nach § 28 Abs. 2 VwVfG NRW entbehrlich.
96Es kann dahinstehen, ob dieser formelle Mangel bereits i.S.d. § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG NRW geheilt worden ist, weil die Antragstellerin nach der Antragserwiderung der Antragsgegnerin vom 1. August 2022 bereits Gelegenheit zur Stellungnahme bezüglich der Erlaubnisversagung nach dem Aufenthaltsgesetz gehabt hätte, die sie bisher jedoch nicht genutzt hat.
97Vgl. zur Heilung der fehlenden Anhörung bereits durch den Austausch von Schriftsätzen im gerichtlichen Verfahren OVG NRW, Beschluss vom 14. Juni 2010 – 10 B 270/10 –, juris, Rn. 7 ff.
98Denn jedenfalls würde ein etwaiger Anhörungsmangel im Aussetzungsverfahren nicht zum Erfolg des Aussetzungsantrags des Antragstellers führen, weil mit einer ordnungsgemäßen, ihre Funktion erfüllenden Nachholung der Anhörung durch die Antragsgegnerin im Verwaltungsverfahren noch innerhalb des in § 45 Abs. 2 VwVfG NRW genannten Zeitraums – also bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens – zu rechnen ist.
99Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Juni 2016 – 20 B 1408/15 –, juris, Rn. 7.
100Vorliegend geht die Kammer davon aus, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin (auch außerhalb des gerichtlichen Verfahrens) noch Gelegenheit zur Stellungnahme zur versagten Aufenthaltserlaubnis geben wird.
1013. Die Erlaubnisversagung ist auch materiell rechtmäßig. Der Antragstellerin steht im insofern maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts,
102vgl. in st.Rspr. nur BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2016 – 1 C 23.15 –, juris, Rn. 8,
103nach keinem denkbaren Gesichtspunkt ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu, insbesondere nicht aus § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.
104Dessen besondere Erteilungsvoraussetzungen liegen hier nicht vor.
105Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.
106Für die Antragstellerin liegt weder ein tatsächliches noch ein rechtliches Ausreisehindernis vor.
107Ein tatsächliches Hindernis scheitert daran, dass die Antragstellerin als niederländische Staatsangehörige nicht an einer Einreise in die Niederlande gehindert ist.
108Ein rechtliches Hindernis ist für sie ebenfalls nicht ersichtlich. Es folgt weder aus dem Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG noch aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK.
109Der Antragstellerin ist es zumutbar, die Ehe mit ihrem Ehemann in den Niederlanden fortzuführen. Zum einen ist sie ebenso wie ihr Ehemann nach dem Beschluss der Kammer vom heutigen Tage im Parallelverfahren 8 L 470/22 ausreisepflichtig, zum anderen befand sich vor der Einreise der Eheleute in die Bundesrepublik deren Lebensmittelpunkt in den Niederlanden, was sich insbesondere darin niederschlägt, dass die Antragstellerin die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, ihr Ehemann über einen niederländischen Aufenthaltstitel verfügte, er eine niederländische Rente bezieht und einer der gemeinsamen Söhne dort seinen Wohnsitz hat. Weitere zu berücksichtigende familiäre Bindungen in der Bundesrepublik sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
110Ein durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen die Antragstellerin vorliegender Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK wäre jedenfalls im Sinne dessen Absatzes 2 gerechtfertigt. Er wäre nicht unverhältnismäßig, da für die Antragstellerin aufgrund der nur kurzen Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik, den fehlenden persönlichen und wirtschaftlichen Bindungen hier und dem Umstand, dass der gemeinsame Lebensmittelpunkt zuvor in den Niederlanden bestand, in denen auch noch ein enger Familienangehöriger wohnt, weder eine tiefe Verwurzelung in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik noch eine Entwurzelung von den Niederlanden anzunehmen ist.
111III. Soweit sich der Antrag schließlich gegen die in Ziffer III. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung enthaltene Abschiebungsandrohung mit einmonatiger Ausreisefrist richtet, ist er zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 112 JustG NRW statthaft, aber ebenfalls unbegründet.
112Auch insofern stellt sich die angegriffene Ordnungsverfügung als offensichtlich rechtmäßig dar.
113Die Antragsgegnerin durfte nach § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU die Abschiebung unter Setzung einer Ausreisefrist androhen. Anhaltspunkte, die der Antragsgegnerin hinsichtlich der Verbindung der Abschiebungsandrohung mit der Verlustfeststellung Ermessen eröffnet hätten (Vorliegen eines atypischen Falls), da es sich bei § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU um eine "Soll"-Vorschrift handelt,
114vgl. Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 34. Edition, Stand: 01.01.2021, § 7 FreizügG/EU Rn. 5,
115sind nicht ersichtlich.
116Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 – 5 C 39.90 –, juris, Rn. 15.
117An die Vorgabe des § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU einer Ausreisefrist von mindestens einem Monat hat die Antragsgegnerin sich ebenfalls gehalten.
118Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
119Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Das Antragsinteresse hinsichtlich der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist mit Blick auf den lediglich vorläufigen Charakter des vorliegenden Eilverfahrens in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Auffangwertes (5.000,- €) ausreichend bemessen. Dabei fällt das Antragsinteresse hinsichtlich der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nicht gesondert ins Gewicht, da hiermit letztlich das gleiche Ziel, nämlich die Sicherung des weiteren Aufenthalts in der Bundesrepublik, verfolgt wird. Die Nebenentscheidung (Abschiebungsandrohung) wirkt sich mangels eigenständiger Bedeutung ebenfalls nicht streitwerterhöhend aus.